Tag: 3. Januar 2019

  • Die bessere Welt

    (1973)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wenn man mich fragt,
    was das Leben ist,
    werde ich sagen,
    stets auf der Suche sein,
    eine bessere Welt ersehnen … 

    Heute bin ich aufmerksamer denn je,
    in der Wachheit bin ich voller Gedanken,
    im Schlaf bin ich wach.
    Ich würdige die Zeit,
    ich liebe die Erde.
    Im Anblick eines jeden hellen Morgens werde ich so sehnsüchtig,
    als wäre dies mein erster Tag,
    als wäre dies mein letzter Tag.
    In dieser verzaubernden Aufruhr
    bin ich unruhig wie die Frühlingsvögel.
    Mich bedrückt das Heim,
    mich bedrücken sorglose Gedanken
    und auch papageienhafte, sinnlose Gespräche.
    Mich bedrücken die Tagesnachrichten,
    wenn sie sich mit dem blühenden Markt des Einen
    und dem kalten Krieg des Anderen beschäftigen
    und nicht mit dem Geheimnis des Aufblühens menschlicher Kräfte.
    Ich möchte einen offenen Raum,
    der wie der Himmel grenzenlos ist …
    und eine Welt,
    die von dem Menschen weder Tod noch Opfer verlangt.

    ֎֎֎

  • Ich bin kein Kanarienvogel

    (1970)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Ich bin kein Kanarienvogel, der auf der Wiese singt.
    Wieso verlangst du von mir ein zärtliches Liebesgedicht?
    Frühlingswasserfälle strömen aus meinen Augen,
    da ich ein Berg bin.
    Jedes Wort meines Gedichtes setzt das Papier in Flammen.
    Ich bin das wutentbrannte Lied einer Gruppe,
    einer aufständischen Gruppe, müde vom Warten,
    mit offenen Augen und verbundenen Händen.
    Ihr Schmerz hat eine andere Farbe und einen anderen Klang … 

    Nicht einen Moment vernachlässige ich das Schicksal meiner Heimat,
    obwohl ich von ihr entfernt bin.
    Ich bin der Dichter der Epoche des Übergangs,
    der Poet einer Generation,
    die gegen Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit kämpft.
    Erachte mich als stumm,
    wenn meine Stimme kein Herz erreichen sollte.
    Mit tausend Augen betrachte ich die Welt,
    damit du nicht glaubst, ich bin blind.
    Ich bin der Dichter der schweren Zeit des Übergangs,
    der Zeuge einer Epoche,
    in der ein neues Zeitalter entsteht.

    ֎֎֎

  • Wer bin ich?

    (1977)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wer bin ich?
    Wer?
    Ein Komet,
    der der Nacht entrissen ist,
    der die Bekanntschaft mit der Morgenröte gemacht hat.
    Ein Auge, das das Licht erblickt hat,
    versöhnt sich nicht mit der Dunkelheit.
    Der helle Geist und das reine Wesen
    versöhnen sich nicht mit der Verderbnis.
    Wenn es in der Welt Ungerechtigkeit, Dunkelheit und Gewalt gibt,
    gibt es den Kampf,
    der zum Land der Gerechtigkeit und des Lichts führt.
    In der großen Inschrift des Lebens steht:
    Wenn du nicht siegst, wirst du verlieren.

    ֎֎֎

  • Der Mensch und der Stein

    (1965)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die unendliche Einsamkeit ist das Schicksal des Steins.
    Es ist das Schicksal des Steins, blind und stumm zu sein,
    nie aus Trauer zu weinen,
    nie zu lachen,
    schmerzlos, hoffnungslos und wunschlos zu sein. 

    Manchmal bekommt er als Fels
    Tag und Nacht Ohrfeigen von einem fernen Meer.
    Manchmal liegt er auf einem Grab und sagt ohne Stimme,
    wie der Mensch heißt, der nie wieder zurückkehren wird. 

    Aber wenn er zur Statue ewig lebender Personen wird,
    streuen die Menschen Blumen auf sein Haupt.
    Glücklich ist der Stein, der zum Menschen wird.
    Schade, wenn ein unglücklicher Mensch versteinert.

    ֎֎֎

  • Jene Melodie

    (1972)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die Tulpe des Wunsches wird wieder aufblühen,
    des Herzens verschlossene rote Knospe wird aufgehen.
    Ich sage nicht, dass der vergangene Frühling zurückkehrt,
    dass die abgelaufene Zeit beginnt.
    Es gibt eine andere Zeit und einen anderen Frühling … 

    Es ist eine Kunst,
    fröhlich zu sein.
    Freude spenden ist eine noch erhabenere Kunst.
    Jedoch werden wir es uns nie zubilligen,
    wie eine leblose Figur Tag und Nacht
    ohne Kenntnis der Lage aller anderen Menschen
    fröhlich zu sein.
    Sorglosigkeit ist ein großer Fehler,
    der uns fern sein sollte. 

    Wie schön wäre es,
    wenn es einen Spiegel gäbe,
    der das Innere zeigen würde,
    damit wir uns in ihm betrachten könnten,
    all das sehen würden,
    was den Spiegeln verborgen bleibt.
    Wir würden uns jener erhabenen Kraft bewusst,
    die uns lehrt,
    zu leben,
    Beständigkeit zu erlangen,
    der Bote des Sieges und der Hoffnung zu werden … 

    Es ist eine Kunst, fröhlich zu sein,
    wenn sich andere Herzen an deiner Freude ergötzen.
    Das Leben ist die einzigartige Bühne unserer künstlerischen Tätigkeit.
    Jeder trägt seine Melodie vor und verlässt die Bühne.Die Bühne ist stets vorhanden.

    Blühend ist jene Melodie,
    die die Menschen in ihrer Erinnerung bewahren …

    ֎֎֎

  • Biografie

    (1974)

     

    Von Jaleh Esfahani; (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Das rote Lachen der Tulpen des Frühlings,
    die gelbe Träne der Bäume des Herbstes,
    der Kuss der Vereinigung und die Freude der Begegnung,
    die Trauer des Abschieds und das Unglück der Abwesenheit. 

    Lebenslang suchen,
    warten,wünschen
    und in den Schöpfungen aufblühen:
    Das ist Eure und meine Biografie …

    ֎֎֎