Tag: 24. Juni 2019

  • Zum Thema: Was uns geprägt hat. 

    Waltrud Wamser-Krasznai: Sprache.

     

    Wie bin ich nur, ein gut bürgerliches hessisches Frauenzimmer, in diesen östlichen Schlamassel hineingeraten? Mein Petúr und ich passen doch überhaupt nicht zusammen. Wir sind so verschieden, dass ständig die Fetzen fliegen. Wir halten einander nur aus, weil er so viel unterwegs ist und wir vollkommen unterschiedliche Freizeit-Interessen haben. Was verbindet uns dann überhaupt? Antwort: Wir sprechen dieselbe Sprache.

    Ha, ha, ha, höre ich da. Der eine artikuliert sich zwar geläufig und endlos in fünf Sprachen, aber mit so schwerem Akzent als wäre er gerade von einer Operettenbühne heruntergesprungen. Die andere spricht außer deutsch, italienisch (und irgendwie auch englisch) ganz brauchbar eine Art Monarchie- Ungarisch. Das kann es also nicht sein.

    Unsere gemeinsame Sprache ist vielmehr die einer verflossenen Generation und eines vergleichbaren familiären Hintergrundes. Wir kennen und gebrauchen dieselben Wörter und Fremdwörter und vermeiden dieselben Klischees wie:  echt?  gut aufgestellt, Sinn machen – falsch, ganz falsch. Es heißt im Englischen: to make sense, in unserer Muttersprache aber: es hat Sinn, es ergibt keinen Sinn. Wir Deutschen sind in unserem vorauseilenden Gehorsam halt  Großverbraucher von Anglizismen, die einem schon zu den Ohren herauskommen wie das allgegenwärtige „okay“ oder gar „cool“.

    Petúr und ich wechseln unsere Umgangssprache abhängig vom Thema, nach Lust, Laune und Vermögen. Wir haben beide an Sprachen Interesse und verfügen wohl auch über ein gewisses Sprachgefühl.

    Was das Schreiben angeht – da  ist es ein bisschen anders. Einer der ersten Sätze, den ich von meinem Petúr hörte, betrifft die Unlust, um nicht zu sagen: die Unfähigkeit der Technokraten zu allem, was Schreiben heißt. So wurde ich denn eines Tages nicht ganz ohne Verdienst zur „Ober-Burgschreiberin“ ernannt, nämlich auf „Kraszna-Horka“, einem der vielen von der Kaiserin/Königin Maria Theresia an diese Krasznais verliehenen Stammsitze.

    Was uns geprägt hat, hängt meiner Meinung und Erfahrung nach ganz entscheidend mit „Sprache“ zusammen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei meinen Klassenkamerad/inn/en, deren Väter gewöhnlich die einzigen Ernährer der Familie waren, abends spät und völlig kaputt von der Arbeit kamen und nur noch ihre Ruhe haben wollten, saß mein Vater bereits mit uns am Mittagstisch, bereit zu hören, zu reden und Auskunft zu geben. Zu dieser Zeit herrschte  Mangel an Lateinlehrern, und Papa, der seinem Studium entsprechend  naturwissenschaftliche Fächer unterrichtete, in der Schule aber neun Jahre lang Lateinunterricht gehabt hatte, konnte einspringen. Auch als Nachhilfelehrer war er gefragt. An diesen Stunden durfte ich stillschweigend teilnehmen. Sie gerieten zu einer Fundgrube der Allgemeinbildung, denn mein Vater leitete lateinische (und griechische) Ausdrücke, die man damals noch in der Umgangssprache verwendete, bis zu ihrem Ursprung ab. Da gab es immer wieder freudige Überraschungen. Später hatte ich das Glück, bei der Vorbereitung auf das Graecum einen Lehrer zu treffen, der diese Methode ebenfalls praktizierte und vom Alt-Griechischen bis hin zum Italienischen ableitete. Sehr einprägsam!

    Als ich meinen Petúr kennenlernte, ärgerte ich mich anfangs schrecklich, wenn er mit anderen Ungarn stundenlang unverständliches Zeug redete. Ich beklagte mich und erhielt die lakonische Antwort: „Dann lern‘ s halt“. Recht hat er gehabt. Auch Ungarisch ist nicht un-lernbar.

    Die Kehrseite der Medaille: Ich verstehe die Sprache der heutigen jungen Leute nur mühsam und unvollkommen, verabscheue ihre Abkürzungen und Amerikanismen und muss mir Mühe geben, in meinem Alltag nicht allzu weit  entfernt von der Lebenswelt sitzen zu bleiben  –  eine Gestrige also ganz gewiss, hoffentlich nicht eine „Ewig-Gestrige“!

     

  • Helga Thomas

    Was uns geprägt hat

     

    Ja, was hat uns geprägt? Uns alle als Kollektiv unserer Zeit, uns, jeden Einzelnen als Individuum? Aus der Trauma-Forschung wissen wir (eigentlich wissen wir es schon lange, aber seitdem ist es offensichtlicher geworden), dass Kinder vor ihrem individuellen Bewusstsein besonders nachhaltig geprägt beziehungsweise traumatisiert werden. Zur Sicherheit, denn wir wollen es nicht wirklich wahrhaben, wollen es selbst verdrängen, wiederhole ich es überdeutlich: Ein Baby in Bombenangriffen wird für das ganze Leben gezeichnet, ist seinen nicht fassbaren Erinnerungen ausgeliefert wie dem erlittenen Leid einst als Kind; ein dreijähriges Kind kann, weil es sich erinnert, sich dagegen wehren und so die Prägung beziehungsweise das Trauma ein Stückweit überwinden.

    Und doch hat jeder noch sein ganz individuelles Schicksal, es beginnt im Leib der Mutter, alle emotionalen Erlebnisse und akustischen Eindrücke lassen den Embryo schon am kollektiven Leben teilhaben.

    Ich habe selbst in der Hinsicht etwas Eindrückliches erlebt: In den letzten Wochen meiner Schwangerschaft mit meinem Sohn hatte ich eine Regenbogenhautentzündung. Ich konnte fast nichts tun von den Tätigkeiten, bei denen die Augen erforderlich waren: kein Lesen, kein Schreiben, Malen, Handarbeiten …  Schallplatten auflegen war auch nicht möglich. Ich kaufte meine Lieblingsliederzyklen der Romantik als Kassetten und … Mozarts Zauberflöte. Vor allem sie hörte ich nach meinem heutigen Empfinden endlos.  Das fiel mir wieder ein, als mein Sohn im Alter von 2-3 Jahren bei Mozartklängen angerannt kam und lauschte. Immer wieder, plötzlich stand er steht da und lauschte mit einem glücklichen Lächeln auf seinem Gesicht. Ich erzähle jetzt nicht, was das später für weitere Folgen hatte. Statt wie andere Kinder Kinderlieder zu singen, sang er Lieder von Papageno.

    Wenn ich mich heute als Erwachsene frage, was mich geprägt hat, dann fallen mir drei, nein vier Dinge ein: die strenge preußische Erziehung meines Vaters. Hier könnte ich die Geschichte erzählen, wie ich für jede Minute zu spät kommen einen Tag Hausarrest erhielt, wie ich schließlich resignierte und mich mit meinem Schicksal abfand, was ihn noch wütender machte und wie alles schließlich damit endete, dass seine Mutter – die vorübergehend meine kranke Mutter vertrat, energisch wurde und sagte: „Ein krankes Kind ohne Luft und Sonnenschein wird nicht gesünder, wenn es pünktlich ist!“

    Mich prägte auch die Angst meiner Mutter vor dem Gerede der Leute: Was sollen denn die Nachbarn von uns denken, dazu gehörte die unordentliche Frisur, der Fleck auf dem Kleid, der beim Staubwischen übersehene Staub, aber auch: Niemand darf die westliche Zeitung sehen, die zum Trocknen aufgehängte Salami in der Speisekammer (wahrscheinlich stammte sie von einer Schwarzschlachtung).  Das dauernde Aufpassen, dass ich nichts sage von dem, was ich im RIAS – dem amerikanischen Radiosender – gehört habe und worüber Zuhause mit Freunden gesprochen wurde. Das war mühsam, vor allem, weil es doch hieß: du sollst nicht lügen! War denn so tun als ob keine Lüge? Das Verschweigen auch nicht? Ich schuf in meinem kleinen Kopf ein Ordnungssystem: Im Treppenhaus und auf der Straße sprachen die Erwachsenen auch von anderem als von dem, was zu Hause geschehen war. Also: Fremden gegenüber war ich im Treppenhaus, lächelte, grüßte freundlich, schwieg höflich. In der Pubertät entwickelte ich eine andere Strategie: zuerst reden und zwar von dem, was ungefährlich ist, was ich auf der Straße gesehen hab, was ich in der Schule lernte… vielleicht  einen lustigen Witz über kleine freche Berliner Jungs? Jahrzehnte später konnte es mir noch passieren, dass ich zusammenzuckte, wenn man mich fragte, was ich zu XY denke.

    Aber … mich prägte auch die Liebe und Zuversicht meiner Großeltern, besonders meiner geliebten Oma. Sie erzählte Geschichten, die zeigten, einen Menschen versuchen zu lieben, macht das Leben und auch das Sterben leichter. Und – mein Opa zeigte mir an den Bäumen, die aus Urnengräbern wuchsen: Das Leben geht weiter. Ich stellte mir vor, dass ich nach meinem Tod vielleicht als Vogel im Baum sitze.  Das gefiel sogar meiner Großmutter (die Mutter meines Vaters, zu der ich nicht solch inniges Verhältnis hatte wie zur „Berliner Oma“, der Mutter meiner Mutter). Sie wollte als Singvogel wieder geboren werden.

    Es gibt eine weitere Zeit der Prägung, die Pubertät. Eine Übergangszeit, in der der junge heranwachsende Mensch wieder sehr offen und allen Einflüssen von innen und außen ausgeliefert ist. Vorhandene Prägungen, Traumatisierungen können verstärkt werden (die Axt, die immer wieder in die gleiche Kerbe haut) oder sie können abgemildert, vielleicht sogar überwunden werden. Ich hatte ein Erlebnis, das mich innerlich veränderte. Ich erlebte die Gewissheit, dass es eine geistige Welt gibt, dass ich den destruktiven Kräften des Kollektivs nicht hilflos ausgeliefert bin! Ich meinte, die Nähe Gottes erlebt zu haben, zumindest die meines Schutzengels.

    Ich zitiere mich selbst aus meiner kleinen Erzählung „Orte der Kindheit, Wiedersehen nach 46 Jahren“. Ich war den Spuren meiner Kindheit gefolgt und erlebte nun das oben erwähnte Ereignis, das ich mein ganzes Leben nicht vergessen hatte:

    November.  Papa ist seit einem Vierteljahr illegal im Westen, bei den Großeltern. Wir werden bald nachkommen, aber noch versucht Mama vom Haushalt und all dem beweglichen Besitz so viel wie möglich in den Westen zu bringen. Heute hatte sie versucht, den eigentlich noch neuen schönen grünen Teppich in den Koffer zu kriegen. Es gelang. Sie wollte es wirklich versuchen, ihn in den Westen zu schmuggeln. Und ich Schaf ermutigte sie noch. Ich erhoffte mir so ihre Zuwendung und außerdem, wenn sie etwas „retten“ konnte, war sie fröhlich und nicht so gereizt oder noch schlimmer: so traurig. Wir sprachen alles genau ab. Ich renne an der Warschauer Straße von der S-Bahn über die Eisenbahnbrücke zur U-Bahn, schaue, ob Licht bei den Vopos (Volkspolizisten) ist (deshalb durften wir nicht so früh fahren). Wenn ja, komme ich zurück, und wir geben es für heute auf oder versuchen es bei der Jannowitzbrücke.  Ich gehe in den Bahnhof – Blick nach links – dunkel– aufatmen – durch die Sperre gehen – Umdrehen – warten– Blick nach rechts, nur so, fast automatisch – Schreck, denn jetzt brannte Licht –wie gelähmt stand ich da – eine Volkspolizistin tritt heraus – Mama kommt – eine Stimme befiehlt mir: „Bleib einfach stehen“. Und das tat ich dann. Blieb einfach stehen, bis Mama an mir vorbei war. Wir gehen in die U-Bahn – Mama stellt den Koffer ab, wir stellen uns woandershin (eine immer praktizierte Sicherheits-maßnahme, falls ein Sicherheitsbeamter in Zivil fragt, wem der Koffer gehört). Mama atmet auf, ich schüttle unmerklich aber ernst und vorwurfsvoll den Kopf. Noch waren wir nicht drüben auf der anderen Seite der Spree. Da atmete ich dann auch auf.

    Ich habe meinen Eltern dieses grässliche Erlebnis nie erzählt, aber es verfolgte mich, und dann trat aber immer auch das Gefühl auf: Wenn es unerträglich wird, sagt dir jemand,

    was du tun musst, du bist nicht verlassen, du wirst geschützt. Trotzdem unterstützte ich nun das erste Mal meinen Vater, dass wir mit dem „Retten“ aufhören und selber endlich rüberkommen sollen (außerdem wurde ich ja schon beobachtet, was ich aber auch für mich behielt).

     

     

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    Die Verhaltensforschung bezeichnet mit „Prägung“ ein angeeignetes Verhalten, das nicht zu ändern ist. Während eines frühen, für Prägungen sensiblen Lebensabschnitts werden eng begrenzte Verhaltensweisen dauerhaft ins Repertoire aufgenommen, als ob sie mit dem Instinktgefüge angeboren wären.

    Ein typischer Schlüsselreiz ist die plötzliche Bewegung in der Nähe eines geprägten Tiers, z.B. einer Wildgans. Kinder haben Spaß daran, sich langsam einem dahin watschelnden Schwarm von Wildgänsen zu nähern und plötzlich heftig mit den Armen zu rudern. Die erste Gans rennt los und fliegt auf, ein Klatschen, Schnattern und rudernde Arme lassen die nächste und übernächste Gans auffliegen, deren Flügelschlag den ganzen Schwarm nachzieht.

    Kinder wissen, dass sich das Experiment wiederholen lässt. Denn ungezählte Generationen Wildgänse lernen, dass man damit einer bedrohlichen Situation entkommt. Prägen Wildgans-Eltern indirekt auch Menschenkinder?

    Nimmt man Prägung bei Menschen an, wenn sie in Stress geraten und weglaufen, weil die Urahnen wegrannten, um dem Stress mit einem Bären zu entkommen, würde Heraklit, ein vorsokratischer Philosoph, Recht behalten, dass Mensch-Sein eine leere Vorstellung sei. Aristoteles entwickelt im 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Nikomachischen Ethik ein modern anmutendes Charakterkonzept. Die Kultivierung des Charakters ist für Aristoteles ein langwieriger Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens.

    Aristoteles geht nicht darauf ein, ob ein Üben und Eingewöhnen die Auswahl von Tugenden beeinflusst. Denken wir nach, ob uns neben fremden Ideen auch eigene prägen könnten! Ist das Unbewusste etwas, das absichtlich unbewusst bleiben will? Ver-ändert es Ideen und Gefühle, ohne dass wir es merken?

    Jeder gestehe sich seine guten und schlimmen Ideen ein! Viele glauben, glaubenslos zu denken. Wieviel mehr muss man glauben, um gut- oder ungläubig zu werden! Beeinflusst eine unbewusste Geschichte intensiver als die bewusste Geschichte die persönliche Zukunft?

    Was gilt? Der menschliche Rhythmus bedarf des Schlafs und Vergessens. Jede Kommunikation beginnt in einer materiellen Stille, eingebettet in Medien wie z.B. Bücher, Chipkarten, Festplatten, Tastsinn, Augen oder Gehör, die alle von sich aus kein Signal geben, um eine Kommunikation einzuleiten.

    Mag auch Homo sapiens sapiens die einzige Spezies sein, die weiß, wann er die Grenzen der Fähigkeit erreicht, sich selbst zu verstehen: Was prägt den jagenden und sammelnden Urmenschen? Er eignet sich Antworten auf Gefahren durch Strategien seiner Horde an. Was prägt den Sesshaften? Er eignet sich Verstandestugenden an, die durch Belehrungen und einen langwierigen Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens erworben werden – unter Aufsicht komplex organisierter Sippen.

    Was prägt den König, Diktator, Revolutionär oder Demokraten? Sie dürfen um der Karriere Willen nie die schlimmste Idee aussprechen, die sie haben! Gibt es Vermutungen, wie viele Fragen unbeantwortet und wie viele Antworten verschwunden sind, und welche der überlieferten Ideen sich durchsetzten?

    Warum sind Vernunft, Wissenschaft und Beweise so machtlos gegen Aberglaube, Religion und Dogma? Menschen, die Macht über andere gewinnen, missbrauchen sie gern. Die Prägung im biologischen Sinn wandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Mit Sesshaftigkeit und Staatenbildung bilden sich die dynamischen Hauptsätze der Soziologie heraus.

    Jede Befreiung von Wertvorstellungen und Beziehungsmustern führt nicht in Freiheit, sondern zur Befangenheit in neuen Wertvorstellungen und Beziehungsmustern. Schon in Tierpopulationen mit mehreren Rangebenen entstehen soziale Beziehungsmuster, die individuelle Vorteile bieten. In sozialen Systemen jedoch führt die Gewinnsteigerung der Einen zu Verlusten der Anderen, wie z.B. Produktivitätsgewinne zu Arbeitsplatzverlusten führen.

    Jeder Sieg führt zu Niederlagen einer Gegenseite. Sesshaftigkeit fördert Seuchen, Erfolge der Medizin belasten Sozialsysteme, das Sozialparadoxon, mehr herauszuholen als eingezahlt zu haben, schwächt die Sozialkassen. Globalisierung erwürgt Heimatgefühle, Entmilitarisierung bringt Terroristen Vorteile.

    Was prägt den Christen? Glaubt er, ohne Glauben leben zu können? Wieviel musst du glauben, wenn du Politikern oder Wissenschaftlern glaubst! Eine Tragikomödie wird geboren: wer nicht mitspielt, dem wird mitgespielt. Schnell passt man sich der öffentlichen Meinung an und verliert den Mut auszubrechen. Den dynamischen Hauptsätzen gemäß verdichten sich soziologische Umstände, und jeder erlebt es. Die Prägung im biologischen Sinn verwandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Sind wir schlau genug, wenn wir die Grenze unserer Fähigkeit erkennen, Geist und Seele zu verstehen?

    Befreie den Menschen vom Kampf um die Existenz – und nach einer Weile wird er aufhören zu existieren, Mensch zu sein. Rückblickend ist das Leben wie ein Märchen: Es war einmal. Denn der Preis eines jeden Lebensweges sind die vielen, an Gabelungen nicht eingeschlagenen Wege. Unser Leben ist kein Traum, aber es soll ein schöner Traum werden.

     

  • Was ist Prägen?
    E. Grundmann 23.01.2019

    Zuerst frage ich gern die Etymologie, denn ἔτυμος (ἔτυμον, ἐτύμη) heisst wahr, echt, wirklich – und bedeutet hier der wahre Wortsinn.

    Prägen geht auf das Alt- und Mittelhochdeutsche zurück und bedeutet pressen, einpressen, vielleicht auch in die Oberfläche einbrechen. Wenn mich also etwas prägt, dann wirkt etwas von aussen auf mich ein und hinterlässt einen Eindruck, einen bleibenden nämlich, wenn von Prägung die Rede sein soll. Da fällt jedem sofort ein, dass ihn Eltern, Familie, Lehrer geprägt haben, dann natürlich auch beeindruckende Erlebnisse. Das ist uns geläufig und bedarf keiner weiteren Ausführung. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass alles und jedes jedes und alles prägt, id est aufeinander Einfluss nimmt, und, wenn man es auf die Spitze treiben will, in einem kosmischen Zusammenhang steht. In den letzten Feinheiten ist das dann so gering, dass zwar nicht mehr von wesentlicher Prägung gesprochen kann – aber es ist vorhanden! Auch in der unbelebten Natur finden Prägungen statt, etwa wenn geologische Schichten aufeinanderpressen oder auch nur Molekül- und Kristallstrukturen sich aneinanderlagern.

    Alles, was ist, wechselwirkt, um so mehr, je näher die Beteiligten und je stärker der Impuls. Es gibt keine vollständige Inertia, Trägheit, insofern, als auch der Schwächste mitwirkt, nämlich im Passivum, indem er sich beeinflussen lässt.

    Auch wir prägen uns hier gegenseitig in unserem schönen BDSÄ, selbst wenn wir das typische Prägealter doch schon mehr oder weniger überschritten haben. Aber so lange wir ein Sensorium besitzen und einen Hauptrechner, der das alles verarbeiten kann, spielen die Eindrücke hin und her.

    Die Überlegung gibt Anlass, über die Verantwortung nachzudenken, die mit einem solchen Einflussgespinst einhergeht. Wir als Sprachschöpfer spüren die Prägungen, welche die öffentliche Sprachkultur auf die Völker ausübt. Wir sehen den Zusammenhang von Verrohung der Sprache und Verfall der Sitten bis hin zur Straftat. Wir sehen die Verführbarkeit der Massen. Victor KLEMPERER hat in seiner LTI[1] bezeugt, wie die Nazi-Propaganda sogar bei ihm, dem Opfer und Gegner der Nazis, in die Oberfläche einbrach und zu prägen versuchte. Ja, es gibt sie, die Prägung wider Willen, die Prägung mit Gewalt, mit List, mit Überredung: Wenn teuflische Ideologien Köpfe verführen, selbst hochgebildete, wenn katastrophale Kindheiten Seelen verbiegen.

    Achten wir wachsam auf das, was uns prägen will. Hinterlassen wir selbst möglichst einen guten Eindruck. Die Naturschützer sagen: Leave nothing but your footprints. Ich erweitere: Leave nothing but good footprints in history! Freunde, prägt euch das ein!

     

    Prägen

    1.      Etymologie

    1.1.   KLUGE < 9. Jh mhd præch(en), bræchen, ahd brähhen – vergleichbar ae abracian einpressen, ostfr. prakken pressen. Verwandtschaft zu brechen besser offen lassen – wictionary: Belege fehlen.

    1.2.   WAHRIG < ahd prahhen, brahhen «brechen machen, gebrochene Arbeit hervorbringen» < germ *brahhjan -> brechen

    1.3.   Wiktionary mhd bræchen, præchen „einpressen, abbilden“ < ahd giprāhhan, prāhhan „indem die Oberfläche eingebrochen wird, etwas einpressen, einritzen“

     

     

     

    [1] Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam jun., 1978

  • BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb,

    Mein Beitrag zur Lesung Nach 50 Jahren,

    1. Juni 2019, Moderator Klaus Kayser

     

    Vor 50 Jahren

    … im Sommersemester 1969 war ich nach bestandenem Physikum mit meinen drei Freunden aus unserer Prüfungsgruppe in Wien. Das hatten wir uns vorgenommen als Belohnung für den Erfolg. Natürlich immatrikulierten wir uns zum Medizinstudium und nützen die günstigen Bedingungen aus: In vielen Instituten und Kliniken musste man sogar zweimal erscheinen: das erste Mal zum Einschreiben in einen Kurs und das zweite Mal zum Abholen des Scheins, der unsere erfolgreiche Teilnahme bestätigte. Auf diese Weise habe ich neun Scheine erworben. Ich war sogar in einigen Vorlesungen, wenn es in der Nacht vorher nicht zu spät geworden war.

    Dabei sind mir ein paar beeindruckende Stunden mit dem berühmten Prof. Asperger in Erinnerung, diesem weltberühmten Kinderarzt, der besonders den Insel-Begabungen unter den Kindern seinen Namen gegeben hat: das Asperger-Syndrom. Ein großer, sehr schlanker Mann, dessen äußere Erscheinung sofort an ein Marfan-Syndrom erinnert. Seine feine Art, mit Kindern umzugehen, und seine eindringliche Vortragsweise sind mir immer noch gegenwärtig.

    Ich weiß auch noch, wie der Gerichtsmediziner detaillierte Fotos eines geschlachteten Kindes zeigte – ja, geschlachtet! Das ist kein Wortfehler! Ein Metzgergeselle hatte ein Kind getötet und dann sorgfältig alle Glieder in den Gelenken voneinander getrennt. Zynischer Kommentar des Dozenten: „Also das muss man ihm lassen: Sein Handwerk hat er verstanden!“

    Mein eigentliches Studienziel habe ich erst in Wien richtig erkannt, nachdem mir klar wurde, dass in diesem Sommersemester 1969 die Wiener Festwochen und 100-jähriges Ballettjubiläum gefeiert wurden. Ich beschloss, den ganz großen Konzert- und Opern-Schein zu machen. Da war ich sehr fleißig und konsequent. Mein Tagebuch zeigte mir am Semesterende, dass ich jeden Abend in einem anderen Konzert oder einer anderen Opernvorstellung war, manchmal auch im Theater. Oft auf den Stehplätzen. Aber ich war dabei.

    Von fast allen Mozart-Opern, die ich hörte, blieb mir die eine Szene in lebhafter Erinnerung: Cesare Siepi als Don Giovanni schmetterte eine laszive und von Testosteron strotzende Champagner-Arie.

    Ich erlebte alle Strauß-Opern. Besonderer Moment: Die Elektra von Birgit Nilsson mit ihrer voluminösen und dramatischen Stimme! Sie riss das Publikum so in ihren Bann, dass sogar die feinen High-Society-Damen nach der Vorstellung so frenetisch im Takt klatschten und „Nilsson, Nilsson!“ schrien und ihnen dabei die Nerzstolen (im Hochsommer!) von den Schultern fielen!

    Bei einem vollständigen Zyklus aller 32 Beethoven-Klaviersonaten an acht Abenden, gespielt von Friedrich Gulda, der in diesem Sommer den Beethoven–Ring bekommen sollte und ihn ablehnte, war ich fasziniert von der feingliedrigen und doch zupackenden Virtuosität und Vielseitigkeit des Spiels. Ich hatte mir die Noten als Taschenpartitur gekauft und las über lange Strecken mit. Gulda kombinierte an jedem Abend frühe, mittlere und späte Sonaten. Das machte die Entwicklung der Werke deutlich. Bei den Dreingaben teilte sich manchmal das Publikum in die Konservativen und die Progressiven. Denn Gulda wagte es, als Dreingaben auch Jazz zu spielen. So auch an einem Abend, als nach der letzten späten, geradezu heiligen Sonate noch einen seiner Boogie-Woogies in den Flügel hämmerte. Das war der fetzigste und mitreißendste Boogie-Woogie, den ich bis heute gehört habe. Das Publikum reagierte gespalten. Die eine Gruppe, zu der ich gehörte, jubelte und applaudierte, und das umso lauter, je mehr die anderen Zuhörern buhten, weil sie diesen Stilbruch als unentschuldbaren Affront empfanden. Auch die Presse am nächsten Tag war geteilter Meinung.

    Eines der größten Erlebnisse war für mich, am Ostermontag in einer Matinee im Wiener Musikvereinssaal die Missa solemnis von Beethoven zu hören. Leonard Bernstein dirigierte die Wiener Philharmoniker, das Gesangsquartett bestand aus Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Walter Berry und Waldemar Kmentt. Die Wucht der Musik, die grandiose Interpretation und Bernsteins elastisch-begeisterten Sprünge auf dem Podium waren mitreißend und werden mir für immer wie ein Film im Gedächtnis bleiben.

    Die Namen, die ich mit diesem Wien-Aufenthalt verbinde, lesen sich wie ein Lexikon der Musikgrößen: Horst Stein, der neue Generalmusikdirektor des Hauses, und Josef Krips dirigierten in der Oper. Karl Böhm eröffnete mir die Gurre-Lieder und Verklärte Nacht von Arnold Schönberg. Otto Klemperer versank in seinem Dirigentenstuhl und gab nur spärliche Gesten an das Orchester. Obwohl er teilweise gelähmt war von einer früheren Hirnoperation und beeinträchtigt von den Verbrennungen, die er sich zugezogen hatte, weil er im Bett rauchend eingeschlafen war, entwickelten die Wiener Philharmoniker aus den minimalen Zeichen eine wunderbare Musik, tief empfunden, besinnlich.

    Unbedingt erzählen muss ich, dass wir meist nach der Oper im Café Hawelka saßen, dem berühmten Künstlercafé hinter der Oper. Das war der Treffpunkt der Begeisterten, die inmitten der vielen vergilbten Fotos von weltbekannten Musikern und verrauchten Polstersesseln noch einen kleinen Platz an den Tischen suchten, um dort die köstlichsten Buchteln in ganz Wien zu genießen, die jeden Abend immer wieder frisch gebacken wurden. Wir mussten sie vorbestellen, damit wenigstens ein paar davon unseren Tisch erreichten.

    Eine Alternative nach der Oper waren die guten und gemütlichen Keller, in denen wir für ein paar Schilling genügend Veltliner und Gorgonzola mit Butter und Brot bekamen, um satt und bettschwer zu werden.

    Eines Abends waren wir zu viert unterwegs und etwas ziellos, da wir nicht wussten, was wir heute Abend hören und sehen könnten. Da kamen wir am Theater der Josefstadt vorbei, wo ein Plakat unsere Aufmerksamkeit anzog. Michael las es zuerst: „Das ist ja heute!“, rief er, „Beginnt in ein paar Minuten! Da müssen wir sofort rein!“ Wir bekamen zu unserer Verblüffung tatsächlich noch Karten für diese Ein-Mann-Vorstellung und erlebten einen tief beeindruckenden Schauspieler mit sonorer Stimme, imponierender körperlicher Größe und überwältigender Schauspielkraft und Bühnenpräsenz, der als Richter sich Gedanken über sein eigenes Leben und eine Gerichtsverhandlung macht, die er am nächsten Tag leiten muss. Ein Schreibtisch mit Lampe, ein Stuhl – das war das ganze Bühnenbild. Und Curd Jürgens allein auf der Bühne – ein Kleinod in meiner Schatzkiste der herausragenden Kunsterlebnisse!

    Während des Semesters hatte mein Vater 50. Geburtstag. Er wollte mit Mutter und meiner Oma den verpflichtenden Einladungen zuhause entfliehen und ein paar Tage bei mir in Wien verbringen. Ich reservierte Hotelzimmer und bereitete ein vielseitiges Programm vor, aus dem die Eltern auswählen konnten. Im Nationalmuseum hatte ich vorher zweimal eine Führung in den Räumen der alten Niederländer besucht, um meinen Eltern die Kunstwerke präsentieren zu können, denn das ganze Museum ist ja nicht zu schaffen bei solch einem kurzen Aufenthalt. Wir waren beim Heurigen in Grinzing, machten einen Besuch in der staatlichen Grafiksammlung, erlebten am Geburtstagsabend Monteverdis Krönung der Poppea in der Oper, und die Eltern luden mich anschließend zum Essen ins Hotel Imperial ein. Die Hofreitschule mit einer festlichen Vorführung der Lippizaner war Pflicht, und Schloss Schönbrunn zeigte sich bei herrlichem Wetter. Nach dem Besuch im Stefansdom zelebrierten wir im Café des Hotel Sacher Café Creme und Sacher-Torte.

    Von so vielen „Kunstverpflichtungen“ mussten wir Studenten uns natürlich erholen. Deshalb beschlossen wir, eine Woche an den Neusiedlersee und an den Plattensee zu fahren. Wir genossen das prächtige Wetter, ein paar heitere Segelstunden, mehrere Weinproben in Rust und in einem kleinen Gartenlokal inmitten eines Weinbergs am Plattensee in der warmen Abendsonne den weltbesten Zander in Paprikasauce.

    Die nächsten beiden Semester studierte ich in Mannheim, weil ich die in Wien ohne Lernen eingeheimsten Scheine noch einmal richtig erarbeiten wollte. Außerdem schrieb ich dort meine Doktorarbeit und machte nebenbei Nachtschichten in der damals größten Spezialabteilung für Schwerverbrannte in der BG-Klinik Ludwigshafen. Ich erlebte erschütternde Schicksale und glückliche Heilungen. Seither bekomme ich sofort Herzklopfen und schweißnasse Hände, wenn ich jemand mit Feuer zündeln sehe.

    Beglückend war für mich, dass wir vier Freunde uns nach diesen zwei Semestern wieder in Tübingen trafen, gemeinsam auf das Staatsexamen lernten und es wie beim Physikum als Prüfungsgruppe Nr. 13 auch sehr gut bestanden.

  • Beitrag zu der Lesung „Eine Reise zu den Sternen“
    BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb 2019

     

    Kubrick, Nixon und der Mann im Mond

    Bei oberflächlicher Betrachtung gilt Donald Trump als Erfinder der Fake-News und seine PR-Managerin Kellyanne Conway als Erfinderin der alternativen Fakten. Eine kurze Überlegung macht aber klar, dass Lug und Trug, Tarnen und Täuschen, Hinterlist und Skrupellosigkeit schon immer das geistige und charakterliche Handwerkszeug der Menschen waren und in allen Bereichen zum Alltag gehörten, in denen es um Geld, Ansehen, Gewinn und Macht geht.

    Die folgende Geschichte zeigt dies beispielhaft, allerdings mit einer besonderen Variante.

    Juri Gagarin, der russische Kosmonaut, war der erste Mann im Weltall gewesen, und das forderte die US-Regierung heraus, unbedingt den nächsten Schritt in der Raumfahrt zu gewinnen, nämlich tatsächlich Menschen auf den Mond zu schicken, die dort Fußabdrücke hinterlassen. John F. Kennedy hatte die Losung ausgegeben, die NASA solle das Mondlandungsprogramm umsetzen, und innerhalb von wenigen Jahren gelang es tatsächlich, mit Apollo 11 die erste Mannschaft auf den Mond zu schicken. Es war eine vorrangige Frage des Prestiges und eine Materialschlacht dazu.

     

    Darüber berichtet der ARTE-Film Kubrick, Nixon und der Mann im Mond.

    Nixon, ein als Lügner und Krimineller überführter Präsident, hatte Angst, dass die Mondlandung nicht gelingen würde oder dass die Bilder vom Mond nicht gut genug sein könnten für den erfolgreichen Gebrauch als Propagandamaterial. Er beauftragte deshalb seine PR-Abteilung, im Studio einen Film zu drehen, der die Mondlandung vom 20. Juli 1969 zeigt. Diesen Film wollte man im Fernsehen zeigen, wenn die Originalbilder vom Mond nicht gut genug sein sollten, um einen gigantischen Propagandaerfolg auszulösen.

    Auf der Suche nach einem exzellenten Regisseur und einem diskreten Filmstudio fand man den berühmten Stanley Kubrick, der zu dieser Zeit in London den Film 2001 Odyssee im Weltraum drehte und eine passende Mondlandschaft im Studio zur Verfügung hatte. Über ein Wochenende entstanden mit Kubricks Hilfe und unter strengster Geheimhaltung die entscheidenden Mond-Szenen im hermetisch abgeriegelten Studio. Alle Beteiligten wurden anschließend mit neuen Identitäten ausgestattet und verschwanden in der Geheimhaltung.

    Der Film zeigt viele persönliche Interviews mit engen Nixon-Mitarbeitern wie Henry Kissinger, Alexander Haig, Lawrence Eagleburger, Donald Rumsfeld und dem Astronauten Buzz Aldrin und seiner Frau. Auch die Witwe von Stanley Kubrick wurde interviewt. Der Film zeigt, wie die Mitarbeiter Nixons von dem Betrug abgeraten haben. Noch schlimmer: Als der Film dann doch gedreht war und die Originalaufnahmen vom Mond nicht zu gebrauchen waren, bekam Nixon Angst vor der Entdeckung seiner Fälschung und verfügte, alle Beteiligten an der Verfilmung zu liquidieren. Ein CIA-Agent nahm sich der Sache an, tauchte ab, spürte die Zeugen in den verborgensten Winkeln der Erde auf und liquidierte sie. Nur Stanley Kubrick blieb aus Angst vor Verfolgung in seinem Anwesen und drehte nur noch dort. Er starb schließlich eines natürlichen Todes. –

    Der Kommentar und die Kritik in diesem Film machen an vielen Beispielen sehr deutlich, wie gewissen- und rücksichtslos Nixon vorging und wie viele Drehfehler in dem rasch zusammengestückelten Studiofilm enthalten waren.

    Die Abdruckspuren der Astronautenstiefel im „Mondsand“ waren viel zu tief, denn auch die schwere Schutzkleidung mit den Atemgeräten würde auf dem Mond wegen der auf ein Sechstel reduzierten Mondanziehung wesentlich flachere Stiefelprofile hinterlassen.

    Dummerweise hatte man zwei Studiolampen so aufgestellt, dass sie Schatten der Astronauten in zwei verschiedene Richtungen warfen.

    Und zufällig lag auf der Mondoberfläche auch noch ein kleiner Prospekt mit dem Portrait von Stanley Kubrick.

    Der Eindruck, den der unkritische Betrachter des Films gewinnt, ist eindeutig. Auch ich muss zugeben, dass ich entsetzt war! Mein Vorurteil über die gewissenlosen Politiker war voll bestätigt.

    Soweit – so schrecklich – so ungeheuerlich: dieser Betrug, diese Skrupellosigkeit, diese Hinterlist!

    Aber dann machte mich ein Freund, dem ich mein Entsetzen geschildert und den Link zu dem Film gegeben hatte, aufmerksam auf einen ausführlichen Artikel in Wikipedia. Hier wird erklärt, dass es sich bei dem Film um ein sogenanntes Mockumentary[1] handelt, also eine vorgetäuschte, absichtlich gefälschte Dokumentation, für die der Autor des Films, William Karel, sogar 2003 mit dem Adolf-Grimme-Preis für Buch und Regie im Bereich Information und Kultur ausgezeichnet wurde.

    Das Besondere des Films besteht darin, dass die bewusste und trickreiche Fälschung als eine prämierenswerte künstlerische Leistung dargestellt und belohnt wurde. Ich empfinde das als eine Einladung zur Fälschung. Außerdem wird die Bevölkerung dadurch erst recht in die Irre geführt, und man macht sich auch noch lustig über ihre Täuschbarkeit. Offensichtlich freut sich der Fernsehzuschauer darüber wie bei Verstehen Sie Spaß auch, wo ahnungslose Menschen zum Narren gehalten werden und noch darüber lachen sollen.

    Die angeblichen Zeitzeugen sind „zum Beispiel David Bowman (Astronaut in 2001: Odyssee im Weltraum), Jack Torrance (Rollenname des Hauptdarstellers in The Shining) und Dimitri Muffley (eine Kombination der Namen des sowjetischen Generalsekretärs und dem des US-Präsidenten in Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben).

    Weitere angebliche Zeitzeugen tragen Namen aus Filmen von Alfred Hitchcock: Eve Kendall (weibliche Hauptfigur in Der unsichtbare Dritte) und Ambrose Chapel (ein wichtiger Ort in Der Mann, der zu viel wusste (1956)).

    Als angeblich Beteiligter wird ein CIA-Agent namens George Kaplan genannt (ein fiktiver CIA-Agent in Der unsichtbare Dritte). Ein weiterer angeblicher Zeitzeuge ist ein New Yorker Rabbiner namens W. A. Konigsberg, eine Anspielung auf Allan Stewart Konigsberg, den bürgerlichen Namen von Woody Allen.“ (Wikipedia)

     

    Wenn man unter diesen Gesichtspunkten den Film anschaut und noch ein paar Fakten dazu liest, entdeckt man, dass die Interviews mit den Politikern kurze Videoschnipsel sind, die überall hinpassen und keinen direkten Bezug zum Problem haben. Sie sind sehr geschickt in den Film und seine geplante Falschaussage hineinkopiert. Auf das erste Hinschauen erscheinen sie glaubwürdig. Und deshalb sind wir als meistens autoritätshörige Menschen auch überzeugt vom Wahrheitsgehalt des ganzen Films.

    Wer ein bisschen sprachgewandt ist, entdeckt auch, dass die Untertitel der Interviews oft nicht mit den tatsächlichen Aussagen überstimmen.

    Soweit – so schrecklich. so ungeheuerlich: unsere leichte Beeinflussbarkeit, unsere Leichtgläubigkeit, unsere fehlende Unterscheidungsmöglichkeit von Fakten und alternativen Fakten.

     

     

    Quellen am 25.01.2019: 

    https://www.arte.tv/de/videos/025816-000-A/kubrick-nixon-und-der-mann-im-mond/

    https://de.wikipedia.org/wiki/Kubrick%2C_Nixon_und_der_Mann_im_Mond

    https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf-Grimme-Preis_2003

    https://web.archive.org/web/20060429151052/http://www.grimme-institut.de/scripts/preis/agp_2003/scripts/beitr_kubrick.html

    [1] Engl. mock: vorgetäuscht, pseudo-, unecht

  • Beitrag Dietrich Weller zum BDSÄ-Kongress 2019 in Bad Herrenalb

    Moderation Helga Thomas, Samstag, 22. Juni 2018, 11 h 

    Was wäre, wenn wir alle immer ehrlich wären?

    In der Bibel steht: „Deine Rede sei ´ja, ja`, oder ´nein, nein`.- Alles andere ist vom Übel.“

    Das wird bestätigt durch den Satz eines Autors, dessen Namen ich nicht mehr erinnern kann:

    „’Ja‘ ist richtig. ‚Nein‘ ist richtig. ‚Ja aber‘ ist immer falsch.“

    Wenn doch alles so einfach wäre!

    Wikipedia definiert Ehrlichkeit als

    Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, auch als Zuverlässigkeit, besonders in Hinblick auf Geld- und Sachwerte.

    Um aufrichtig und der Wahrheit verhaftet zu uns selbst stehen zu können, müssten wir zuerst einmal wissen, was wir selber wirklich, also authentisch und nicht angelernt – sind und wollen!

    Damit meine ich, dass es nicht darum geht, umzusetzen, was uns anerzogen wurde. Sondern es geht darum zu erkennen, was in uns wirkt, wenn wir auf unsere „innere Stimme“  hören und nicht auf die Menschen, die uns prägen mit Schuldgefühlen und Gewalt aller Art und sogenannten gesellschaftlichen Regeln. Diese sind ohnehin von Gesellschaft zu Gesellschaft von Land zu Land und von Kultur zu Kultur verschieden.

    Grob gesagt gibt es zwei Gruppen von Menschen: Die eine Gruppe weiß, was sie will; die andere weiß, was sie nicht will. Wenn man die zweite Gruppe fragt, was sie will, hat sie darauf keine Antwort. Ihre Welt ist dominiert von Ablehnung.

    Wenn wir dazu berücksichtigen, dass wir immer am Anderen das am schnellsten erkennen und ablehnen können, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, wird die Sache schon komplizierter.

    Um ehrliche Kinder erziehen zu können, müssen die Eltern ehrliche Leute sein. Aber wer erzieht die Eltern?

    Die Vermittlung von Schuldgefühlen ist eine der wirksamsten Formen der Gewaltausübung, denn sie scheint die Selbstgerechten zu berechtigen, ihre Mitmenschen auf den angeblich rechten Weg zu führen. Und das meine ich im weitesten Sinn – vom Elternhaus, im Freundes- und Arbeitsbereich und nicht zuletzt in der Schule und Kirche. Und Schuldgefühle verführen oder zwingen sogar manchmal zu Unehrlichkeit.

    Natürlich wird normalerweise Gewalt nicht als solche deklariert. Sie kommt durch die Hintertür: „Du solltest das tun, was ich für richtig halte. Wenn du das nicht tust, geht es mir schlecht.“ Noch hinterhältiger: „Du solltest immer gehorchen, denn dann kommst du besser zurecht im Leben.“- Oder mit dem Versprechen: „Wenn du gottgefällig lebst, kommst du in den Himmel, sonst erwartet dich die Hölle! Und ich sage dir, was Gott will!“ Ketzerische Frage: Woher wissen wir, was er gesagt hat, wenn ihn noch keiner gesehen oder gar gehört hat?

    Wenn die Anpassung lang genug gefordert wird, verstummen in uns die Empfindungen, was wir „eigentlich“ fühlen und tun würden. Statt primärer Gefühle von Ablehnung und Protest entstehen in uns Ersatzgefühle, die helfen, den Druck in eine andere Richtung lenken und besser zu ertragen: Statt des Gefühls der Unterordnung macht sich zum Beispiel das Pflichtgefühl zum Helfen breit. Dort erhalten wir soziale Anerkennung, die wir brauchen und wollen, und das verstärkt unsere angepasste Meinung als angeblich richtig.

    Ein anderes Ersatzgefühl ist Müdigkeit, die sich bis zur Trauer und Depression steigern kann. Der Druck von außen entfacht Gegendruck in uns, der aber nicht nach außen geäußert werden darf. Also bleibt die Energie in uns und wendet sich gegen uns selbst. Wir glauben schließlich sogar, dass wir selbst nicht gut genug sind. Wer lange genug Druck – also Aggression! – anstaut, ohne Erleichterung  zu erfahren, verhält sich wie ein Dampfkessel, der platzt, wenn der Druck zu hoch ist. Überspitzt gesagt: Wenn jemand sich selbst tötet, muss man fragen, wem die Aggression wirklich galt.

    Fremdbestimmung sorgt typischerweise auch dafür, dass wir unsere eigene Überzeugung und unsere eigenen Gefühle zunehmend infrage stellen und nicht mehr wahrnehmen oder gar als störend empfinden. Deshalb brauchen wir auch so viele Psychiater und Psychologen, die uns bei der Erkennung und Bewältigung unsere Konflikte helfen.

    Wenn wir wirklich immer ehrlich sein wollen, müssen wir zuerst erkennen, welche Gefühle und Glaubenssätze in uns echt und welche aufgesetzt, anerzogen, fremdbestimmt sind.

    Selbst wenn wir diese Grundbedingung weglassen und überlegen, was wir in dem Zustand, in dem wir gerade jetzt sind, denken, fühlen und tun wollen, werden die Meinungen ungedämpft aufeinander prallen. Ich sehe da schwarz: Bei totaler Ehrlichkeit kommt der totale (Über-) Lebenswille sofort hinterher. Hauen und Stechen um Macht bricht offen aus – und zwar schlimmer als ohnehin schon.

    Ehrlichkeit ist nicht immer befreiend, gut und erstrebenswert. Ehrliche Aussagen können entmutigend, beleidigend, zerstörerisch, rechthaberisch und gemein sein.

    Wenn wir alle immer ehrlich wären, müsste ich manchen Patienten sagen, dass ich sie fett, unästhetisch, ungezogen, ungepflegt, ungerechtfertigt anspruchsvoll finde. Und ich müsste damit rechnen, dass sie mich als arrogant, hochnäsig, egoistisch und eingebildet bezeichnen.

    In den vergangenen Jahrtausenden hat es sich als lebenserhaltend erwiesen, dass Menschen nach außen freundlich und hinter den Kulissen heimlich und oft hinterhältig sind. Dadurch entstanden einerseits die Diplomatie und offizielle Politik und anderersetis die Geheimdiplomatie und Geheimdienste, die meist das Gegenteil beabsichtigen. Skrupellosigkeit, Hass, Menschenverachtung werden kaschiert und schöngeredet. Erst wenn Verrat und Betrug nicht mehr zu verbergen sind, werden sie zögernd zugegeben und durch das Verhalten des Gegners begründet und gerechtfertigt.

    Mit Ehrlichkeit würde die Kommunikation einfacher, direkter und schonungsloser. Eigentlich ist es ja gut, wenn Aussage und Verhalten des Gegenübers unmissverständlich sind. Dann wissen wir, woran wir sind und können, ehrlich, wie wir sind, unmissverständlich reagieren.

    Ich vermute, das wird noch lebensgefährlicher als ohnehin schon. Es sei denn, der Drang zur Ehrlichkeit ist größer als der Überlebenswille.

    Wenn alle ehrlich wären, könnten viele Priester und andere Männer offen zu ihrer Pädophilie stehen. Die Katholische Kirche müsste auch das Verhalten einiger Priester nicht decken, die – wie eine sorgfältig recherchierte Dokumentation von ARTE nachgewiesen hat[1]– ihre Macht missbrauchend weltweit Nonnen zum regelmäßigen Sex zwingen unter dem Vorwand, ihnen Jesu Liebe zuteilwerden zu lassen. Doris Wagner ist eine der Frauen, die als Nonne regelmäßig von ihrem vorgesetzten Mönch und später von dessen Bruder, ebenfalls Mönch(!), missbraucht wurde und inzwischen mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit ging und zwei Bücher[2] schrieb. Sie ist eine der wichtigen Stimmen, um den Vatikan zur Aufarbeitung der Skandale zu bringen.[3]

    Es gibt laut ARTE nachgewiesene Fälle, wo Priester den Oberinnen eines Ordens Geld gegeben haben und diese dafür den Priestern die Nonnen lieferten. Nonnen, die schwanger werden, müssen oft auf Geheiß ihres Ordens abtreiben und werden dann mittellos aus dem Orden verstoßen. Das alles wurde vom Vatikan verschwiegen, der sich damit selbst der Vertuschung und Unterstützung krimineller Handlungen schuldig gemacht hat. –  Man müsste mal juristisch klären, ob dieses Verhalten der Katholischen Kirche die Merkmale des organisierten Verbrechens erfüllt.

    Jetzt beginnt erst die Aufklärung, nachdem die Medien zunehmenden Druck gemacht haben und der Papst den „Missbrauchsgipfel“ im Februar 2019 einberufen hat. Allerdings muss der Verdacht oder die Tatsache des Missbrauchs nur an kirchliche Stellen gemeldet werden. Die Organisation, zu der die Übeltäter gehören, kontrolliert sich selbst. Damit bleibt von vornherein und wie bisher die Transparenz ausgeschlossen.

    Wer diese Missstände nicht wahrhaben will, sie ableugnet, ihnen aus dem Weg geht, trägt seinen Teil dazu bei, dass sie weiter so bestehen. wie sie schon immer waren. Quis tacet, consentire videtur. Wer schweigt, scheint zuzustimmen.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würde Herr Trump sagen: „Ich bin einer der größten Lügner, die jemals US-Präsident waren.“

    Konkretes Beispiel: Die Washington Post veröffentlicht täglich nach sorgfältiger Faktenüberprüfung die Lügen und irreführenden Behauptungen von Donald Trump seit seinem Amtsantritt. Am 07. Juni 2019, also 869 Tage nach Amtsantritt, war Trump bei 10.796 Lügen und irreführenden Behauptung angekommen. Interessant ist, dass er im ersten Jahr als Präsident durchschnittlich täglich etwa 5,9 falsche oder irreführende Behauptungen aufgestellt hat, während es im zweiten Jahr 16,5 pro Tag waren, also fast dreimal so viele!

    Und viele Republikaner könnten offen zugeben, dass sie Trump nur unterstützen, weil sie um ihren eigenen politischen Posten bei der nächsten Wahl fürchten.

    Was mich wirklich besorgt, ist die Tatsache, dass immer noch so viele Amerikaner Trumps Verhalten und Politik sehr gut finden. Es ist also keineswegs nur Trumps Verantwortung, dass er so rücksichtslos und kriegstreiberisch handelt. Die Überzeugung, das naturgegebene Herrschervolk der Welt zu sein, ist offen erkennbar seit vielen Jahrzehnten tief in der amerikanischen Bevölkerung verwurzelt. Die US-Politik der Neuzeit war und ist eine hegemoniale Politik, die nach Verwirklichung des einzigen weltweiten Imperiums strebt. Und dafür sind den Vertretern dieser Politik alle Mittel recht. Die meisten Kriege, in die die USA verwickelt waren und sind, stellen klare Brüche des Völkerrechts dar: Es sind Angriffe auf fremde Länder, die die USA nicht angegriffen haben. Und die UNO hat diese Angriffe nicht genehmigt!

    Wenn wir alle ehrlich wären, würden viele Eheleute sofort auseinander gehen, statt auf Dauer vergiftet und entmutigt nebeneinander her zu leben. Viele gedemütigte Frauen würden die Kraft finden, zu ihrem Wissen um die Freundin des Ehemanns zu stehen und die Ehe mit erhobenem Haupt verlassen, statt weiterhin deprimiert und verzagt die brave Ehefrau zu spielen. Viele Ehemänner würden ehrlich sagen, dass sie fremdgehen, und sie würden die Konsequenzen ziehen.

    Diplomaten würden keine Politik der vielen Gesichter machen, sondern in den Verhandlungen und dem Volk gegenüber(!) Klartext reden.

    Viele Ärzte würden häufiger ihre Unwissenheit zugeben, statt die Überlegenen zu spielen.

    Wenn der Drang zur Macht größer bleibt als die Macht der Ehrlichkeit, wird sich nichts ändern am derzeitigen Zustand der Menschheit.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würden wir die Lüge gar nicht kennen. Die Ehrlichkeit lebt ihren hohen ethischen Wert nur im Kontrast zur Lüge. Licht erkennen wir auch nur, weil wir das Dunkel kennen.

    Wenn wir alle ehrlich wären, könnten wir trotzdem versuchen, Kompromisse zu schließen, aber dann keine faulen, sondern ehrliche.

    Jetzt leben viele Berufsgruppen von der Unehrlichkeit. Die Werbeindustrie zum Beispiel hat als Maxime, den Umsatz ihrer Auftraggeber zu steigern und nicht etwa, die Wahrheit zu verbreiten. Das macht sie, indem sie gute Gefühle in den Menschen weckt, die wiederum glauben, mit dem Kauf des beworbenen Produktes eben diese Gefühle zu erwerben. Es geht nicht darum, ehrlich mit dem Kunden umzugehen, sondern ihm seine Wunschwelt vorzuspielen, ihm sein Geld aus der Tasche zu ziehen und Einfluss auf ihn auszuüben. Wenn die Werbeindustrie immer ehrlich wäre, dürfte sie viele Aufträge gar nicht annehmen, weil diese nichts anders bezwecken, als die Vorspiegelung falscher Tatsachen so alltäglich zu machen, dass sie als Wahrheit akzeptiert werden. Das Motto lautet: Eine Lüge wird umso mehr zur Wahrheit, je häufiger sie überall wiederholt wird.

    Ebenso ist es mit der PR-Industrie, die eine Imagekampagne nach der anderen zu enorm hohen Preisen führt, um bestimmte Menschen und ihre Ideen zu preisen und andere zu diffamieren. Das ist der übliche Propagandarummel vor den Wahlen, vor Kriegen, vor wichtigen politischen Entscheidungen. Das erste, was schon vor dem Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Zuerst muss eine Ideologie entwickelt und propagiert werden, der das Volk folgt. Denn nur damit lassen sich Lug und Trug, Mord und andere Grausamkeiten scheinbar rechtfertigen. Nur drei solche historische Propagandasätze als Beispiele: „Die Polen haben unsere Grenzsoldaten angegriffen!“ – „Der Irak besitzt Massenvernichtungswaffen!“ – „Die Juden sind eine minderwertige Rasse!“

    Die PR-Firmen müssten komplett ihre Strategie umstellen, wenn sie immer ehrliche Aussagen veröffentlichen wollten. Stellen wir uns mal vor, wie die Zeitungen, Fernsehsendungen und sozialen Medien langweilig werden, wenn alle dieselben Tatsachen bringen! Dann gibt es keine Verleumdung, keine Hassbotschaft, keine Lügen mehr! Dann sind die Beschuldigungen und Angriffe ehrlich und offen auf dem Markt und werden mit Namen und nicht mehr anonym veröffentlicht.

    Die Verteidigung der Wahrheit und des Rechts obliegt den Juristen. Es ist bekannt, dass im Allgemeinen nicht der Recht bekommt, der Recht hat, sondern der den besseren Anwalt hat. Das weiß ich aus meiner Lebenserfahrung und aus mehreren Gesprächen mit Anwälten und Richtern. Zeitung und Fernsehen liefern täglich Beweismaterial zu dieser These. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber manche sind eben doch ein bisschen gleicher.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würde nur noch offen um das gestritten, was jetzt hinter vorgehaltener Hand umkämpft wird. Man kann dann ehrlich sagen, dass der Neid die Welt antreibt und nicht das Geld und schon gar nicht die Ehrlichkeit. Denn hinter jedem angestrebten Wertgegenstand oder Zustand steht der Wunsch, ein Gefühl zu verwirklichen. Dann brauchen wir Anwälte, die unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse nach Geltung, Ansehen und Macht offensiv vertreten. Welches Gericht wird das be- und verurteilen, wenn es sich doch um ehrliche und authentische Anliegen handelt?

    Wir können auch den „halben Weg“ der Wahrheit gehen: „Alles, was du sagst, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, musst du sagen!“

    Dieses Prinzip kann uns zum Beispiel in schwierigen Lagen bei einem Schwerkranken helfen, von dem wir glauben, dass er die ganze Wahrheit mit allen Konsequenzen jetzt nicht auf einmal erträgt. Die Grenze dessen, was ich sage, prüfe ich nach meiner Darstellung der Diagnose mit der Frage „Möchten Sie noch etwas wissen?“ und dem Satz „Wenn Sie mehr wissen wollen, sagen Sie es mir bitte.“

    Jeder Patient hat das Recht auf Information und auf Nicht-Information. Ich denke, wir dürfen ihn nicht überfrachten mit Wissen, das er möglicherweise nicht ertragen kann. Aber wichtig ist, dass – wo immer das noch möglich ist – der Patient das Ausmaß der Information entscheidet und nicht der Arzt oder Pfarrer oder Ehepartner. Die Zeit der patriarchalischen Haltung ist vorüber, in der wir glaubten, es besser wissen und über den Patienten erhaben zu sein und über ihn bestimmen zu dürfen.

    Eine richtige und für mich lebens- und berufsprägende Antwort bekam ich von einem früheren Oberarzt, der eine Sprechstunde für Brustkrebspatientinnen leitete. Ich fragte ihn, ob er allen Frauen die Wahrheit sage. – Er sagte: „Ja, ich sage allen Frauen die Wahrheit. Denn erstens bin ich Christ und glaube, dass ich nicht lügen darf. Und zweitens habe ich so ein schlechtes Gedächtnis, dass ich morgen nicht mehr wüsste, wen ich angelogen und wem ich die Wahrheit gesagt habe. Ich nehme mir immer Zeit, auf die Reaktionen und Gefühle der Frauen einzugehen.“

    Auch in der Beziehung unter Partnern ist das Vertrauen auf Ehrlichkeit eine Voraussetzung für das Gelingen. Trotzdem muss man nicht alles wissen, nicht alles fragen, nicht alles erzählen. Wichtig sind Verständnis für den Partner, Rücksicht auf seine Gefühle, Verletzlichkeit und Eigenständigkeit. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist die Voraussetzung, dem Partner gegenüber ehrlich sein zu können.

    Der Begriff der Notlüge ist allgegenwärtig. Wir meinen damit Situationen, in der wir uns selbst oder jemand anderen schützen wollen, indem wir bewusst etwas Falsches sagen.

    Lüge ist eine Form von Gewalt, weil sie das Vertrauen, mit dem wir leben wollen, erheblich stört.“ Dieser Gedanke steht im Katholischen Jugendkatechismus. Ausgerechnet die Katholische Kirche sagt so etwas!

    Aber im DUDEN steht nicht das Wort Not-Ehrlichkeit! Trotzdem kenne ich Situationen, in denen es wichtig ist, jemanden mit Tatsachen zu konfrontieren, die ihn von Entscheidungen abhalten, die er nicht trifft, wenn er diese Tatsachen kennt. Beispiel: Jemand will unbedingt dieses Haus kaufen, und seine ganze Seligkeit hängt von diesem Kauf ab, aber ich weiß, dass er schwer krank ist und die Schulden nie abzahlen kann, sondern sie seiner Frau hinterlässt, die damit in die Armut stürzt. Dann denke ich, sollte ich taktvolle und ehrliche Wege finden, um ihn von dem Kauf abzuhalten.

    Ich bin mir nicht sicher, ob das Leben leichter und besser wäre, wenn wir alle ehrlich wären. Wir wären uns aber sicher über unsere echten und ehrlichen Gefühle und Gedanken, und wir könnten dazu immer stehen. Wir müssten wenigstens nicht fürchten, betrogen und belogen zu werden. Stattdessen werden wir ehrlich und offen angegriffen. Dann werden wir aber auch ehrlich und offen geliebt.

    [1] In ARTE am 04.03.2019 um 20.15 h gesendet.

    [2] Nicht mehr ich, Taschenbuch und Spiritueller Missbrauch, Herder-Verlag

    [3] Siehe auch Interview mit Doris Wagner und Kardinal Schönborn, Wien: www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/videos-und-manuskripte/missbrauch-kirche100.html

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb

    Lesung zum Thema „Freie Themen“, Moderation: Eberhard Grundmann

    Samstag 22. Juni 2019, 20 h

     

    Wir erinnern uns an den Schreck, als am 15. April dieses Jahres die Nachricht um die Welt raste, dass eine der berühmtestes Kathedralen der Welt, ein Wahrzeichen von Paris, ein Nationaldenkmal religiöser Baukunst und Touristenmagnet für etwa 13 Millionen Besucher jährlich und ein UNESCO-Weltkulturerbe lichterloh brannte, der Holzdachstuhl einbrach und einer der Spitztürme kurz nach Beginn des Brandes einstürzte. Dieses Feuer riss eine große und brennende Wunde in das Alltagsleben der Pariser und machte die kulturbewussten Menschen weltweit tief betroffen. Die Beileidsbekundungen aus aller Welt bestätigten, dass dieses Bauwerk ein Symbol völkerverbindender Kultur darstellt.

    Noch während der Löscharbeiten erklärte Präsident Macron, die Kirche werde wieder aufgebaut, eine groß angelegte Sammlung solle das Geld zusammentragen. Bereits nach 48 Stunden waren 700 Millionen Euro beisammen. Wenn in dieser kurzen Zeit schon so viel Geld bereitsteht, wird über die nächsten Jahre eine sehr große Summe zusammenkommen, die eine Rekonstruktion von Notre Dame ermöglicht. Zum Vergleich: Der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche kostete 183 Mio. Euro. Allein diese Geschichte zeigt, wie sehr Kunstwerke, die aus dem Glauben an einen Gott entstanden sind, die Wertschätzung von Gläubigen prägen.

    .

    Und ich habe mir überlegt, wie ich selbst von religiösen Werken beeinflusst wurde.

    Ich bin zwar evangelisch konfirmiert, aber später aus Zorn über die Heuchelei in den christlichen Kirchen und aus tiefen Zweifeln an der Existenz eines Gottes aus der Kirche ausgetreten. Nichts in dem Apostolischen Glaubensbekenntnis glaube ich. Meine Wut über die vielfältigen Verbrechen innerhalb der katholischen Kirche mit deren Billigung und Tarnung hält an. Der Widerspruch zwischen dem enormen ideellen, spirituellen und finanziellen Wert der Kunstwerke und der angeblich unantastbaren Integrität und moralisch-ethischen Kompetenz, die von der katholischen Kirche propagiert werden, zeigt die Scheinheiligkeit offen.

    Unabhängig davon fühle ich mich intensiv angesprochen von den großartigen religiösen Kunstwerken, die aus tiefer Gläubigkeit entstanden sind. Aber ich glaube nicht, dass diese Kunstwerke ein Beweis für die Existenz eines Gottes sind, sondern bestenfalls Versuche darstellen, dem Ideal einer Wunschvorstellung Ausdruck zu verleihen.

    Als meine Großmutter mich anlässlich meiner Konfirmation zu einer zweiwöchigen Reise nach Florenz und Rom einlud, kannte ich schon die Grundzüge der römischen Geschichte, die Grundlagen von Latein und einige sehr wichtige klassische Musikwerke von Bach wie das Weihnachtsoratorium, die Matthäus-Passion und Händels Messias.

    Ich werde nie vergessen, wie mir vor den Uffizien in Florenz Michelangelos David-Statue zeigte, dass Anmut und Schönheit kein Gegensatz zu Wucht sein müssen. Als ich dann am Ostersonntag 1961 auf dem Petersplatz in der Menschmenge stand und anschließend durch den Petersdom ging, war ich nicht nur von der Andacht vieler Menschen, sondern besonders von der grandiosen Architektur der Kathedrale und ihrer Kunstwerke tief berührt. Ich stand lange vor der Pieta, die Michelangelo aus einem perfekten Marmorblock gemeiselt und 1499 als 25-Jähriger fertiggestellt hatte. Noch heute kann ich mich erinnern, wie ich von der Schönheit der Statue und der Trauer der Maria betroffen war. Allein der monumentale Faltenwurf in Marias Kleid und ihr verklärtes Gesicht sind unübertreffbare Meisterstücke für sich. Ähnlich erging es mir, als ich in der Sixtinischen Kapelle das Deckengemälde auf mich wirken ließ. Viele Jahre später fuhr ich extra nach Mailand, um dort im Dom die zweite Pieta Michelangelos anzuschauen, die auch sein letztes Werk war und unvollendet blieb.

    Wenn ich erklären soll, was zeitlose Schönheit für mich bedeutet, fallen mir sofort zwei Kunstwerke ein: diese Römische Pieta und eine singuläre Aufnahme von Arturo Benedetti Michelangeli von Galuppis 5. Klaviersonate: eine absolute Harmonie von Form, Material und spiritueller Aussage, eine nicht steigerbare Perfektion, eine absolut reine Darstellung.

    Bewegend ist für mich, mit welch kreativer Kraft, Fantasie und physischer Stärke Menschen ausgestattet werden, wenn sie mit tiefer Gläubigkeit Kunst planen und diese meisterlich, unverkennbar persönlich und zeitlos schaffen – für ihren Gott, dem sie dienen und sich und ihre Gaben als Kunstwerk zurückschenken.

    Über wie vielen Kunstwerken steht das S.D.G.! Das Soli deo gloria! Johann Sebastian Bach hat es oft benutzt, und Anton Bruckner schrieb demütig und wie ein kleines Kind über seine ultimative, seine Neunte Sinfonie „Dem lieben Gott“.

     

    Die Welt-Liste der malerischen Kunstwerke mit religiösen Themen ist unendlich lang.

    Nur ein paar persönliche Beispiele: Schon mehrfach bin ich in Colmar vor dem Isenheimer Altar gestanden, und im April habe ich wieder die Stuppacher Madonna bei Bad Mergentheim besucht, diese wunderbaren Werke von Matthias Grünewald.

    In der Kathedrale von Liverpool habe ich als Schüler einen Konzertabend von Simon Preston an der weltgrößten Orgel erlebt.

    Ich sehe mich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin vor dem großen blauen modernen Glasfenster, das nach dem Wiederaufbau von dem französischen Glaskünstler Gabriel Loire geschaffen wurde und heute als Gegenstück zu den noch sichtbaren Mauerschäden an die Zerstörung im 2. Weltkrieg dient. Ich erinnere mich an das Freiburger und das Ulmer Münster, an den Hamburger Michel und an den Kölner Dom, der nach dem Vorbild der Notre Dame entworfen wurde.

    Die vielen Konzerte in der schlichten Kirche von Saanen im Berner Oberland, die ich als Student beim Yehudi-Menuhin-Festival über mehrere Jahre besuchen durfte, sind ein prägender Bestandteil meiner kulturellen Erfahrungen.

    Ich erinnere mich an zwei Stunden in der Westminster Abbey, und für mich als Musikliebhaber war es ein besonderes Erlebnis, die Kirche St. Martin-in-the–Fields am Trafalgar Square in London zu besuchen, aus der das weltberühmte Orchester Academy of St. Martin in the Fields stammt, das Neville Marriner gegründet hatte. –

    Obwohl Johann Sebastian Bach nicht katholisch war, schuf er nach seinem Kosmos an Passionen, Oratorien und Kantaten noch seine H-Moll-Messe, für mich eines der größten Musikwerke der Geschichte. Und Mozart beendete sein Leben mit dem Requiem. Auch Verdi komponierte mit seiner Missa da Requiem ein zeitloses und erschütterndes Dokument tiefster Gläubigkeit. Die Schöpfung und Die Vier Jahreszeiten von Haydn, die Requien von Pergolesi, Dvorak und Fauré gehören für mich zu eindrucksvollen Werken der religiösen Kunst. Am Ostermontag 1969 erlebte ich in Wien Beethovens Missa solemnis mit den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein. Und das Deutsche Requiem von Brahms zeigt, wie gut deutsche Texte zu religiösen Kompositionen passen.

    Ich erinnere mich an die vier Passionen, die Hellmut Rilling in Auftrag gab zu seinem Bach Musikfest 2000 in Stuttgart: Tan Dun komponierte seine Water Passion nach Texten von Matthäus und leitete auch die Uraufführung. Eine Markus-Passion wurde von Osvaldo Golijov komponiert, Sofia Gubaidulina schuf eine Johannes-Passion, und Wolfgang Rihm steuerte seine Messe Deus passus nach Texten von Lukas bei. Ich bin glücklich, dass ich die Uraufführungen besuchen konnte.

    Denken wir auch an die Schreibkunst, die seit Menschgedenken den religiösen und spirituellen Gedanken Form gab und den verschiedenen Glaubens- und Machtinteressen Ausdruck verlieh. Die Bibel gehört hierher und Dantes Comedia divina, die Thora und der Koran. Und machen wir uns bewusst, wie viele Menschen Gebete, religiöse und spirituelle Texte, Romane und Gedichte verfasst und künstlerisch gestaltet haben. Die Bibliotheken und Museen weltweit sind voll davon!

    Auch die Baumeister aller Jahrhunderte wollten ihrem Gott Denkmäler und Kirchen aller Art und in allen Größen schaffen. Jedes Land, das religiös geprägt ist, hat seine berühmten Kirchen. Ich erinnere mich noch an meinen Besuch in der Al Aqsa Moschee in Jerusalem und in der Hagia Sofia in Istanbul. Der Asakusa-Schrein in Tokio, die Pyramiden von Gize und die Pyramiden der Azteken und Maja, und Tempelanlagen wie in Angkor Wat sind ebenso zeitlose Werke höchster Baukultur, die nur durch religiöse Kraft möglich waren und den Menschen alle Opfer, oft auch das Leben, abgefordert haben.

    In diese Reihe der unverzichtbaren Kulturdenkmäler gehört auch Notre Dame. Ich denke, es ist nur folgerichtig, dass sie wieder aufgebaut wird. Auch die Dresdener Frauenkirche wurde mit vereinten Kräften neu geschaffen und ist heute wieder ein Haus Gottes, in dem ihm mit Musik und Sprache, mit Stille und Glauben gedient und ein mahnendes Zeichen für Frieden und Versöhnung gesetzt wird.

    Vielleicht gibt es diesen Gott ja. Wenn es ihn nicht gibt, haben sich die Menschen mit der Vorstellung, Gott existiere, etwas geschaffen, das ihnen in und aus tiefster Verzweiflung helfen und schöpferische Kraft ohne Ende mobilisieren kann.

    Eine kleine Geschichte will ich als Beispiel anfügen.

    Drei Maurer, die an derselben Mauer arbeiteten, wurden gefragt, was sie da gerade tun.

    Der erste sagte: „Ich verdiene meinen Tagelohn.“

    Der zweite antwortete: „Ich verdiene Geld, um meine Familie ernähren zu können.“

    Der dritte strahlte: „Ich helfe beim Bau einer Kathedrale!“