Tag: 15. Mai 2018

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Auszug aus dem Buch von Jürgen Wacker „Johannas Schwester – Djamila auf den Spuren von Jeanne d´Arc“
    Kapitel
    3
    Hinter dem Zaun um das Asylbewerberheim befand sich eine
    Bachniederung, die voller Abfall war. Djamila und Isabelle mussten
    sich durch einen Berg von umgestürzten Einkaufswagen,
    Gestängen von Wäschtrocknern, Fahrradrädern, blauen Säcken,
    Matratzen und vielen anderen Abfallgegenständen, die
    zwischen den verwilderten Büschen und Bäumen herumlagen,
    kämpfen. Als sie die Böschung zu dem ca. 2,50 Meter hohen,
    festen Drahtzaun erklommen, erkannten sie in der Morgendämmerung
    die einzelnen Häuser des Asylbewerberheimes.
    Die feste, unüberwindlich wirkende Einzäunung wurde an ihrer
    Oberkante von zwei straff gespannten Stacheldrähten begrenzt.
    Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Sozialarbeiter oder andere
    Mitarbeiter der Einrichtung zu sehen. Isabelle wusste, dass
    die offizielle Besuchszeit erst um acht Uhr begann und bis 22
    Uhr dauerte.
    Djamila sah drei einstöckige, endlos lang wirkende Häuser,
    deren Fenster alle geschlossen waren. Die Häuser waren weiß
    angestrichen und standen auf einem etwa 50 Zentimeter hohen,
    braun gestrichenen Sockel. Die Fensterrahmen waren
    ebenfalls weiß gestrichen und vor den meisten Fenstern waren
    die weißen Vorhänge zugezogen. Zwischen den einzelnen
    Häusern hingen zahlreiche elektrische Kabel, die Djamila an das
    Kabelgewirr zwischen den Häusern in der alten Innenstadt von
    Ouagadougou erinnerten. Der Rasen zwischen den einzelnen
    Häusern war ungepflegt. Auch zwischen den Häusern sah Djamila
    zahlreiche Einkaufswagen, die vermutlich zu einem nahe
    gelegenen Laden einer Discounterkette gehörten. An den Wäscheleinen
    zwischen den Häusern hingen auffallend farbige,
    exotisch wirkende Kleidungsstücke, die Djamila ebenfalls an
    ihre burkinische Heimat erinnerten. Sie glaubte sogar an einer
    Wäscheleine ein schwarzgelbes Kleid zu erkennen, das sie
    selbst einmal in Dori und Bonfara getragen hatte. Jetzt trug sie
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    eine verwaschene Jeans und ein T-Shirt des Catering-Services
    von Isabelle mit dem Logo von Heidelberg. Einen Moment lang
    überlegte Djamila über den Zaun zu klettern, um das gelbschwarze
    Kleid von der Leine zu nehmen und anzuziehen.
    Plötzlich pfiff Isabelle ganz laut. Kurze Zeit später öffente sich
    die Tür eines seitlich der Häuser abgestellten, braun gestrichenen
    Wagens, der Djamila an die Kerwewagen in Edingen erinnerte.
    Eine schwarze Frau huschte gebückt zu einer Stelle des
    Zaunes, an der die Frau offensichtlich das Gelände des Asylbewerberheimes
    verlassen konnte. Als sie bei Isabelle und Djamila
    angekommen war, konnte Djamila erkennen, das sie das gleiche
    T-Shirt des Heidelberger Catering-Services trug.
    „Das ist Salome. Sie ist hier, weil sie in ihrer Heimat in Nigeria
    wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt wurde. Sie wurde im
    Gefängnis in Nigeria gefoltert, die Wärter brachen ihre Beckenknochen
    und sie musste mit ansehen, wie ihr Mann von Muslimen
    grausam getötet wurde. Im neuen Testament wird Salome
    als erste Jüngerin Jesu bezeichnet, die bei seiner Kreuzigung auf
    der Hinrichtungsstätte Golgatha dabei war. Wörtlich übersetzt
    heißt Salome: die Friedliche. Im Markus-Evangelium (Kapitel 15,
    Vers 40) heißt es unter ,Kreuzigung und Tod‘: Und es waren
    auch Frauen da, die von ferne zuschauten, unter welchen war
    Maria Magdalena, Maria und Salome, die ihm nachgefolgt waren,
    da er in Galiläa war, und ihm gedient hatten. Außerdem war
    Salome nach dem Evangelium von Markus (Kapitel 16) Zeugin
    der Auferstehung: Und da der Sabbat vergangen war, kauften
    Maria Magdalena und Salome Spezerei, auf dass sie kämen und
    salbten ihn. Und sie sahen auf und wurden gewahr, dass der
    Stein abgewälzt war. Sie fanden einen Jüngling in einem weißen
    Gewand, der sprach: ,Ihr suchet Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten.
    Er ist auferstanden, er ist nicht hier.’ (Markus 16).
    Somit war Salome eine der ersten Adressatinnen der Auferstehungsbotschaft
    unseres Herrn Jesus Christus.“
    Isabelle stellte Djamila ihre Freundin mit diesen pathetischen
    Worten aus dem Neuen Testament vor. Anschließend umarmten
    sich beide herzlich und Salome schenkte Djamila ihr gewinnendes
    Lächeln. Sie mussten langsam gehen, weil Salome
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    aufgrund ihrer im nigerianischen Gefängnis erlittenen Beckenbrüche
    hinkte. Hinter einem großen Gebüsch hatten sie ein
    Fahrrad für Salome versteckt. Die Sonne war über den Bergen
    des Odenwaldes und den Hügeln des Kraichgaues aufgegangen
    und Salome begann zu beten und einen Gospelsong zu singen.
    Jetzt erst nahm Djamila das fein geschnittene und freundliche
    Gesicht von Salome wahr.
    Isabelle bat Salome weitere Gospels und Gebete aus dem
    Gefängnis in Nigeria vorzutragen. Ein Missionar hatte Salome
    gelehrt Texte und Gebete auswendig zu lernen, als Trost für die
    Stunden der Verfolgung.
    Salome stimmte den Gospelsong Amazing Grace an.
    Amazing grace, how sweet the sound,
    That saved a wretch like me!
    I once was lost, but now I’m found,
    Was blind, but now I see.
    ‘Twas grace that taught my heart to fear,
    And grace my fears relieved;
    How precious did that grace appear,
    The hour I first believed!
    Through many dangers, toils and snares,
    I have already come;
    ‘Tis grace has brought me safe thus far,
    And grace will lead me home.
    The Lord has promised good to me,
    His word my hope secures;
    He will my shield and portion be,
    As long as life endures.
    Djamila war von der Intensität des Gesanges von Salome
    beeindruckt. Deren Augen waren zur aufgehenden Sonne gerichtet
    und sie schien nichts außer dem Sonnenaufgang wahrzunehmen.
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    Zu dritt fuhren sie auf einem Feldweg am Rande des Waldes
    eines der Bergzüge, die den Übergang zwischen Kraichgau und
    Kleinem Odenwald bildeten, zur Zentrale des Catering-Services.
    Dort angekommen stellte Isabelle Djamila und Salome dem
    verantwortlichen Mitarbeiter kurz vor.
    „Das trifft sich gut, dass wir heute zwei weitere Mitarbeiter
    haben, denn eine unserer Mitarbeiterinnen ist nicht erschienen
    und wir haben heute einen großen Event im Schlosshof des Heidelberger
    Schlosses zu organisieren.“, antwortete der Mitarbeiter
    des Catering-Services.
    Sie waren acht Frauen aus verschiedenen Ländern in dem
    Kleinbus des Unternehmens. Isabelle forderte Salome und Djamila
    auf, sich neben sie in die letzte Sitzreihe zu setzen. Sie hatte
    immer noch Sorge in eine Polizeikontrolle zu geraten, falls Djamila
    immer noch gesucht wurde. Wenn sie angehalten würden,
    könnte sich Djamila hinten leichter vor den Blicken der Polizisten
    verbergen. Sie selbst fühlte sich auf der letzten Sitzbank
    auch sicherer.
    Djamila gewann den Eindruck, dass Isabelle von allen anderen
    Frauen anerkannt und akzeptiert war, obwohl sie die einzige
    schwarze Frau war, die bei dem Catering-Service fest angestellt
    war. Isabelle erklärte Djamila auf Französisch, dass die
    anderen Frauen aus Russland und dem Balkan stammten und
    weder Französisch noch Englisch verstünden, und selbst in der
    deutschen Sprache sei es schwer, sich mit ihnen zu unterhalten.
    Sie fuhren von Pfaffengrund über eine Brücke über die Eisenbahn
    zu einer großen Kreuzung. Djamila verfolgte alles sehr
    aufmerksam, ständig auf der Hut vor einer Polizeistreife. Die
    Kreuzung kam ihr bekannt vor, wie im Traum erkannte sie die
    Bergheimer Straße, die zum Bismarckplatz führte und in deren
    Nähe die Kathedrale, ihr Gymnasium, stand. Bevor ihre Adoptiveltern
    entschieden, sie in das Internat der Bergstraßenschule
    in Heppenheim zu geben, von wo sie geflüchtet war, war sie hier
    zur Schule gegangen. Ihr kamen die Buben auf dem Bismarckplatz
    in den Sinn, die sie wegen ihrer Hautfarbe gehänselt, und
    die Klassenkameraden, die sie wegen ihres Kurpfälzerdialektes
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    ausgelacht hatten. Djamila war als Flüchtling in ihre Lieblingsstadt
    Heidelberg zurückgekehrt.
    Der Kleinbus des Catering-Services bog an der Kreuzung am
    Bismarckplatz nicht zur Kathedrale sondern zum Gaisbergtunnel
    ab. Der Kleinbus bog hinter dem Gaisbergtunnel bergauf
    nach rechts zum Heidelberger Schloss ab. Aufgrund einer Sondererlaubnis
    durfte er direkt in den Schlosshof fahren, um Tische,
    Kochgeräte und das Personal dort abzuladen.
    Der Fahrer des Kleinbusses forderte die Frauen auf, die
    Kochgeräte zwischen dem Brunnen und dem dahinterliegenden
    Gebäude abzustellen. Salome und Djamila führten die Anweisungen
    gemeinsam mit den anderen aus und in kurzer Zeit
    waren die Wärmepfannen und Schüsseln für den Empfang des
    Universitäts-Institutes aufgestellt.
    Der Inhaber des Catering-Services wies seine Mitarbeiterinnen
    auf ihre jeweiligen Aufgaben hin. Isabelle war wie gewohnt
    für das Büfett zuständig. Sie sollte das Essen immer wieder
    nachlegen, sodass Schüsseln und Wärmebehälter immer gut
    gefüllt waren. Auch Eis sollte immer ausreichend vorhanden
    sein. Djamila und Salome sollten die Getränke bereitstellen und
    Sekt- und Weingläser immer wieder nachfüllen.
    Die Gäste des wissenschaftlichen Meetings kamen aus der
    ganzen Welt. Die Damen und Herren trugen offizielle Kongresskleidung,
    die Herren Krawatten und die Damen kurze, schwarze
    Kleider.
    Djamila hatte insgeheim gehofft, dass einer der schwarzen
    Kongressteilnehmer sie ansprechen und sie in seine Obhut
    nehmen würde. Stattdessen versuchte ein deutscher Student
    mit Djamila zu flirten, in dem er ihr die Geschichte der Zerstörung
    des Heidelberger Schlosses im Jahre 1689 erzählte.
    „Ist es das erste Mal, dass du auf dem Heidelberger Schloss
    bist?“, fragte der Student in Burschenschaftsuniform Djamila.
    „Nein, ich habe hier das Gymnasium besucht und einen Klassenausflug
    zum Schloss gemacht.“, antwortete Djamila selbstbewusst.
    Der Student wandte sich wieder anderen zu, war
    aber wohl aufgrund seines Auftretens und seiner Burschenschaftsuniform
    nicht der geeignete Gesprächspartner für die
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    Kongressteilnehmer. Eine ältere Dame hatte das Gespräch gehört
    und kam auf Djamila zu. „Darf ich dir die Geschichte der
    Frau erzählen, die unter der Zerstörung Heidelbergs durch die
    Franzosen am meisten gelitten hat? Kennst du Liselotte von
    der Pfalz?“, fragte die freundliche ältere Dame weiter. Djamila
    schüttelte den Kopf und die ältere Dame begann zu erzählen:
    „Liselotte von der Pfalz, die spätere Herzogin von Orléans,
    wurde am 27. Mai 1652 als Tochter des Kurfürsten Karl Ludwig
    von der Pfalz und seiner Frau Charlotte von Hessen als Elisabeth
    Charlotte in Heidelberg geboren. Kurz nach ihrer Geburt zerstritten
    sich ihre Eltern, aber Liselotte wohnte zunächst weiter
    in Heidelberg. Im Alter von sieben Jahren kam Liselotte zu ihrer
    Tante Sophie, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg. Dort
    erhielt sie eine fundierte Bildung und lernte die Weltoffenheit
    und Toleranz ihrer Tante zu schätzen. Ihr Vater holte sie nach
    fünf Jahren wieder zurück nach Heidelberg, um sie nach seinen
    Vorstellungen zu erziehen. Trotz der strengen Erziehung durch
    den Vater berichtete Liselotte später von einer unbeschwerten
    Jugend zusammen mit ihrem Bruder Karl und ihren Halbgeschwistern.
    Mit 19 Jahren verheiratete ihr Vater Karl Ludwig sie
    mit dem Herzog von Orléans Philip I., dem Bruder von Ludwig
    XIV., dem Sonnenkönig von Frankreich. Die Vermählung mit
    dem verwitweten Herzog von Orléans wurde durch eine Pariser
    Tante vermittelt und war das Ergebnis politischer Kalkulationen
    beider Seiten. Die französische Seite versprach sich von dieser
    Eheschließung mögliche Erbaussichten auf die Kurpfalz, denn
    Ludwig XIV. wollte Frankreich nach Osten erweitern. Liselotte
    schrieb darüber in einem ihrer zahlreichen Briefe: ,Aber was
    will man tun? Wo die Raison will, dass eine Sache sein muss,
    muss man nur schweigen und nichts mehr davon sagen.‘ Infolgedessen
    musste Liselotte vom Calvinismus zum Katholizismus
    übertreten, was ihr nicht leicht fiel. Sie ließ sich aber nicht vom
    Lesen der Bibel abbringen und hielt am Prädestinationsglauben
    der Calvinisten fest. Weiterhin vertrat sie offen ihre Kritik am
    päpstlichen Primat und am Heiligenkult der katholischen Kirche.
    Ihr Mann war und blieb ihr fremd! Sie hasste die Intrigen
    am Hof und besonders die des Ministers ihres Mannes, der zum
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    maître de plaisir, zum Spieler und Trinker verkommen war. Als
    1685 ihr Bruder Karl, der letzte Spross aus dem protestantischen
    Haus Pfalz-Simmern kinderlos starb, sah Ludwig XIV. die
    Gelegenheit gekommen, für seine Schwägerin Besitzansprüche
    geltend zu machen. Es folgte der Pfälzisch-Orléanische Erbfolgekrieg
    in dessen Verlauf die Städte und Dörfer der Kurpfalz
    von den französischen Truppen zerstört wurden. Im Jahre 1689
    wurden von den Truppen Ludwig XIV. Mannheim und Heidelberg
    zerstört. In ihren Briefen berichtete Liselotte, wie die Zerstörung
    ihrer Heimat selbst im fernen Paris und Orléans ihr das
    Herz brach: ,Ich kann mich noch nicht getrösten über was in der
    armen Pfalz vorgegangen; darf nicht danach denken, sonsten
    bin ich den ganzen Tag traurig.‘ An ihre Tante Sophie schrieb
    sie: ,So kann ich doch nicht lassen zu bedauern und zu beweinen,
    dass ich sozusagen meines Vaterlandes Untergang bin.‘
    Die Franzosen zogen ab und die Heidelberger Bürger konnten
    einige der Gebäude dieses Schlosses und der Stadt vor den
    Flammen retten. Liselotte hatte ihr Heidelberg nie wieder gesehen
    und starb einsam und verlassen 1722 in Saint-Cloud bei
    Paris.“
    Djamila würde ihrer Heimat so etwas nie antun, beschloss
    sie für sich, sie würde für ihre Heimat immer eintreten oder
    sterben. Sie hatte in der Schule gelernt: ‚La patrie òu la mort –
    nous vaincrons!’
    „Da tust du Liselotte aber Unrecht! Sie heiratete aus Staatsräson
    einen Mann, den sie weder kannte noch liebte, lebte an
    einem Königshof, den sie verabscheute und verließ ihre Heimat
    für immer. Alles nur aus Staatsräson, weil ihr Vater durch ihre
    Heirat mit dem französischen Herzog Frieden für seine Kurpfalz
    erreichen wollte. Liselotte war eine intelligente, selbstbewusste
    Frau, musste aber früh erkennen, dass sie zur Marionette in
    einem Drama wurden, dessen Ausgang sie nicht beeinflussen
    konnte. Ihre Wut und ihre Wünsche beschrieb sie in unzähligen
    Briefen an ihre Freunde und Verwandten in Deutschland. Du
    musst diese Briefe lesen.“
    Die ältere Dame verabschiedete sich höflich von Djamila und
    wünschte ihr alles Gute.
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    Djamila hatte in dem Gymnasium, das sie als Kathedrale der
    Bildung in Erinnerung behielt, Latein vor der englischen Sprache
    gelernt, mit dem Erfolg, dass Englisch für sie die Sprache
    der Emporkömmlinge und Wichtigtuer war. Als sich ein afrikanischer
    Wissenschaftler mit der Frage „Can I have a Whiskey“ an
    sie wandte, antwortete Djamila: „Nous avons seulement l’eau
    minérale, pas de l’eau de Vichy!“ Der distinguierte afrikanische
    Wissenschaftler wandte sich prompt einer Kollegin des Party-
    Services zu, die aus Weißrussland stammte, die ihm anstelle von
    Whiskey Wodka einschenkte. Offensichtlich war es dem Präsidenten
    des Kongresses wichtig, die afrikanischen Gäste allen
    deutschen Ehrengästen vorzustellen. Ständig war er bemüht,
    irgendeinen schwarzen Wissenschaftler den gelangweilt herumstehenden
    Ehrengästen vorzustellen. Die Gäste aus Frankreich,
    England und den USA schienen lediglich Zaungäste zu
    sein.
    Plötzlich ergriff der Kongresspräsident das Wort, in dem er
    ein drahtloses Mikrofon in die Hand nahm:
    „Meine sehr geehrten Damen und Herren,
    liebe Referenten unserer Tagung, werte Ehrengäste,
    das Schwerpunktthema unserer internationalen Tagung lautet:
    Ursachen und Folgen von Global Warming. Wie die Mehrzahl
    der Referenten ausführte, müssen wir feststellen, dass von
    1906 bis 2005 die jährliche Durchschnittstemperatur unserer
    Erde ständig angestiegen ist. So waren die Oberflächentemperaturen
    im Jahr 1998 ungewöhnlich warm, weil die globalen
    Temperaturen durch die El Niño-Southern Oscillation (ENSO)
    mehr als wir bisher vermuteten, beeinflusst werden. Wir hatten
    im vergangenen Jahrhundert die stärkste El Niño-Strömung
    in diesem Jahr. Globale Temperaturen unterliegen kurzfristigen
    Schwankungen, die langfristige Trends vorübergehend
    überlagern und maskieren können. Die relative Stabilität der
    Oberflächentemperatur von 2002 bis 2009, die eine globale Erwärmungspause
    darstellt, ist mit diesem Phänomen zu erklären.
    Aber wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen,
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    dass die Erderwärmung ständig zunimmt, und wir Menschen,
    besonders diejenigen in den reichen Ländern, für diese Entwicklung
    mitverantwortlich sind. Es ist unstrittig, dass von den
    Menschen der nördlichen Hemisphäre mehr Treibhausgase als
    von denen der südlichen Hemisphäre emittiert werden. Als Folgen
    der weiteren Erwärmung der Erde werden die Eiskappen
    an den beiden Polen schmelzen, ebenso die Gletscher in den
    Hochgebirgen und auf Grönland. Als Folge wird der Spiegel der
    Weltmeere ansteigen, und häufige Überschwemmungen und
    Fluten bedrohen die Küstenstaaten dieser Erde. Die Anzahl der
    Unwetter und extremen Wetterverhältnisse wird zunehmen
    und Dürren und Wassermangel werden zukünftige Konflikte
    mit sich bringen.
    Aber noch haben wir Zeit, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen
    zu lernen, und den schädlichen Einfluss des Menschen
    auf das Klima zu reduzieren. Deshalb haben wir uns hier
    in Heidelberg getroffen, um die nächste Klimakonferenz wissenschaftlich
    zu begleiten.“
    Die Zuhörer dankten dem Kongresspräsidenten für dessen
    aufmunternde Rede und den gastlichen Empfang im Schlosshof
    mit lautem und lang anhaltendem Beifall.
    Nach der Rede und dem Imbiss im Keller des großen Fasses,
    versammelten sich die Gäste der Tagung erneut im Schlosshof,
    um Zeuge eines Feuerwerkes zu werden. Die Startrampe der
    Raketen und Feuerwerkskörper war etwa 30 Meter vor dem
    Eingang zum Apothekermuseum aufgestellt. Es war dunkel
    und Djamila sah nur einige wenige Sterne am schwarzen Himmel
    über dem Schlosshof. Djamila sah die anwesende Kongressgesellschaft
    nur schemenhaft, da vor Beginn des Feuerwerks
    sämtliche Laternen der Innenbeleuchtung des Schlosshofes
    gelöscht worden waren. Plötzlich rauschte ein Feuerwerkskörper
    in den schwarzen Himmel, glühte auf und produzierte einen
    lauten Knall. Danach folgten rote, gelbe und blaue Funken
    streuende Raketen. Djamila erlebte zum ersten Mal ein Feuerwerk
    und erschrak bei jedem Zischen und bei jedem Knall. Auf
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    einmal strahlte der Eingang vor dem Apothekermuseum in hellem,
    loderndem Licht. Die alte Krüppelkiefer vor dem Eingang
    stand in Flammen, offensichtlich von den Funken eines Feuerwerkskörpers
    in Brand gesetzt. Isabelle erschien es wie ein Zeichen
    Gottes. Sie rannte zu Djamila. Es ist fast wie in der Bibel,
    als plötzlich der Busch brannte, als gerade Abraham Gott seinen
    erstgeborenen Sohn Isaak opfern wollte und Gott Abraham einen
    Hammel zeigte, den er an Stelle von Isaak opfern konnte.
    „Müssen erst die Bäume brennen, bis wir begreifen, was Global
    Warming für uns bedeutet und wie es uns bedroht.“, philosophierte
    der Kongresspräsident.
    Die Mitarbeiterinnen des Party-Services packten schnell ihre
    Utensilien zusammen und verließen den brennenden Schlosshof,
    während Isabelle Djamila und Salome an die Hand nahm,
    um in den Park des Schlosses auf die Scheffelterrasse zu flüchten.
    Djamila war außer Atem und stützte sich auf Isabelle und Salome.
    Sie setzten sich auf eine Bank hinter der Ballustrade der
    Scheffelterrasse, außer Atem und mit Schweiß auf der Stirn. Sie
    sahen von fern, wie allmählich die flackernde Helligkeit im gegenüberliegenden
    Schlosshof erlosch. Es wurde ruhig. Sie nahmen
    die Stille des ehemaligen Hortus palatinus eher wahr, als
    sie die Geräusche der unter ihnen liegenden Altstadt von Heidelberg
    hörten. Djamila und Isabelle sahen auf der dem Neckar
    gegenüberliegenden Seite den Heiligenberg mit der Bismarcksäule
    und dem Aussichtsturm vor dem ehemaligen Stephanskloster.
    Djamila hatte einen weiteren Tag auf ihrer Flucht von
    der Bergstraßenschule unbemerkt überlebt.
    Salome fror, zitterte und bat Isabelle ihr die Decke um ihre
    Schultern zu legen. Salome hatte bei der Vorbereitung des
    Essens im Keller des Schlosses, neben dem großen Weinfass,
    einen dunklen Kerker mit vergitterter, kleiner Fensteröffnung
    gesehen. Sie ließ vor Schreck den Stoß Teller fallen, den sie mit
    beiden Händen getragen hatte. Dieser Kerker im Heidelberger
    Schloss erinnerte sie an ihre schlimme Zeit, an die verdrängten
    Erlebnisse der Jahre im Gefängnis von Kano in Nigeria.
    Isabelle bemerkte das veränderte Verhalten ihrer Freundin
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    und sah die pure Angst in deren Augen. „Salome, erzähle was
    dich bedrückt, erleichtere deine Seele, was treibt dich um?“,
    sagte Isabelle zu Salome.
    „Wir waren im Sonntagsgottesdienst in unserer kleinen Kirchengemeinde
    in Kano, als die vermummten Gotteskrieger mit
    Kalaschnikows um sich schossen, die Kirchentüre eintraten. Sie
    erschossen zuerst unseren Priester, dann zerstörten sie den
    Altar und zündeten die kleine Kirche an. Sie schossen wahllos
    in die Menge, wir rannten um unser Leben und nahmen nicht
    wahr, was sie sonst noch alles zerstörten.
    Mein Mann nahm unsere Tochter auf die Schulter und ich
    hielt unseren kleinen Sohn an meine Brust gepresst. Draußen
    vor der Kirchentür erwarteten uns schon andere Gotteskrieger,
    die sofort das Feuer auf uns eröffneten, als wir das Kirchenschiff
    verließen. Mein Mann und ich schlugen uns mit den
    Kindern durch und erreichten einen Buchladen, dessen Besitzer
    wir gut kannten. Wir versteckten uns in dessen Lagerraum, bis
    wir erneut Schüsse und laute Schreie hörten.
    Irgendjemand muss uns verraten haben. Die Eindringlinge
    zerstörten mit ihren Gewehrkolben die Eingangstür des Buchladens,
    zündeten die Bücherregale an und hielten dem Buchhändler
    ein Messer an die Kehle, als sie fragten, wo die Flüchtlinge
    aus der brennenden Kirche seien. Der Buchhändler antwortete
    ihnen nicht und sie durchschnitten ihm die Kehle. Sie traten die
    Tür zum Lagerraum ein und entdeckten uns, als wir hinter einem
    großen Stapel Bücher knieten und zu Gott beteten.
    Meinen Mann, unseren Vater, enthaupteten sie vor unseren
    Augen, und mich und die Kinder zogen sie an Händen und Haaren
    aus dem brennenden Laden zum Marktplatz. Dort hielten
    andere Gotteskrieger mit ihren Kalaschnikows eine Gruppe
    schreiender Kinder und weinender Frauen gefangen. Überall
    war der Boden mit Blut verschmiert und überall lagen leblose
    Leiber herum.“
    Salome stockte und weinte. Sie sahen in die Dunkelheit,
    die sich über dem Heiligenberg ausbreitete. Das Leuchten des
    brennenden Baumes im Schlosshof war erloschen.
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    „Wie ging es mit euch weiter?“, wollte Djamila von Salome
    wissen.
    „Wir harrten in der sengenden Sonne ohne Wasser aus. Die
    Kinder waren erschöpft und dem Schreien aus ihren Angst erfüllten
    Gesichtern war ein trauriges Wimmern und Weinen gefolgt.
    Auch die Gotteskrieger mit ihren Turbanen schienen zu
    ermüden. Sie tranken vor unserer Augen Tee und musterten
    mit lüsternen und geilen Blicken besonders die jüngeren der gefangenen
    Frauen, und ganz besonders diejenigen ohne Kinder.
    Viele von diesen jungen hübschen Frauen bemerkten die geilen
    Blicke der Gotteskrieger und versuchten sich abzuwenden und
    ihre Gesichter zu verbergen. Am späten Nachmittag trieb eine
    Gruppe Gotteskrieger, mit Kalaschnikows im Anschlag, unseren
    Bürgermeister vor sich auf den Marktplatz. Sie gaben dem
    Bürgermeister ein Blatt Papier, das dieser vorlesen musste:
    ,Im Namen Allahs fordern wir alle Anwesenden auf, sofort
    dem Christentum abzuschwören und zum Islam überzutreten.
    Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt, muss aufgrund
    seines Widerstands gegen den Gottesstaat in das Gefängnis.
    Die Vernünftigen unter euch, die dem Christentum abschwören,
    können in Begleitung der Gotteskrieger in ihre Häuser und
    Wohnungen zurückkehren. Sie sind verpflichtet, die Gotteskrieger
    in ihrem Haus aufzunehmen. Die Häuser der Unvernünftigen,
    die weiter am Christentum festhalten, werden niedergebrannt!‘
    Der Bürgermeister las mit zitternder Stimme den schriftlichen
    Befehl der Gotteskrieger vor. Kaum hatte er geendet, trat
    ein Gotteskrieger hinter ihn und enthauptete ihn mit seinem
    Säbel vor aller Augen. Der Mörder erklärte sich selbst zum
    neuen Bürgermeister und befehligte ab sofort die Polizei der
    Stadt. Die Gotteskrieger nahmen die jungen Frauen, ohne deren
    Antworten abzuwarten, und zerrten diese in die Häuser, die
    dem Marktplatz am nächsten gelegen waren. Bald drangen die
    Schreie der Vergewaltigten aus den Häusern, unterbrochen von
    Schlägen und Schüssen.
    Wir, die wir auf dem Marktplatz alles mitansehen und mitanhören
    mussten, wurden von der eigenen Polizei in das be66
    rüchtigte Stadtgefängnis getrieben. Das Gefängnis lag auf einer
    kleinen Anhöhe und hatte das Aussehen eines Sklavenforts, wie
    wir sie von der Küste Ghanas in Elmina oder von der Insel Goree
    im Senegal kennen. Der Weg auf den Berg des Gefängnisses
    war beschwerlich und einige stürzten mehrmals vor Erschöpfung,
    Trauer und Angst. Keine versuchte zu fliehen, alle trotteten
    hintereinander her, wie eine Schafherde, die der Hirte zum
    Schlachthof trieb. Plötzlich sah ich in einem Haus auf dem Weg
    zum Gefängnis eine Tür offen stehen, durch die ich mit meinen
    Kindern fliehen wollte. Ich nahm meinen Sohn fest an die
    Hand, presste meine Tochter dicht an meine Brust und rannte
    zu der offen stehenden Tür. Aber ein Polizist bemerkte meinen
    Fluchtversuch und stellte sich mir in den Weg. Er nahm mir beide
    Kinder weg und schlug mit seinem Gewehrkolben auf mich
    ein. Als er von mir abließ, halfen mir zwei andere Frauen wieder
    aufzustehen. Sie legten meine Arme um ihre Schultern, denn
    ich konnte nicht mehr allein gehen. Als wir das Gefängnistor
    erreichten, wurden alle Frauen und Kinder in einen großen Hof
    getrieben, während mich der Wärter gleich in das dunkle Innere
    des Gefängnisses schleppte. Er fasste mich an den Schultern und
    zog mich hinter sich her. Die dunklen Gänge waren nur schwach
    beleuchtet und nur gelegentlich bemerkte ich schießschartenartige
    Öffnungen in den dicken Gefängnismauern, durch die
    die letzten, schwachen Strahlen der Abendsonne drangen. Es
    ging ständig bergab und plötzlich ließ mich der Wärter fallen.
    Er holte seinen Schlüsselbund hervor und öffnete eine dunkle,
    stinkende Gefängniszelle, in die kein Licht drang.“
    „Wie hast du denn das alles überleben können?’, fragte Djamila
    Salome mit ängstlicher Stimme.
    „Ich erinnerte mich an meinen Priester, der mir als junges
    Mädchen die Geschichte von Jeanne d’Arc erzählte. Die heilige
    Johanna wurde auch in ein Gefängnis gesteckt und am Ende gar
    auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Dabei hielt sie sogar angesichts
    der Flammen an ihrem Glauben fest. Mir fiel auch die
    Geschichte von John Newton, dem Kapitän eines Sklavenschiffes,
    ein. Mit seinem Schiff geriet er am 10. Mai 1748 in schwere
    Seenot. Er rief Gott um Erbarmen an und wurde mit Gottes Hil67
    fe errettet. Er behandelte ab sofort seine Sklaven menschlicher,
    gab seinen Beruf auf, wurde Geistlicher und bekämpfte gemeinsam
    mit William Wilberforce die Sklaverei. In den Tagen nach
    seiner Errettung schrieb John Newton das Lied Amazing Grace.“
    „Aber wie kamst du denn aus dem Gefängnis frei?“, wollte
    Djamila wissen.
    „Nachdem ich wochenlang kein Licht gesehen hatte, im eigenen
    Kot lag, weil ich nicht aufstehen konnte, und ständig
    Hunger und Durst hatte, weil ich nur wenig übel schmeckendes
    Wasser und verschimmeltes Brot vorgesetzt bekam, hörte ich
    hinter meiner Zellentür auf dem Gang fremdartige Stimmen
    und ich begann zu singen:
    Große Gnade, wie süß der Klang.
    Die einen armen Sünder wie mich errettet!
    Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden,
    War blind, aber nun sehe ich.
    Die Tür der dunklen Gefängniszelle öffnete sich, ich war
    vom hereinfallenden Licht geblendet und sah erst allmählich
    einen schwarzen Priester und zwei weiße Männer, die weiße
    Polohemden mit dem Emblem von Ärzte ohne Grenzen trugen.
    Der nigerianische Gefängniswärter kauerte verstohlen im
    Hintergrund. Einer der beiden weißen Ärzte beugte sich zu mir
    herunter, untersuchte meinen Körper und teilte mir in gebrochenem
    Englisch mit, dass ich zur Behandlung meiner Hüftgelenksbrüche
    nach Deutschland ausgeflogen würde. Alles andere
    verging wie im Flug und ich war eine Woche später in einer
    Klinik in Süddeutschland zur Behandlung. Außerdem stellte ein
    Gynäkologe fest, dass ich einen Tumor in der Gebärmutter hatte,
    und dass dies die Ursache meiner starken Blutungen war, unter
    denen ich litt und die mich immer mehr geschwächt hatten.
    Die deutschen Ärzte haben mich an den Hüften operiert. Ich
    kann wieder, zwar mit Schmerzen, gehen. Danach wurde ich an
    der Gebärmutter operiert, deshalb habe ich keine starken Blutungen
    mehr. Ich bin körperlich wieder einigermaßen gesund.
    Vor wenigen Wochen wurde ich als, wegen ihres Glaubens in Ni68
    geria, Verfolgte anerkannt und erhielt das Recht in Deutschland
    zu bleiben. Sicherlich wird mein Asylantrag auch anerkannt. Ich
    schlage mich allein mit der Arbeit in diesem Catering-Service
    und mit Auftritten bei Weihnachtsfeiern oder Geburtstagen
    durch. Dann singe ich gut gelaunten deutschen Gästen meine
    Gospelsongs vor und wenn sie es verdienen, singe ich zum
    Schluss als Dank Amazing Grace!
    Als ich heute mit den Tellern in den Händen an dem Verließ
    neben dem Fasskeller des Schlosses vorbeikam, fiel mir die ganze,
    verdrängte Geschichte um das Gefängnis in Nigeria wieder
    ein.
    Ich kann nicht vergessen, was die Gotteskrieger mir und uns
    angetan haben. Sie haben mir meine Kinder und meinen Mann
    genommen, aber meinen Glauben habe ich behalten.“

    Copyright: Der Abdruck dieses Kapitel aus dem Buch von Jürgen Wacker erfolgt mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berliner Westkreuz-Verlags, Wir danken für die Genehmigung.

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Spiritueller Materialismus

    oder Manipulationsversuch

    Ich erzählte im Bekanntenkreis, dass in einigen Monaten eine Knieoperation auf mich zukomme. Eine Freundin meinte sofort, dann solle ich darauf achten, dass die OP an keinem Steinbocktag stattfindet. ??? Ich war zu perplex, um irgendwas entgegnen, fragen oder sagen zu können. Im Kopf tauchten gleichzeitig Fragen auf und manchmal synchron zu einer Frage die Antwort auf eine andere. Was ist ein Steinbocktag? Wahrscheinlich der Tag, an dem der Mond im Steinbock steht. Warum nicht? Das Knie gehört zum Steinbock, wäre es nicht optimal, gerade dann die OP zu machen? Und da war es, das Unbehagen! Ich möchte den Rat weder befolgen noch in Opposition dazu gehen, das ist auch nicht viel besser. Ich kann mein Unbehagen nicht klar begründen, schliesslich bin ich doch eigentlich mit spirituellem Denken vertraut.

    Ich sprach dann auch mit ihr, konnte aber mein Unbehagen wieder nicht recht erklären. Ich möchte mein Schicksal demütig annehmen, mich freilassend bereit halten für die Hilfe der Engel. Sie meinte, man könne ja den Engeln helfen und ihnen nicht alle Arbeit überlassen. Allmählich dämmerte mir, was mein Unbehagen – vielleicht – verursachte. Es gibt zum Beispiel den Aussaatkalender, nichts aber auch gar nichts habe ich dagegen, den optimalen Aussaattag für bestimmte Samen auszuwählen. Schließlich ist klar, was erreicht werden soll: dass die Pflanze sich optimal entwickelt, und wir – Mensch, Elementarwesen, Engel, vielleicht alle gemeinsam – die dafür günstigsten Bedingungen schaffen.

    Und bei der Knie-OP? Die objektiv günstigste Zeit … Wer sagt, dass die gelungene OP das Ziel ist? Vielleicht ist anderes für meine „optimale Weiterentwicklung“ viel wichtiger? Ist es nicht auch egoistisch, nur an mich zu denken? Was ist mit all den anderen Menschen, die auch mit meiner OP beschäftigt sind? Außerdem bin ich ein Einzelner, kein Sonnenblumenkern, die sind alle – mehr oder weniger – doch gleich!

    Allenfalls könnte ich das I GING fragen nach der günstigsten Zeit. Aber die Frage nach dem Sinn der ganzen Kniegeschichte ist mir näher. Und das zu entdecken ist wohl unabhängig vom Datum der OP, oder? Wenn ich mich meditativ in die Situation versenke, spüre ich: Wunsch nach Gelassenheit – annehmen können – demütig empfangen möchten – achten auf die Zeichen, die Wegweiser sein können. Zusammengefasst: wachsen – sich entwickeln lassen. Das aktive Tun von außen durch die OP nicht noch durch  eigene Aktivitäten verstärken. Wachsen lassen, nicht machen!

    Auf keinen Fall möchte ich die geistige Welt manipulieren! Manipulation ist eine versteckte Form des Etwas-erzwingen-Wollen! Gerade frage ich mich, ob das (die Knie-OP nicht an einem Steinbocktag durchführen) nicht auch eine Form von Materialismus ist. Ich benutze geistige Mittel, geistige Erkenntnisse, um auf materieller Ebene etwas zu erreichen. Ist das nicht spiritueller Materialismus?

    Vielleicht stimmt das ja alles nicht, aber ich empfinde es so. Ich bin ein freier Mensch, versuche zumindest es zu sein, auf jeden Fall übernehme ich die Verantwortung für mein Tun. Ich habe nichts gegen Hilfe und Unterstützung, weder von meiner irdischen Umgebung noch von der geistigen Welt, aber es soll sich keiner verpflichtet fühlen, mir zu helfen!

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    AUSZUG AUS MEINEM ROMAN ´´Warte bis die Seerose blüht,,

     

    Annas Erinnerung an ihre frühe Jugendzeit

     

    Einen Anfang setzen… aber womit? Wie beginne ich, um die Geschichte zu erzählen, oder genauer: um von der Geschichte zu erzählen, die ich erzählen will? Unzählige Anfänge habe ich im Kopf, einige sind sogar schon auf Zetteln festgehalten. Wie kann ich mich entscheiden? Der Anfang, der heute richtig scheint, ist er’s auch noch morgen? Zuhaus, vor meiner Abreise hierher, dachte ich, ich werde alle Anfänge erwähnen, aber ich nehme keine Nachschlagebücher mit, auch keine Zettel mit den schon notierten Anfängen, es soll nur ein Erwähnen sein. Wenn ich will (oder es notwendig erscheint), kann ich es dann zu Hause gründlicher ausführen. In einer anderen Farbe (im Buch würde es dann anders gedruckt werden). So kann jeder, den es nicht interessiert, es einfach überschlagen. Sollte es später wichtig sein, so kann ich immer noch darauf hinweisen, und der Leser kann es nachträglich lesen. Einen üblichen Ferientag verbracht hier, auf dieser Insel, zu der ich einen ganz besonderen Bezug habe. Aber wahrscheinlich hat das jeder, der diese Insel zum zweiten Mal besucht. Einen Moment fragte ich mich, ob ich einen Teil der Handlung hier spielen lassen soll. Warum nicht? Der zweite Teil sollte in der Keltenzeit spielen. Abe das geht nicht, dann komme ich in Schwierigkeiten mit dem dritten Teil, dem griechischen. Drum habe ich mich zum Vor-Keltischen entschlossen, für die Zeit der Großen Steine. Und das könnte doch gut hier auf Helgoland sein. Aber jetzt weiss ich nicht, ob damals noch die Landbrüche nach Dänemark bestand. – Nein, ich gehe nicht in die Bücherei und suche Literatur zu dieser Frage! Ich habe mir vorgenommen, einfach mal anzufangen. Außerdem ist es im Moment noch völlig gleichgültig, wo ich den zweiten Teil spielen lasse, wenn ich noch nicht einmal angefangen habe. Und vor dem zweiten Teil kommt der erste, und davor, nein, davor kommt noch nicht der Anfang – zwischen Anfang und dem ersten Teil kommt die Rahmenhandlung. Während meines Ferientages dachte ich immer wieder daran, wie ich wohl anfangen werde. Ich versuchte, mich an die vielen guten Anfänge, die ich im Kopf habe, zu erinnern. Sie sind weg. Einfach weggeblasen. Vielleicht von den Sturmböen über der Insel. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mich mit Jakob Wassermann tröstete. In einem Essay oder Tagebucheintrag spricht er davon, wie oft er anfängt, immer wieder, immer wieder aufs Neue. Einen Roman hat er vierzigmal begonnen. Ich meinte zwar, diese Geschichte im Kopf schon unzählige Male begonnen zu haben, aber vierzigmal war es sicher nicht! Ich wüßte nun gerne, woher er wußte, welcher Anfang der richtige ist. Und noch etwas wüßte ich gerne: wie die anderen neununddreißig Anfänge waren, die verworfenen. Würden sie vielleicht zu einer anderen Geschichte führen?

    Einen auf einem Zettel notierten Anfang wollte ich schon für etwas anderes benutzen (denn es ist ein schöner Anfang, er gefällt mir), aber es war unmöglich, er gehört zu dieser Geschichte, zu der Rahmenhandlung. Aber ich weiß noch gar nicht, wie ich ihn darin verarbeiten kann. Er handelt davon, wie eine Frau – eine der drei oder vier Hauptpersonen – mir bestimmte Erlebnisse ihres Lebens erzählt. Und nun geschieht das Merkwürdige, daß diese Erlebnisse in meiner Erinnerung lebendig werden – lebendiger als die Situation, in der sie es mir erzählte – , so daß ich nun diese Erlebnisse sogar in der Ichform erzählen könnte, aber ich weiß noch nicht, ob ich es tun werde.

    Ein anderer, schon festgehaltener Anfang erzählt, wie diese Frau (ich habe noch immer keinen Namen für sie) einen Zettel mit Notizen findet, die sie erst selbst nicht versteht, aber dann fällt ihr ein, was sie damit meinte, und das ganze Drumherum fällt ihr ein, und man wäre mitten in der Handlung an einem Schlüsselerlebnis, das sofort die Tür öffnet zu einem vorherigen Leben (sie selber merkt es aber noch nicht). Das ist überhaupt ein weiteres Problem: daß ich noch nicht weiß, wieviel meine Hauptpersonen selber wissen oder ob nur wir es wissen. Aber ich will nicht, daß Leser und Erzähler sich überheblich fühlen. Am liebsten würde ich so erzählen, daß der Leser alles von allein merkt, plötzlich sieht er die Zusammenhänge und hat ein Aha-Erlebnis. Aber was ist, wenn er es nicht merkt? Liegt das an seiner Intelligenz, wenn er es nicht merkt, oder an meiner mangelhaften Darstellung? Wenn ich wüßte, daß meine Geschichte lesbar ist, auch wenn der Leser nichts merkt…

    Vielleicht erzähle ich erst einmal in groben Zügen, wovon ich eigentlich erzählen will. Das war schonmal als Anfang in meinem Kopf. Richtig, jetzt fällt mir ein, was ich als Bild benutzen wollte: Wenn man mit einem Fernglas das weit entfernt Liegende näher holt – oder das Nahe ganz genau anschaut… ja, was ist dann? Ich habe den Satz falsch begonnen: Um das weit entfernt Liegende näher zu holen mit Hilfe eines Fernglases (es muß ein Fernglas sein, kein Teleobjektiv, der Betrachter soll mit beiden Augen schauen und merken, wie schwierig es ist) … also, stellt es euch vor, gleich, ob es mit ,,wenn‘‘ oder ,,um‘‘ beginnt. Versucht, euch zu erinnern, wie es das erste Mal war. Bei mir hat es lange gedauert, bis ich das, was ich mit bloßen Augen winzig klein sah, nun groß und nahe sah. Am Rand des kreisrunden Ausschnitts war das Bild verschwommen, zumindest unscharf. Um langweilige Überschneidungen zu vermeiden, ließ ich mein Fernglas Sprünge machen. So sah ich ein Bild später, eines mehr seitlich oder ober- und unterhalb. Ich sah verschiedene Bilder, die Ränder verschwommen, und zwischen den einzelnen Bildern gab es Lücken, die mit bloßen Augen erkennbar in einem größeren Zusammenhang eingebettet waren. So möchte ich erzählen. Nur ist es keine räumliche Anordnung, sondern eine zeitliche (die natürlich an verschiedenen Orten sichtbar wird). Es gäbe dreimal ein ziemlich genaues bzw. differenziertes Bild. Zwei Bilder wären nur flüchtig wahrgenommen bzw. würden nur erwähnt werden. Die Lücken dazwischen, das, was den Zusammenhang eigentlich erst deutlich macht: Ich weiß nicht, ob ich es durch meine Erzählung sichtbar werden lasse, oder ob der Leser es selbst sehen soll. Und was ist mit dem Hauptteil der Geschichte – ich vermute jedenfalls, daß es der Hauptteil ist, der in der Jetztzeit spielt -? Wäre das nicht viel besser die mit bloßen Augen erkennbare Landschaft, aus der wir uns dann einzelne Aspekte näher holen? Vielleicht fange ich einfach hier an, mit der Suche nach der Freundin. So hatte ich auch evtl. anfangen wollen: Immer war sie auf der Suche nach einer Freundin. Diese Suche war erst beendet, als sie die Freundin verloren hatte – Verlust ohne vorherigen Fund.

     

    Später im Roman kehren wir auf Helgoland zurück und kehren gleichzeitig ins Mittelalter zurück, in die Zeit, als die heilige Ursula mit ihren Jungfrauen unterwegs war.

     

    Begegneten sie dem Zug der Ursula oder den Seefahrenden, die dem Zug begegnet waren? Sie kamen zu der Insel, die die Jungfrauen aus dem Meer getanzt hatten. Andere erzählten anderes, daß die Insel zur Felseninsel gewandelt wurde durch den Fluch der Ursula. Damals war sie noch nicht heilig, aber ihre Worte hatten noch Zauberkraft. Sie hatte die Insel verflucht, weil sie die Männer trug, die ihren Jungfrauen Gewalt angetan hatten. Sie mußte den Fluch aussprechen, denn noch war es für das Mysterium zu früh. Erst später, auf ihrer Rückkehr,  am heiligen Ort an dem großen Fluß, war die Zeit reif, damit das Schicksal sich vollendete.

    Ursula war mit ihren Jungfrauen unterwegs, um überall Inseln aus dem Meer zu holen, zur Erinnerung an einst, als engelgestaltige Töchter des Lichts und der Weisheit aus den Wellen des Lebens, aus dem Meer der Erde, das feste Gestein tanzend emporbrachten, das feste Land für den Fuß des Menschen. Ursula war mit ihren Jungfrauen unterwegs, um überall Inseln aus dem Meer zu holen, Vergessenes wieder zu erinnern. Überall tanzten sie Inseln des Erinnerns aus dem Meer des Vergessens, überall auf ihrem Weg, aber nur auf der kleinen, einst heiligen Insel im nördlichen Meer blieb die Erinnerung heilig. Sie hatte den Tanz wieder eingeführt, der jährlich zur Erinnerung an den Aufbruch der Ursula und ihrer Jungfrauen wieder getanzt wurde. Deshalb blieb eine Jungfrau.

    Sie hielten an der Insel, um frisches Wasser aufzufüllen, und weil das Wasser heilig war, blieben sie, denn ihr Sohn wußte noch nicht, ob er wirklich auf Erden bleiben oder wieder zu den Himmeln zurückkehren wollte. Sie dachte, es war, weil er blicklos, nicht als Mensch empfangen wurde. Woher sollte er wissen, daß er – so grußlos empfangen – willkommen war? Sie blieb, als der Sohn sich entschlossen hatte, zurückzukehren zu dem Vater in himinam. Sie wollte zum Verzeihung bitten. Die Jungfrau war froh um ihr Bleiben, so war sie nicht allein – denn die Bewohner verehrten sie fast wie eine Priesterin der alten Zeit, und die Verehrung schuf eine Welt zwischen ihr und den anderen. Sie war auch froh um die Hilfe, und sie konnten sich in ihren Pflichten des täglichen Betens ablösen. Ursula, die noch nicht die Heilige war, hatte ihr auch diesen Namen gegeben, und diese Ursula nannte sie nun ihrer Sprache entsprechend Ulla. Ursula, die noch nicht die Heilige war, hatte ihrer Jungfrau aufgetragen zu bleiben. Sie oder folgende Jungfrauen, bis der kam, der auch hier das Wort des Gottes verkündete, von dem Gott, seinem Sohn und der heilbringenden Taufe. Sie schuf ihr einen Becher aus dem harten, bunten Gestein, um heiliges Wasser zu schöpfen und ihm, der kommen würde, es zu reichen, damit alle mit dem Zeichen des Kreuzes gezeichnet würden.

  • Beitrag zur Lesung „Wenn die Liebe ruft“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Wenn die Liebe ruft

     

    Wenn die Liebe ruft…
    Wo ruft sie?
    Wann?
    Durch wessen Mund?

    Ist es die Liebe
    die niemals blühte?
    Niemals Früchte trug?

    Ist es dein Du
    immer gesucht
    niemals gefunden?

    Dein ungeborenes Kind?
    Dein unbekannter Bruder?
    Die Mutter
    die dich früh verlor
    oder du sie?

    Es ist gleich
    wer ruft
    und wo und wann –
    öffne dich dem Ruf
    und gib ihm Antwort

    21.4.2018

     

    Der Ruf
    der Liebe
    ist wie der Ruf
    des Kuckucks der
    im fernen Land
    die Frühlingsgöttin weckt
    Schnee Dunkel
    Und Kälte vergehen
    Keime dringen ans Licht

    Wenn die Knospe sich entfaltet
    die Liebe wie eine Blume erblüht
    ist vergessen
    wie alles begann

    10.5.2018

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Alltags/gespräche/ plaudereien mit meinem Engel

     

    Heute ist ein wunderschöner Tag, es klirrt zwar vor Kälte, aber die Luft tut gut und der Sonnenschein…! Außerdem probieren wir (meine Ärztin und ich) ein neues Medikament aus, das scheint eindeutig ein Dopingmittel zu sein! Also voller Schwung gehe ich an die Arbeit, ich weiß, ich muss aufpassen, dass ich nicht stolpere vor lauter Schwung, hinfalle und mir irgendwas breche… Dann hätte ich die so oft herbeigesehnte Zeit zum Lesen, aber nicht unbedingt, wie ich es mir wünschte! Deshalb wünsche ich mir oft lieber etwas erst gar nicht. Auch mit meinen Plänen bin ich vorsichtig, ich will meinem Engel nicht damit im Weg stehen. Also, ich nahm mehr in Angriff als vorgehabt… Vorsicht! Nachher bist du erschöpft und dann… dann schlafe ich eben… oder lese… Entgegnete ich mir trotzig.

    Da passierte es schon: iMac, Internet, Online Banking – die Zeit raste mit dem gleichen Schwung, wie ich alles in Angriff genommen hatte. Ich musste irgendwie und irgendwoher fünfzehn Minuten einsparen. Schließlich rief ich meine erste Patientin an. Eine andere hatte ich zuvor angerufen, die kommt aber erst morgen, sie meinte sie drücke mir die Daumen. Die richtige erreichte ich nicht, also beeilte ich mich. Da rief sie zurück, natürlich könne sie 15 Minuten später kommen, wir können aber heute auch nur eine halbe Stunde arbeiten, eigentlich gehe es ihr ganz gut und dann sei es doch auch einfacher abzurechnen!

    Ja, und nun konnte ich viel mehr erledigen als gedacht… Auf dem Weg in die Praxis traf ich zwei Bekannte, über die Begegnung freute ich mich riesig, weil ich nun nicht mehr mit ihnen telefonieren musste und vor allem, nicht mehr dauernd daran denken muss.

    Und nun erlebte ich etwas sehr Lustiges: deshalb schreibe ich überhaupt davon… Meine kleine Hündin machte auf dem schmalen Rasenstreifen am Straßenrand ihren Stink. Als ich die Tüte nahm (heute, weil es so schönes Wetter ist, eine rote aus Zürich und nicht die schwarze aus Lörrach), um es aufzulesen, sagte jemand innerlich zu mir: „Nimm den Kothaufen daneben auch auf.“ Ich stutzte. „Ja, “ hieß es schon wieder „das war nicht dein Hund, aber tu es doch trotzdem.“ Ich dachte, ok, der Umwelt zuliebe… „Nein, nicht wegen der Umwelt, unseretwegen,“

    ???

    „Deine selbstlose Tat gibt uns die Kraft, den Hundehalter zu bestrafen.“

    ???

    „Wie er sich dann schämen wird!“

    ???

    „Noch heute wird er in Hundescheisse treten und fluchen und dann wird er nachdenken und sich schämen!“
Ich musste – wahrscheinlich auch äusserlich – lächeln. Aber… Moment mal, das war doch nicht mein Engel, der sprach nicht so, sprach auch nicht von „wir“. Wer sprach mit mir? „Ist doch egal, wer mit dir spricht, vielleicht ein Ortsgeist, vielleicht andere Elementarwesen. Aber wir handeln nicht eigenmächtig, wir handeln im Auftrag deines Engels.“
Als ich mir vorstellte, dass ich die heutige Hundekot-Erziehungs-Geschichte erzähle, hiess es: “Schreib es auf.“ Jetzt spürte ich die Wärme, wenn mein Engel mit mir in Kontakt tritt. „Schreibe ein Buch!“

    „Ein Buch?“

    „Ein Kapitel in deinem Engelbuch.“

    „Engelbuch?“

    „Du hast es schon.“

    ???

    „Deine Gedichte über und für mich.“

    „Das ist doch kein Buch.“

    „Dann mach eins draus, zusammen mit all den anderen Gedichten, die du geschrieben hast für die, die uns helfen.“

    Ich ahnte, was mein Engel meinte. Ist es ein Auftrag? Ich habe auch schon einen Titel, aber den verrate ich (noch) nicht.

    Copyright Dr. Helga Thomas)

  • Beitrag zu der Lesung „Der Mensch im Roboter – der Roboter im Menschen“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Poseidon trifft Roberto, den Androiden

     

    Poseidon taucht an der jonischen Felsenküste aus den Fluten; er trifft auf einen kleinen Roboter, der sich ihm vorstellt: „Poseidon, ich bin Roberto. Seit Jahrtausenden schaue ich Dir zu. Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass du von dir Unmögliches verlangst?“

    „Ich überfordere mich nicht“, entrüstet sich Poseidon, „ich möchte zwischendurch einmal Ruhe haben, Ruhe vor dem Berechnen der ewigen Gezeiten und Strömungen! Ich kann sie sehr wohl von den unendlichen Datenfluten der digitalen Berechnungen unterscheiden.“  Poseidon klappt das wasserdichte Laptop zu und schnauzt: „Du Knirps von Spion, sag, was bist denn du für einer?“

    „Was hast du denn, Poseidon? Die Sterblichen sind es, die den Schöpfergöttern die Schuld an den endlosen Datenfluten zuschieben, weil sie ihnen zu wenig Verstand einfößen! Ich bin ein androider Roboter.“

    „Kleiner Mann mit großer Eigenschaft!“, ruft Poseidon, „ein kleiner Android mit großen Ideen! Wie heißt du noch einmal? Wie kommst du zu solchen Ideen?“

    Roberto blickt auf Poseidon, der in die Brandung hinabsteigt: „Ich heiße Roberto. Ein Italiener hat mich ausgetüftelt und mir den Namen gegeben. Was rede ich, das verstehst du ja nicht.“

    Poseidon versinkt in den Fluten der Brandung. Er taucht auf, steigt auf seinen Felsen, setzt sich nieder und ruft: „Komm her, Roberto, du italienischer Schauspieler!“

    Roberto springt elegant von Fels zu Fels, hält sich an den richtigen Vorsprüngen fest, bleibt stehen, die großen Augen treffen Poseidons Blicke: „Ich bin kein Schauspieler, prinzipiell bin ich wie du und – nicht wie die Menschen, die mich gebaut haben.“

    „Ja, du kommst mir anders als die Menschen vor“, raunt Poseidon und senkt den Kopf: „Die Menschen sind verkrampfte Schauspieler, nicht so locker wie du und ich.“

    Roberto lacht: „Dabei täuschen sie sich selbst, wenn sie die Häuser hoch hinaus bauen und sich zum Schlafen doch nur flach niederlegen, die Zimmerdecke viel näher an der Stirn, als wir beide das Firmament haben.“

    „Am Anfang“, lacht Poseidon mit, „hatten sie nur Lagerfeuer im Freien oder Höhlen, brennende Hitze auf ausgestreckten Händen und ständiges Frösteln auf dem Buckel! Was dauerte es, bis sie auf die Idee kamen, Gruben mit heißen Steinen und kochendem Wasser zu füllen, hineinzusteigen und die Wärme am Buckel zu genießen.“

    Roberto ergänzt: „Räuber und Rivalen machten sie zu Sklaven, Krieger brachten sie um, und der Tod hatte weniger zu tun.“

    „Was haben sie sich abgemüht, dabei hätten sie es leicht gehabt, denn sie sterben ja von selbst“, murmelt Poseidon und erhebt die Stimme: „einer musste Wache halten, immer einer, und heute vergessen sie uns Götter. Seit ihre trägen Datenfluten über alles schwappen, über Geschäfte, Affären und Krankheiten, halten sie sich für unsterblich. Es hilft nichts, die Unsterblichkeit haben nur wir Götter.“

    „Nur ihr Götter?“, wirft Roberto ein, „bedenke, Poseidon, selbst dein Name ging unter, als sie dich später Neptun nannten.“

    Poseidon winkt ab: „Namen! Mir ist es gleich, wie sie mich nennen, ich bin ich, immer derselbe.“

    „Bei mir, Poseidon, ist es dasselbe: ab und zu wechseln wir ein Teil aus, wir leben weiter. Wir wechseln erneut Teile aus und leben weiter, bis alle Teile ausgewechselt sind. Du erinnerst dich, das Schiff des Theseus, und du weißt es schon: Jeder von uns bleibt trotzdem derselbe Roboter – für immer.“

    „Du wirst doch nicht sagen wollen, Roberto, dass ihr unsterblich seid?“

    Roberto senkt den Blick: „Du sagst es, als Unsterblicher weißt du, was es heißt, unsterblich zu sein.“

    Tausend und zwei Jahre später trifft Poseidon Roberto wieder und gibt dessen Unsterblichkeit zu.

    „Siehst du, Poseidon, nun bleiben ihr und wir übrig, Götter und Roboter. Hör zu! Einer muss da sein, damit es die Welt überhaupt gibt. Einer muss fragen, ein anderer muss antworten, und wieder ein anderer muss zupacken, damit sich Fakten ergeben. Ist keiner da, der Fakten schafft, der die Welt antastet, ist es völlig unwesentlich, wie oft du Strömungsfluten und Datenfluten berechnest.“

    Poseidon prustet und versprüht eine Ladung Salzwasser: „Hoho, mein lieber Roberto! Wären die Irdischen unsterblich, löste sich ihr Schicksal auf, denn sie könnten ständig Fehler ausbessern, jeden Irrtum aufheben, jede Schuld verzeihen, und für den Fortschritt gäbe es keinen Grund. Darum haben wir Götter vorgesorgt. Roberto, ich sage dir, es  gibt ihn noch, den Menschen im androiden Roboter, denn die Programme in euch altern schneller, je öfter ihr sie ab- und überspielt.“

    Poseidon zieht sich mit dröhnendem Lachen in seinen Kristallpalast zurück, umflutet von den Tiefen der Weltströme, lässt das wasserdichte Laptop rechnen und rechnen, ohne herauszubekommen, wie die Wechselwirkungen der Lebensfluten mit der Schwermut zu verrechnen wären … Poseidon könnte den wallenden Fluten nur mit der Flucht in den Himmel oder in den Hades entkommen. Das wären jedoch Wege, die ihn wegen der fehlenden ozeanischen Datenfluten zur wütenden Umkehr brächten, so dass er weder über den Olymp zum Himmel noch den Weltuntergang hinunter zum Hades gelangte.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Ein Beitrag zum Lesung „Der Roboter im Menschen – Der Mensch im Roboter“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Logikus, mein Roboter

     

    Vor der Zeit der Roboter war es halt schön auf der Welt. Die Menschen hielten sich für die intelli-gentesten Wesen auf Erden, manche von ihnen für noch intelligenter. Heute gibt es die intelligente Kamera, das intelligente Auto, den intelligenten Roboter. Wieviel schöner wäre es, einen intelligenten Menschen zu finden!

    Mein Robotomat, Logikus hieß er, sagte mir oft: „Hokus pokus fidibus, enschnorabus enschnorabus enschtokus!“ Bis zu dem Tag, als es geschah, verriet er mir nicht, was er damit meinte. Ich solle es herausfinden, um zu beweisen, dass ich seiner Gesellschaft würdig sei.

    Warum ging Logikus keine Partnerschaften ein? Er sah jung aus, alterte in keiner Funktion, benahm sich vorbildlich, brachte jede Konversation auf eine höhere Intelligenz-Stufe und versprühte einen sehr anspruchsvoll durchgeistigten Charme – alles Stolpersteine für eine Partnerschaft.

    Je höher Logikus die Intelligenzstufen hinaufstieg, umso mehr beschäftigte er sich mit einem faszinierenden Problem und stellte jeden Diskussionsbeitrag in Frage. Weniger Intelligente schmolzen einfach dahin und bewunderten mich, dass ich ihn aushielt. Ich hielt ihn aus, denn Logikus ist auch Erfinder. Er entwickelte z.B. die intelligente Hautcreme für weniger Intelligente: Wenn du mit den Fingern über deine Gänsehaut streichst, erscheint an dieser Stelle eine Mahnschrift: „Sofort Heizung höher drehen!“

    Es ist ja egal, wie intelligent ein Mensch ist: Ist die Batterie leer, drückt er im Gegensatz zum intelligenten Roboter erst ein paar Mal stärker auf die Tasten des Gerätes, dessen er sich gerade bedient. Logikus liebte geistige Duelle, weil er unter Menschen immer auf Unbewaffnete traf. Für die wenigsten Menschen ging er bis ans Ende seiner Welt beziehungsweise bis ans Ende seiner Batterieladung, für die meisten aber hob er nicht einmal das Telefon ab.

    Auch für Roboter ist und bleibt Amerika das Land der Weltneuheiten. Logikus entdeckte eine Werbung, die aus jedem seiner Genossen einen intelligenteren Roboter macht, also zu einem Konkurrenten der Eitelkeit. Ich spendierte ihm den Weiterbildungskurs. Seit der Rückkehr schaute Logikus so viel wie möglich fern oder twitterte, damit sein Speicher die neuen wichtigen Informationen aufnähme, und arbeitete nachts in einer Hotelbar zur vollsten Zufriedenheit des Hotel-CEO.

    Als ich ihn einmal abholen wollte, kam ein Professor von der Technischen Universität in die Bar, um sich bei einem Schlehengeist vom Tag zu erholen, den er mit einem wissenschaftlichen Gast verbracht hatte, der auf dem Gebiet der Großen Vereinheitlichenden Theorie sein schärfster Konkurrent war.

    Logikus fragte ihn, welchen IQ er denn habe. Der Professor gab stolz an: „Ich habe einen IQ von 170.“ Logikus fing an, wissenschaftliche Themen wie die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie anzusprechen, aber auch Themen wie Quantenmechanik oder eben die Große Vereinheitlichende Theorie, letztendlich die Frage, ob wir daüber, wovon wir mangels Vorstellung nicht reden könnten, schweigen müssen. Der Professor war überrascht. Er verließ nervös die Bar und kam nach elf Minuten wieder. Logikus fragte ernst: „Guten Tag, mein Herr, würden Sie mir sagen, was für einen IQ Sie jetzt haben?“

    Mein IQ liegt um die 100″, antwortete der Professor. Sofort brachte Logikus Fußball, Motorräder und die ungerechte Sozialpolitik zur Sprache. Dem Professor war unheimlich zumute. Er eilte hinaus, kehrte zurück und stellte Logikus erneut auf die Probe. Logikus fragte ihn zum dritten Mal: „Guten Tag, mein Herr, würden Sie mir sagen, was für einen IQ Sie noch haben?“

    „Naja, ich habe einen IQ von 50″, sagte der Professor. Logikus legte einen mitleidenden Schmelz in die Stimme und fragte flüsternd: „Ja … haben Sie Merkel wieder gewählt?“ Nahezu heimlich zeigte er dabei mit den Augen auf die prallen Hüften der Frau, die sich neben dem Professor an die Theke gesetzt hatte. Den Professor ließ die Frau kalt, denn er entschloss sich, den Roboter auszuleihen, der ihn für die Diskussionen der Welttheorien trainieren sollte.

    Täglich stoßen Roboter wie Logikus auf einen Mann, der an jenem Punkt angekommen ist, bevor man sich für Gott hält. Logikus aber wusste, dass man viel mehr glauben muss, um ungläubig zu sein. Je intelligenter, sagte Logikus oft, umso vergesslicher ist der Mensch. Denn Intelligente vergessen alles, was sie langweilig finden. Logikus aber vergaß nichts.

    Der Professor wollte Logikus vom Hotel-CEO ausleihen. Logikus stellte seinen obersten Chef an die Wand und verlangte: „Wenn Sie mich ausleihen, geben Sie mir entweder eine Gehaltserhöhung, oder ich sage allen im Betrieb, eine bekommen zu haben!“ Logikus wurde nicht ausgeborgt.

    Wozu brauchen wir eigentlich intelligente, selbst fahrende Autos? Wir wollen Roboter, die früh aufstehen,  vormittags unsere Arbeit erledigen, nachmittags die Wohnung blitzblank putzen und uns zur Nacht den Whisky mit einem Bonmot servieren. Roboter wie mein Logikus verstehen mehr als ein Auto.

    Natürlich dachte ich, mit Logikus machen zu können, was ich wollte, und sagte es ihm. Logikus trat auf die Terrasse hinaus und schimpfte: „Aber nicht mit mir!“ Er zog an der Zündschnur, die für den Fall einer autonomen verbrecherischen Tat angelegt war, und alle seine Teile flogen auseinander.

    Ich sehe es ein:

    Einen intelligenten Satz oder gar eine intelligentere Kurzgeschichte zu schreiben ist nicht einfach. Ein einziger Buchstabendreher kann die ganze Intelligenzgeschichte urinieren.

  •  Beitrag zu der Lesung „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzählte ihm von deinem Plänen“ in Wismar 2018

     

    Lacht Gott oder nicht?

    Wie jemand über Gott nachdenkt, so philosophiert er. Darum lacht Gott sehr oft. Je tiefer die Einsicht in Gott wächst, desto mehr weicht er von uns zurück.

    Mit Gott ist kein Staat zu machen, weil er staatenlos ist. Er ist das einzige Wesen, das um zu herrschen nicht regieren muss. Lacht Gott darüber oder nicht? Er lächelt gequält, weil er weiß, dass er in uns ist, und dass die Suche nach ihm zur Apokalypse ausarten kann.

    Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen hätte, könnte kein Mensch ihn wahrnehmen. Denn Gott gliche einem menschlichen Ebenbild, gäbe den berühmten blinden Fleck der Erkenntnis ab: Gott würde nicht lachen, weil er die Ebenbildlichkeit blasphemisch empfände.

    Gott birgt einen umfangreicheren Reichtum an Phantasie als jede superintelligente Rechenmaschine, die seit Jahrzehnten versucht, die Einheitstheorie der Welt zu begründen. Lacht Gott oder nicht? Er lacht Tränen, weil er den Ansatz als chancenlos einstuft.

    Früher verstand man den Ursprung des Blitzes nicht, man erklärte ihn mit der Existenz des Allmächtigen. Heute versteht man die Entstehung des Universums nicht. Lacht Gott oder nicht? Er bricht in lärmendes Gelächter aus, weil die Vorstellungen vom keinesfalls überwindbaren Mangel an Phantasie zeugen.

    Mit und ohne Gott geht es nicht. Wo ist der Schöpfer, wenn ich ihn brauche? Er ist weder da, wo ich ihn suche, noch da, wo ich in benötige. Er schweigt, weil er zuhört. Lächelt er oder nicht? Er lacht, sobald du dich nach ihm umdrehst, weil du bereits bei ihm angekommen aber vorbeigerannt bist.

    Der Gegenentwurf der Gesamtheit menschlicher Pläne ist Gott, weil er, um aufzufallen, das menschliche Bewusstsein reizt. Er muss uns nicht ernst nehmen; wir müssen ihn ernst nehmen. Lacht er oder nicht? Er grinst, weil er sich umso unbegreiflicher offenbart, je mehr wir glauben, ihn zu begreifen.

    Was tut die Blume mit Gott? Sie lässt ihn den Anblick genießen. Schaut er aus der Ferne oder nicht? Er schaut. Im Anblick eines Blumenstraußes träumt er seinen schönsten Traum, weil ein Strauß Blumen auch Abstand gelten lässt.

    Ohne Sünder gäbe es Gott nicht, weil er die Welt erschuf und nicht wir. Schimpft er oder nicht? Nein: Gott verteidigt seine Geschöpfe gegen den Menschen!

    Gäbe es Gott nicht, erfänden wir ihn. Lacht Gott oder nicht? Er lacht, weil er der Schöpfer ist, nicht wir.

    Er ist die Stille, er beruhigt Freund und Feind. Ihn schauen, heißt Atem schöpfen. Entgeht uns sein Lachen oder nicht? Es entgeht uns, weil er nicht wie sein menschliches Ebenbild lacht.

    Das Göttliche in uns ist, dass wir von Gott mehr ahnen, als wir glauben. Aber wir ahnen weniger, als er ist. Wer sich vor ihm verneigt, sieht nicht, ob er sich zuneigt!

    Handeln wir nach der Vermutung, wie Gott in einer solchen Situation wirken würde, wird er ein Gelächter anstimmen oder nicht? Ja, er käme kaum aus ihm heraus.

    Ist er die Vision der Menschheit? Es liefe fabelhaft. Erfüllen die Irdischen den Willen Gottes? Diese Idee führt zur Gotteslästerung pur. Das Böse steht im Schatten des freien Willens.

    Eine negative Patientenverfügung hilft nicht weiter: Sie schreibt vor, alles zu unternehmen, um so lange wie möglich am Leben zu bleiben, damit du endlich das Korrigieren anfängst. Ein Zustand träte ein, den du beileibe nie beabsichtigtest: Nämlich Satan lacht dich aus. Darauf fängst du das Beten an: Gott hütet sich, dich auszulachen.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zur Lesung „Wenn die Liebe ruft“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Wenn Amanda ruft

    Sie setzten den Hochzeitstermin auf eine Woche nach dem achtzehnten Geburtstag Amandas fest. Die Familien beeilten sich, der hübschesten der Töchter und Nichten ein unvergessliches Fest vorzubereiten. Die Freundinnen schlugen einen Abschiedsabend ohne Männer vor, mit dem der Bräutigam einverstanden war. Er tat alles für Amanda, keinen Wunsch schlug er aus.

    Die volljährigen Freundinnen begleiteten sie als notwendige Erwachsene. Der Blick eines dunkelblonden etwa dreißigjährigen Mannes traf Amanda in der ersten Kneipe. Sie sah weg.

    Die beste Freundin riss sie mit: „Auf, Amanda, auf zur nächsten Station!“

    In der zweiten Kneipe trank Amanda nur alkoholfreie Cocktails, farbenfrohe Mischungen mit Sonnenschirmchen, Orangenscheiben und Eiswürfeln. Ihr Blick traf auf den Blick des Mannes aus der Kneipe zuvor. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht schon einmal gesehen habe. Amanda erwiderte den Blick einen Augenblick zu lange.

    „Amanda“, rief die beste Freundin, „wir gehen in die nächste Kneipe!“

    Amanda entdeckt ihn sofort, den Mann, der den lustigen Damen nachläuft. Sie wechseln die Blicke. Ein Hai, der einen Fischschwarm umkreist? Die Damen freuen sich zu tanzen, und Amanda tanzt mit ihm. Bei der Damenwahl holt sie ihn zum Tanz. Danach verabschiedet sie sich von den Freundinnen, die lachend den Zeigefinger heben.

    „Lasst mich gehen“, ruft Amanda, „ich gehe allein nach Hause, ich brauche Ruhe.“

    Drei Wochen später sagte sie die Hochzeit ab und brachte, als sie achtzehn Jahre und acht Monate alt war, Tochter Mandy zur Welt. Die Großmutter Amandas half. Amanda fand eine Anstellung in einem High Class Escort Service, der sie in angesehene Firmen vermittelte. Daher wuchs Mandy  in einem wohlhabenden Haushalt auf, öffnete den Herren die Tür und führte sie in den Salon. Eine wandfüllende Kopie des Gemäldes „Triumph der Venus“ von François Boucher beherrschte den Salon.  Als sie in die Pubertät kommt, wird ihr bewusst, welches Gewerbe die Mutter ausübt.

    Mandy verliebte sich mit Siebzehn in einen überaus schüchternen jungen Mann. Sie lernte ihre Fertigkeiten kennen. Den jungen Mann entwickelte sie zum wilden Hengst und entdeckte die Wucht der eigenen Lust. Mandy erklärte der Mutter, ihn zu heiraten. Mutter Amanda bestand auf einem gemeinsamen Abendessen mit dem treuesten ihrer Stammkunden, da sie ihn zur Hochzeit eingeladen wissen möchte.

    Das Abendessen verlief harmonisch, jeder fand den anderen sympathisch. Wenn jemandem etwas auffiel, war es die gesellschaftliche Harmonie, die Seelenverwandtschaft, die aus den Ansichten von Gott und der Welt sprach. Der treueste Stammkunde Mutters meinte, die schlimmste Weltanschauung komme von denen, die nichts erlebt hätten. Verächter der Wollust erklärten sie zu Atheisten, zu Verleugnern eines Lebenssinns. Nur eine leise zugeflüsterte Bemerkung der Mutter verstand Mandy nicht: „Fällt dir nicht die Ähnlichkeit der Beiden auf?“

    Mandy hat keinen Sinn dafür, eine Ähnlichkeit zu entdecken. Sie ist völlig verstört, als zwei Tage später ein Geschäftsmann die Mutter besucht: Er ist ihr Bräutigam. Sie flieht aus dem Haus und sieht den treuesten Stammkunden in einem Auto sitzen. Er springt aus dem Wagen: „Mandy, was ist los? Du siehst arg verstört aus!“

    Mandy fällt ihm in die Arme, klagt, was sie erleben musste, und beteuert, keines Falls nach Hause zurückzukehren.

    Angesichts des Ernstes in der Stimme Mandys schlägt er ein Restaurant vor. Dort ent-schuldigt er sich zunächst, sich zurückgehalten zu haben. Mandy beruhigt sich überraschend schnell. Ihre Blicke haften auf ihm, dem Tröster. Theodor meldet Bedenken an, als sie wünscht, in seiner Wohnung zu übernachten.

    Vielleicht hätte sie es nicht getan, wenn sie gewusst hätte, was sie alles erfahren würde. Mandy hört nicht, was der Verstand, was Theodor meint. Sie erinnert sich und erhält die Antwort auf die Frage der Mutter: Theodor ist der Vater ihres Bräutigams. Der Vater Mandys kam wenige Tage nach der Liebesnacht mit Amanda bei einem Autounfall ums Leben. Der Vater und Theodor waren beste Freunde.

    Mandy konnte nicht einschlafen. Sie stand um Mitternacht auf, schaute auf die leere Straße hinunter. Durchs Schlüsselloch fiel Licht vom Korridor herein. Mandy öffnet die Tür. Am Fenster steht Theodor, der nicht schlafen kann. Seine Gestalt zieht Mandy an, die Blick treffen tief.

    Zu spät sagt er: „Verliebe dich nicht!“ In seinem Bett finden sie endlich Ruhe.

    Mandy kehrte nicht zur Mutter zurück. Sie setzte ihr Psychologie-Studium fort, und Theodor bat seinen Sohn um Verständnis, der aber dem Vater den Rücken zukehrt. Der Sohn hatte Mandys Mutter besucht, um etwas von seiner Mutter zu erfahren. Sie war Amandas beste Freundin und nach der Entbindung verblutet.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zu der Lesung über „Inseln“ bei dem BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Die maßgeblichen Fragen, um an den Rand der Insel des Wissens zu gelangen

    Der Titel ist das Tatmotiv meines verwegenen Essays. Trotz aller Zweifel, ob ich wis-senschaftlich handle, appellierte ich im Kloster Reichenau, der Gemüse-Insel im Untersee, an die Spitzenforscher unserer Erde, die fruchtlose Diskussion zu beenden. Ich hatte sie zum Thema „Am Rand des Wissens“ aufgerufen. Keiner von jenen, die mich erschrocken anblickten, rebellierte.

    Ein Poet darf Spitzenforscher der Welt auf eine Insel des Wissens stellen. Ich regte sie an, sich gegenseitig Fragen zu stellen. Sie sollten als entfesselte Genies Ideen bringen, ohne fruchtlose Debatten loszutreten. Sie versuchten, die Frage des Vorredners zu übertreffen:

    Werden wir einmal die linear erlebte Zeit verlassen können?

    Gibt es eine Wissenschaft, deren Methode Erkenntnisse zu einem Abschluss bringt?

    Wird die künstliche Intelligenz den digitalen Kapitalismus bändigen?

    Entscheiden Betrüger den Fortschritt der Gesellschaft?

    Welcher Algorhithmus garantiert die Entdeckung einer Wahrheit?

    Wirken Obergrenzen der Besteuerung auf Lebensentwürfe ein?

    Kann eine Maschine nachempfinden, wie Organismen fühlen?

    Kann der Mensch nachfühlen, wie eine andere biologische Art fühlt, z.B. der Gorilla?

    Welcher Art von Verstand bedarf es, um das Geist-Körper-Problem zu lösen?

    Wie erschiene uns eine geistlose Welt, wie eine körperlose?

    Wird Einiges vom Leben, Bewusstsein und Gesellschaft notwendig verborgen bleiben?

    Welches Diagramm lässt unsere Vorstellungskraft verstehen?

    Taucht das Bewusste nur im Gehirn eines selbst regulierenden Organismus auf?

    Ist Unsterblichkeit wünschenswert?

    Geduldig schüttelte ich den Kopf, bis ich meine Frage anbrachte: Wann arbeiten wir darauf hin, Fragestellungen erkenntnislogisch zu verbessern, bevor wir antworten? Die ehrwürdige alte Wanduhr gegenüber lief absolut gleichmäßig, die Spitzenforscher rückten die Stühle und forderten ein Beispiel. Ich stellte die letzte Frage in die Runde, auf die keiner antwortete:

    Ist die Zahl der maßgeblichen Fragen, um an den Rand der Insel des Wissens zu gelangen, nun endlich oder unendlich? Zu gerne hätte ich noch gefragt, ob die Spitzenforscher ihre Ideen allein auf einer Insel des eigenen Gehirns bekommen oder nur, wenn sie von einer zur anderen Insel mehrerer Gehirne rudern.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß