Jahr: 2016

  • Zertifizierer und Zertifizierte

     

    Der Klinikverwalter hielt den Erlös des Hospitals seit Jahren in der Gewinnzone. Die Eingabe eines Advokaten bei Gericht, der die Konkurrenzklinik vertrat, zwang ihn zu einer Nachzertifizierung.

    Zertifizierer prüfen jedes angeforderte Papier genau, vergleichen es mit Hilfe elek-tronischer Schablonen, um keine Dokumentationslücke zu übersehen, und fordern ständig neue Informationen an.

    HansEmsig, der Leiter der Firma Zertissimo, genoss es, mit dem ständigen Stochern in Unterlagen bei den Kunden Dankbarkeit zu wecken. Jedes Klinik-Team möchte das andere übertreffen, die Gunst der Haushaltsplaner erheischen. Doch kein Team organisiert den Arbeitsprozess so perfekt, dass Herr Emsig kein Optimierungspotenzial entdecken würde.

    Dr. Moor, der für die Zertifizierung abgestellte Arzt, wusste, wann Herr Emsig den Aufzug bestieg. Der Doktor bezog Position in der finsteren Ecke des Korridors zum Kon-ferenzzimmer im siebten Stock. Dort befandsich eine Schalttafel des Lifts. Auf- und Abfahr-Geschwindigkeit, Ein- und Ausstieg regulierte man für den zügigen Ablauf von Konferenzen. Dr. Moor öffnete die Schalttafel und ließ Hans Emsig in den Keller fahren.

    HansEmsigfuhr zurück; einer von der Firma Zertissimo stieg im Parterre hinzu. Der Lift karrte sie hinab. HansEmsig fragte den Mitarbeiter: »Wissen Sie, wer für den Fahrstuhl verantwortlich ist?«

    »Wird der Hausmeister sein«, murmelte der Fachkollege, »er ist fällig. Der Aufzug hält ja im Parterre!«

    Der nächste Fachgenosse stieg zu. Drei Fachkräfte der Firma Zertissimo gerieten in den Keller. Jede Stunde geht dem Profit verloren, die man nicht mit Zertifizieren verbringt. Sie trösteten sich damit, eine Gewinn bringende Zertifizierungslücke aufzuspüren.

    In der Eingangshalle berieten sie die Lage. Sie mochten keinen gegen sich aufbringen, dessen Dankbarkeit sie brauchen dürften. Die Herren – ein Vierter kam hinzu –  vereinbarten, dass der Jüngste die Stockwerke zum Konferenzzimmer hinaufsteigen und den Arzt holen soll.

    Er nahm den Lift im ersten Stock und gelangte in den siebten. Dr. Moor gratulierte dem Zertissimo. Wie erwartet, fragte Dr. Moornicht nach dem Grund der Verspätung. Die Firmengenossen hatten die Anzeige über der Aufzugtür verfolgt und machten es dem Jüngsten nach.

    Endlich besprach Firma Zertissimo mit Dr. Moor die Nachzertifizierung. Ärzte gehören zur schwierigsten Kundschaft. Man begeistert sie zwar für  Prozessqualität und Qualitätsmanagement, Psychiater aberhalten es für Aberglauben, dass Zertifizierung Erfolg bringen soll. Sie fördere allenfalls die informationsleere Dokumentation.

    »Es ist jetzt alles auf dem modernsten Stand«, begann Herr Emsig, »wir widerlegen den Klägeranwalt. Das Gericht wird künftig genau prüfen, ob es seine Klagen annimmt.«

    »Meine Herren«, antwortete Dr. Moor, »stillhalten, kein Interesse erregen, das ist nichtmein Rezept. Ich war es, der das Interesse des Klägers auf unser Hospital lenkte.«

    »Sie?«

    »Beruhigen Sie sich! Ich tat es, um Zertissimo zu zertifizieren. Sehen Sie, ein Klinikum ist ein Organismus. Mag es Ihnen auch gegen den Bürstenstrich gehen: Organische Prozesse bleiben ständig in der Schwebe. Ändert sich das Organ, ändert sich der Prozess. Wer nicht aufpasst und sich nur nach der Prozessqualitätsvorschrift richtet, verliert den Anschluss.«

    »Da haben wir es«, warf der zweite der Firma Zertifissimo ein, »der Organismus braucht Betriebsstörungen, um das Anpassen nicht zu verlernen!«

    Dr. Moor lächelte: »Genau, meinHerr! Das gesunde System gleicht jeden Defekt aus, es findet selbst den Ausweg.«

    »Dochsicher«, stürmte der Dritte von Zertissimo vor, »nur bis zu einer gewissenGrenze.«

    »An dieser Grenze«, erklärt Dr. Moor, »wird der Organismus zornig. Er bestraft Grenzüberschreitung mit Krebs, Depression oder Suizid.«

    »Das ist nicht unsere Kompetenz«, stellt der vierte Zertissimist fest, »nennen Sie ein Beispiel, das in unsere Kompetenz gehört!«

    »Gern. Patienten, Lokalpolitiker, die Medien würden aufschreien, wenn wir den Be-trieb herunterfahren. Betrachten Sie Ihre Ratschläge! Wo taucht der brauchbare auf?«

    »Aber Herr Dr. Moor, das gehört nicht zu unserer Kompetenz!«

    »Doch! Sie stören den Organismus. Sie schaffen den Leidenden ohne Eigenschaft. Sie heften ihm Nummern an, obendrein vernichten Sie seinen Namen. Sie rechtfertigen jede Kostenoptimierung, werfen das Ziel des Organismus über Bord. Sie lösen seine Beziehungen auf. Aus Sozialdaten und Gesundheitskosten zimmern Sie eine dubiose Signifikanz, eingebettet in Zertissimo-Diagramme, die niemand glaubt.«

    Eine Pause trat ein.

    »Lassen Sie uns zum Ende kommen«, lächelt Dr. Moor, »Ihre Analyse macht namenlose Patienten zur Ursache für Kostenproduktion. Zertissimo erstellt irgendein Statistik-Diagramm. Es sieht wie ein allergischer Ausschlag auf der Haut des Organismus aus … Verstehen Sie nun, dass Sie mich zwingen, gegen den Ausschlag vorzugehen, obwohl er für michals Psychiater fachfremd ist?«

    Herr Emsig hakt ungeduldig nach: »Warum haben Sie, Herr Dr. Moor, uns den Streich mit dem Aufzug gespielt?«

    Dr. Moor lächelt. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie ÄrzteundPatienten ohne Eigenschaften produzieren. Sie versuchen mit Ihrem Raster alles abzufangen, was den Menschen betrifft, das Schicksal eines Kranken, das Tun eines behandelnden Doktors. Sie verdammen das Gesprächals Kostentreiber, Sie haben keine Vorstellung vom Wert des Gesprächs für Patientund den Organismus.«

    »Wir bitten Sie, HerrDoktor, denken Sie an die Geschäftsführung des Hospitals! Sie braucht den Vergleich mit Zahlen, nicht mit Worten!«

    »… und ich brauche Worte«, gab Dr. Moor zurück, »damit habe ich Erfolg, präsentiere dem Verwaltungsleiter wachsende undnicht fallende Fallzahlen. Wir Psychiater verschrei-ben andere Rezepte und verrechnen uns nie beim Nachzählen.«

    Hans Emsig fand keine Antwort.

    Dr. Moor schaute lächelnd den jüngsten Zertifizierer an: »Ich halte Sie für talentiert. Ich sähe Sie gern im Funktionsbereich Qualität der Klinik. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich einmal verändern möchten. Der Funktionsbereich ist meine Aufgabe.«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

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    Tabubruch am Bosporus

     

    Hans Adamski wusste, dass ihn niemand mochte: „Nun ja, ich bin schnell eingeschnappt, schnell aufgebracht, ich gehe allen auf die Nerven.“ Er hatte als Einzelkämpfer des Jahrgangs das Abitur erreicht; der Notenschnitt genügte für das Studium der politischen Wissenschaft. „Der Kapitalismus raubt uns aus. Der Westen vertritt falsche Werte, er hat keine Kraft“, waren seine Sprüche, „nur Alkohol, Drogen und Sex. Niemand macht etwas dagegen, der Untergang ist nahe!“

    Seine Ansichten verscheuchten die letzten Freunde. Mädchen mieden ihn, weil er auf nackte Schultern, kurze Röcke und Busenausschnitt mit missbilligenden Blicken reagierte. Die Kommilitonen im Politischen Seminar nahmen von Hans entfernte Plätze ein. Auf den Studentenfesten wuchs der Frohmut, seit Hans fernblieb.

    Ein Kommilitone aus dem Libanon, der zwei Auslandssemester an der Universität verbrachte, lud ihn ein: „Hans, ich sehe, du fühlst dich unter den Kollegen nicht wohl. Mir geht es genauso. Darf ich dich in unseren Kultur-Verein einladen?“

    „Was ist das, euer Kulturverein?“

    „Deutsch-Arabischer Kulturverein, Hans“, sagte Sad al Assad freundlich, „ganz unverbindlich. Ich stelle dich als Studienkollegen der internationalen Politik vor. Wir freuen uns über jeden, der uns kennenlernen will.“

    Sad al Assad stellte ihn dem Imam vor und bat, dass Hans mit ihm den Kulturverein besuchen dürfe. Die arabischen Freunde empfingen ihn freundlich, baten, sich nicht zu fürchten, denn man wolle Freundschaft pflegen und sich keinesfalls aufdrängen. Bei Festen gehe es, wenn die Frauen dabei seien, recht familiär zu. Doch er werde sicher nicht heiraten müssen.

    Nach dem ersten Gemeindefest fragte Sad al Assad, ob es ihm gefallen habe. Hans strahlte: „Ihr seid alle herzlich, eure Mädchen schauen mich an, zwar von weiter weg, aber mit Respekt.“

    „Ja“, bestätigte Sad al Assad, „sie interessieren sich für Deutsche und sind glücklich, wenn ihre Eltern den Umgang erlauben.“

    Hans gefiel es, als Mann im Mittelpunkt verstohlener Mädchenblicke zu stehen, noch mehr, von Männern ernst genommen zu werden. Der Bruder seines Freundes, Mahmed al Assad, ging jedes Mal auf ihn zu, teilte Hans Adamskis Ansicht vom gottlosen Sittenverfall des Westens.

    Er sagte: „Hans, du solltest unseren Prediger hören, der uns für einige Wochen besucht. Er ver-steht es, wach zu rütteln. Wenn du magst, nehme ich dich mit.“

    Der Prediger riss Hans mit. Hans gefiel es, Gleichgesinnte zu finden. Sie waren ein kleiner Kreis, außer den Assad-Brüdern noch Hans und ein junger Mann, der gerade die Arbeitsstelle verloren hatte. Der Prediger fasste die Situation der Zeit knapp und mit eindeutiger Perspektive zusammen. Er wies auf Schwachstellen der westlichen Demokratien hin, auf lasch eingreifende Ordnungskräfte, Mängel der Kirchen und ihrer Priester, deren Rufe nicht gehört würden. Die Zügellosigkeit der Jugend, der Verfall von Familie und Respekt würden gleichgültig hingenommen.

    Hans Adamski beschlichen Bedenken. Er nahm sich vor, die Freundschaft einschlafen zu lassen. Aber er fühlte sich verstanden. Die Assad-Brüder nahmen die Bedenken ernst, und der Prediger be-stärkte Hans‘ Überzeugung vom Bösen in den Herzen seiner deutschen Freunde. Der im Koran festgelegte Gehorsam der orientalischen Frau gegenüber dem Mann fesselte ihn. Er träumte von einem treuen Mädchen mit Kopftuch und langen Kleidern, unter die nur er schauen dürfe.

    Als die Assad-Brüder ihm anboten, einige Zeit in den Libanon mitzufahren, fühlte er sich auser-wählt, nahezu glücklich. Wie lange war es her, dass er sich stark fühlte, Mädchenblicke auf sich zog, Erkenntnisse und Erlebnisse mit Freunden besprechen konnte!

    Mahmed al Assad ergänzte: „Wir stellen Kontakt mit führenden Persönlichkeiten her, vielleicht hilft der eine oder andere Kontakt, einen Plan zu erfüllen. Wir haben Beziehungen zu Europa, du könntest bei uns Arbeit finden, geschult werden und in Europa eingesetzt werden.“

    Hans schlug ein. Triumphierende Gedanken jagten durch den Kopf: Arbeit, Aufstieg, als Macher zurückkommen, kein dekadenter Performer, sondern gottesfürchtiger Entscheidungsträger, verant-wortlich für das Schicksal jener, die seinen Weisungen zu folgen haben. Er werde Rache nicht zeigen, nur spüren lassen. Selbstgefällige Gedanken verscheuchten kritische.

    Mahmed al Assad versicherte, Hans zu begleiten, so oft er nur könne, bis Hans Firma und Be-ziehungen kennengelernt und sich eingebracht habe. Hans war es, als ob er an einem Punkt ange-langt sei, ab dem jeder Plan gelingt.

    „Erschrick nicht, Hans“, beruhigte Mahmed al Assad, „am Anfang geht es etwas rau zu, aber ich bin immer zu erreichen.“

    Im Libanon vermisste Hans die Assad-Brüder gar nicht. Der Kursleiter half, die Gegenwart in kla-ren Perspektiven zu erfassen, böse Imperialisten einerseits und gute Muslime andererseits, Atheis-ten und Gottesfürchtige, Gläubige und Ungläubige, Gutmenschen hier und Ungeziefer dort. Um gegen Überfälle Ungläubiger gewappnet zu sein, kamen Aufenthalte im Trainingslager hinzu. Die Fertigkeiten, Waffen zu benützen, sich zu wehren oder verbergen, Ungläubige in Angst zu versetzen, machten größten Spaß. Die Strapazen des Trainings nahm er nicht wahr.

    Denn jede vierte Wochen gab es Urlaub. Hans bewunderte die perfekte Organisation, den gewonnenen Durchblick. Frauen mit Schleier und langen Kleidern verwöhnten die Männer aus dem Camp. Sie verehrten den Mut der Männer, weckten Phantasien, erfüllten auch intime Wünsche. Sad al Assad fragte Hans, ob sich Suleika genügend um ihn kümmere.

    Hans schwärmte: „Sie ist sehr lieb, zärtlich, liest die Wünsche von den Augen ab. Sie bietet mir Drogen an, sagt genau, wie Stoff und Dosis wirken. Ihre Drogen steigern die Lust und Manneskraft, wie ich es bei unseren Emanzen nie erleben würde.“

    Mahmed al Assad fragte nicht weiter, freute sich mit Hans, der nichts von den Rachegefühlen preisgab, die er gegen alles Westliche hegte. Mahmed al Assad wusste, dass in Hans Gelüste auf-kamen, sich zu rächen, an wem auch immer. Er schlug Hans vor, sich einen arabischen Namen zuzulegen, Hassan al Acham, das helfe, sich zu tarnen. Es würde Suleika gefallen. Hans nahm an, denn er hatte in ihren Armen selbst daran gedacht.

    Hassan al Acham trainierte nun Taktik und Vorbereitung von Anschlägen auf Gebäude und Ansammlungen. Sein erster Auftrag führte ihn nach Nigeria. Dort übe man den Islam nachlässig aus.  Deshalb müssten die Respektlosen gestraft werden. Man versprach Hassan eine Jungfrau nur für ihn allein, wenn es ihm gelänge, Schülerinnen zu entführen, so viele wie möglich.

    Es gelang ihm, mit seiner Truppe zweihundert Mädchen zu fangen und ins Camp zu bringen. Suleika führte ein hübsches Mädchen in Liebeskunst und Drogenlehre ein. Es hieß Aische und erfüllte Hassan al Acham jeden Wunsch. Er gewöhnte sich an Aische, Kokain und Amphetamine. Hassan fühlte Riesenkräfte wachsen, auch die Wut auf Ungerechtigkeit wuchs. Er suchte nach Rache-Opfern.

    Mahmed al Assad erkannte den günstigen Moment. Er sagte beim Frühstück: „Hassan, du bekommst neue Mädchen, du wirst sie testen und beurteilen, denn das Mädchen hat von dir alles gelernt, du hast das Talent, unseren Dschihad-Kämpfern und den Mädchen Mut zu machen.“

    „Du hast einen Auftrag für mich“, fiel Hassan ins Wort, „ich nehme an, ich will Rache!“

    „Du bekommst mehrere Jungfrauen, um sie auszubilden.“

    „Gerne, aber zuerst muss ich ein Blutbad anrichten, ein Blutbad unter Ungläubigen. Allah fordert Gerechtigkeit, und nichts ist gerechter als Allah.“

    „Ich begleite dich“, sagte Mahmed al Assad leise, „den Umgang mit dem Sprenggürtel hast du gelernt. Aber in der realen Situation darf man nicht allein sein.“

    „Endlich, Mahmed!“ Hassan sprang auf. „Endlich kann ich mich bewähren. Zur Belohnung möge mir Allah Jungfrauen zuteilen.“

    Mahmed schlug für die Reise nach Istambul vor: „Sad und ich fahren mit und geleiten dich durch die Sicherheitskontrollen.“ Er wusste, das der kritische Punkt der Selbstmordtaktik noch nicht bewältigt war.

    Sie fuhren nach Antalya, stiegen in einen andern Wagen mit türkischem Kennzeichen, über-nachteten in kleinen Hotels. Mahmed beruhigte, indoktrinierte, motivierte, Sad schaffte in jedem Hotel Drogen und eine Frau an. Hassan nahm und fühlte sich wie Gott. Denn der Prediger des Camps hatte ein Mail geschickt: „Ich rechtfertige die Erfüllung des Auftrags. Du bist auf dem rechten Weg. Suche dir vor der blauen Moschee eine Gruppe aus! Das Ungeziefer ist ungläubig und gottlos, opfere böse Engländer oder besser, opfere Deutsche. Die Vernichtung westlicher Schweine steigert den Wert deiner Tat. Sie trifft auf das Wohlgefallen Allahs, er wird dich belohnen.“

    Aische, das Mädchen aus Nigeria, begrüßte ihn in Istambul. Die Drogen, die sie nach dem Liebes-dienst empfahl, dürften Hassans Aggressivität genügend steigern. Hassan genoss Nacht, Drogen und Aussicht auf gestillte Rache, vor allem das Gefühl der Allmacht. Er allein werde entscheiden, wer sterben wird, wer nicht sterben wird, die hier links oder die dort rechts. Die andern würden später an die Reihe kommen.

    „Wie grandios das ist“, sprach Hassan zu sich selbst, morgen bin ich Gott, mich bremsen keine  dekadenten Werte aus, niemand hindert mich, das Ungeziefer in den Boden zu treten! Blut wird spritzen, Schweine werden jammern, und ich – ich bringe das Blut der Gerechtigkeit Allahs dar.“

    Aische holte ihn aus der Traumwelt, steckte ihm Kokain zu und zog sich zurück, als Mahmed und Achmed al Assan ins Zimmer traten, um den Sprenggürtel anzulegen. Die Schnallen befestigten sie auf dem Rücken, die Zündleine vorne. Hassan konnte den Gürtel weder öffnen noch verschieben.

    „Du bist heute der Größte, Hassan“, sagte Mahmed, „du hilfst, Moral und Sitte herzustellen! Schau auf das Mail, der Prediger hat die Legitimation geschickt. Nun zeige, dass du furchtlos vor Allah trittst. Allah wird dich belohnen.“

    Hassan schlug Mahmed das Mobiltelefon aus der Hand. Er hastete auf die Straße, die Assad-Brüder holten ihn ein und mahnten, langsamer zu gehen, es seien nur ein paar hundert Meter zum Sultan-Achmed-Platz. Mahmed nahm Abstand, beobachtete aber jeden Schritt. Hassan mischte sich unter Touristen, fand eine deutsch sprechende Gruppe. Alle lachten, weil Hassan sich Hans nannte.

    Mahmed gefiel es nicht. Der hasserfüllte Blick Hassans traf ihn. Hassan schüttelte den Kopf. Mahmed tat, als ob er am Faden eines Westenknopfs ziehen wolle, schob seinen Bruder zum Deutschen Brunnen hin. Sie suchten den Blick des andern. Hassan schüttelte den Kopf. Die Brüder  traten in den Sichtschatten des Deutschen Brunnens, der Sprengsatz explodierte mitten in der Gruppe, Hassan war nicht mehr zu sehen. Die Brüder traten aus dem Schatten, entfernten sich gelassen vom Platz des absoluten Tabubruchs, niemand nahm sie wahr. In der Tomurcuk-Straße gingen sie in ein Haustor, und Mahmed schaltete das Funkfernzündgerät ab.

    *

    Bei dem Terroranschlag am 12. Januar 2016 in Istanbul wurden gegen 10:20 Uhr auf dem Sultan-Ahmed-Platz mindestens elf Menschen getötet und fünfzehn verletzt. Bereits ein Jahr zuvor war dort ein Sprengstoffanschlag durch eine tschetschenische Selbstmordattentäterin verübt worden.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Ketewan

    In Georgien wurde eine fromme Frau von einem Jungen entbunden.

    »Schau her«, munterte die Hebamme auf, »ein Bub, was für ein prächtiger Bub!«

    »Atmet er genug«, fragte Ketewan, die ängstliche Mutter.

    »Hör! Hör doch! Wie kräftig er schreit! Nimm ihn, den Buben, nimm ihn, leg ihn auf deine Brust!«

    Ketewan zögerte, die Hebamme drängte, die Mutter nahm den Knaben entgegen und betrachtete ihn.

    »Er ist ein Starker«, klatschte die Hebamme in die Hände, »sieh, wie er strampelt, wie er mit den Händchen winkt!«

    Ketewan erschrickt: »Er strampelt? Er tritt mit den Füßen! Er winkt? Er boxtundboxt, will alles nieder boxen!«

    Die Hebamme stutzt, sucht nach Worten. Endlich sagt sie: »Du hast eine lebhafte Phanta-sie, Ketewan, du, nicht das kleine Teufelchen!«

    »Hebamme«, antwortet Ketewan, »du musst es mir eingestehen: Mein Sohn richtet Furore an. Der böse Blick dringt mir ins Herz.«

    »Ketewan«, fordert die Hebamme, »beruhige dich! Das unschuldige Kind! Wirst du es gernhaben, von Herzen gern?«

    »Ich liebe es, weil es freigeboren ist. Aber jetzt, da ich es sehe, wird mir anders zumute … es ist ein Freier. MeinVater, sein Großvater ist leibeigen. Ich liebe Russland undweißnicht, warum ich mich schäme.«

    »Welchen Namen bekommt der Bub?« lenkt die Hebamme ab.

    »Josef«, flüstert die Mutter, »JosefWessarionowitsch. Mein Schwiegervater ist freigeboren, kein Leibeigener.«

    »Josef«, ruft die Hebamme, »er wird ein Priester.«

    »Wie kannst du es wissen?« Die Mutter weint. »Das glaube ichnicht. Das Kind wird nie-mals ein Diener Gottes.«

    Das Wochenbett überlebte Ketewan komplikationsfrei. Der Knabe wuchs heran; Pockennarben zeichneten das Gesicht. Nachdem JosefWessarionowitsch Dschugaschwili das Priesterseminar abgebrochen hatte, um das Glück des Revolutionärs herauszufordern, nahm er den Namen Josef Stalin an. Millionen wanderten hinter Stacheldrahtzaun, Millionen starben. Ohne Asyl gibt es keine Emigration.

  • Auf Kosten des Hauses

     

    Der Aischgründer Gastronom respektiert die Notwendigkeit von Ausgaben sorgfältiger als das Finanzamt. Er hütet seine Finanzen. Auf Kosten des Hauses bietet er allenfalls an, von Laune zu Laune zu springen.

    Im Tor des Biergartens in Gutenstetten stand ein Mannsbild in blauer Schürze, offensichtlich der Wirt. Ein Gast ging auf ihn zu; er wollte wissen, ob es ein Bier gäbe.

    »Schon«, sagte der Wirt, »aberso, wie Sie daher kommen, gibt’s für Sie keines.« Der Mann versprach, die Kleider zu wechseln. Er kehre sofort zurück.

    »Da muss ich erst sehen, ob Sie anders ausschauen als jetzt. Sie wohnen nicht hier. Wo wollen Sie ein Gewand herbringen?«

    Der Sommerwind strich über die Kastanien. Der Besucher suchte den Garten ab, winkte der Serviererin zu. Sie wedelte lächelnd. Der Wirt mahnte: »Bevor meine Tochter Ihnen zuwinkt, versuchen Sie erst einmal, an mir vorbeizukommen.«

    »Sie wirken nicht, als ob Sie zuschlagen wollten«, sagte der Gast.

    »Schlagen?« Der Torsteher wunderte sich: »Warum sollte ich? Sie sehen kaum nach einem Gauner aus. Bedenken Sie trotzdem: Ich bin draußen der Aufseher, drinnen der Maßgebende. Die Wirtschaft ist die fünfte Generation im Familienbesitz. Wissen Sie, mit wem Sie reden?«

    »Sie dürfen stolzsein«, antwortete der Besucher, »aber sie wirken mir eher selbstbewusst.«

    »Ich bin am Eingang der Aufpasser, im Biergarten der Aufseher, im Haus der Wirt, im Grundbuch der Eigentümer«, erklärte der Wirt. »Schritt für Schritt, den Sie hineingehen, hört man mehrundmehr auf mein Wort, besondersmeineTochter.«

    »Behüten Sie sie genug?«, fragte der Gast.

    »Jeden Tag kommt ein anderer Verehrer«, antwortete der Gastronom, »ich ertrage schon den Anblick nicht. Sie springt mit zudringlichen Leuten um, wie es sich gehört.«

    »In zwanzig Minuten«, teilte der künftige Kunde mit, »bin ich wieder da. Welche Art von Anzug wünscht der Aufpasser, der Aufseher, der Wirt, zu guter Letzt der Besitzer?«

    »Wenn Sie mit meiner Tochter anbandeln wollen, kommen Sie im besten Aufzug. Falls Sie ein Bier trinken, langenHemd, Hose undJacke.«

    Nach zwanzigMinuten ging der Herr des Hauses zum Tor; er blickte die Straße hinauf und hinab. »Na also«, brummte er zufrieden, »die Hungergestalt ist nicht zu sehen.«

    »Meinen Sie mich?« Die Hungergestalt stand mit Jacke, blauem Hemd, gebügelten Hosenfalten und Sommerschuhen hinter ihm. »Ja, werter Aufpasser, ich bin durch Hauseingang, Wirtshaus, Gartenausgang gegangen: Attacke von der Kehrseite. Die Tochterhält es für die beste Strategie.«

    Solch eine Frechheit hatte der Wirt nicht erwartet: „Der Garten ist jedem zugänglich, aber keines Falls meineTochter!«

    »Gerade das«, grinste der Gast, »bringt der Tochter meine Sympathien ein. Jetzt nehme ich Platz. Bitte ein Bier. Was zapfen Sie für ein Bier? Muss ich es mir selbst holen?«

    »Werden Sie nicht frech, setzen Sie sich hin, und ich«, der Wirt legt die flache Hand auf die Brust, »ich bediene Sie! Es kommt ein Gebräu auf den Tisch, das zu Ihnen passt.«

    »Welcher Gerstensaft passt zu mir?«

    »Ein Dunkles aus dem Aischgrund kriegen Sie, von der Brauerei gegenüber.«

    »Hervorragend! Den Tisch suche ich mir selbst aus.«

    »DieserTisch im Schatten, Senior«, rief die Tochter, »er ist für den Herrn reserviert!«

    »Was nimmst du dir heraus«, schimpfte der Vater, »seit wann machst du Kunden-Akquise?«

    »Das habe ich ihr beigebracht«, fiel der junge Mann ins Zwiegespräch, »Sie müssten es an der Zahl der Gäste merken.«

    »Woher wissen Sie das? Seit vier Monaten geht es aufwärts.«

    Der Blick des Aufsehers, Gastwirtsund Besitzers in einer Person verfolgte die Szene: Der Aufdringliche ließ sich nieder, als ob er Stammgast sei.

    Der gastronomischen Dreieinigkeit ging ein Licht auf. Die Ideen der Tochter fielen ihm ein, ihre anhaltend fröhliche Laune, die Lebensfreude. »Herrgott, es ist bei mir haltlänger her«, dachte er.

    »Ich dank´ dir schön, Barbara«, säuselte der Gast, als sie das Dunkle servierte.

    »Wieso ist das Bier gezapft, bevor ich es anordne?«, klopfte der Senior auf die Tischplatte.

    »Weil HerrFeuerlein gern dunkles Aischgründer trinkt.«

    »Jetzt haut es dem Aischgründer Fass den Boden aus!«

    »Beruhige dich, Vater, vor einem Kunden benimmt man sich nicht wie daheim.«

    Dem Papa verschlägt es die Sprache.

    Herr Feuerlein lächelt: »Darf ich Sie mit Namen ansprechen, Herr Lechner?«

    »Was reden Sie da? Wenn Sie mir was von Ihnen verraten, dürfen Sie mich beim Rufnamen nennen.«

    »Steinachwirt, wir alle streben nach Gewinn, da stimmen Sie mir zu?«

    »Man kann es übertreiben, indem man mit dem Rufnamen beginnt.«

    »Untertreiben gefährdet die Existenz, Steinachwirt.“

    Lechners Verdacht verdichtete sich: »Schleichen wir nichtwie die Katz um den heißen Brei! Was für einen Beruf haben Sie, Herr Feuerleger?«

    »Feuerlein mein Name, reden wir vom Biergarten«, schlug der Verehrer der Steinachwirtstochter vor: »Schattig, angenehm kühl, Kastanien ohne Miniermotten, frisch gestreuter Kies, standfeste Gartenmöbel … neue Tische und Stühle, nicht wahr?«

    »Sie wissen eine Menge«, wurde Lechner ungeduldig, »viel zu viel für einen Kunden. Erzählt Ihnen Barbara alles?«

    »Nein.«

    »Nein? Von wem alleweil? Von meiner Frau erfahren Sie nichts, die plaudert mit keinem Fremden. Also woher?«

    »Barbara erfuhr es von mir.«

    »Jetzt hören Sie auf! Sie bringt mich auf Ideen, und sie spricht mit niemandem darüber?«

    »Das gefällt mir an Barbara, dass sie alles für sich behält, sogar dass Vorschläge von mir kommen.«

    »So, so, von Ihnen … was? Von Ihnen? Keinen Ton sagt sie. Um dickere Überraschungen zu ersparen: Was für einen Beruf haben Sie?«

    »Steuerberater, spezialisiert auf Gastronomie.«

    »Da stammt die Idee mit den Investitionen von Ihnen?«

    »Wenn Sie erlauben.«

    »Meine Frau hat Zustände gekriegt, so ein Haufen Geld. Barbara hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Inzwischen gefällt es ihr, dass wir Steuern sparen.«

    »Vielen Dank. Ich bin beruhigt.«

    Der Steinachwirt ist als Geschäftsmann beunruhigt: »Kriegen wir jetzt eine Rechnung … am Ende in Höhe der Steuerersparnis?«

    »Von mir nicht, wenn ja, dann von Barbara … in Höhe einer Aussteuer …«

    »Das fehlt noch! Beim Geld wird sie frech. In Freundschaften bleibt sie zaghaft. Stimmt es?«

    »Schüchtern ist sie nimmer; ich bin vernarrt in sie.«

    Im Wirt Lechner keimt Gefallen an dem Steuerberater für Gastronomie auf. Er ruft der Tochter zu: »Barbara, zwei Obstler undzwei dunkle Aischgründer auf unsere Kosten!«

    Das letzte Mal hatte er vor zweiundzwanzig Jahren spendiert, als Barbara auf die Welt kam. Er nimmt sich zielbewusst vor: »Feuerleger, geht das als Betriebsausgabe, den nächsten Enkel auf Kosten des Hauses zu begrüßen?«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ bei dem BDSÄ-Kongress in Würzburg 2016

     

    Die Leiden des Philoktet und der Lessing’sche Laokoon  

    Zu meiner Schulzeit war es in der gymnasialen Mittelstufe noch üblich, am Tag vor Beginn der Ferien an die Tafel zu schreiben:

    “Es ist schon immer so gewesen – am letzten Tag wird vorgelesen.”

    Unser vorlesender Mitschüler machte das ausgezeichnet, und die Texte, die er zu Gehör brachte, waren unterhaltsam und erheiternd. Eines Tages hörten wir  “Der Besuch im Karzer”, eine Humoreske des Gießener Autors Ernst Eckstein. Sie spielt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts  an einem Gießener Gymnasium. Der Direktor, ein jovialer Altphilologe mit besonderen Aussprache-Gepflogenheiten – er verwandelt die hellen Vokale samt und sonders in dunklere – liest mit Schülern der Oberstufe das Sophokles-Drama Philoktet. Der Heros ist mit den anderen Griechen nach Troja aufgebrochen und wird unterwegs von einer Schlange gebissen. Er empfindet den Schmerz als so unerträglich, dass er fortwährend und durchdringend schreit und ihn die Gefährten entnervt auf der Insel Lemnos zurücklassen.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet-Bild1

     

    Bild 1: Rotfigurige Bauchlekythos NY ca. 430 v. Chr.

     

    Zum Jubel der Klasse verdeutscht der übersetzende Primaner das Wehgeschrei des Unglücklichen mit ai, ai, ai, ai… “ Da fällt ihm der Direktor in die Rede: Sagen Sä au, au, au, au. Das “ai” als Interjektion des Schmerzes äst sprachwädrig”. Auch den Einwurf „nun, umso besser“ verwandelt die eigentümliche Diktion des Pädagogen in:  “non, omso bässer”, natürlich ebenfalls zum Entzücken der Schüler. Ich muss es mir leider versagen, den Fortgang des Unterrichts und seine Folgen mit Ihnen zu genießen; denn wir haben es hier mit einem leidenden griechischen Helden zu tun.

    In seiner Abhandlung “Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie” bezeichnet Lessing subsummierend „die bildenden Künste überhaupt” mit dem Begriff  Malerei. So stellt er den hemmungslos mit weit aufgerissenem Mund schreienden Philoktet aus der Dichtung dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes gegenüber, den die Bildhauer dem trojanischen Priester Laokoon und seinen Söhnen gegeben haben, obwohl alle drei in Kürze der tödlichen Umklammerung durch die gewaltigen Schlangen erliegen werden.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 2.doc

    Bild 2: Laokoon, Vatikan

    Nach: W.-H. Schuchhardt, Die Kunst der Griechen, 1940, 440 Abb. 410

     

    Entgegen der Behauptung Winckelmanns, Laokoon leide wie der Philoktet des Sophokles, zeigt nun Lessing, dass es den Bildhauern gelang, beim Laokoon “unter den angenommenen Umständen des körperlichen  Schmerzes…auf die höchste Schönheit” hin zu arbeiten, wozu allerdings die entstellende Heftigkeit herabgesetzt, “Schreien in Seufzen” gemildert werden musste, “nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise” verzerrt. “Man reiße dem Laokoon in Gedanken“ einmal „den Mund auf und urteile”.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 3.doc

    Bild 3: Was ist schon Sport ohne Schrei?

    Nur eine Darstellung, die “Schönheit und Schmerz zugleich” zeige, könne Mitleid  erregen, während der Anblick heftigen Schmerzes allein abscheulich sei und “Unlust erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann”[1].

    Was jedoch den schreienden Philoktet angeht, so ist der überwältigende, fast  unangemessene Schmerz nicht das einzige Übel, das ihn befallen hat. Die schlecht heilende Wunde entwickelt nämlich einen widerwärtigen Gestank, den Freunde und Kriegsgefährten nicht ertragen. Dieses in der Sekundärliteratur (z. B. DNP 9, 832 f. RE 1938, 2501[2]) durchweg geradezu genüsslich, manchmal sogar als einziges[3], beschriebene Symptom, spielt offenbar nicht in allen antiken Quellen eine vergleichbare Rolle. Im sog. Schiffskatalog im 2. Gesang der homerischen Ilias ist zwar von Schmerzen die Rede, nicht aber vom üblen Wundgeruch (Il. 2, 714-728). Auch Sophokles lässt Odysseus lediglich mitteilen:

    „Ihm fraß am Fuße eine Wunde, eitrig, nässend,
    und seine wilden Schmerzensschreie, Jammern, Stöhnen
    durchhallten unaufhörlich unser Heer und  machten
    uns Spenden, Opfer, jeden stillen Gottesdienst
    unmöglich.“ (Philoktetes 7-11).

    Später äußert sich der Betroffene selbst gegen Neoptolemos:

    „Du, edel nach Charakter wie nach Abstammung,
    mein Junge, fandest standhaft dich mit allem ab,
    mit meinen schrillen Schreien, meinem Pestgestank.“ (κακῂ ὀςμῂ).

    (Philoktetes 874-876).

    Die Ausdrucksweise der Weggefährten ist bemerkenswert zurückhaltend. Immerhin geht es um die Verletzungsfolgen eines befreundeten Kommandanten von sieben Schiffen mit Bogenschützen, den die Achäer schnöde vernachlässigen und auf einer unwirtlichen Insel zurücklassen[4]. Wollte Sophokles ein Geheimnis aus dieser unrühmlichen Tatsache machen? Oder hielt er – ein Priester des Heil-Heros Halon und Wegbereiter des Asklepioskultes in Athen, der wohl mit dem Medizinbetrieb einigermaßen vertraut gewesen ist – den Gestank einer eitrigen, nässenden Wunde für so selbstverständlich, dass er ihn nur nebenbei erwähnte? Wir heutigen Ärzte würden das Krankheitsbild als „feuchte infizierte, stinkende Gangrän“[5] bezeichnen. Werfen wir einen kurzen Blick auf andere retrospektive Differentialdiagnosen:

    1. Chronoblastomykose, eine Pilzinfektion der Wunde, geht auch bei eingetretener bakterieller Superinfektion gewöhnlich nicht mit derart heftigen Schmerzen einher[6].

    2. Gicht erklärt zwar exzessive Schmerzen, nicht aber die purulenten Exsudate[7].

    3. Aktinomykose, eine Mischinfektion, häufig durch Bakterien aus der Gruppe der Aktinomyzeten verursacht, führt nicht zu Schmerzen.

    4. Osteomyelitis – das Ausmaß der Schmerzen passt nicht dazu[8].

    5. Eine Anaerobierinfektion[9] wie Gasbrand hätte, ohne Antibiotika, wohl zu einem fatalen Ende geführt und kommt schon aus diesem Grund kaum in Betracht.

    6. Am wahrscheinlichsten ist eine chronische bakterielle Mischinfektion aus Aerobiern bzw. Anaerobiern mit der Folge einer Gangrän.

    In der Bibliothek Apollodors, einer vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr. stammenden Mythensammlung (Apollod. Epitome 3, 27), wird der Bezug zwischen Gestank und schmerzhafter Wunde klarer, und auch Hygin erwähnt in seiner Fabelsammlung (Hyg. fab. 102, 2. Jhs. n. Chr.) den ekelerregenden Geruch. Beide berufen sich vermutlich auf  ältere, für uns verlorene, Quellen wie den Philoktet des Aischylos oder des Euripides. Wir wissen zwar, dass die gleichnamige Tragödie des Euripides zusammen mit zwei anderen tragischen Stücken und einem Satyrspiel des Dichters an den Dionysien des Jahres 431 v. Chr. aufgeführt wurde, doch ihren Wortlaut kennen wir nicht[10]. Dies gilt auch für den früher entstandenen Philoktet des Aischylos[11]. Jener üble Geruch muss aber früh zum Philoktet-Mythos gehört haben, war er doch ein Argument, mit dem die Griechen ihr unmenschliches Verhalten – die Vernachlässigung eines kranken Gefährten – zu erklären suchten. Dass wir keine archaischen Darstellungen des Ausgesetzten haben, hängt vielleicht mit jenem ’schlechten Gewissen‘ zusammen. Als dann Aischylos und nach ihm Euripides und Sophokles die Tragik des Philoktet als Schicksal darstellten, trat er auch in der Bildkunst auf[12]. Doch während der Kranke in der Sophokles-Tragödie an der Grenze zum Wahnsinn einen regelrechten Schrei-Exzess absolviert[13], zeigen ihn die bisher bekannten bildlichen Darstellungen stets mit einem  geschlossenen, allenfalls nur leicht geöffneten Mund[14]. In ihrer dezenten Gestaltung bleiben sie sogar hinter dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes zurück, der den Laokoon und seine Söhne kennzeichnet. Eine Wiedergabe ‚in Schönheit‘ siegte in klassischer Zeit allemal über tragischen Realismus[15].

    Philoktet aber wird, weil man ihn vor Troja braucht, später aus Lemnos abgeholt und durch die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios, von seinem Übel geheilt.

    Literatur:

    [1]Laokoon. Lessings Werke Band 3 (Stuttgart 1873) 69. 76 f.

    [2] Der Neue Pauly; Realezyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften; dazu auch   M. Grmek – D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique (Paris 1998) 99. 109; E. Simon, Philoktetes – ein kranker Heros, in: H. Cancik (Hrsg.), Geschichte – Tradition  – Reflexion. Festschrift für Martin Hengel zum 70. Geburtstag (Tübingen 1996) 16; J. Söring, Das Schreien des Philoktet. Sophokles und Heiner Müller, in: J. Söring – O. Poltera – N. Duplain (Hrsg), Le théâtre antique et sa réception. Hommage à Walter Spoerri (Neuchâtel 1994) 154 f.  A. Thomasen,  Philoktet – ein Thema mit Variationen, Clio medica 18, 1983, 1.

    [3] So P. Blome, Der Mythos in der griechischen Kunst. Der troianische Krieg findet statt, in: Traum und Wirklichkeit Troia (Stuttgart 2001) 144; C. W. Müller, Das Bildprogramm der Silberbecher von Hoby, JdI 109, 1994, 321.

    [4] Simon a. O. 1996, 16 Anm. 8.

    [5] St. Geroulanos – R. Bridler, Trauma. Wund-Entstehung und Wund-Pflege im antiken Griechenland (Mainz 1994) 57 f.

    [6] H. A. Johnson MD, The foot that stalled a thousand ships: a controversial case from the 13th century BC, J R Soc Med 96, 2003, 507 f.

    [7] ders. a. O. 508.

    [8] ders. ebenda.

    [9] Geroulanos – Bridler a. O. 57 f.

    [10] Müller a. O. 322 Anm. 4.

    [11] Müller a. O. 340 Anm. 63 f.

    [12]Simon a. O. 18, dazu auch brieflich am 20.03.2016.

    [13]Soph. Phil. 735-816.

    [14] LIMC VII (1994) 376-385 Nr. 12-74 Taf. 321-326 s. v. Philoktetes ( M. Pipili); Simon a. O. 1996, 15 Anm. 4. 5.

    [15]Dazu W. Wamser-Krasznai, In Schönheit sterben, in; dies., Fließende Grenzen (Budapest 2015) 22-35.

    Copyright Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai

  • Beitrag zur Lesung „Teufeleien“ beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Spät abends Hausbesuch in einem Mehrfamilienhaus.
    Ja?“, krächzt eine junge Frauenstimme durch die Sprechanlage.
    „Hier ist Dr. Weller von der Notfallpraxis!“, sage ich.
    „Wir brauchen Sie nicht mehr, es hat sich schon erledigt!“ Die Stimme klingt fest.
    „Moment mal, wir sind doch extra gerufen worden! Was ist denn los?“
    Ich höre im Hintergrund Stimmen, dann: „Ja, gut, dann kommen Sie mal hoch!“
    Matthias, Rettungsassistent und mein Fahrer, mit dem ich schon viele Dienste gemacht habe, schüttelt den Kopf: „Was ist das denn?“
    Wir fahren mit dem Aufzug in den 3. Stock, die Wohnungstür ist einen Spalt weit geöffnet. Wir sehen den blonden Wuschelkopf einer jungen Frau, darunter einen Pulli, der nur den Hals umschlingt. Zum Anziehen hat es wohl nicht mehr gereicht. Das große Dekolleté über dem BH ist frei. Aber sie hat wenigstens eine lange Hose an. Ich stelle mich und Matthias vor.

    Die Frau blickt auf Matthias: „Aber der kommt nicht rein! Nur Sie!“
    Meine Antwort kommt schnell und sicher:
    „Wir sind ein Team. Entweder wir kommen beide rein oder wir gehen wieder!“
    „Also gut.“, sagt sie und gibt die Tür frei. Dahinter steht ein Mann, grußlos, wortlos, angezogen. Ihr Vater, stellt sich später heraus.
    Wir betreten den Wohnraum, in dem neben dem Esstisch ein zerwühltes Bett steht. Ich sehe die offene Schlafzimmertür und dort im Bett eine Frau im Nachthemd sitzen, wohl meine Patientin, vermute ich. Zielsicher gehe ich auf die Tür zu, da stellt sich die Tochter in den Weg.
    „Nein, Sie dürfen da nicht rein.“
    „Wie soll ich denn Ihre Mutter untersuchen? Sie haben uns doch gerufen für sie, oder nicht?“
    „Na gut, dann gehen Sie rein, aber nur Sie! Er bleibt draußen!“
    Sie deutet auf Matthias.
    Im Schlafzimmer begrüße ich die Patientin und stelle mich vor.
    Mein erster Eindruck: Diese Frau ist nicht krank. Was soll ich hier?
    Währenddessen steht die Tochter bewachend an der Tür. Matthias hat keine Chance. Auch die Mutter redet dauernd im Befehlston russisch mit der Tochter. Ich verstehe kein Wort, aber mir ist klar: Hier brennt die Luft.
    Ich bleibe ruhig: „Was möchten Sie von mir?“
    „Ich nicht gut, möchte Sie Blut nehmen und Hochdruckblut messen!“Deshalb ruft man mich nachts? Was soll das denn? –
    Trotzdem sage ich freundlich: „Ich kann hier kein Blut untersuchen, aber den Blutdruck kann ich messen.“ –
    Ich schaue zu Matthias, der im Wohnzimmer in unseren Koffer greift und das Blutdruckgerät heraus holt und es mir geben will. Aber die Tochter verwehrt den Zugang. Also muss ich ins Wohnzimmer gehen und das Gerät selbst holen.
    „Der Blutdruck ist 140/80. Das ist normal. Lassen Sie mich mal Herz und Lunge abhören.“
    Ich untersuche die Frau durch das Nachthemd hindurch. Ja nichts provozieren, denke ich.
    „Auch normal!“
    „Das wollte ich wissen. Dann können Sie wieder gehen!“
    Sie zeigt zur Tür. Die Patientin schaut mich mit Augen an, aus denen böses Feuer sprüht.
    Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich an den Esstisch. Der Mann steht im Eck und schaut zu. Er sagt nichts.
    „Ich muss zuerst noch etwas aufschreiben, und wir brauchen die Personalien.“
    Matthias sagt freundlich zu der Tochter: „Geben Sie uns bitte die Krankenversicherungskarte Ihrer Mutter!“
    „Nein, bekommen Sie nicht!“
    Die Mutter steht plötzlich neben uns.
    „Wir bezahlen so! Was kostet das?“
    „Auch gut,“, sage ich, „das muss ich kurz ausrechnen“.Ich zücke mein iPhone und schlage die App mit der Gebührenordnung auf.
    „Nein, Sie schicken uns eine Rechnung!“, schnarrt die Mutter.
    Matthias reagiert ruhig, zieht ein Formular heraus und legt es der Tochter mit seinem Kugelschreiber hin:
    „Bitte unterschreiben Sie hier, dass wir Ihnen eine Rechnung schicken dürfen!“
    Die Tochter nimmt den Stift, beugt sich über das Blatt. In diesem Moment schlägt die Mutter ihr den Stift aus der Hand: „Du unterschreibst nichts!“
    Ich mache einen neuen Versuch.
    „Dann sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen.“
    „Das geht Sie gar nichts an! Gehen Sie jetzt!“
    „Moment mal, soll ich jetzt die Polizei rufen, damit Sie der Ihren Namen sagen?“
    Ich fixiere die Frau mit meinen Blicken.
    „Ich brauche Ihren Namen, damit ich Ihnen die Rechnung schicken kann, die Sie wollen.“
    „Der steht auf der Klingel, das haben Sie doch gelesen!“
    „Aha, ist das dieser Namen hier?“
    Ich zeige Ihr unseren schriftlichen Einsatzbefehl. Sie schaut nicht hin und sagt: „Ja!“
    „Wie heißen Sie mit Vornamen? Das brauche ich auch.“
    „Das geht Sie nichts an! Sage ich nicht!“
    „Aber dann kann ich keine Rechnung schreiben!“
    „Martina!“
    „Aha,“, sage ich, „geht doch! Danke!“
    Und ich ahne im selben Moment, dass der Name nicht stimmt.
    Da sagt die Tochter zu mir: „Meine Mutter ist misstrauisch. Können wir zwei mal vor die Tür gehen und in Ruhe reden?“
    „Du bleibst hier!“, kreischt die Mutter und packt sie am Pullover, der immer noch um den Hals hängt. Der Mann hat immer noch nichts gesagt. Er hat wohl hier nichts zu melden. Dann greift die Patientin mich wieder an:
    „Warum sind Sie denn immer noch da? Nehmen Sie jetzt endlich ihren Koffer, und gehen Sie aus der Wohnung!“
    Jetzt reicht´s mir. Ich mache etwas, was ich noch nie in dreiundvierzig Jahren bei einem Hausbesuch gemacht habe. Ich stehe kommentarlos auf, schaue mich nicht mehr um und verlasse grußlos die Wohnung.

    Draußen im Auto holen wir beide erst mal tief Luft.
    „Was war das denn?“, sagt Matthias.
    „Das waren unverschämte Leute. So was habe ich auch noch nie erlebt.“
    „Und was machen wir jetzt mit der Rechnung?“
    Ich schaue ihn an.
    „Nichts, Matthias, nichts machen wir. Und weiß du warum? Wir wissen doch, dass diese Leute die Rechnung nicht zahlen. Die wollten uns nur loshaben.“
    „Da hast du Recht!“
    „Eben, und du weißt, dass die Rechnung von unserem Rechnungsdienst abgeschickt wird, der auch die Mahnungen schreibt und mir in jedem Fall 20 Euro abzieht für diesen Service, unabhängig davon, ob die Rechnung bezahlt ist oder nicht. Und ich habe überhaupt keine Lust, mich unverschämt behandeln und rausschmeißen zu lassen und dafür noch 20 Euro zu zahlen.“
    „Aber der nächste Arzt läuft in die gleiche Falle wie du!“
    „Kann gut sein, deshalb müssen wir schauen, ob wir eine Warnnotiz in die Krankenakte machen können. Vielleicht haben wir die Frau im PC.“
    Tatsächlich: Sie war vor zwei Jahren mal in der Praxis. Der Vorname Martina ist gelogen. Die Adresse und das Alter passen. Ich schreibe einen entsprechenden Bericht als „Notiz“. Hoffentlich liest der nächste Kollege diese Nachricht, bevor er die Frau besucht.

    Schlagfertigkeit ist das, was uns zu spät einfällt. Wie wär´s denn mit diesem Satz?
    „In der russischen Literatur lese ich immer wieder von der großzügigen Gastfreundschaft der Russen. Sie sind die ersten Russen, die ich kennen lerne, auf die das nicht passt.“

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress 2016

     

    Das Rosmarinsüppchen

    „Hallo Schatzi!“

    Ich hasse diese einschmeichelnde Begrüßung! Schließlich hört man als erfahrene Frau die Lüge bei einem Mann schon, bevor er sie ausgesprochen hat. Ich musste nur noch genau hinhören oder hinschauen, um die Details zu erfahren. Henner hatte mich so oft an der Nase herumgeführt, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, mich zu ärgern. Ich dumme Kuh habe ihm immer wieder verziehen. Mal habe ich aus falsch verstandener Liebe einfach den Mund gehalten und die Kränkungen geschluckt, mal habe ich mir die Tränen theatralisch über das Make-up laufen lassen und verschmiert, um ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt. Auch wenn ich ihm Szenen gemacht habe mit Geschrei und zerschmettertem Geschirr, hat ihn das nicht wirklich und schon gar nicht lange beeindruckt.

    Jetzt war es mal wieder so weit.

    „Hallo Schatzi! Das war ein anstrengender Tag!“

    Ich schaute ihn an: „Wie siehst denn du aus?“

    Sie müssen sich das mal vorstellen: Wie im Kitschfilm. Die Krawatte auf Halbmast, die oberen beiden Hemdköpfe offen, die Goldhalskette über seinem gewellten dunkelbraunen Brusthaar, den Kopf zerzaust, das Jackett zerknittert, die Bügelfalten platt. Und das Gesicht wie nach einer durchwachten Nacht, ungewaschen, unrasiert, die Falten noch tiefer als sonst. Und die waren nicht nur vom Arbeiten so tief, ganz sicher nicht.

    Seit ich zufällig neulich seine neue Sekretärin gesehen habe, ist mir klar, warum er so oft abends und bis spät in die Nacht dringende Besprechungen machen muss.

    Ich sah sie auf dem Büroflur auf sein Zimmer zu gehen. Das blonde Haar floss über die schlanke und offene Rückenpartie des Kleides. Das hautenge Kleid betonte den wackelnden Hintern dieses Schoßhühnchens in geradezu obszöner Weise. Die hohen Stöckelabsätze waren eine orthopädische Katastrophe und ihr Klackern auf dem Steinboden eine Zumutung für jedes Ohr. Wie Pistolenschüsse knallten sie über den Gang. Meine Birkenstock-Schuhe hört man nicht! Und als sie sich umdrehte, dieses Möchte-gern-Playboy-Häschen, konnte ich sofort sehen, wo der Plastische Chirurg sein Geld verdient hat. Die mit Botox aufgedunsenen Lippen waren kurz vor dem Platzen, und die silikongefüllten Brüste drohten das eng anliegende Blüschen zu sprengen. Nicht einmal einen BH trug diese Büropuppe. Bei Heidi Klum wäre sie nicht als Model angekommen, aber mein Mann hat sie sofort eingestellt. Wofür eigentlich? Diese an allen Rundungen aufgeblasene Frau passte genau in sein Beuteschema. Sie erfüllte ganz sicher die Wünsche meines Mannes, aber bestimmt nicht bei der Arbeit.

    Es hat mich gar nicht gewundert, dass ich schon ein paar Tage später ganz zufällig blonde Haare auf Henners Hemd fand, und ich entdeckte, dass er in seinem Aktenkoffer eine zusätzliche Flasche seines Parfums mitnahm und abends frisch beduftet heim kam. Aber mich kann er nicht täuschen. Er stank nach einer schwülen Mischung aus Frauenparfüm und seinem Rasierwasser. Das war richtig ekelig!

    Früher wäre ich ausgeflippt vor Wut und hätte sein Büro zuhause demoliert. Aber ich habe mir geschworen, meine Kräfte zu sparen für den entscheidenden Tag. Ja, Sie hören richtig, ent-scheidend. Das hat etwas mit Scheidung zu tun. Aber nicht wie Sie denken – mit Rechtsanwalt und Gericht, nein, nein. Da muss mir schon etwas Besseres einfallen.

    Heute war das Fass voll. Ich meine das Fass meines Zorns. Und wissen Sie warum? Als Henner ins Bad ging und die Kleider auf das Bett geworfen hatte, fielen mir sogar ohne Suchen sofort schwarze kurze Haare an seinem Hemd auf. Und der Lippenstiftfleck auf dem Kragen war nicht zu übersehen. Henner hatte seine Jacke so achtlos hingeworfen, dass das Bild einer jungen Schwarzhaarigen heraus gefallen war. So was von billig! Wollte er mich provozieren? War er wirklich so blöd, solch ein Bild in der Jackentasche zu lassen? Oder hat die kleine schwarze Hexe ihm das Bild zur Erinnerung in die Tasche gesteckt, ohne dass er es gemerkt hat? Egal: Jetzt betrog er seine Sekretärin und mich mit einer neuen Frau!  Das war entschieden zu viel.

    „Schatzi, machst Du mir was zum Essen?“, tönte es aus dem Badezimmer unter der Dusche hervor.

    „Aber ja,“, rief ich zurück, „ich mache dir dein Lieblingssüppchen!“

    Ich ging in den Garten und sah mit der Terrassenbeleuchtung noch gut genug, um rasch die Zutaten zusammenzusammeln. Erst pflückte ich frische Rosmarinnadeln, dann von der großen Taxushecke frische Eibennadeln. Das reichte für ein wirkungsvolles Abendessen. Den Rest hatte ich in der Küche.

    Rosmarin mag Henner besonders gern. Den kräftigen Duft der ätherischen Öle möchte er in der Suppe schmecken. In unserer Verliebtheitsphase verwendete ich extra Kölnisch Wasser, weil dort viel Rosmarin enthalten ist, und Henner konnte nicht genug kriegen, an mir zu schnuppern. Die Eiben kannte er nicht. Er war ein Gartenmuffel.

    Also schnitt ich je eine Handvoll Rosmarin- und Eibennadeln ganz fein, bis sie fast pulverig waren, erwärmte sie in der Pfanne, aber nur ganz leicht und mit einem großen Stück Butter dazu, damit die Wirkstoffe auch wirken können! Dann vermischte ich sie mit Sahne und Gemüsebrühe zu einer cremigen Suppe. Das wird ein besonderes Essen, dachte ich und stellte das gute Porzellan auf den Tisch und eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten.

    „Willst du nicht mitessen?“, fragte Henner, als er sah, dass ich nur ein Gedeck gerichtet hatte.

    „Nein, ich habe schon gegessen! Lass es dir schmecken!“

    Ich muss gestehen, ich genoss es, wie er seine Suppe löffelte und meine Kochkünste lobte.

    „Das schmeckt heute ganz besonders! So anders als sonst!“

    „Ja, ich habe es besonders gewürzt!“, sagte ich nicht ohne ein gewisses Maß an Freude über mein gelungenes Werk. Ich beobachtete mit Genugtuung, dass Henner mit großem Appetit alles aufaß – drei Teller Suppe.

    Wir unterhielten uns nicht. Er war ja so müde – von seiner Beschäftigung im Büro oder wo auch immer. Dafür muss man als Ehefrau schließlich Verständnis haben. Als Henner sein Süppchen gegessen hatte, trank er einen Whisky und griff immer wieder an seinen Bauch.

    „Komisch“, sagte er, „das rumort so, aber vielleicht habe ich mir im Büro was eingefangen, da klagen alle über Durchfall.“

    „Ja, das wird es sein“, meinte ich ruhig und sehr zufrieden.

    Plötzlich rannte er los Richtung Toilette. Nachdem er sich dort erleichtert hatte, wollte er nur noch ins Bett.

    „Ich fühle mich so schwach, ich brauche noch einen Whisky!“

    „Den bringe ich dir gern!“

    Man soll letzte Wünsche nicht abschlagen!

    Nach einer Weile meinte Henner: „Mir wird so komisch, mein Herz schlägt so unregelmäßig.“

    „Ja, ja, das kann sein, bei dem Magen-Darm-Infekt. Bald hört´s auf!“

    Ich konnte mich einer gewissen Schadenfreude über meine Doppeldeutigkeit nicht ent-ziehen.

    Henner schlief rasch ein, unruhig zwar, und einmal erbrach er im Bett. Aber das nahm ich ihm nicht übel und machte das Bett frisch, soweit das bei dem inzwischen bewusstlosen Mann möglich war. Ich setzte mich neben ihn. Ich fühlte immer wieder seinen Puls und spürte genussvoll, dass er immer langsamer wurde.

    Tatsächlich hörte es nach einer Weile auf. Das Herz meine ich.

    Es ist schon wichtig, im richtigen Moment die richtige Suppe richtig zu würzen.

  • Beitrag zur Lesung „Gärten“, Moderation Jürgen Rogge, Würzburg 2016

     

    Mein Freund Ralph führte bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren eine Allgemeinarztpraxis im benachbarten Renningen. Jetzt ist er wie ich regelmäßig in der Notfallpraxis Leonberg tätig. Bei dieser Gelegenheit kamen wir im vergangenen Sommer auf meine Fotografien von Blumen und Tieren zu sprechen. Er fragte mich: „Weißt du eigentlich, dass wir im Umkreis von zwanzig Kilometern einige kleine Naturschutzgebiete haben, in denen du sehr seltene Pflanzen und sogar fast alle deutsche Wild-Orchideen sehen kannst?“

    Nein, das wusste ich nicht, aber ich bat ihn, mich dorthin zu führen, denn ich wusste, dass Ralph ein exzellenter Hobby-Botaniker ist, der immer wieder Führungen durch diese Biotope leitet. Deshalb vereinbarten wir rasch einen Termin für eine gemeinsame Wanderung. Aus diesem einen Vormittag sind inzwischen mehrere für mich sehr lehrreiche Spaziergänge durch Wald und Flur geworden. Jedes Mal führte mich Ralph an eine andere Wiese, in einen anderen Wald, auf eine andere Heidelandschaft. Ich bekam meinen Privat-Unterricht, gespickt mit lateinischen Namen und am Beispiel erklärten Wesen der Pflanzen.

    Er zog aus seiner Tasche eine Lupe heraus. „Schau mal, dieses Johanniskrautblatt (Hypericum perforatum). Siehst du die winzigen kleinen Löcher in diesem Blatt? Die Blätter sind aber gar nicht perforiert, sondern sie haben kleine Bläschen, in denen Hypericin erhalten ist. Du verschreibst doch auch Johanniskrautextrakt in der Praxis gegen depressive Verstimmung.“ Ich war so begeistert von dem Blatt unter der Lupe, dass ich es durch das Vergrößerungsglas mit der Makrolinse fotografierte.

    „Kennst du den Unterschied zwischen einer echten Kamille (Matricaria chamomilla) und den anderen Formen der Kamille?“ Er holte aus seinem Umhängebeutel ein Taschenmesser und schnitt den Blütenboden der Pflanze auf: „Das ist eine echte! Der Blütenboden ist hohl! Dieser Blütenboden ist bei allen anderen Formen gefüllt!“

    „Ach, schau mal, hier steht Salbei (Salvia offinialis).“ Er nahm eine Blüte, riss einen kleinen Strohhalm aus der Wiese, führte ihn langsam in die Blüte und erklärte: „Wenn die Biene anfliegt – das ist jetzt der Strohhalm – und auf den Blütenboden drückt, gibt es hier einen Mechanismus, der die Blütenstängel aus der Blüte heraus auf den Rücken der Biene kippt und den Blütenstaub aufträgt. Dann fliegt die Biene mit Salbeinektar im Magen und Blütenpollen auf den Flügeln wieder fort und bestäubt andere Pflanzen.“

    Bei jedem der Spaziergänge sah und hörte ich mehr, als ich mir manchmal nicht merken konnte. Deshalb fragte Ralph mich immer wieder nach den Namen und Unterschieden der Pflanzen. Ich habe den Eindruck, er kennt jede mit Vor- und Nachnamen und die lateinische Bezeichnung sowieso. Nebenbei erklärte Ralph mir viele medizinische Anwendungen der Phytotherapie, die ich noch nicht wusste und die er in seiner Praxis oft angewendet hatte.

    Beim nächsten Spaziergang schlenderten wir am späten Vormittag über eine am Südhang in einem Wäldchen gelegene Sonnenwiese mit Wachholdersträuchern. Hier zeigte Ralph mir eine überwältigende Sammlung von wilden Orchideen: Knabenkraut, Stendelwurz, Mücken-Händelwurz, Bocksriemenzunge, Hummel-Ragwurz, Bienen-Ragwurz, Pyramidenorchis. Und da stand noch einer großer Busch Schwarze Tollkirsche in voller Blüte. Herrliche Bläulinge und Zitronenfalter flatterten von Duft zu Duft, die Heuschrecken hüpften von Halm zu Halm. Ich kam gar nicht nach mit Fotografieren, Anschauen, Zuhören, Staunen. Dann setzten wir uns auf eine Bank und waren einfach dankbar, dass wir es uns leisten können, am hellen Werktag mit so viel Genuss mitten in der Natur uns an ihrem Schätzen zu freuen. Und wenn Ralph sich nicht sicher ist, welche Blume er da in der Hand hat, schlägt er in seinem Pflanzenbuch nach, das er immer in der Tasche mit sich trägt.

    Diese Orchideen-Wiese besuchten wir auch an einem kalten und sonnigen Wintertag. In der funkelnden Schneedecke sahen wir Fuchsspuren, die typisch in einer geraden Linie in den Schnee gedrückt waren. An einem Wacholder schaffte ich es, mit Schnellbildfunktion die Sonne in einem fallenden Schneewassertropfen einzufangen.

    Eines Tages im Sommer rief mich Ralph an: „Ich habe eine Schwanenblume gefunden – ganz hier in der Nähe! Die ist ganz selten. Du musst kommen, ich zeig sie Dir!“ Er brachte mich an einen kleinen Bachlauf, und natürlich hätte ich die schöne Blume nicht gesehen und schon gar nicht wertzuschätzen gewusst, wenn Ralph mir die Rarität nicht gezeigt hätte.

    Das nächste Mal brachte er mich zu einer Herkulesstaude, auch als Riesenbärenklau bekannt, am Rand einer viel befahrenen Straße. Wir standen vor der mannshohen Staude, und ich wollte sie anfassen, da stoppte Ralph mich gerade noch rechtzeitig: „Nicht anfassen! Um Himmelwillen, das macht schreckliche Hautausschläge!“

    Ralph und ich genossen inzwischen mehrere stundenlange Spaziergänge. Ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit der großartigen und vielseitigen Landschaft in unserer unmittelbaren Nähe, die ich nicht kannte, obwohl ich hier immer gelebt habe. Deshalb habe ich mir inzwischen einige Pflanzenbestimmungsbücher gekauft und freue mich daran, nachzuschlagen und Neues zu lernen.

    Nach unseren Touren kamen wir zurück in Ralphs Haus. Dort hat seine Frau einen wunderbaren Garten angelegt. Ralph sagte: „Gudrun ist für den Garten zuständig, da kennt sie jede Pflanze persönlich. Und ich weiß hier nicht so gut Bescheid wie in Wald und Wiese.“

    Das Faszinierende für mich als Gast in diesem Garten ist die Harmonie, die er ausstrahlt. Da gibt es Ruheplätze, Arbeitsplätze, einen Nutzgarten und einen Ziergarten – alles schön gestaltet als eine Einheit. Da Ralph auch ein sehr vielseitig begabter Handwerker mit hervorragend eingerichteter Werkstatt ist und Gudrun neben ihrem Schuldienst viele künstlerische Arbeiten macht mit eigenem Brennofen für den Ton, haben die Eheleute einige gemeinsame handwerklich-künstlerische Projekte geschaffen. Am selbst gebauten Gartenhaus hängt zum Beispiel eine Leiter. Sie sieht aus wie eine Drahtleiter, besteht aber aus Sprossen, die aus verschieden farbigem Ton gebrannt sind. Eine witzige Umdeutung des Wortes Tonleiter.

    Zuhause lud ich meine Bilder in den PC, und Ralph bot sich immer an, alle mit mir zu beschriften. Das begeisterte ihn so, dass er sich sogar eine neue Kamera kaufte, um bessere Makroaufnahmen machen zu können.

    Als Ralph sich an seine neue Kamera gewöhnt hatte, schlug ich ihm vor, mit mir in die Wilhelma zu gehen, das ist der botanisch-zoologische Garten in Stuttgart. Hier kannte ich mich aus und zeigte Ralph meine Lieblingsplätze. Die Landschaft dort verbindet in einzigartiger Weise die Fülle von Tierwelt und Botanik. Der kleine Wald aus Mammutbäumen (Sequoia gigantea), die reichhaltig mit seltenen Pflanzen bestückten Gewächshäuser und die neue Primaten-Anlage mit ihrem Gorilla-Kinder-garten sind meine Hauptziele. Bei jedem Besuch entdecke ich etwas Neues und freue mich darüber.

    Wir haben jetzt ein gemeinsames Projekt vereinbart. Jeder hat sich einen Baum gesucht, den wir mindestens einmal im Monat fotografieren wollen, um die jahreszeitlichen Veränderungen bewusst zu erleben und zu dokumentieren. Ich beobachte eine weit ausladende Eiche, die allein und mitten in einem großen Feld steht. Ralph hat einen mächtigen Apfelbaum entdeckt, vom dem er schon jetzt ein leuchtend buntes Herbstbild vergrößert in der Wohnung aufgehängt hat.

    Ralph plant zurzeit ein eigenes Pflanzenbuch mit Fotos und medizinischem Wissen. Ich fotografiere mehr und freue mich daran, dass Ralph mir den großen Garten der Naturschutzgebiete in unserer Gegend gezeigt hat. Aber wenn wir zu zweit durch die Landschaft schlendern, lerne ich mehr über Botanik. Sie ist das Ziel meiner gelegentlichen Fotostunden, auch wenn Ralph nicht mitgehen kann. Ich bin dankbar, dass wir die Freude an der Natur gemeinsam genießen können. Das ist eine willkommene Abwechslung zu unserer Praxisarbeit und für mich eine Entdeckung im Alter.

     

  • Betrag zur Lesung „Werte und Wertewandel) beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Ganz verschiedene Werte und Wertungen

     

    Anstatt eine theoretische philosophische Abhandlung zu diesem wichtigen Thema zu schreiben, will ich an einigen knapp skizzierten Beispielen aus meinem Alltag zeigen, wie unterschiedlich Werte erlebt und geäußert werden.

     

    Der Patient in der Notfallpraxis sagt: „Gestern habe ich mir den Zeigefinger in der Tür geprellt. Da bin ich heute Nacht wegen der Schmerzen durch die Hölle gegangen.“

     

    Die fünfundzwanzigjährige Frau fährt im Elektrorollstuhl in das Behandlungszimmer. Ich frage, warum sie im Rollstuhl sitzt.

    Sie antwortet lachend: „Ich habe eine angeborene Zerebralparese und kann seit ein paar Monaten nicht einmal mehr stehen. Außerdem habe ich regelmäßig epileptische Anfälle. Jetzt komme ich wegen meiner fieberhaften Grippe. Aber mir geht´s gut.“

     

    Der dreijährige bis jetzt gesunde Junge sagt zu seiner Mutter: „Jetzt ist alles dunkel. Warum hast Du das Licht ausgemacht? Mach es wieder an!“ –

    Der Junge war plötzlich auf beiden Augen blind geworden. Wenige Stunden später sahen die Ärzte im Schädel-Comptertomogramm Metastasen im Kleinhirn und an der Kreuzung der Sehnerven.

     

    Eine Frau mit metastasierendem Bronchialkarzinom im Endstadium, die im Pflegeheim liegt, sagt zu mir: „Wenn Sie mich noch einmal besuchen wollen, müssen Sie es bald tun. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Das schönste Erlebnis heute war, als die Schwester mir ein Glas warme Milch gebracht hat. Die Liebe, die ich hier empfange, ist ein großes Geschenk, für das ich unendlich dankbar bin.“

     

    Als Arzt in der Neurologischen Reha-Klinik nahm ich einen Patienten nach Schlaganfall auf meiner Station auf. Nach dem ausführlichen Gespräch mit Untersuchung fragte die Ehefrau: „Was kann ich noch für meinen Mann tun?“

    Ich legte mein Buch „Wenn das Licht naht – der würdige Umgang mit schwer kranken, sterbenden und genesenden Menschen“ auf den Tisch.

    Sie war verblüfft und lachte mich an. „Oh, Sie haben das geschrieben! – Dieses Buch hat mich auf der Intensivstation in München in den letzten Wochen am Bett meines Mannes am Leben gehalten. Eine Schwester hat es mir ausgeliehen.“

     

    Die zwanzigjährige Frau ägyptischer Abstammung sagt in der Sprechstunde: „Gottseidank bin ich nicht schwanger. Wenn mein Vater wüsste, dass ich einen Freund habe und mit ihm schlafe, würde er zuerst meinen Freund und dann mich umbringen.“

     

    Bei einem Hausbesuch in einer sehr wertvoll eingerichteten Villa werde ich in das ehemalige Arbeitszimmer des Hausherrn geführt. Jetzt ist es sein Schlafzimmer – mit Blick in den wunderbar gepflegten Garten. Der Mann liegt seit zwei Jahren nach Schlaganfall im Wachkoma und atmet spontan durch eine Kanüle in der Luftröhre, seine Augen sind geschlossen. Er reagiert nicht auf meinen Gruß.

    Seine Frau sagt: „Jeder Tag, den ich ihn hier pflegen darf, ist ein Geschenk für mich, für das ich jeden Tag dankbar bin. Und trotzdem hoffe ich, dass er bald friedlich einschlafen darf. Jeden Tag begrüße ich meinen Mann – und nehme ein bisschen Abschied.“

     

    In der Praxis habe ich eine Woche lang einen ägyptischen Mann behandelt, der seine in Leonberg verheiratete Tochter besuchte, nicht viel Geld hatte und schon die überstürzte Heimreise plante. Ich habe ihn dann kostenlos behandelt.

    Bei seinem letzten Besuch in der Praxis kniete seine Frau beim Abschied vor mir nieder, nahm meine beiden Hände und sagte etwas, was die Tochter übersetzte: „Ich bitte Gott, dass er mir zehn Lebensjahre nimmt und sie Ihnen schenkt.“

    Eine Frau mittleren Alters kam nach langem Krankenhausaufenthalt in die Sprechstunde, legte einen langen Arztbrief auf den Tisch und fragte, ob ich sie als neue Patientin annehme. Ich überflog den Brief und sah eine lebensbedrohliche Diagnose mit einigen Komplikationen und zwei Reanimationen.

    Ich sagte anerkennend: „Da haben Sie aber viel durchgemacht. Und die Ärzte haben Ihnen wirklich geholfen.“

    Die Frau antwortete wütend: „Das ist ein Scheiß-Krankenhaus!“

    „Wieso das denn?“

    „Da hat doch tatsächlich die Schwester an einem Morgen vergessen, mir einen Löffel zum Joghurt zu bringen!“

     

    Die Frau im Endstadium einer bösartigen Erkrankung wird von einem mir bekannten Hausarzt gefragt: „Was ist Ihnen denn noch wichtig? Gibt es etwas, was Sie unbedingt noch erleben wollen?“

    Die Frau sagt nach einiger Überlegung: „Der Haushalt muss aufgeräumt sein!“

     

    Mein Freund Nabil stammt aus Syrien. Nach dem Medizinstudium kam er mit seiner jungen Frau nach Deutschland und wurde Internist und Radiologe. Er hatte seit 1984 über viele Jahre seine Praxis im Haus neben meiner Praxis. Jetzt ist er wie ich Rentner, arbeitet in der Notfallpraxis weiter und leitet noch das Nuklearmedizinische Zentrum im Krankenhaus Sindelfingen. Häufig wird er als Übersetzer gebraucht, wenn Flüchtlinge aus den arabischen Ländern behandelt werden sollen. Nabil hat mir die beiden folgenden Geschichten erzählt.

    Ein 24-jähriger schlanker und gut aussehender Mann kommt mit nachhängendem rechtem Bein, spastischer Arm- und Handlähmung und Sprachstörung in die Klinik. Nach der Ursache seiner Lähmung gefragt berichtet er, ein ungarischer Grenzsoldat habe ihn bei der Flucht mit einem Elektroschockgerät mehrfach heftig auf die linke Schädel-seite geschlagen, dann habe es im Kopf geblutet. –

    Nabil fragt nach: „Wäre es nicht besser gewesen, wenn Sie in Syrien geblieben wären?“ –

    „Nein, ganz sicher nicht, die Regierungstruppen und die Rebellentruppen wollten mich zum Wehrdienst einziehen. Ich wollte nicht kämpfen. Wenn ich geblieben wäre, hätten Sie mich erschossen. Es ist alles gut. Ich bin hier und lebe!“

     

    Nabil machte von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in einer Flüchtlingsunterkunft in Leonberg und traf dort eine junge Familie aus Syrien.

    Der Ehemann erzählte: „Wir wurden täglich mit Bomben beschossen, in unserer Straße stand kein Haus mehr. Wir hatten nichts mehr, wir konnten nichts anders tun, als zu Fuß zur türkischen Grenze zu wandern. Meine Frau war im neunten Monat schwanger, unser eineinhalbjähriger Sohn war bei uns. In der Türkei wurde unser zweites Kind im Lager geboren, es ist jetzt vier Wochen alt. Aber wir sind hier, und wir sind gesund und dankbar.“

    Neulich machte ich mitten in der Nacht von der Notfallpraxis aus einen Hausbesuch in Weissach in der Stadthalle, die als Flüchtlingsunterkunft umgebaut war. Nachdem ich den Patienten untersucht hatte, sagte die Angestellte vom Sicherheitsdienst: „Jetzt können Sie auch gleich noch mit dem Bürgermeister sprechen.“

    Ich war verblüfft: „Jetzt morgens um zwei Uhr ist der Bürgermeister hier?“

    Tatsächlich stand vor der Halle eine Gruppe junger Männer und unterhielt sich lebhaft. Ich stellte mich vor, und einer der Männer sagte: „Ich bin Daniel Töpfer, der Bürgermeister.“

    Ich lachte ihn an: „Das ist ja ungewöhnlich, nachts um die Zeit den Bürgermeister bei Flüchtlingen zu treffen? Was machen Sie hier?“

    Er lachte zurück: „Wir haben vier Partien Schach gespielt!“

    Da mischte sich einer der Flüchtlinge mit gutem Englisch ein und erzählte begeistert, dass sie oft Schach miteinander spielen, und das sei großartig, „but Daniel always wins, he is a champion!“

    In welcher Stadt in Deutschland nimmt sich ein Bürgermeister Zeit, um mitten in der Naht vier Partien Schach mit Flüchtlingen zu spielen?

    Meine Hochachtung, Herr Töpfer, für ihre meisterliche Bürger-Nähe!

     

    (Für die nicht Ortskundigen: Weissach ist eine Gemeinde mit etwa 7500 Einwohnern im Kreis Böblingen. Hier hat Porsche sein Entwicklungszentrum. Daniel Töpfer wurde 2014 im Alter von 25 Jahren mit 58% zum Bürgermeister gewählt.)

  • Beitrag zur Lesung Teufeleien beim BDSÄ-Kongress Mai 2016

     

    Ich bin sauer … stinksauer sogar … auf mich, auf die Technik, ich weiß nicht auf wen oder was. Und dann noch tief innen das dumpfe Gefühl, dass es eventuell so seine Richtigkeit hat. Aber ich muss der Reihe nach erzählen.

    Heute früh erwachte ich mit einem Schrecken, der BDSÄ-Kongress in Würzburg (Bund deutscher Schriftstellerärzte). Bis wann sollten wir die Texte, die vorgelesen werden sollen, geschickt haben? Was gab es noch für Themen? Garten … ich habe neue Schneeglöckchengedichte … Schneeglöckchen wachsen im Garten … Vielleicht ist das Thema grad noch nicht verfehlt.

    Freie Lesung … da habe ich viel zur Verfügung, zu viel, muss ich also eine Auswahlentscheidung fällen. Mag ich gar nicht. Ich mag die Texte, die nun ausgegrenzt und abgeschoben werden, nicht so verärgern, sie tun mir leid, sie sind doch auch mit Liebe geschrieben worden. Geheimnisse … Ich glaub, da hab ich was, wenn der liebe Kollege es nicht passend findet, dann soll er es gleich weiterleiten zur Freien Lesung. Wertewandel … da habe ich auch was. Halt … das ist ja die Lesung, die ich moderiere. Da habe ich alle Zeit der Welt. Aber vielleicht sollte ich es doch auch mir selbst schicken, damit es nicht verloren geht. Verlorengehen …. verschwinden … unauffindbar, sogar im Computer! Das ist der Grund meiner schlechten Laune. Mir fielen nämlich Texte ein, die zum Thema Teufeleien passen. Ich beschrieb Erlebnisse, wo etwas schief lief, was dann doch gut endete und diese Texte suchte ich heute. Ich sah im Mac: Engelwirken … zweimal, einmal mit Fragezeichen, einmal ohne. Engelwirken sind aber keine Teufeleien, oder? Die koboldartigen Wesen, die uns stören, behindern sind doch rechte kleine Teufelchen, aber was wissen wir, wer im Hintergrund wirkt?

    Ich wollte mir daraufhin den Text genauer anschauen. Ich meinte, der mit Fragezeichen sei der endgültige. Ich klicke ihn an. Ausser den Anfangszeilen nichts ….Beim Engelwirken ohne Fragezeichen dasselbe. Wohin ist der Text verschwunden? Die Suchmaschine findet nichts, ich auch nicht, auch nicht im Papierkorb.

    Schließlich kann ich nicht länger suchen, ich muss aus dem Haus. Ein Gehetze …. hasse ich genauso wie das Suchen ohne Finden.

    Ich entschließe mich, den Text noch mal zu schreiben. Im Laufe des Tages mache ich mir Notizen. Ich will ihn am Abend zu Hause endgültig schreiben. Ich suche mir Konzeptpapier, in meiner noch nicht ganz ausgepackten Reisetasche habe ich noch welches. Ich suche es raus und … halte den Text in Händen. Ich hatte ihn noch gar nicht eingetragen!

    Hier ist er:

     

    Engelwirken?

    Ich bin in Reisevorbereitungen, d.h. ich bin kurz vor meinem Abflug nach Sofia. Je, wie relativ alles ist …was heißt kurz? Ich bin kurz davor, meine Wohnung zu verlassen, dann werde ich mit der S-Bahn fahren, dann mit dem Zug bis zum Flughafen Zürich und von dort aus fahre, d.h. fliege ich nach Sofia.

    Noch habe ich den Mantel nicht angezogen, trinke die letzte Tasse Tee und überlege, was für eine Reise nach Sofia auf dem Plan steht. Köln, Jahrestagung der DGAP (Deutsche Gesellschaft der Analytischen Psychologie). Da fällt es mir mit Schrecken ein: Habe ich eigentlich schon mein Zimmer bestellt?

    Ich denke darüber nach, warum ich mich nicht erinnern kann. Wohl weniger eine Alterserscheinung als ein Hinweis, dass ich mal wieder etwas zu schnell machte, weil es so viel zu tun gibt, und ich mich nicht recht mit meinem Tun verbunden habe. Aber das ist im Alter vielleicht genau so: zu viel – innerlich  – zu tun und schon etwas abwesend …

    Die Unterlagen liegen auf dem Schreibtisch. Bis 31.1.  gab es ein Kontingent. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es nicht bestellt habe, aber die Unsicherheit plagt mich jetzt. Soll ich sie mitnehmen und von Sofia aus per Email anfragen? Nein, ich möchte schneller Gewissheit. Ich rufe an. Die junge Dame an der Rezeption des Tagungshotels scheint mich nicht recht zu verstehen, vielleicht habe ich mich aber auch in der Aufregung unklar ausgedrückt. Sie sagt mit anteilnehmendem Bedauern: Leider alles schon ausgebucht. – Ich  erkläre ihr, dass ich nicht buchen will, sondern nur nachfragen (das ungute Spannungsgefühl nimmt zu). Sie sucht mich im Computer, sie findet mich, hurra, ich sage ihr, dass sie mich eben zu einem glücklichen Menschen gemacht hat. Da lacht sie herzhaft und meint: Haben Sie eine Ahnung, Sie mich nämlich auch. Heute morgen dachte ich, der ganze Tag wird Scheisse – oh, Entschuldigung – ich kann gerade liegen bleiben, ich tauge eh zu nichts! –

    Wir verabschieden uns fröhlich und hoffen auf ein Wiedersehen bei der Tagung.

    Habe ich mich deshalb nicht mehr erinnert? Hat ihr Engel ein Schleier des Vergessens bei mir drübergelegt und, als ich an Köln dachte, mir den Schreck einfahren lassen?

    Vielleicht hat der Schutzengel oder sonst ein hilfreicher Geist es auch bei anderen Kolleginnen und Kollegen so gemacht. Dann wird die junge Dame an der Rezeption heute ganz besonders gut drauf sein!

    Also, man mag nun denken, was man will, aber offensichtlich liegen Teufeleien und Engelwirken nah beieinander, ja, vielleicht bedingen sie sogar einander.

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Februar 2016