Kategorie: Prosa

  • Spät abends kam eine Patientin in die Notfallpraxis, begleitet von ihrer Tochter. Es fiel mir auf, wie gebeugt die Patientin beim Betreten des Sprechzimmers ging und wie sie mich mit tief traurigen Augen anschaute. Ich erwartete, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Sie klagte mit gedämpfter Stimme über starke Nacken- und Kopfschmerzen. Ich stellte einige Fragen, untersuchte sie und fand dabei “nur” eine erheblich verspannte Schulter- und Halsmuskulatur. Alle Zeichen und die Vorgeschichte sprachen für die Diagnose Spannungskopfschmerzen.

    „Können Sie meine Mutter ein paar Tage krankschreiben?“, fragte die Tochter.

    „Ja, das kann ich, aber das löst die Probleme nicht. Es lindert vielleicht ein paar Tage den Druck, unter dem Ihre Mutter leidet.“

    Dabei legte ich meine Hände auf die Nackenmuskulatur und sagte: „Der Rucksack, den man Ihnen aufgeladen hat und den Sie sich haben aufladen lassen, ist zu schwer! Dadurch wird der Nacken ganz hart. Und dann kommen noch die Nackenschläge dazu, die sie im Alltag einstecken müssen!“

    Ich symbolisierte mit dem erhobenen Arm einen Handkantenschlag ins Genick.

    „Und das halten sie im Kopf nicht aus. Sie haben das Gefühl, der platzt bald.“

    Die Patientin erschrak: „Ja, genau so ist es!“

    „Sie können Krankengymnastik machen, den Nacken einreiben, Schmerzmittel nehmen, sich von mir in die verspannte Muskulatur spritzen lassen, in Urlaub gehen – alles in Ordnung – für eine Weile, aber die Probleme sind dadurch nicht gelöst. Die Beschwerden kommen wieder! – Ich bin überzeugt, Sie wissen genau, woher die Anspannungen kommen und was Sie tun müssen, um eine dauerhafte Lösung zu bekommen!“

    Die Patientin sagte spontan und mit fester Stimme: „Ja, Schluss damit!“

    „Sehen Sie, das ist die Lösung, auf die Sie selbst gekommen sind. Ich glaube, Sie sind nur hier, um dafür eine Bestätigung zu erhalten. Sie brauchen einen kleinen Schubs, um das zu tun, was Sie längst als richtig erkannt haben, stimmt´s?“

    Die Augen der Frau fingen an zu leuchten: „Woher wissen Sie das? So hat mir noch niemand gesprochen!“

    Wir ändern erst etwas in unserem Leben, wenn der Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung! Sind Sie so weit?“

    Die Patientin saß jetzt aufrecht auf der Liege und schaute mir entschlossen in die Augen. Sie hatte eine klare und feste Stimme: „Ja, es reicht! Das mache ich jetzt, Schluss mit dem Druck, dann geht´s mir wieder besser! Danke!“

    Ich sehe immer noch, wie die Augen der Frau strahlten und wie straff und entschlossen ihr Gang und ihre Körperhaltung waren, als sie die Praxis verließ, aufgerichtet im wörtlichsten Sinn.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  •  

    Es geht ein Geheimnis um den Sevan-See, den großen hoch gelegenen See in Armenien. Dunkle Wolken, die sich regenbeladen von den steilen Uferklippen auf das Wasser stürzen und sich dort in fahle Nebel, später dann in ein milchiges Grau und schweifende Geisterschwaden auflösen, sind die Zeichen dieses nur dem Kundigen sich offenbarenden Geheimnisses.

    Auch im Sommer, wenn die Sonne in der Höhenluft brennt und die Schrecken bringenden aber auch so erschreckbaren Geister in ihre unterirdischen, direkt über dem Seespiegel liegenden Höhlen scheinbar eingeschlossen und zum Schlafen verdammt hat, auch die Sonne kann sie nicht im Zaum halten. Immer wieder entwinden sie sich dem wärmenden Zwang des Lichtes und entlassen ihre tanzenden Schemen an den Ufern des Sees zumeist auf der östlichen Seite, der untergehenden Sonne zugewandt, in die Freiheit des weit ausladenden Sees.

    Die Fischer kennen diese Geister und ihre Geheimnisse. Es sind ihre Geheimnisse, und sie reichen tief in die Seele ihres Volkes zurück. Sie sind Zeugen aus der Vergangenheit, vor allem aber, so berichtet der Fischer Armen Bagdalyan, sind sie Zeugen für die Zukunft. Die ungeheimnisvollen Menschen denken zwar, sie seien nur Zeugen aus der Vergangenheit. Sie würden nur berichten über wundersame Ereignisse, unglaubhaft wahr, mit Gutem und Bösem verknüpft. Sie seien vor allem fröhlich wie ein wackelnder Hammelhintern, dem sein blökender Widderkopf abhanden gekommen ist. Oder sie seien so traurig, wenn sie über die Unfähigkeit der Seenixen nachdenken, deren Liebster an der Unvollkommenheit ihres Beinersatzes verzweifelte.

    Das ist zwar alles wahrheitsgemäß und unwiderlegbar dokumentiert, ergänzte Armen Bagdalyan, aber es sei auf keinen Fall das Wesentliche. Natürlich, im Prinzip ja, auf der Vergangenheit baue sich alles auf und ohne sie gäbe es ihn, den Fischer Armen Bagdalyan, wahrscheinlich nicht, aber, und hier liegt eben das Geheimnis des Sevan-Sees, seine Gegenwart sei ohne das Einwirken der Geheimnisse auf die Zukunft überhaupt nicht möglich. Geheimnisse wirken immer auf die Zukunft, erklärte er verschmitzt, denn ohne Zukunft gibt es keine Geheimnisse. Und schon gar nicht die des Sevan-Sees.

    Wenn ich so über das Gespräch mit dem Fischer Armen Bagdalyan nachdenke und mich erneut in die Gegebenheit vertiefe, bin ich der Meinung, dass ich zunächst den Fischer Armen Badgalyan vorstellen sollte.

    Armen Bagdalyan war eigentlich ein hagerer, hoch gewachsener Mann mit tiefschwarzen Haaren und kräftigen Oberarmmuskeln. Im Laufe seines Lebens, er war zum Zeitpunkt meines Gespräches mindestens fünfundsechzig Jahre alt, hatte er an Leibesfülle und Gewicht sowohl in körperlicher als auch gesellschaftlicher Hinsicht deutlich zugenommen, ganz im Gegensatz zu seiner ehemaligen Haaresfülle, die sich eindeutig sichtbar den Erntebemühungen des Alterns unterworfen hatte. Seine kräftige Stirn lag nun entblößt und trotzig frei, eine lange bogenartig gekrümmte Nase schützte sie vor allzu aufdringlichen Anstößen, denen er sich, da er ein freier und wilder Mann war, häufig ausgesetzt fühlte. Ein breiter Oberlippenbart, der jedoch Kinn und Wangen frei ließ, gab ihm zusätzlich ein geheimnisvolles Aussehen, das er auch gewinnbringend einzusetzen wusste, wie wir gleich berichten werden, und das er zudem sichtlich genoss.

    Armen Bagdalyan war der Sohn eines Fischers, und dieser wiederum der Sohn eines Fischers, und dieser ebenso der Sohn eines Fischers. Diese Sohn – Fischer Kette reicht, soweit wir den leider nicht mehr einsehbaren schriftlichen Quellen entnehmen können, weit in die Vergangenheit zurück, mindestens bis in das groß – armenische Reich, dessen Hauptstadt allerdings in Tiflis in Georgien lag, wahrscheinlich aber zurück bis zu der großen Flut, die als ewige Erinnerung an den Zorn Gottes den Sevan-See als „noch nicht in China“ gefertigtes Souvenir für alle reiselustigen Menschen den Sevan-See Fischern, allen voran Armen Bagdalyan als Vorbild, ewige Mahnung an das Böse, als Nahrungsquelle und als Grundlage einer jeglichen, überhaupt möglichen menschlichen Gedankenwelt diente.

    Die auf den Fischer Armen Bagdalyan zurückzuführende Geschichte beruht zumindest im Prinzip, wahrscheinlich aber in Allem auf den frühesten Erkenntnissen der Sevan-Fischer, wenn nicht sogar aller Urmenschen.

    „Bedenken Sie, dass alles, was ich Ihnen zu berichten habe, aus der Urzeit meiner Vorfahren stammt. Genau so, wie die Chinesische Medizin, die abgeleitet von den im Prinzip aus Armenien importierten heute natürlich nicht mehr aktuellen Darstellungen des Aufbaus unseres menschlichen Körpers bis hin zur Akupunktur, Homöopathie und allgemeine Schlangen und Kröten Medizin sich vor Jahrtausenden entwickelte. Zwar waren damals eine Injektion, eine Blutuntersuchung oder gar eine Darmspiegelung aufgrund der allgegenwärtigen Geister und Feen Gestalten nicht durchführbar, das ändert aber gar nichts an der Wirkung der durch die Jahrtausende sich teilweise gewaltsam teilweise auch von tiefreligiösen Gläubigen in unsere jetzige Welt getragenen chemischen Eigenschaften von halb angedauten und in anregend duftende Tinkturen eingelegten Kriechtierleichen“.

    „Bedenken Sie weiter, dass hier, am Sevan-See, schon vor tausenden von Jahren Menschen siedelten, die sich intensiv um die Fortentwicklung ihrer Nachbarn kümmerten und sie mit ihren bronzenen Pfeilspitzen so sehr am Gesäß und vielleicht auch an anderen Körperstellen kitzelten, dass sie vor Lachen sich nicht mehr wehren konnten und sich freudig unseren damals mächtigen Herrschern unterwarfen.

    Das steht alles niedergeschrieben in der Felsinschrift von Zowinar, hier, am südlichen Ufer unseres so berühmten Sevan-Sees. Wer hat diese Inschrift verfasst? Natürlich unser allseits berühmter König Rusa, von dem, Sie wollen es glauben oder nicht, noch heute so umfangreich geredet wird. Denken Sie nur an Russland und an die vielen Russen, deren Namen sich zwar von unserem berühmten Vorfahren ableitet, die aber, ich muss es leider so deutlich sagen, von unserem berühmten Rusa, dem Sohn des noch berühmteren Sarduri, der sich in der vollkommen anders gestalteten, aber nicht weniger herausragenden Insel Sardinien mit den dicht gepackten Sardinen zusätzlich verewigt hat, – bis auf seine armenienhaft übertreibende, die Jahrhunderte überdauernde Keilschrift – nichts hinzu gelernt haben.

    Davon jedoch wollen wir jetzt nicht reden. Das ist bereits armenischer Alltag, zumindest im Prinzip und, wie jeder vernünftige und auch unwissende Mensch sich vorstellen kann, von wesentlichem Einfluss auf den Ablauf einer jeden und allgegenwärtigen Geschichte, sei sie nun heute wirklich, in der Zukunft phantasievoll, oder in der Vergangenheit märchenhaft gewesen.“

    „Versuchen wir bis auf den tiefsten Grund des Sevan-Sees zu schauen und uns vorzustellen, was dort eigentlich zu erspähen und zu erkennen ist. Ich sage Ihnen bei allem Respekt: Gar nichts! Jedenfalls nichts, das wir mit nacktem Auge in der Dunkelheit am Grund des Sevan-Sees sehen können.“

    Ich saß mit Armen Bagdalyan, dem Fischer, in einer kleinen, aber sympathisch schmucken Gaststätte am Rand des Sevan-Sees und schaute ihm neugierig in die braunen, überzeugend wachen Augen. Dann auf den graublauen See, dessen Steilhänge am gegenüber liegenden Ufer von einem herabsinkenden Nebelvorhang verdeckt waren. Wir aßen frisch gefangene und über einem Holzkohlenfeuer gegrillte Forellen. Sie schmeckten herrlich.

    „Wer von Euch westlichen Europäern, von Euch erfolgsverwöhnten und vom Schicksal so begünstigten Menschen, die Ihr nicht die Nähe des Himmels in den Kaukasusbergen, noch die Reife der Früchte in seinen Tälern oder gar die Freude der Fische, besonders die der Forellen in seinen Seen und Bächen kennt oder gar erfahren habt, kann schon auf den Grund des Sevan-Sees schauen oder dort gar den Sinn des Schicksals entdecken?

    Sieh auf die Oberfläche des Sees, sein leicht gekräuseltes Wasser, das sanft und doch fest unter den eigentlich niemals ruhenden, nie aus nur einer Richtung heran eilenden und häufig zornentbrannt wütenden Winden dahin gleitet. Seine Oberfläche bedeutet die Grenze zwischen Leben und Sein, zwischen Wissen und Glauben, Himmel und Hölle. Oder, wie wir in Armenien sagen, zwischen dem Prinzip und der Wirklichkeit.“

    „Lieber Armen“, sagte ich verwirrt, „bei allem Respekt, das verstehe ich nicht. Was haben Himmel und Hölle, Glauben und Wissen, mit Prinzip und Wirklichkeit, oder gar mit der Oberfläche Eures so wunderbaren Sevan-Sees zu tun? Hier haben Eure Vorfahren oder zumindest ein Teil Eurer Vorfahren gelebt, von hieraus haben sie andere Völker unterworfen, sich auch von anderen Völkern wie den Persern oder Assyrern unterwerfen lassen, hier hat der technische Wahn des modernen Kommunismus eine wunderbare Natur fast vollständig getötet, hat der verschwenderische und unbedachtsam grenzenlose Verbrauch des Wassers für Energieerzeugung und die Bewässerung der Felder den Wasserspiegel um zwanzig Meter gesenkt, ja, das alles ist wahr und einwandfrei dokumentiert.

    Aber die Grenze zwischen dem Sevan-See und seiner Umgebung, sei es nun der sanft abfallende Strand an der westlichen oder die Steilküste an  der östliche Seite oder sei es die Luft an der Wasseroberfläche bedeuten doch noch lange nicht eine Grenze zwischen Glauben und Wissen, Leben und Sein, Prinzip und Wirklichkeit. Und falls dennoch, auf welcher Seite liegen denn Leben, Wissen oder Himmel, und auf welcher Seite Sein, Glauben oder Hölle?“

    Armen lächelte und sagte vergnügt: „Siehst du, deine Fragen sind schon ein Hinweis, wenn nicht gar ein Beweis für die Richtigkeit meiner Aussage: Zum einen erkennst du, nicht nur im Prinzip, sondern auch in der Wirklichkeit die Grenze zwischen dem Wasser und seiner Umgebung, sei es nun Land oder Luft an.“

    „Aber das ist doch selbstverständlich. Ich wäre ein Narr, wenn ich diese Grenze nicht sehen und mich danach richten würde.“

    „Genau. Wenn du sie nicht sehen und nicht beachten würdest, dann wärest du längst in den Sevan-See hineingefallen und trotz all deiner hervorragenden Schwimmkünsten schon ertrunken oder würdest zappelnd um Hilfe schreien! Du kämst gar nicht heraus aus dem See, da du seine Grenze und das rettende Ufer nicht erkennen würdest!“

    „Ja, und? Das erklärt doch noch lange nicht, was die Sevan-Seegrenzen mit Glauben und Wissen und all den anderen Dingen zu tun haben“, wandte ich siegessicher ein.

    Armen lächelte erneut verschmitzt und einladend: „Du hast eben zugegeben, dass der Sevan-See seine Grenzen hat. Niemand wird das bestreiten. Auch du hast das gesagt. Nun, zwischen Glauben und Wissen ist auch eine Grenze. Genauso wie zwischen Himmel und Hölle, oder Prinzip und Wirklichkeit.“

    „Ja, aber, auf welcher Seite liegen denn nun Prinzip oder Wirklichkeit, Glauben oder Wissen? Über oder unter beziehungsweise genauer im Wasser?“ fragte ich immer noch siegessiecher.

    „Das kommt eben darauf an, wer die Frage stellt, oder von welcher Seite aus man die Dinge betrachtet“, kam die mich vernichtende Antwort.

    Ich erkannte, dass ich hierauf keine rettende Erwiderung geben konnte. Es war wie bei einem Schachspiel: Im Prinzip hatte ich gewonnen, in der Wirklichkeit war ich verloren. Das stand eigentlich schon bei Beginn oder nach dem ersten Zug des Spiels fest.

    Ich ergab mich meinem Schicksal und meinte kleinlaut: „Wir hier, die wir in der Luft atmen, leben in der Wirklichkeit, mit unserem Wissen, in unserem Sein. Die Fische atmen im Wasser. Sie leben dort in ihrer Wirklichkeit, mit ihrem Wissen und in ihrem Sein. Wir, oder du als Fischer, du kannst sie nur fangen, wenn du glaubst, dass sie sich dort aufhalten, wo du deine Netze auswirfst. Wenn sie dort sind, wo du es glaubst, dann wirst du sie fangen. Sind sie nicht dort, dann hast du falsch geglaubt und du fängst nichts. Das meinst du doch?“

    Er lächelte wieder hintergründig und wie ein persischer Teppichhändler, der nach erfolgreichem Handel über den Verkaufspreis eines handgewebten Teppichs noch einen kleinen zusätzlichen Gewinn erzielen möchte: „Im Prinzip hast du verstanden, was ich meine. Aber eigentlich nur im Prinzip. Denn, man kann die Dinge auch umdrehen, und dann stimmt all das wieder nicht so genau: Wenn ich nichts gefangen und trotzdem geglaubt habe, dass sich die Fische dort aufgehalten haben, dann darf ich nicht daraus schließen, dass ich falsch geglaubt habe. Es kann sein, dass die Fische vor dem Netz sich gefürchtet und versteckt haben, es kann sein, dass sich mein Netz, das Werkzeug meines Glaubens, nicht richtig gespannt hatte, es kann sein, dass die Fische von einem großen Raubfisch verjagt wurden, es kann so vieles sein. Vielleicht haben die Fische auch gelernt, sich sofort von dem ins Wasser klatschen Netz fern zu halten, obwohl sie genau dort geschwommen sind“.

    „Da habe ich es wieder“, dachte ich ein wenig erzürnt. „Man kann diesen armenischen Burschen einfach nicht beikommen. Selbst wenn sie zugeben, dass man Recht hat, so empfindet man das als Niederlage. So ist das eben mit dem Prinzip des Radio Eriwan“.

    Aber böse im eigentlichen Sinn war ich nicht. Dazu waren das Essen viel zu schmackhaft, der See zu einladend und friedlich, die Stimmung zu abendlich und ausruhend.

    „Für die Fische ist das Wasser keine Glaubens Angelegenheit, so wie es das für den Fischer ist“, meinte ich nachdenklich. „Sie glauben eher an etwas, das außerhalb, also oberhalb des Wassers ist, an etwas, das wir in unserer Welt nicht mehr als Glauben, sondern als Wirklichkeit ansehen. Vielleicht springen sie deshalb manchmal aus dem Wasser, um nachzusehen, was in ihrer Glaubenswelt  geschieht. Ob sie Recht mit ihrem Glauben haben. Ob ihr Gott zürnt, oder ob das Unheil, du, der Fischer, schon nach ihnen jagt.“

    „Hm,“ meinte Armen. „Hm. Sie springen zumeist dann aus dem Wasser, wenn, so wie jetzt, da, schau an die Ostwand, sich der Nebel von den Berggipfeln löst und zum See hinunter kriecht. Das ist ein böses Zeichen. Es kündigt Sturm und Kälte an. Nicht nur für den See, nicht nur für die Fische, die sich, sobald sie den kriechenden Nebel in ihrer Glaubenswelt bemerkt haben, zum Grund des Sevan-Sees flüchten. Auch für die Menschen, wie mir mein Großvater, der es von seinem Vater erfahren und mir berichtet hat, auch für die Menschen war und ist  es eine Vorwarnung auf das wirklich Böse, das Allvernichtende, das vom Menschen dem Menschen zugefügte Unheil.

    Denn so erzählte mein Großvater:

    Der Sevan-See ist ein Spiegel unserer Seele. Er lacht und tanzt. Er berichtet von den herrlichen Taten unserer Vorfahren. Er leidet unter unserer Gegenwart. Ihm graut vor der Zukunft, und er singt mit den tiefen Stimmen unserer Mönche und Priester. Vor vielen tausend Jahren, im Land Quihu, lebte einst einer unserer Vorfahren. Er war ein Fischer so wie mein Urgroßvater, mein Großvater,  dein Vater und auch ich. Er liebte den See und hatte mit ihm ein so enges Bündnis geschlossen, dass der Sevan-See, der unberechenbare und jähzornige See ihn in sein Vertrauen zog und ihm sagte:

    „Du, Simon Bagdalyan, du lebst auf und von mir. Ich respektiere dich, denn du bist freundlich, singst auch bei wütenden Stürmen deine Lieder und nimmst Rücksicht auf die Glaubenswelt meiner Fische.

    Höre mir genau zu, was ich dir jetzt sagen werde. Höre mir genau zu. Es ist die Gnade unseres Allmächtigen, der mir erlaubt, dir zu sagen, was sonst keine Sterblichen  erfahren dürfen: es wird ein großes Unheil über das armenische Volk hereinbrechen, ein unabwendbares und schreckliches Unheil. Ein Verbrechen von Menschen an Euch Menschen, an Euch, die Ihr hier friedlich und gottesfürchtig an meinen Ufern lebt.

    So sagt der zürnende Gott: Ich werde mein Volk, das geliebte armenische Volk der Prüfung durch die Ungläubigen aussetzen. Nicht, dass ich meine lieben Gläubigen fallen oder im Stich lassen werde. Aber, ich muss im Prinzip wissen, was meine Gläubigen von den Ungläubigen unterscheidet.

    Sind die Ungläubigen wirklich so grausam und menschliche Teufel, wie es meine Jünger behaupten? Werden meine gläubigen Schafe sich brav und dem Schicksal ergeben in die Wüste treiben lassen von den Ungläubigen? Werden die Ungläubigen nicht wenigstens Mitleid, das einfachste der menschlichen Gefühle empfinden? Werden sie oder wenigstens einige von ihnen meinen Gläubigen hilfreich zu Seite stehen, damit ich auch sie in meinen Glauben aufnehmen und ihnen meine friedfertigen Waffen anvertrauen kann?

    Als Zeichen werde ich dir den herab fallenden Nebel senden. Wenn er den See vollständig einhüllt, dann benutzt den Nebel zur Flucht. Er wird Euch vor den grausamen Feinden verbergen, solange, bis sie mit ihren Opfern in die Wüste gezogen sind. Im Prinzip wird so das Unheil vorher gesagt. Es wird kommen, unabwendbar, nur wann, das kann Euch niemand sagen.

    So sprach der Sevan-See vor vielen Jahren zu Simon Bagdalyan, und Simon Bagdalyan sprach zu seinem Sohn und sein Sohn  zu seinem Sohn und sein Sohn zu seinem Sohn und dessen Sohn zu dessen Sohn.

    Der Sevan-See hörte zu und freute sich über die ihm anvertraute und im Prinzip nicht vergessene Warnung. Aber nichts Böses geschah. Friedlich lebten die Fischer, nur geplagt von den alltäglichen Kümmernissen, den unvermeidbaren Schmerzen ihrer Frauen bei der Geburt ihrer Söhne, dem überraschenden Wüten des Sees mit den Leichen der ertrunkenen Söhne, den gebrochenen Beinen der beim Besteigen der Berggipfel verunglückten Söhne, auch den harsch geopferten Söhnen, die im Verlauf der Blutrache gemeuchelt wurden.

    Aber friedlich und gottesfromm behütet verlief das Leben des Simon Bagdalyan und seiner Söhne, bis, ja, bis der Sevansee sein Zeichen sandte.

    Es war ein schrecklicher Tag. Der See wütete in seinen kräftigsten Tagen. Er wollte und wollte sich nicht beruhigen. Graue, Furcht erregende Nebelschwaden krochen wie graue Teufelsdrachen die östlichen Steilhänge hinab in den tosenden See. Es war als wollte sich die Natur, die sich an die Anwesenheit der friedlichen Fischer gewöhnt und sie lieb gewonnen hatte, gegen die Grausamkeit des Allmächtigen wehren. Aber der Allmächtige erlaubte keinen Widerspruch. Die Warnung war gesprochen. Es war nun den Menschen überlassen, auf sie zu hören, oder eben nicht.

    Die Familie oder Sippe des Simon Bagdalyan hatte sich im Laufe der vielen Generationen in zahlreiche Erbfolgen gespalten. Nicht alle seine männlichen Nachkommen waren Fischer geworden: Manche hatten sich der Landwirtschaft, andere einem einträglichen Handwerk wie Zimmermann, dem Bootsbau, oder dem Handel zugewendet.

    Einer seiner Nachkommen, der Fischer Tigran Bagdalyan, der mit seiner Frau Anna und seinen vier Söhnen Aram, Ashot, Levon und Hayk in seinem kleinen Haus am westlichen Seeufer lebte, sah mit Entsetzen das Tosen und den irrsinnigen Zorn des Sees.

    „Das ist seltsam. Der See will sich überhaupt nicht beruhigen. Es scheint, dass die Natur sich über etwas Ungeheures aufregt. Was meinst du, Frau?“, fragte er seine etwas dickliche, aber noch sehr ansehnliche Frau.

    „Ja, irgendetwas stimmt nicht. Alles ist unheimlich geworden. Denke nur, gestern habe ich Hasmik auf dem Weg zum Markt getroffen. Es waren auch türkische Soldaten zu sehen, die das Kloster Sevanawank besetzt und dort alle Priester interniert, wie man munkelt, sogar getötet haben.

    Es liege ein großes Unheil in der Luft, sagte mir Hasmik. Sie habe gehört, dass die Soldaten Befehl erhalten hätten, alle Familien zusammen zu treiben und nach Süden in die Wüste zu bringen. Nur der Sturm hindere sie daran, mit der Vertreibung zu beginnen. Das sagte mir Hasmik, die Bäckerfrau. Was sollen wir tun?“

    Aram, der mit sechzehn Jahren älteste der Söhne hörte zufällig das Gespräch zwischen seiner Mutter und seinem Vater. Er erinnerte sich an die Gespräche mit seinem Großvater, der vor drei Jahren an einer unheilbaren Herzkrankheit verstorben war. Der Großvater hatte ihm viele Geschichten über den Sevan-See, darunter immer wieder die eindringliche Warnung über das bevorstehende, aber bisher niemals eingetretene Unheil erzählt.

    Konnte es sein, dass dieses unheilvolle Wetter, das tosende Wüten des Sees, die grauenvoll kriechenden Nebel die Warnung bedeuteten, die seit Generationen in den abendlichen Wodkareichen Geschichten der Fischer erzählt wurde? Seine Fantasie, die ihm den Beinamen Surenmyan eingetragen hatte, ließ ihn aufgeregt zu seinen Eltern laufen.

    „Vater, Mutter, kann es sein, dass die alten Wahrsagungen Wirklichkeit werden?“ fragte er aufgeregt.

    „Ach, Surenmyan, deine Fantasie spielt dir wieder einen Streich. Wahrsagungen sind wichtig, im Prinzip, aber, ebenfalls im Prinzip, sie werden nie so Wirklichkeit, wie angekündigt“, versuchte der Vater ihn zu beruhigen.

    „Wenn aber doch? Alle sprechen, Mutter hat es auch berichtet, von der Furcht vor fürchterlichen Vertreibungen und einem langen bevorstehenden Weg in die Wüste mit Verdursten und Hungertod. Die Soldaten sind ja schon da. Was wollen die denn hier? Und der See, unser geliebter Sevansee zürnt und tobt wie ein Wahnsinniger. Hast du schon einmal ein derartiges Unwetter erlebt, Vater? Alles passt doch zusammen. Wie es die Vorsagen berichtet haben. Großvater würde mir wohl zustimmen.“

    Dem Vater, dessen Großvater ihm ebenfalls die unheimlichen Wahrsagungen eindringlich erzählt hatte, wurde unheimlich. Er schaute aus dem Fenster und sah die heftigen Regenwolken, hörte den wütenden Sturm und war unschlüssig, was zu tun war.

    Der See war bei diesem Sturm mit seinem kleinen Fischerboot nicht zu befahren. Das kleine Boot würde nahezu augenblicklich von den mannshohen Wellen mit Seewasser überschüttet werden und sofort sinken. Im Haus zu bleiben, das schien die vernünftigste Lösung in der schwierigen Lage zu sein. Jedoch, die Soldaten hatten schon das Kloster übernommen und waren vielleicht schon auf dem Weg in das kleine Dorf. Dann wäre es fast unmöglich, sich ihrem Zugriff zu entziehen. Sie waren gut bewaffnet. Es waren viele, sehr viele, ungläubige, fremde, gut trainierte sowie gehorsame, mitleidslose Uniformierte.

    Er rief den Familienrat zu sich. Zwar hatten Frauen und Kinder nach alter Tradition im Familienrat kein Stimmrecht und waren eher dem Sklavenstand zuzurechnen, aber in einer so geheimnisvollen Situation mit dem wohl vom Allmächtigen befohlenen Zusammentreffen der Sevan-See-Legende und den sich im Land ausbreitenden Gerüchten, Verhaftungen, ja sogar Hinrichtungen und in einen Todesmarsch getriebenen war jede, insbesondere jede fantasievolle Stimme gefragt. Es stand die Zukunft der gläubigen Familie, die ja nach den Legendenberichten den Ungläubigen zum Test über deren Ungläubigkeit ausgesetzt werden sollte, auf dem Spiel.

    „Was sollen wir tun? Wir alle sind in Gefahr. Die türkischen Soldaten haben schon unser Kloster Sevanawank besetzt. Eure Mutter hat erfahren, dass die Priester und Mönche getötet wurden. Nicht erschossen, nein, in Reih und Glied aufgehängt, wie die Schafe, die wir zum Ausnehmen an den Beinen aber nicht am Hals aufhängen. Hasmik, die Bäckerfrau hat erzählt, dass die Soldaten die Vertreibung von uns allen ohne Rücksicht auf Frauen und Kinder vorbereiten.

    Es scheint, als solle die Sevan-See Mahnung vom Allmächtigen in die Wirklichkeit heute oder spätestens morgen umgesetzt werden. Surenmyan, du besitzt die weiteste Fantasie von uns allen. Was schlägst du vor? Was sollen wir tun? Uns dem wütenden See ausliefern, oder auf die Gnade und die Unvollkommenheit des Allmächtigen hoffen?“ fragte der Vater sorgenvoll.

    Surenmyan war überrascht. Es war das erste Mal, dass er den Vater so hilflos erblickte und, noch schlimmer, dass er, der älteste, aber mit sechzehn Jahren noch junge Sohn der Familie zu einer Entscheidung aufgefordert wurde, der sich zu beugen der Vater, der allmächtige Vater in der Familie bereit war. Das erfüllte Surenmyan mit Stolz und mit dem Bewusstsein, dass er, der älteste Sohn nun an Kraft und Verantwortung seinem Vater überlegen war.

    Er sagte kraftvoll und streng seinen Vater anblickend: „Mutter, Vater, meine jungen Brüder Ashot, Levon und Hayk, ich habe unserem Großvater genau zugehört. Immer und immer wieder hat er von der Warnung unseres geliebten, jetzt so erzürnten Levansees und dem fürchterlichen Test unseres Allmächtigen gesprochen. Leider können wir ihn nicht mehr um Rat fragen.

    Ihr sagt mir, dass ich die größte und vor allem heute wichtigste Fantasie von uns allen besitzen würde. Es bedarf keiner besonderen Fantasie, sich die Grausamkeit der Ungläubigen vorzustellen. Sie werden uns alle nicht nur töten, sondern zuvor unmenschlich, ja nicht nur unmenschlich sondern auch mit all ihrer Ungöttlichkeit quälen. Dem Allmächtigen können wir ebenfalls nicht widersprechen oder aus dem Weg gehen. Er wird seinen Plan, an uns die Göttlichkeit der Ungläubigen testen zu lassen, mit all seiner Vollkommenheit ausführen. Somit hilft uns keine Fantasie, dem Test des Allmächtigen und unserem dann so grausamen Schicksal entfliehen zu können. Was bleibt uns?

    Vertrauen wir uns unserem Levansee an. So wie er uns vertraut hat in unserer Familie von Generation zu Generation seine Wahrsagung weiter zu tragen. Ihm zu vertrauen, auch wenn seine Prophezeiung über Jahrhunderte und über den Zeitraum, den wir und unsere Großväter zurückblicken, nicht eingetroffen ist.

    Aber jetzt? Mit etwas Fantasie erfahren wir heute und erleben jetzt die Legende, die Warnung des Levansee. Wenn wir daran glauben, wenn wir daran so fest glauben wie an die Stellen im See, an denen sich die Fische aufhalten, die wir zu fangen wünschen, dann gilt nur die Wahl: Wir müssen versuchen, mit dem Boot die andere, die östliche, die von den Russen beherrschte Seite des Levansees zu erreichen.

    Ich habe ausreichend Fantasie und kann im Prinzip mit einem Eimer jede in das Boot schwappende Welle wieder heraus schöpfen. Wenn wir alle zusammen schöpfen, dann wird es gelingen. Dann wird dieses Prinzip unser Dasein erhalten. Dann können wir der grausamen Wirklichkeit und den schrecklichen Quälereien der Ungläubigen, veranlasst durch die nicht zu begreifende Absicht unseres Allmächtigen an den Ungläubigen unseren Glauben zu testen, entrinnen. So werden wir überleben, zusammen und als eine unserem Levansee vertrauende Familie.“

    Besser ersaufen, als in die Hände der Jungtürken zu fallen“, meinte zustimmend der Vater. Die Mutter sagte mehr Praxisnah: „Nun ja, wir haben kräftige Arme und auch genügend Eimer. Ich denke, dass ich schon vier Eimer auftreiben kann. Und Vater kann das Boot sehr gut steuern. Auch wenn der See zürnt und tobt.“

    So bereitete sich die Familie auf die Überfahrt hin zu dem rettenden östlichen Ufer des Levansees vor. Das kleine Ruderboot wurde soweit als möglich mit einer Plane abgedeckt. Der Vater setzte sich an die Ruder. Die Mutter und die vier Kinder nahmen in der Mitte mit ihren Eimern Platz. Die Familie steuerte auf den tosenden See hinaus.

    Kaum jedoch hatten sie das westliche Ufer mit all seinen überschwappenden Wellen verlassen, als sich der See zu beruhigen schien. Es war eine der insgesamt seltenen, aber nicht ungewöhnlichen Wind und Sturmlagen, die auf der westlichen Seeseite besonders stark wüten, sich aber zur Seemitte und zur östlichen Seite hin deutlich abschwächen und hier ohne allzu große Gefahrenmomente überwunden werden konnten.

    Die Familie erreichte wohlbehalten das andere sichere Ufer und blieb von den kurz danach stattfindenden wütenden Gräueltaten der Jungtürken an den überall gesuchten und vertriebenen Armeniern verschont.

    Armen Bagdalyan griff zur Wodkaflasche, füllte unsere Gläser und forderte: „Hier trink. Trinken wir auf das Wohl unserer verstorbenen Großväter! Auf deren Großväter! Und, im Prinzip, auf alle weiteren, von uns nicht mehr abzuzählenden Großväter! Prost!

    Hm, das ist guter Wodka. Er stammt aus der Ukraine. Es ist zu gefährlich unseren einheimischen Wodka zu trinken. Er ist zu oft verdünnt mit Wasser und im Ausgleich versehen mit Methylalkohol. Der Kopf brummt dann grauenhaft, und man kann man leicht erblinden. Jedenfalls soll das schon vorgekommen sein.

    Und dann, wenn man durch Genuss unseres einheimischen Wodkas zumindest im Prinzip blind geworden ist, dann kann man natürlich nichts mehr sehen, nichts mehr unterscheiden. Weder den Sevan-See, noch seine Ufer, oder seinen Grund oder seine Oberfläche. Wie gesagt, dann läuft man leicht Gefahr zu ertrinken, besonders nach Genuss  unseres einheimischen Wodkas. Zumindest im Prinzip.“

    Ich sah auf den See hinaus. Es war Nacht geworden. Auf der gegenüber liegenden, der östlichen Uferseite blinkten Lichter einzeln stehender Häuser. Es war kühl geworden. Undeutlich waren die hinab sinkenden Nebelbänke als graue verwehende Schleier noch sichtbar. In sanfter und friedlicher Stimmung plätscherten kleine Wellen an die Boote und an die Holzplanken des Anlegestegs. Schon war der Abendstern aufgegangen. Die Wodkaflasche war geleert. Die junge Bedienung stellte eine neue auf unseren Tisch. Armen schenkte ein.

    Ich sagte leise zu ihm: „Auf all die Großväter, die von dem Allmächtigen für seinen Test an den Ungläubigen geopfert wurden. Und Du, See, schenke den so Gequälten vertrauensvoll deinen Frieden.“

    Bei diesem Toast trank Armen sein Glas nicht vollständig aus, sondern erhob sich, blickte ernst und würdevoll auf den See, opferte den verbliebenen Wodkarest mit einem kurzen Schwung dem See und sagte: „Herr und Du Sevan, sei ihnen und uns allen gnädig.“

    Es wurde eine lange, sehr lange Nacht, natürlich nur im Prinzip, und nur für die Fische im Sevansee, wie Armen ergänzend hinzufügte.

    Copyright Prof. Dr. Dr. Kayserd

     

     

  • Hephaistos – ein hinkender Künstler und Gott

    Wenn es um die Behinderung des Hephaistos geht, sind die literarischen Quellen ebenso widersprüchlich wie die Zeugnisse der antiken Kunst.
    Hephaistos sagt von sich: „ [..] aber ich selber kam als Krüppel zur Welt“ (Od. 8, 310).

    In der Ilias 18, 393-398 geht er ins Detail:

    „Ihr antwortet drauf der hinkende Feuerbeherrscher:
    O, so besucht mein Haus die erhabene, würdige Göttin,
    die mich rettete einst nach dem schrecklichen Sturz in die Tiefe,
    als mich die [..] Mutter hinab warf, welche mich Lahmen
    wegzuschaffen beschloss. Trübseliges hätt’ ich erduldet,
    wenn des Okeanos Tochter [..] Thetis [..] mich nicht
    geborgen am Busen [..].
    Sprachs, der schnaufende Ries’, und erhob sich vom Ambossklotze
    hinkend, humpelte dann umher mit den schwächlichen Beinen [..]“
    (Il. 18, 410-411)

    Wamser-Krasznai-Relief Ostia

                                                Abb. 1: Relief Ostia, 2. Jh. n. Chr.

     

     

    Doch die einzige Darstellung, die wir von dem Sturzflug  besitzen, zeigt den unwillkommenen Sohn mit wohlgeformten Füßen. Es ist ein römisches Relief aus Ostia, das den Neugeborenen als verkleinerten Erwachsenen zeigt, mit den Attributen seiner späteren Tätigkeit, Hammer und Zange.

    Die Wiedergabe krankhafter Veränderungen an den Beinen beschränkt sich auf die archaische Zeit[1].

    Wamnser-Krasznai-korinthischer Amphoriskos

                               Abb. 2: korinthischer Amphoriskos, 600-580 v. Chr.

     

     

    In der Klassik wird das körperliche Gebrechen nicht mehr so drastisch vorgetragen; Hephaistos sitzt z. B. mit unterstützten Füßen seitlich auf einem Esel[2]. Am Ostfries des Parthenon in Athen deutet sich die Behinderung nur mehr durch einen unter die Achsel geklemmten Stock an:

    Wamnser-Krasznai-Hepaistos und Athena

                                     Abb. 3: Hephaistos und Athena, etwa 440 v. Chr.

     

     

     

     

     

     

    Wie kommt es eigentlich zu dieser Behinderung?

    Die homerischen Epen überliefern den Sturz aus dem Olymp zweimal, unter  verschiedenen Umständen. Im Homerischen Hymnus an Apollon zeigt Hera ihre Enttäuschung über den krummfüßigen Sohn und schildert ihre wenig mütterliche Tat:

    „Mein Sohn freilich, Hephaistos, den selbst ich gebar, ist ein Schwächling
    [..] mit krummen Füßen.
    Einst packt ich ihn grad an den Händen und warf ihn ins weite
    Meer; doch Thetis, die silberfüssige Tochter des Nereus,
    Fing ihn auf und versorgt ihn im Kreis ihrer Schwestern. “
    (Hom. h. Apollon 316-320)

    1. Liegt demnach eine angeborene Missbildung vor? Dabei denken wir vor allem an den Klumpfuß. Dazu passt die familiäre „Fußschwäche“, die von zwei Söhnen des Hephaistos überliefert ist. Palaemonios, einer der Argonauten, hinkt wie sein Vater Hephaistos, „mit verstümmelten Füßen“ (Apoll. Rhod. Argonautika 1, 202-204. Orph. Arg. 212). Periphetes,
    der Keulen tragende Sohn Vulcans (Ov. met. 7, 437; Paus. 2, 1, 4), wird von Theseus bei Epidauros erschlagen. Er war „schwach an den Füßen“ (Apollod. 1, 112  und 3, 16, 1)[3]. Auf den wenigen bildlichen Darstellungen der Hephaistos- Söhne findet sich jedoch kein Hinweis auf ein Gebrechen.

    Der zweite Sturz geht auf das Konto des Zeus. Er fasst den Hephaistos, der gegen ihn für Hera Partei ergriffen hatte, am Fuß und wirft ihn vom Olymp (Il.1, 590-594). Der Unglückliche ist
    halbtot, als ihn die Bewohner von Lemnos, die thrakischen Sintier[4], aufnehmen und soweit möglich gesund pflegen.

     

    2. Haben wir es also mit einer posttraumatischen Behinderung zu tun? Nach Apollodorus, Valerius Flaccus und Lukianus ist die Lahmheit eine Folge des Sturzes[5].

    Ein anderer Erklärungsversuch führt das Hinken des Hephaistos auf die Blessuren zurück, die sich dieser als Titan unter Titanen, im Kampf gegen die Olympier, zugezogen habe. Während die übrigen Titanen von Zeus in den Tartaros gestoßen wurden, habe Hephaistos in den Olymp zurückkehren dürfen. Zwar behalte er als Zeichen seines Sturzes die lädierten Beine, aber er werde eben doch Olympier[6]. Für diese Hypothese, die nicht ohne Reiz ist, fehlen allerdings bildliche und schriftliche Zeugnisse. Als einziger Hinweis auf die titanische Urgewalt des Gottes dient das stets betonte Missverhältnis zwischen den „schwächlichen Schenkeln“ und dem „stämmigen Nacken“ (z. B. Il. 18, 410-415).

     

    3. Im Gegensatz zur Schilderung von des Gottes armkräftiger Kampfgewandtheit und  „schnaubender“ Urgewalt wird er durch die Verbindung mit dem ägyptischen Ptah und den Patäken zum Zwerg, gar zu einem dysproportionierten, achondroplastischen[7] Zwerg (Hdt. 3, 37, 2). Eine seltene Darstellung zeigt den winzigen, hier allerdings wohlproportionierten Künstler- und Handwerkergott, kurz bevor er seine Mutter Hera von dem magischen Thronsessel befreit, den er als kleine Rache für ihre Lieblosigkeit konstruiert hatte[8]. Ist Hephaistos demnach ein hinkender Krüppelzwerg?

    Nach einer alten Begründung für die Lahmheit des göttlichen Kunsthandwerkers falle das Handwerk, das einem Helden nicht anstehe, den Krüppeln zu – eine wenig befriedigende Erklärung[9].

    4. Weitere Hypothesen verbinden Hephaistos mit den Schmiedegöttern und- Heroen anderer Zeiten und Kulturkreise[10], als man Sehnen gewaltsam durchtrennte, um geschickte  Handwerker am Ort zu festzuhalten.

    Ist es denkbar, dass man den Gott der Schmiede absichtlich verstümmelte?

    Auch Daidalos, nach der Genealogie ein Enkel des attischen Urkönigs Erechtheus, also ein Urenkel des Hephaistos[11], war ein begabter Zimmermann und Künstler, den König Minos auf Kreta festhielt. Von dort gelingt ihm die Flucht bekanntlich mittels seiner künstlichen, mit Wachs befestigten Flügel, während sein Sohn Ikarus der Sonne zu nahe kommt und sich zu Tode stürzt. Der Flug führt den Künstler unter anderem nach Sizilien, wo er seinen göttlichen Ahnherrn, Hephaistos/Vulcanus, trifft. Dieser ist besonders eng mit dem Feuer speienden Ätna und den liparischen Inseln verbunden. Überhaupt lasse der Himmelssturz des Gottes nach Roscher nur eine Deutung zu[12], nämlich das Herabkommen des Feuers im Blitz (Serv. Aen. 8, 414). Pindar bezieht die Ausbrüche des Ätna auf Hephaistos (Pind. P. 1, 25). Die mythische Doppelaxt ist ebenfalls ein Bindeglied zwischen dem göttlichen Ahnherrn und seinem Urenkel Daidalos. In den Darstellungen des Hephaistos als Helfer bei der Athenageburt spielt die Doppelaxt eine große Rolle. Niemals ist in diesem Zusammenhang eine Behinderung zu erkennen.

     

    Wamser-Krasznai-Hepahistos mit Doppelaxt

                Abb. 4: Hephaistos mit Doppelaxt bei der Athenageburt, etwa 570 v. Chr.

     

     

     

     

    Athena wird aus dem Kopf ihres Vaters Zeus geboren. Sie hatte ihm heftige Schmerzen bereitet, bis Hephaistos die langwierige Entbindung durch einen Hieb mit der Doppelaxt beendet. In voller Kleidung und Rüstung entspringt die Jungfrau dem göttlichen Haupt (Pind. O. 7, 35-38;  Hom h. 28, 4-5). Als sich Hephaistos in die unnahbare Göttin verliebt, ist seine Verfolgung natürlich zum Scheitern verurteilt (Paus. 1, 14, 6. Hyg. Fab. 166); aber sein Samen fällt auf die Erde und befruchtet sie. So bringt Gaia/Ge den schlangenfüßigen Erichthonios hervor, den autochthonen Stammvater der Athener (Apollod. 3, 14, 6)[13]. Gaia übergibt ihn der Athena, die hier als Kourotrophos auftritt, zur Aufzucht[14]. In Attika sind die Göttin und Hephaistos,  verhinderte Partner in Punkto Liebe, gleichwohl Kultgefährten (Paus. 1, 14, 6). Sie werden im Tempel auf der Athener Agora gemeinsam verehrt. Athena ist ja nicht nur die Göttin der Weisheit und des Krieges, sondern wie Hephaistos auch Schützerin des Handwerks.

     

    5. In jüngerer Zeit versuchen manche Autoren das Hinken des Schmiedegottes naturwissenschaftlich zu erklären. Bis in das 3. Jahrtausend v. Chr. arbeiteten die Schmiede nämlich mit Arsenbronzen. Beim Schmelzen von Arsenerzen mit Kupfer bildet sich schon bei 200 Grad der giftige Hüttenrauch, As2O3, der vor allem zu Lähmungen der Beine führt[15].
    Liegt hier gar eine arbeitsmedizinische Anamnese vor, und Hephaistos leidet an den Folgen einer Berufskrankheit? Auch zu dieser Hypothese schweigen die antiken Schriften. Nach Meinung von Schrade hätte Homer wenigstens ein Wort darüber gesagt, wenn er geglaubt hätte, dass die schwachen Beine eine Folge seiner Arbeit seien[16]. Einzelne bildliche Darstellungen sind dazu angetan, die Lähmungshypothese zu stützen. Der berühmte Fronçoiskrater in Florenz zeigt Hephaistos rittlings auf einem Maultier sitzend. Beide Füße sind regelrecht geformt, doch ist der linke nach vorn, der rechte nach hinten gerichtet[17] – ein Zeichen fehlender Muskelkontrolle?  Auf einer schwarzfigurigen Amphora in London ist der Gott mit auffallend schlaff herunterhängenden Füßen dargestellt[18], sodass ein Lähmungsspitzfuß denkbar wäre[19]. Trotzdem sind diese naturwissenschaftlichen Erklärungsversuche nicht ganz überzeugend. Vor allem stellt sich die Frage, warum ein berühmter, erfahrener Kunsthandwerker wie Hephaistos, wenn er denn gelähmt ist, nicht ein Paar Peroneusschienen (Fußheberschienen) konstruiert, er, der sich zu seiner Unterstützung sogar künstliche goldene Mädchen geschaffen hat?

    „ [..] nahm das Zepter, das dicke.
    Humpelnd ging er zur Tür hinaus, und goldene Mägde
    Stützten den Herrn von unten; sie glichen lebendigen Mädchen.
    Denn sie haben Verstand im Innern und haben auch Stimme
    Und auch Kraft und lernten von ewigen Göttern die Werke.
    Und sie keuchten als Stütze des Herrn; der humpelte aber
    Hin, wo Thetis war [..]“.

    (Il. 18, 416-423)

    Auf all die anderen wunderbaren Erfindungen und Erzeugnisse des göttlichen Schmiedes kann hier nicht eingegangen werden; von dem kostbaren, magischen Thron für seine Mutter Hera war schon die Rede. Wir wollen vielmehr, nach einem Exkurs, noch eine weitere Hypothese anfügen.

    6. Hephaistos ist eine mythische Gestalt. Schon deshalb können die rein naturwissenschaftlichen Erklärungen für seine Behinderung, wie Arsenvergiftung, nicht befriedigen. Die als Lähmungspitzfuß interpretierbaren Darstellungen sind selten und zweifelhaft. Archaische Vasenmaler geben den Gott mit gekrümmten Füßen wieder. Das passt nicht zu einer Parese, sondern eher zum Klumpfuß. In der klassischen Zeit wird die Gehbehinderung nur mehr angedeutet, schließlich verschwindet sie ganz.

    Mythologische Begründungen liegen näher.

    Wir haben es mit einem besonderen, einem fremden Gott zu tun. Sein Kult ist durch Linear B in Knossos für die kretisch- mykenische Zeit bezeugt; der Name des Hephaistos aber lässt sich aus dem Griechischen bisher nicht deuten. Möglicherweise geht er auf die Sprache seines ureigenen Volkes, der Sintier auf Lemnos (vielleicht waren es Thraker?) zurück[20], die ihn einst vor den Folgen seines Sturzes bewahrten.

    Als vorgriechische, besonders im ägäisch-anatolischen Grenzraum verehrte Gottheit ist er gemäß der Überlieferung mit dem Künstlergott Koschar von Ugarit[21] und dem ägyptischen Ptah von Memphis[22] verwandt. Im 7. Jh. v. Chr. kamen ionische und karische Söldner nach Ägypten und begannen, neben ihren eigenen auch die lokalen Götter zu verehren. Möglicherweise brachten sie ein Bild des Hephaistos mit, das diesen „noch ganz ursprünglich – als Krüppelzwerg – vorstellt“[23].

    Herodot 3, 37, 2-3 berichtet, es sei „die Kultstatue des Hephaistos im Heiligtum von Memphis [..] nämlich sehr ähnlich den phoinikischen Pataikos- Figuren, die von den Phoinikern am Bug ihrer Trieren mitgeführt würden. [..]. Sie sind das Abbild eines zwergenhaften Mannes [..]. Auch die [..] Statuen der Kabiren ähneln dem Hephaistos; man sagt, es seien seine Kinder“[24].

    Der Gott empfängt also Kult nicht nur in Attika und Westgriechenland, sondern auch in halb barbarischen Gegenden wie Lemnos, Kleinasien oder Memphis. Er ist ebenso im Olymp zu Hause wie in den Höhlen Feuer speiender Berge. Der Mythos vom Herunterstürzen des Gottes wird auch als das Niederfahren des himmlischen Feuers im Blitz gedeutet. In der Aenaeis ist von Behinderung nicht die Rede, umso mehr aber von der Beziehung des Meisters zum Feuer und dessen wandelbarer Gestalt.

     

    „ [..] früh erhebt sich des Feuers Beherrscher [..] und eilt in die Esse des Schmiedes.
    Neben Siziliens Küste und seitlich von Aeolus’ Insel, Lipari,
    hebt sich ein Eiland mit steilen, rauchenden Felsen,
    Unter ihm eine Höhle, die Aetnakluft der Kyklopen,
    [..] Hier ist das Heim des Vulkan, und Vulcano nennt sich die Insel.“
    (Verg. Aen. 8, 413-422)

    Die variantenreichen Darstellungen in Schriften und Kunst der Antike erscheinen als Ausdruck der verschiedenen Aspekte ein und desselben Gottes, dessen liebenswürdigste Charaktereigenschaften noch gar nicht zur Sprache gekommen sind: Gutmütigkeit, Hilfsbereitschaft und die Fähigkeit, andere Götter zum Lachen zu bringen, meist auf seine eigenen Kosten. Hephaistos nämlich ist bekanntlich der Urheber des sog. Homerischen Gelächters, gleich, ob er seine treulose Gemahlin Aphrodite in den Armen des Ares erwischt (Od. 8, 266) oder ob er anstelle der reizenden Hebe und des schönen Ganymed als eine Art Hofnarr den göttlichen Mundschenk spielt[25]:

    „ [..] es lächelte drob die weißellbogige Hera,
    Lächelnd nahm sie darauf mit der Hand vom Sohne den Becher,
    Rechtsum schenkte er nun auch all den anderen Göttern
    Süßen Nektar ein, mit der Kanne vom Kessel ihn schöpfend.
    Unauslöschliches Lachen entstand bei den seligen Göttern,
    Als sie Hephaistos sah’n, der durch die Gemächer umher schnob“.
    (Il. 1, 595-600)

    Ist im hinkenden Hephaistos etwa nichts anderes zu sehen als eine der vielen Erscheinungsformen eines „fremden“  Gottes, der im Olymp ebenso zu Hause ist wie auf Lemnos und in Kleinasien, Ägypten und Sizilien, – nicht zu vergessen in unseren nur halb zivilisierten römischen Provinzen diesseits und jenseits der Alpen?

     

    Bildnachweis:

    Für die freundliche Erlaubnis, die folgenden Abbildungen zu reproduzieren, danke ich Frau Prof. Dr. Erika Simon, Würzburg, sehr herzlich.

    Abb. 1: Sturz des Hephaistos, Relief aus Ostia, 2. Jh. n. Chr.

    Aus: E. Simon, Die Götter der Römer (München 1990) 254 Abb. 331. 332

    Abb. 2: Rückführung des Hephaistos, korinthischer Amphoriskos,  600-580 v. Chr.

    Aus: E. Simon, Die Götter der Griechen (München 1985) 219 Abb. 204

    Abb. 3: Hephaistos und Athena, Ostfries des Parthenon, Athen, um 440 v. Chr.

    Aus:  E. Simon, Die Götter der Griechen (München 1985) 228 Abb. 217

    Abb. 4: Hephaistos mit Doppelaxt bei der Athenageburt, Exaleiptron, um 570 v. Chr. Aus: E. Simon, Die Götter der Griechen (München 1985) 187 Abb. 166

     

    Literatur:

    L. Balensifen, Achills verwundbare Ferse, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts, 111, 1996, 82 Anm. 22

    E. Bazopoulou- Kyrkianidou, What makes Hephaestus lame? American Journal of Medical Genetics 72, 1997, 144-155

    F. Brommer, Hephaistos. Der Schmiedegott in der antiken Kunst (Mainz 1978)

    H.-G. Buchholz, Ugarit, Zypern und Ägäis (Münster 1999)

    A. Dierichs, Ein hinkender Gott: Hephaistos, in: dies., Von der Götter Geburt und der Frauen Niederkunft (Mainz 2002) 41-44

    M. Grmek – D. Gourevitch, Les pieds d’Héphaistos, in: Les maladies dans l’art antique (Poitiers 1998)

    G. Jobba, Mi okozhatta Héphaisztosz sántaságát? Communicationes de historia artis medicinae 117-120, 1987, 137-140

    L. Malten, Hephaistos, Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 27, 1912, 232-264

    S. Morenz, Ptah- Hephaistos, der Zwerg. Beobachtungen zur Frage der Interpretatio Graeca in der Ägyptischen Religion, in: Festschrift für Friedrich Zucker  zum 70. Geburtstage (Berlin 1954) 275-290

    A. Mozolics, Hephaistos sántasága. Communicationes de historia artis medicinae 78-79, 1976, 139-148

    M. Reitz, Hautkrebs bei alten Hochkulturen, in E. G. Jung (Hrsg.), Kleine Kulturgeschichte der Haut (Darmstadt 2007)

    E. Rosner, Die Lahmheit des Hephaistos, Forschungen und Fortschritte 29, 1955, 362f.

    W. H. Roscher, Hephaistos. Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie  I  2,  1965, 2050. 2066

    K. Schefold, Die Urkönige, Perseus, Bellerophon, Herakles und Theseus in der klassischen und hellenistischen Kunst (München 1988)

    H. Schrade, Der homerische Hephaistos, Gymnasium, 57, 1950, 38-55 und 94-112

    E. Simon, Die Götter der Griechen (München 1985)

    E. Simon, Die Götter der Römer (München 1990)

    E. Simon, Daidalos, in: Althellenische Technologie und Technik von der prähistorischen bis zur hellenistischen Zeit mit Schwerpunkt auf der prähistorischen Epoche (Ohlstadt/Obb. 2003) 195-209

    A. D. Trendall, Rotfigurige Vasen aus Unteritalien und Sizilien (Mainz 1989)

    J. Wiesner, Olympos. Götter, Mythen und Stätten von Hellas (Nieder-Ramstadt/Darmstadt 1960) 51-54

    J. Wiesner, Der Künstlergott Hephaistos und seine außergriechischen Beziehungen in kretisch-mykenischer Zeit, Archäologischer Anzeiger 1968, 167-173

     

     



    [1] bei der Rückführung z. B. Caeretaner Hydria, Wien, ca. 530-500 v. Chr., Brommer 1978, 203 Taf. 11, 2 sowie Taf. 11, 1 und 3; Hephaistos auf gekrümmten Füßen stehend, etruskische Version als Sethlans, LIMC IV (1988) 657 Nr. 18 a Taf. 405 s. v. Hephaistos/  Sethlans (I. Krauskopf).

    [2] s. Kelchkrater c. 460-450 v. Chr., LIMC IV (1988)  641 Abb. 149 Taf. 396 s. v.  Hephaistos (A. Hermary).

    [3] s. Bazopoulou- Kyrkianidou 1997, 144-155.

    [4] Wiesner 1960, 52.

    [5] Roscher 1965, 2050.

    [6] Schrade 1950, 108-109. Eine weitere Sage überliefere, dass Hephaistos hinke, weil er im Krieg mit seinem Pferd gestürzt sei, s. Morenz 1954, 284 und Anm. 66.

    [7] Morenz 1954, 282.

    [8] Apulische Amphora, ca. 320 v. Chr., Trendall 1989, 121 Abb. 264.

    [9] Malten 1912, 256.

    [10] Buchholz 1999, 210 und Anm. 638-639. Hier ist z. B. an die germanische Völundr- Wielandsage zu denken, s. Malten 1912, 259. Verbindung zur Gestalt des hinkenden Teufels in der ungarischen Mythologie: Jobba 1987, 137-140.

    [11] Simon 2003, 199-206, bes. 200 Abb. 4; Schefold 1988, 59.

    [12] Roscher 1965, 2050.

    [13] Für mündliche Informationen hierzu danke ich H.-G. Buchholz und E. Simon. Ferner Roscher 1965, 2064.

    [14] Stamnos des Hermonax, ca. 460 v. Chr., Simon 1985, 195 Abb. 178.

    [15] Buchholz 1999, 210; Mozsolics 1976, 139-148; Reitz 2007, 78-79 und Abb. 1; Rosner 1955, 362-363; Simon 1985, 213 Anm. 5; Wiesner 1960, 52-53.

    [16] Schrade 1950, 109. Ebenfalls aus heutiger Sicht wurde eine frühkindliche Poliomyelitis erwogen, Grmek – Gourevitch 1998, 285.

    [17] Klitiaskrater, ca. 560 v. Chr., Simon 1985, 219 Abb. 203.

    [18] Balensifen 1996, 82, Anm. 22; LIMC IV (1988) 642 Nr. 157 d Taf. 397 s. v. Hephaistos (A. Hermary).

    [19] Der Gott ist zwar  ikonographisch an Dionysos angeglichen, aber durch die Doppelaxt eindeutig als Hephaistos ausgewiesen.

    [20] Simon 1985, 215.

    [21] Wiesner 1968, 170.

    [22] Wiesner 1960, 51.

    [23] Morenz 1954, 285.

    [24] Dazu auch Grmek – Gourevitch 1998, 283-284.

    [25] Simon 1985, 214.

  • Ignaz Fülöp Semmelweis ist am 1. Juli 1818 in Buda geboren.

    Die Familie stammte aus Szikra/Sieggraben im Burgenland, wo sie als Winzer tätig waren. Der Vater betrieb einen Gewürz- und Kolonialwarenhandel im alten Budaer Stadtteil Tabán, am Fuß der Burg. Sie waren angesehene, wohlsituierte Bürger.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 1

     Bild 1:  Geburtshaus in der heutigen Apród-utca, unten Geschäft, oben Wohnung

     

    Nach zwei Jahren Philosophiestudium  an der Pester Universität geht Ignaz Semmelweis 1837 für ein Jahr zum Jurastudium nach Wien. Dann beginnt er das Studium der Medizin in Wien und Pest. 1844 wird er in Wien mit dem Thema  „Tractatus de vita plantarum“ promoviert. Er absolviert einen Lehrgang in Geburtshilfe und wird Aspirant, ohne reguläre Stelle und ohne Salair, bei Prof. Klein an der Geburtshilflichen Klinik. 1846 ist er provisorischer Assistent bei Klein.

    Unter L. J. Boër als Leiter der Wiener Geburtsklinik hatte die Todesrate der Gebärenden und Wöchnerinnen 0,84% betragen. Die Hebammen übten nur an Phantomen. Semmelweis wird bald klar, dass Boër spontan, unausgesprochen, das Prinzip der Non-Infektion anwandte.

    Nach dessen Amtsenthebung 1822 – als eines Mannes „gegen den Zeitgeist“ – folgt ihm sein am wenigsten begabter Schüler Johann Klein im Amt nach. Infolge der modernen pathologischen Anatomie, die zum vermehrten Üben an Leichen führt, steigt die postpartale Mortalität auf  7,45%.

    1840 wird die Klinik geteilt. In der 1. Abteilung, der Ausbildungsstätte der Studenten (Prof. Klein), wird immer häufiger seziert. Die 2. Abteilung (Dr. Bartsch) bildet Hebammen aus, die seltener sezieren. 1841-1846 sterben in der 1. Abt. 9,92% der jungen Mütter, in der 2. Abt. nur 3,38%. Zu dieser Zeit hält man das Puerperalfieber für eine Epidemie und führt sie auf atmosphärische, kosmische oder tellurische Kräfte zurück.

    Semmelweis sammelt Daten. Er bemerkt, dass in Paris an der Maternité-Klinik, wo nur Hebammen ausgebildet werden, die aber regelmäßig sezieren, die Sterblichkeit ebenso hoch ist wie an der Ärzteklinik, und er beobachtet in Wien, dass Frauen, die zu Hause oder gar auf der Straße entbinden, weniger häufig erkranken als in der Klinik.

    Von 1844-1846 ist Semmelweis zuerst Aspirant, dann Assistent an der von Klein geleiteten Geburtsklinik. Es belastet ihn, dass während dieser Zeit die Zahl der an Kindbettfieber sterbenden Frauen sogar bis auf 15-18%  ansteigt. Schuld daran ist, wie er wenig später mit Entsetzen erkennt, seine eigene forcierte Sektionstätigkeit, die ihn ja eigentlich zu der Ursache dieser verheerenden Sterblichkeit hatte führen sollen.

    1847 erreicht die Mortalität sogar 18,27%. Wie ein Blitzschlag trifft ihn fast gleichzeitig der Tod seines Freundes Kolletschka, Professor der Gerichtsmedizin, der in Folge einer Fingerverletzung während einer Sektionsübung an einer Sepsis stirbt.

    Semmelweis vermutet die Zusammenhänge und schließt als Ursache der Septikaemie auf  zersetzte organische Stoffe, die zum Resorptionsfieber führen.

    Zwei Monate später, im Mai 1847, beginnt er vor jeder Untersuchung einer Gebärenden oder Wöchnerin seine Hände mit Chlorina liquida, später mit Chlorkalk, zu waschen. Zu diesen Waschungen hält er auch alle seine Schüler an. Zwei Augenzeugen, der Engländer Dr. Routh und der Ungar Lajos Markusovszky, berichten darüber. Schon im Juni sinkt die Todesrate der Mütter im Wiener Gebärhaus auf 2,23%. Es ist vor allem die Statistik, mit deren Hilfe Semmelweis der Krankheit beikommt.

    Leider publiziert er seine Erkenntnisse nicht. Zwar hält er 1850 vor der Wiener Gesellschaft der Ärzte drei Vorträge, im Übrigen aber verbreitet sich die Kunde nur durch seine Schüler, seine Korrespondenz und durch die nach Wien kommenden Gastärzte. Der Dermatologe Hebra und der Internist Skoda, der 1849 einen Vortrag über die Semmelweis`sche Entdeckung hält, sind für ihn tätig. Dagegen reagieren die in ihrer Ehre gekränkten Geburtshelfer erbost und beleidigt. Zum Teil führen sie sogar insgeheim die Prophylaxe ein, während sie Semmelweis offen bekämpfen. Man wirft ihm Ungehorsam und Pflichtvergessenheit vor. Unter den positiven Stimmen ist die des Kieler Geburtshelfers G. A. Michaelis. Diesem wird die Erkenntnis seiner eigenen Verantwortung für den Tod so vieler junger Frauen, darunter den seiner Cousine, derart unerträglich, dass er Selbstmord begeht.

    1850 übersiedelt Semmelweis, kaum dass er unter anderem auf Betreiben von Skoda die Ernennung zum Wiener Dozenten erhalten hat, nach Pest.

    Inzwischen besteht die Welt nicht ausschließlich aus Geburtshilfe und ihren tragischen Folgen. In der Revolution von 1848 hat Semmelweis entgegen anderslautenden, auf unsicheren Quellen beruhenden Behauptungen, keine besondere Rolle gespielt. Hätte er sich politisch fortschrittlich engagiert, so wäre ihm von seinen Feinden Klein und Rosas mit Sicherheit ein Strick daraus gedreht worden. Seit Mai 1851 ist er als Primararzt am Pester St.-Rochus-Spital tätig.

     

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 2

     Bild 2: St. Rókus-Kórház

    Das Lehramt der theoretischen und praktischen Geburtshilfe an der Universität von Pest, das ihm nun angetragen wird, ist an die Beherrschung der ungarischen Sprache und an sein nachweislich politisch „günstiges“ Verhalten gebunden. Kaiser Franz Joseph bestätigt 1855 seine Berufung zum Universitätsprofessor.

    Erst 11 Jahre nach seiner epochemachenden Entdeckung, 1858,  erscheint endlich ein Artikel aus der Feder von Semmelweis in der ärztlichen Wochenzeitung/Orvosi Hetilap: „A gyermekágyi láz kóroktana“ (Ätiologie). Dann folgt in deutscher Sprache seine grundlegende Schrift: „Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers“ (Pest, Wien und Leipzig 1861). Im Vorwort heißt es:

    „Vermöge meines Naturells jeder Polemik abgeneigt, Beweis dessen ich auf so zahlreiche Angriffe nicht geantwortet, glaubte ich es der Zeit überlassen zu können, der Wahrheit eine Bahn zu brechen [..]. Zu dieser Abneigung gegen jede Polemik kommt noch hinzu eine mir angeborne Abneigung gegen alles, was schreiben heißt. [..] Ich muss [..] nochmals vor die Öffentlichkeit treten, nachdem sich das Schweigen so schlecht bewährt [..] finde ich Trost in dem Bewusstsein, nur in meiner Überzeugung Gegründetes aufgestellt zu haben“.

    Trotz dieser Berufung auf sein pazifistisches Naturell wird er jetzt selbst polemisch. „Die überaus größte Anzahl von medizinischen Hörsälen wiederhallt noch immer [..] von Philippiken gegen meine Lehre [..] und es ist nicht abzusehen, wann der letzte Dorfchirurg und die letzte Dorfhebamme das letzte Mal infizieren werden.“

    Jetzt sind die Kollegen erst richtig erbost und nicht bereit, dem Befürworter der aseptischen Methode öffentlich zuzustimmen. Eher sollten die Mütter zugrunde gehen, bevor das Ansehen der Professoren beschädigt werde.

    In seinem 1862 „an sämtliche Professoren der Geburtshilfe“ gerichteten Offenen Brief, setzt Semmelweis noch gehörig eins drauf, attackiert seine Kontrahenten namentlich und beschuldigt sie expressis verbis des Mordens.

    Die Resultate seiner Prophylaxe sind durchgehend sehr eindrucksvoll. Seit 1859 liegt die Zahl der an Kindbettfieber Verstorbenen in Pest unter 1%. Bereits 1862 erlässt der Stadthalterrat in Ungarn für sämtliche Munizipalbehörden und die medizinische Fakultät eine Anordnung über die Durchführung der Asepsis nach den von Semmelweis vorgeschlagenen Maßregeln. Dieser findet nun aber auch für seine Anhänger kein gutes Wort mehr und greift 1863 die Ablehner seiner Lehre in fünf Nummern des „Orvosi Hetilap“ heftig an.

    1865 lockt man ihn auf einer Reise, die angeblich zu einem Erholungsaufenthalt weiter nach Gräfenberg führen soll, in die Landesirrenanstalt Wien. Dort endet sein Leben auf Grund einer Sepsis am 13. August 1865.

    Mehr als 100 Jahre später, 1977, erkämpft der in Frankfurt am Main lebende Frauenarzt Dr. Georg Silló-Seidl die Herausgabe der im Psychiatrischen Krankenhaus der Stadt Wien archivierten Krankengeschichte und übergibt sie dem Semmelweis-Museum für Medizingeschichte in Budapest.

    Die Anamnese stammt noch von Prof. Bókai in Pest. Aus ihr geht hervor, dass der vorher geordnet und logisch denkende, allerdings in Sachen Kindbettfieber kompromisslose Mann seit einigen Jahren zeitweise von einer unerklärlichen Schlafsucht befallen sei. In den letzten fünf Wochen bemerke man eine zunehmende Wesensveränderung. Er vernachlässige sein Äußeres, mache obszöne Bemerkungen, sei verschwenderisch, unruhig und kritiklos. Er schwitze, sei unmäßig im Essen und Trinken und unzuverlässig im Hinblick auf seine Pflichten.

    Bei der Aufnahme zeige sich eine von den Pester Chirurgen nicht beschriebene dunkel blaurote Stelle am rechten Mittelfinger. Als Semmelweis die vergitterten Fenster bemerke und am Fortgehen gehindert werde, fange er an zu toben, sodass ihn sechs Wärter kaum  bändigen können. Sie legen ihm eine Zwangsjacke an und bringen ihn in die Dunkelkammer.

    Am nächsten Tag fallen gesteigerte Unruhe, Sprach- und Gangstörung sowie eine hohe Pulsfrequenz auf. Obwohl sich die Rötung und Schwellung des Fingers über den ganzen Handrücken ausgedehnt haben, äußere er keine Schmerzen. Es folgen Gangrän, Osteomyelitis, Sepsis, geistige Verwirrung und schließlich der Tod. Über die Entstehung der Fingerverletzung wird spekuliert. Die Wahrheit wisse niemand.

    István Benedek: [..] “és az akkori brutális ápolási ‚módszerek‘- től szenvedett sérülésből kialakult szeptikus állapot vezetett korai halálához“ [..].

    Bei der Autopsie bestätige sich als Krankheitsursache eine durch Lues bedingte Paralyse. Darüber habe man aus falsch verstandener Diskretion mehr als 100 Jahre geschwiegen. Noch 1978 lehnt Silló-Seidl, der sich so sehr um die Beschaffung der Semmelweis‘ schen Krankengeschichte verdient gemacht hatte, diese Diagnose ab.

    Auch in Ungarn herrscht 25 Jahre lang tiefes Schweigen. Die Familie  magyarisiert 1879 ihren Namen in Szemerényi, was sie nach dem Einsetzen des Semmelweis-Kultes gern rückgängig gemacht hätte. Dies gelang jedoch nur den Nachkommen der Tochter Antonia, die seit 1894 den Doppelnamen Lehhoczky-Semmelweis tragen.

    1882 hatte der Freiburger Geburtshelfer Alfred Hegar eine ebenso sachliche wie positive Darstellung des Lebens und der Lehre von Ignaz Fülöp Semmelweis gegeben. Dem war 1885 eine grundlegende Biographie in ungarischer  Sprache gefolgt.

    1891 werden die sterblichen Überreste des nun endlich berühmt gewordenen Sohnes der Stadt nach Budapest überführt. Mit einem Spendenaufruf  am 22. April 1894, unter dem Titel Anyák mentője, iniziiert Jenő Rákosi, Chefredakteur des „Budapesti Hírlap“, den später weltweit üblichen Ausdruck „Retter der Mütter“.

    1906 wird die von Alajos Stróbl geschaffene Marmorgruppe enthüllt, die Semmelweis zusammen mit einer dankbaren Mutter darstellt. Sie hat heute ihren Platz vor seiner einstigen Wirkungsstätte, dem Rókus-Korház/ St.-Rochus-Spital.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 3  

    Bild 3: Statue von A. Stróbl

    Die Újvilág utca, wo sich die Gebärklinik befunden hatte, heißt jetzt Semmelweis utca. Unter dem Straßennamen trägt ein sprechendes Relief die Inschrift „anyák megmentője“.

     Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 4

     Bild 4:  Semmelweis-utca, „Retter der Mütter“

    Das Jahr 1965 wird, 100 Jahre nach seinem Tod, von der UNESCO zum Semmelweis-Jahr erklärt. In das restaurierte Geburtshaus zieht das Medizinhistorische Museum ein.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 5

     Bild 5: Hof des Museums mit einer Mütter-Statue aus dem fortgeschrittenen 20. Jahrhundert

    Heute spricht man in der angelsächsischen Literatur vom „Semmelweis-Reflex“, wenn  jemand kritiklos eine These oder eine Person ablehnt, die vielleicht nur ihrer Zeit allzu weit voraus ist. Unter der Semmelweis-Doktrin dagegen verstehen wir die Prävention und Non-Infektion durch die Verpflichtung zum Händewaschen mit einem desinfizierenden Mittel, seiner Zeit mit Chlorkalk. Seit 1969 trägt die Budapester Medizinische Universität den Namen von Ignaz Philipp  Semmelweis.

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 6

     Bild 6: Statue im Hof der Gynäkologischen Klinik Budapest

     Medizinhistorischer Exkurs:

    Vier Jahre vor Semmelweis‘ Einführung der Prävention, 1843, hatte Oliver Wendell Holmes aus Cambridge/Massachusetts einen Vortrag in der Bostoner Ärztevereinigung gehalten, der in demselben Jahr unter dem Titel „The Contagiousness of Puerperal Fever“ gedruckt wurde. Darin heißt es: „The physician and the disease entered, hand in hand, into the chamber of the unsuspecting patient“ , also: Hand in Hand betraten der Arzt und die Krankheit das Zimmer des ahnungslosen Patienten. Er warnte davor, dass ein Arzt, der sich mit Geburtshilfe beschäftigt, jemals an der Obduktion einer an Kindbettfieber verstorbenen Frau teilnehme. Wenn der Arzt aber eine solche Person seziert oder ein Erysipel behandelt habe, müsse er sich gründlich reinigen, die Kleidung wechseln und dürfe mindestens 24 Stunden lang keine Wöchnerin anfassen. Nach dem Krankheitserreger forschte er nicht.

    Semmelweis sah die Ursache der Krankheit in einem zersetzten organischen Stoff, der zum Resorptionsfieber führe. Seit 1847 forderte er als Prävention die Non-Infektion und die Chlorwaschungen. Er schreibt in seiner „Ätiologie“ (S. 266): „Da es [..] sicherer ist, den Finger nicht zu verunreinigen, als den verunreinigten wieder zu reinigen, so wende ich mich an sämtliche Regierungen mit der Bitte um die Erlassung eines Gesetzes, welches jedem im Gebärhause Beschäftigten [..] verbietet, sich mit Dingen zu beschäftigen, welche geeignet sind, seine Hände mit zersetzten Stoffen zu verunreinigen.“ Damit fordert er eindeutig die Asepsis. Nach dem Krankheitserreger forschte auch er nicht.

    Über die Priorität ist natürlich gestritten worden, doch zeigt sich im Grunde nur, dass diese Erkenntnisse gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts förmlich in der Luft lagen. Dasselbe gilt für die Entdeckung der Krankheitserreger (Keime, Germina, Mikroben, Bazillen).

    Nachdem schon Varro, ein Zeitgenosse Julius Caesars, in seinem Buch zur  Landwirtschaft (1, 12, 2) über die in sumpfigen Gegenden lebenden winzigen Tierchen, die man mit den Augen nicht wahrnehmen kann, die aber schwere Krankheiten verursachen, philosophiert hatte, rissen die zum Teil durchaus erfolgreichen Versuche, Mikroorganismen nachzuweisen, nicht mehr ab. Antoni van Leeuwenhoek gelang 1674 mit einem selbst gebauten Mikroskop der Nachweis von Protozoen und Bakterien. Donné wies 1837 Vibrionen nach, Lucas Schönlein 1839 einen Pilz als Erreger des Favus scutularis. Dann kam Louis Pasteur, 1857, mit der Entdeckung der Milchsäurebakterien. Drei Jahre später gelang es ihm, die Mikroben durch Erhitzen auf 60-90 Grad (das Pasteurisieren!) unschädlich zu machen. Semmelweis dürften die einschlägigen Publikationen bekannt gewesen sein, doch hielt er es mit dem Gießener Chemiker Justus von Liebig, der den Kontakt faulender Stoffe mit gesunden für ausreichend hielt, um Krankheiten zu verursachen, und der die Erklärung des Zerfalls organischer Stoffe durch das Einwirken von Bakterien verspottete. 1863 konnte ein Bazillus als Erreger des Milzbrandes, Anthrax, nachgewiesen werden. All dies ereignete sich noch zu Semmelweis‘ Lebzeiten.

    In seinem Todesjahr, 1865, begann sich in Glasgow Joseph Lister mit dem Problem der Wundinfektion zu beschäftigen. Die Verwendung der Karbolsäure leitete die antiseptische Chirurgie ein. Als Ursache der Infektion betrachtete Lister die von Louis Pasteur so genannten lebenden Krankheitserreger, die Keime. Ebenfalls 1865 erkannte in Gießen der 20-jährige, bei Charkow/Charkiw-Ukraine geborene Ilja Metschnikow die Bedeutung der „Fresszellen“ für die Vernichtung von Krankheitserregern. 1908 erhielt er für seine Phagozytentheorie den Nobelpreis, zusammen mit Paul Ehrlich.

    Robert Koch wurde mit der Kultivierung des Bazillus anthracis 1876 und der Entdeckung des Mycobakterium Tuberculosis 1882 zum Begründer der modernen Bakteriologie und Mikrobiologie.

    Niemals aber ist, wie István Benedek bereits in den 1980er Jahren schrieb, die Semmelweis-Doktrin so aktuell gewesen wie heute, wo sich vor allem in der westlichen Welt die nosokomialen Infektionen beinahe unbegrenzt vermehren.

     

    Epilog:

    Am 05. April 2009 wurde ich durch die Verleihung der Semmelweis-Plakette und mit einer Ehrenurkunde der Internationalen Semmelweisgesellschaft ausgezeichnet.

     Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 7

     Bild 7: Plakette pro arte medicea Hungariae, Künstlerin:  Katalin Gera

    „Ärztliche Ethik kennt keine Kompromisse“ ist das Motto dieser Gesellschaft. Ein Satz aus Semmelweis‘ Offenem Brief an Joseph Spaeth steht damit in direktem Zusammenhang: [..] “ein Jeder, der es wagen wird, gefährliche Irrthümer über das Kindbettfieber zu verbreiten, wird an mir einen rührigen Gegner finden“.

    Doch – ein Wermutstropfen fällt in den edlen Wein. Wer heutzutage die Semmelweis-Grabstätte auf dem Kerepesi-Friedhof in Budapest besuchen will, ist weitgehend auf sich selbst angewiesen, denn die Wärter wissen nichts von dem doch recht monumentalen Sarkophag, ja sogar der Name Semmelweis ist ihnen fremd! Es zeigt sich also auch hier wieder einmal mehr: der Prophet gilt nichts im eigenen Land!

    Wamser-Krasznai Semmelweis Bild 8

     Bild 8: Semmelweis-Sarkophag

    Für ihre tatkräftige Unterstützung bei meinen Recherchen danke ich Prof. Dr. Beatrix Farkas, Dr. László Hodinka, Petúr Krasznai MBA, Dr. Péter Szutrély und Gerold Wiese MSc (Budapest, Keszthely, Münzenberg).

     

    Photos: Petúr Krasznai und Waltrud Wamser-Krasznai

    Literatur:

    J. Antall, Der Lebensweg von Ignác Semmelweis, in: Aus der Geschichte der Heilkunde  Suppl. 13-14 (Budapest 1984) 17-29

    I. Benedek, Ignaz PhilippSemmelweis (Wien-Köln-Graz 1983)

    Bericht von Lambrecht, Miklós, in: Nagy Ferenc (Hrsg.), Magyarok.

    A természettudomány és a technika történetében (Budapest 1992) 465-467 und in: Nagy Ferenc (Hrsg.), Magyar Tudóslexikon Á-tól Zs-ig (Better Kiadó 1997) 719-721 (Zweitabdruck)

    Blutiges Handwerk – Klinische Chirurgie. Zur Entwicklung der Chirurgie. Eine Ausstellung des Westfälischen Museumsamtes (Münster 1989/90)

    H. S. Robert Glaser – M. Henze, Metschnikow, Phagozyten und Gießen, Gießener Universitätsblätter 38, 2005, 69-74

    E. Lesky, Ignaz Philipp Semmelweis und die Wiener medizinische Schule (Wien 1964)

    Th. Mildner, De febre puerperale. Eine medizinhistorische Studie um den Hospitalismus im 18. Jahrhundert (Ruhpolding 1962)

    Sh. B. Nuland, Ignaz Semmelweis. Arzt und großer Entdecker (München 2006)

    H. Schipperges, 5000 Jahre Chirurgie (Stuttgart 1967)

    I. Ph. Semmelweis, Die Aetiologie, der Begriff und die Prophylaxis des Kindbettfiebers (Pest, Wien und Leipzig 1861), in: The Sources of Science (New York und London 1966)

    I. Ph. Semmelweis, Offener Brief an sämmtliche Professoren der Geburtshilfe (Ofen 1862)

    István Száva, Ein Arzt besiegt den Tod (Budapest 1968)

    G. Silló-Seidl, Die Wahrheit über Semmelweis. Das Wirken des großen Arzt-Forschers und sein tragischer Tod im Licht neu entdeckter Dokumente (Genf 1978)

     

    Copyright Frau Dr. med. Dr. phil. Waltrud Wamser-KRasznaiD

     

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    Schuld war der Hexenmeister Kaschmitutur.

    Meine Frau und ich, wir sind seit Jahren glücklich verheiratet, machten einen Spaziergang in der nahe gelegenen Heide. Wir wollten den Wiedehopf beobachten, der bei uns wieder heimisch geworden sein soll.

    Als wir uns auf die Suche begeben wollten, rief es aus einer nahen Tanne: „Oh, ihr Schönen, ihr sucht gewiss nach mir.“

    Es war der Wiedehopf, der da sprach und aus der Tanne hervor sah. Ich fragte erstaunt: „Wie kommt es, dass du sprechen kannst?“

    Und während ich auf die Antwort wartete, wurde aus dem bunten Vogel, bekannt als Sinnbild für Dämonen und Teufel, in der Antike auch für Wiedergeburt und Auferstehung, ein schwarz gekleideter Geselle mit grauem Vollbart und finsterem Blick.

    Er packte meine Frau am Arm und sagte barsch: „Folge mir. Ich bin so allein.“

    „Ich bin vergeben!“, erwiderte meine Frau.

    Und er: „Dein Mann ist noch jung genug. Er findet ohne Mühe eine andere.“

    „Nein“, sagte meine Frau entschieden.

    Da rief er: „Dann muss ich dich in einen Frosch verwandeln!“

    Und das tat er.

    Ich bat und bettelte, er möge die Verwandlung rückgängig machen. Als mir die Tränen kamen, willigte er ein: „Aber nur, wenn du mir den Stein der Weisen bringst. Ihn besaß einst der mächtige Maharadscha von Agra.“

    „Agra? Wo ist denn das?“

    „Dummkopf. In Indien natürlich!“

    „Und warum gerade den Stein der Weisen?“

    „Noch einmal Dummkopf! Weil man ihn zur Herstellung von Gold benötigt. Und weil er ewiges Leben verleiht.“

    Diese Worte krächzte er, denn er hatte sich wieder in einen Wiedehopf verwandelt und flatterte davon, einen unangenehmen Geruch hinterlassend. Da brachte ich den Frosch vorsichtig zu unserem Gartenteich. Ich sagte zu ihm:

    „Sei nicht traurig. Ich fahre jetzt nach Indien und komme mit dem Edelstein zurück. Und dann sind wir wieder als Mann und Frau zusammen.“

    Ich schiffte mich in Hamburg am Auswanderer-Kai ein, nahm die Route um das Kap der Guten Hoffnung, durchquerte den Indischen Ozean, vorbei an Madagaskar, und ging in Kalkutta von Bord.

    Von dort flog ich nach Delhi, besichtigte die Stadt.

    Im Hotel begrüßte mich ein Musiker. Er spielte auf einer besonderen Art von Laute. Mir zu Ehren spielte er die deutsche Nationalhymne. Das war mir unangenehm wegen unserer deutschen Vergangenheit. Deutschland über alles in der Welt! Aber dann merkte ich, dass er einen anderen Text zu der Melodie von Haydn sang, nämlich den von J. R. Becher.

    Ich sah den reichsten Reichtum und die ärmste Armut. Im Gespräch mit einem Reiseführer fragte ich nach der Unzufriedenheit der Armen, die auf der Straße leben und, wenn sie nicht ganz arm sind, unter einer Plasteplane schlafen. Der Reiseführer sagte mir: „Wer die Freiheit nicht kennt, vermisst sie auch nicht.“

    Ja, dachte ich, so hoffen die Unterdrücker. Denn es geht auch anders: Wer die Freiheit nicht kennt, sehnt sich nach ihr. Und er kämpft, bis er sie hat. Das fürchten die Unterdrücker.

    Abends im Hotel erlebte ich eine Hochzeit …

    Ich fuhr mit der Eisenbahn, dem Bus, einer Fahrrad-Rikscha, auf dem Ochsenkarren, in einem Boot. Und ich ritt auf einem Elefanten.

    Ich sah die schönsten Moscheen, Tempel und Kirchen. Und natürlich das schönste Grabmal der Welt: Taj Mahal.

    Die Toleranz der Religionen untereinander beeindruckte mich.

    Ich lernte den primären Buddhismus kennen.

    Auf einer Safari morgens um sechs Uhr sahen wir einen Tiger. Man munkelte zwar, hier seien die Tiger schon seit 10 Jahren ausgestorben, was man den Touristen natürlich nicht erzählte. Aber ich habe ihn deutlich gesehen, voller Kraft und Wildheit, mit der Würde einer Königin, die sich auch im Dunkeln problemlos zurechtfindet.

    Ich musste mich durch eine Masse von Bettlern kämpfen, als ich auf dem Weg zum Leichenverbrennungsplatz war.

    Die Asche kommt in den Ganges.

    Heilige Rinder, heiliger Fluss, schöne Menschen.

    Ich dachte über Anfang und Ende nach. Die Urne ist beides. Den Uterus kann man auch als solche ansehen.

    Am Ende ist man wieder in der Urne. Der Kreis schließt sich.

    Sexuell stimulierende Darstellungen in Stein. Sodomie.

    Darstellung hüftschwingender Frauen. Ich kaufte auf dem Markt für meine Frau mehrere Seidenschals, Schmuck, Kleidung und eine Vase aus Bronze. Am Schmuckstand war der Stein des Maharadschas von Agra in verschiedenen Ausfertigungen zuhaben, garantiert antik, wie der Verkäufer sagte. Ich nahm den größten. Dann hatte ich keine Rupien mehr.

    Jetzt roch ich den Duft von Jasmin, hörte Vogelgezwitscher und einen Gong. Ja, gibt es denn das? Ich war auf einem Teppich unterwegs, zum Himmel aufgestiegen. Schon sah ich die Heide. Rasch legte ich den Stein an der alten Tanne nieder. Und ich fügte ein Amulett mit dem Abbild des Wiedehopfs hinzu. Sicher ist sicher. So ein Amulett schützt davor, in der Nacht die Geheimnisse des Tages preiszugeben. Für mich hatte ich auf dem Basar auch eins gekauft. Dann wurde ich wach.

    Meine Frau, keine Spur von einem Frosch, rief mich zum Frühstück. Sie hatte den Tisch auf der Terrasse gedeckt, denjenigen aus Marmor mit Einlegearbeiten. Wir hatten ihn vor Jahren aus Mumbai kommen lassen.

    Die Sonne lachte vom Himmel. Sie strahlte den kleinen geschnitzten Elefanten an, der weiß leuchtete.

    Die Goldfische tummelten sich im Teich zwischen den Seerosen und ließen sich auch nicht von den Fröschen stören.

    Der Goldfelberich strahlte in seinem schönsten Gelb.

    Die Schwalben zwitscherten und das Rotschwänzchen warnte aufgeregt vor unserem getigerten Kater.

    Meine Frau hatte einen Sari angelegt und einen Seidenschal um den Hals geschlungen. Der kleine Leberfleck in der Mitte ihrer Stirn hatte ein besonderes Leuchten, ebenso wie das leicht grünstichige Karamellbraun ihrer Augen. Und sie fragte mit ihrer weichen Stimme: „Mein Liebster, hattest du einen schönen Traum?“

     

    Copyright Dr. Jürgen Rogge

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    Seit mehr als zwei Jahren hat uns der Euro fest im Griff.

    Kaum jemand rechnet noch jeden Preis im Stillen in D-Mark um.

    Die deutsche Sprache ist da allerdings viel träger, bzw. der Umgang mit ihr konserviert uns kommerzielle Relikte. Hier wird eisern an der  M a r k  festgehalten – das muss anders werden!

    Denken Sie einmal an die ehemalige Zonengrenze, sie wurde und wird als De m a r k ationslinie bezeichnet, ebenso in der Medizin, hier grenzt sich – z.B. bei diabetischen Durchblutungsstörungen – gesundes von abgestorbenem Gewebe ab – es  d e m a r k iert sich. Wollen wir sprachlich so inkonsequent sein und das Fossil D-Mark erhalten? Ich habe dem Kultusministerium vorgeschlagen, die D e m a r k ation durch die moderne Form  E u r o sation abzulösen. – Und wie steht es dann mit dem Knochen-M a r k?. Knochen-E u r o wäre doch viel besser – oder sollte man die 2 : 1-Umstellung Mark auf Euro ebenfalls berücksichtigen und statt Knochenmark von Knochen-50-Cent sprechen?

    Das etwas volkstümelnde Sprichwort: „Der Schrei des Opfers ging mir durch Mark und Pfennig“ muss ganz klar ersetzt werden durch den Ruf: „Das geht mir durch Euro und Cent!“

    Und wer wollte weiter auf der  M a r q uise von Pompadour bestehen? E u r o -ise von Pompadour klingt doch wahrlich prosaischer.

    Mit dem Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt habe ich bereits telefoniert. Er sieht keine Schwierigkeiten bezüglich der raschen Umbenennung der Mark Brandenburg und der Alt-Mark um Stendal.

    Schwieriger wird es mit unseren germanischen Altvorderen, dem Stammes-Verband der  M a r k omannen. Leider sind selbst nach 2002 auf den Markt gebrachte Geschichtsbücher noch nicht durchgehend mit den echten E u r o-Mannen vertraut.

    Bei den Nachfahren von Marco Polo stieß ich auf feindliche Blicke, als durchgesetzt wurde, dass ihr Reiseführer Marc –o Polo eingestampft wird zugunsten der Neufassung als  E u r o –Polo, was ja bei zusammenwachsendem Europa nur von Vorteil wäre.

    Unkomplizierter gestaltete sich ein Handy-Anruf bei Mark Twain auf Wolke 7. Er hatte sich als origineller Schriftsteller bereits von den himmlischen Heerscharen auf Euro Twain umschreiben lassen.

    Prinzipiell nicht dagegen, aber gewisse Schwierigkeiten sehend fand sich der berühmte Maler des „Blauen Reiter“ Franz Marc. Die persönliche Signatur auf seinen Bildern müsste ja in Franz Euro geändert werden. Er fürchtet etwas um den Marktwert seiner Gemälde.

    Der Geheimdienstchef der ehemaligen DDR  M a r k us Wolf sah es dagegen als Chance an, als  E u r o us Wolf diskret unterzutauchen. Beide christlichen Kirchen hadern noch mit dem Gedanken, das  M a r k us-Evangelium auf Dauer auf dem Altar der Sprachentwicklung zu opfern.

    Der römische Kaiser Marc Aurel fürchtet eine Abwertung seiner imperialen Stellung im gesamten Römischen Reich, wenn er als 50-C e n t-Aurel dasteht.

    Dass sich die M a r k(x) isten in Euro-isten umtaufen lassen wollen , dürfte wohl an ihrer gewohnt doktrinären Haltung scheitern!

    Jetzt muss ich selbst den Sprachpuristen entgegentreten, ehe es noch der  M a r k enbutter oder der  M a r g arine an den sprachlichen Kragen geht !!

     

    Copyright Dr. Volker Steffen

     

     

  • (vorgetragen bei der öffentlichen Lesung „Mein bester Text“ am Jahreskongress 2013 in Münster)

    Siegmund Kraft wurde 1945 in Bremen geboren. Sein Vater fiel kurz vor Siegmunds Geburt in einem der letzten Gefechte in Russland. Die Mutter zog den Jungen liebevoll auf und verdiente als Lehrerin den Lebensunterhalt. Siegmund entdeckte früh seine Liebe zum Langlauf und lief ein Jahr vor dem Abitur den ersten Marathon. Auch dadurch lernte er, mit Disziplin schwierige Momente zu bewältigen und gegen innere Widerstände bis zum selbst gesetzten Ziel auszuhalten. Seine Mutter erzog ihn im ehrenden Gedanken an den Vater, der ihr immer wie starker Baum erschienen war, an dem sie sich anlehnen konnte. Sie wollte aus Siegmund auch einen solch kräftigen und durchsetzungstarken Mann machen, und Siegmund nahm diese Prägung früh auf.

    Den ersten schweren Schicksalsschlag musste Siegmund verarbeiten, als seine Mutter während seines Jurastudiums verstarb. Dies brachte Siegmund dazu, noch härter zu arbeiten. Er beendete sein Studium in kürzest möglicher Zeit als Jahrgangsbester, und seine Doktorarbeit wurde summa cum laude bewertet. Eine wesentliche Hilfe für seinen Erfolg war sein fotografisches Gedächtnis, wodurch er regelmäßig Mandanten und Kollegen mit langen wortgetreuen Zitaten und Quellenangaben verblüffte.

    Nach der Gründung einer Anwaltskanzlei in Bremen heiratete er seine Jugendfreundin Helen, die mit ihm Abitur gemacht hatte, anschließend Schulmusik studierte und Lehrerin in einem bremischen Gymnasium wurde. Sie kauften eine Jugendstilvilla im besten Wohnviertel, die er mit Helens stilsicherer Hilfe renovieren ließ und innerhalb weniger Jahre vom Erlös mehrerer großer Prozesse bezahlte. Er war als Wirtschaftsanwalt bald weit über die bremischen Grenzen hinaus gefragt. Als der Sohn Felix geboren wurde, strahlten Helen und Siegmund als elegantes Paar das Bild der perfekten Familie aus.

    Siegmunds Sekretärin Frau Harmsen organisierte den Arbeitsablauf in der Kanzlei ebenso perfekt wie Helen die Familie und den Haushalt. Siegmund arbeitete nach seinem morgendlichen 10-km-Lauf in der Kanzlei oder bei Gericht. Der Nachmittag und Abend waren dem Aktenstudium und Prozessvorbereitungen gewidmet. Den Samstag nutzte Siegmund als normalen Arbeitstag. Am Sonntagvormittag absolvierte Siegmund einen längeren Lauf, der manchmal über die Marathondistanz ging. Die Nachmittage verbrachte er mit Helen und Felix.

    Felix war ein guter Schüler und sportlich wie der Vater. Als Felix zwölf Jahre alt war, wurde er an einem Spätnachmittag auf dem Gehweg von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und so schwer verletzt, dass er noch auf dem Weg in die Klinik starb. Siegmund reagierte nach einer kurzen Schockphase äußerlich routiniert, setzte aber seine Wut, Trauer und Verbitterung ein, um den Autofahrer in dem Prozess als gewissenlosen alkoholkranken Fahrer darzustellen. Er trug mit einem juristisch brillanten und emotionalen Plädoyer als Nebenkläger dazu bei, dass der Fahrer für die fahrlässige Tötung in Tateinheit mit Trunkenheit am Steuer zur Höchststrafe von sechs Jahren Gefängnis verurteilt wurde, da er schon ein längeres Vorstrafenregister hatte. Damit verschaffte sich Siegmund eine gewisse Genugtuung, und die weiter schwelende Trauer betäubte er mit noch mehr Arbeit. Sein Lauftraining behielt er strikt bei und zwang sich, am Wochenende noch 28 km zu laufen und dabei die letzten drei Kilometer im Renntempo zurückzulegen. Er war erfahren genug, seine Kondition nicht mit einem Übertraining zu verderben oder gar eine Verletzung zu riskieren.

    Helen dagegen vergrub sich fast den ganzen Tag im Schlafzimmer und vernachlässigte sich und ihre häuslichen Aufgaben. Auch eine zuerst ambulante und später stationäre Psychotherapie, die Siegmund veranlasst hatte, gelang nur vorübergehend. Das beste Ergebnis der Therapie war aber nur eine funktionierende Frau, die mit ruhiggestellter Mimik und scheinbar gleichgültigem Gemüt die Hausarbeit erledigte. Ein halbes Jahr nach Felix´ Tod fand Siegmund Helen abends totenstarr im Bett. Neben ihr lagen zwei leere Röhrchen Schlaftabletten und eine leere Flasche Rotwein. Der Brief auf dem Nachttisch war kurz: „Liebster, es tut mir leid, ich kann nicht mehr! Ich muss zu Felix. Ich liebe dich. Helen.“

    Siegmund brach am Bett weinend zusammen und rief erst nach einer halben Stunde den Hausarzt und bat ihn, den Totenschein auszustellen. Frau Harmsen half Siegmund, eine würdige Trauerfeier zu organisieren. Siegmund arbeitete verbittert in seiner Kanzlei, hielt die Fassade eines in sich ruhenden Anwalts aufrecht und kam spät nachts in das kalte Haus, wo er nur kurz schlief. Morgens war er früh auf der Laufstrecke unterwegs und anschließend bei der Arbeit. Er vermied private Kontakte, und Frau Harmsen sah ihn nicht mehr lachen. Sie besorgte für ihn aus einem kleinen Restaurant nebenan Essen und machte ihm in der Kanzlei Frühstück. Die immer frischen Blumen auf seinem Schreibtisch nahm er nicht wahr. So vergingen zwei Jahre.

    Eines Tags nahm Siegmunds bester Freund und Kollege ihn zwischen zwei Gerichtsterminen auf die Seite und sagte: „Siegmund, ich sehe, wie du nach außen hin diese Schicksalsschläge wegsteckst. Du wirkst für viele Bekannte wie eine große Eiche, die bei jedem Tornado steht. Aber ich weiß, wie sehr dich der Verlust von Felix und Helen immer noch plagt. Hast du nicht Lust, am Samstagabend bei uns zu essen? Erika hat ein paar Freunde eingeladen, die du auch kennst.“ Siegmund antwortete nach kurzer Bedenkzeit: „Ja, gut, ich komme!“

    Zu diesem Abendessen kam auch Sofia, Helens beste Freundin, die vor zwei Jahren ihren Mann verloren hatte. Siegmund und Sofia hatten in den letzten Jahren kaum Kontakt gehabt, weil Sofia während Helens schwerer Depression mit dem Sterben ihres Manns belastet war und seither sehr zurückgezogen lebte.

    Sofia und Siegmund unterhielten sich angeregt, sodass der Abend für beide erholsam und entspannend war. Siegmund nahm Sofias Einladung zu einem Spaziergang am nächsten Sonntag an. In den folgenden Monaten kamen sich Sofia und Siegmund immer näher. Siegmund konnte sich aus seiner seelischen Erstarrung und verbissenen Arbeit in Sofias Gegenwart lösen und freute sich auf die Treffen. Sofia war glücklich, aus ihrer Isolation herauszukommen. Die Beziehung zwischen Siegmund und Sofia wurde innig und vertraut. Nach einem Jahr heirateten sie.

    Sofia gab der Villa mit einigen ihrer Möbelstücke und Bildern eine persönliche Note. Ihre Liebe zum Garten war für jeden Besucher an den herrlichen Blüten, Büschen, Beeten und dem prächtigen Blumenschmuck im Haus sichtbar. Sofia begleitete Siegmund bei seinem morgendlichen Lauftraining und reduzierte es langsam. Dafür machten sie am Wochenende lange Wanderungen. Siegmund genoss das Leben im Haus wieder und freute sich besonders an den gemütlichen Abenden mit Sofia. So lebten sie fünf Jahre harmonisch und dankbar miteinander.

    Da die Kanzlei sehr gut lief und Siegmund mehr Zeit für sich und Sofia haben wollte, nahm er Eric Knudsen als Juniorpartner in die Kanzlei auf, der sich rasch einarbeitete und für Siegmund eine wertvolle Hilfe darstellte.

    Die Katastrophe schlich sich unerbittlich ein. Zuerst fiel Sofia auf, dass Siegmund sich an einem Sonntagmorgen nicht erinnerte, mit ihr eine Wanderung in der Lüneburger Heide vereinbart zu haben. Auch Frau Harmsen bemerkte, dass er seinen Füllfederhalter oft verlegte, der sonst immer am gleichen Platz lag. Besonders verblüfft war sie, als Siegmund bei einer Verhandlung in seiner Kanzlei aufstand, eine Tür öffnete und mit der Bemerkung „Das war die falsche Tür!“ wieder schloss und durch die andere Tür zur Toilette ging. Die Vergesslichkeiten und alltäglichen Fehler bei banalen Handlungen häuften sich. Die Krankheit schritt mit zerstörerischer Wucht voran.

    Er blieb oft mitten im Satz stecken, verlor den Faden und verwendete Wörter, die nicht in den Zusammenhang passten. In der Gerichtsverhandlung meldete er sich mehrfach zu Wort, stand auf und – wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Seine schriftlichen Notizen, die er Frau Harmsen nach den Verhandlungen zur Bearbeitung vorlegte, wurden fahriger und enthielt immer mehr Ungenauigkeiten. Er gab immer mehr Gegenständen die Bezeichnung „das Ding da“. Diese Sprachunsicherheit und die Abflachung des Wortschatzes fielen umso dramatischer auf, weil Siegmund als hervorragender Redner mit druckreifer Sprache und unfehlbarem Gedächtnis bekannt war. Anfänglich tat er diese „Kleinigkeiten“ als Folge seiner Überarbeitung ab. Die Zeichen wurden aber häufiger und schwerwiegender. Er verlor sogar einen Prozess, weil ihm im richtigen Moment sein bewusst vorbereitetes und entscheidendes Argument nicht einfiel.

    Frau Harmsen bereitete mit Eric Knudsen viele Arbeiten so vor, dass Siegmund nur noch unterschreiben musste. Sofia sorgte dafür, dass Siegmund krankgeschrieben wurde. Der Hausarzt verschrieb Medikamente zur Förderung der Hirndurchblutung und äußerte Sofia gegenüber den Verdacht auf eine rasch fortschreitende Demenz.

    Als Siegmund eine Kreuzung bei roter Ampel überfuhr und von der Polizei gestoppt wurde, stand er wie ein kleiner schuldbewusster Junge da und ließ sich von dem Polizisten zurechtweisen.

    Sofia ließ Siegmund nicht mehr Auto fahren und bat ihn mehrfach, die Kanzlei zu verkaufen. Erst als der Vorsitzende der Anwaltskammer ihm eindringlich die möglichen Folgen von Schadensersatzklagen aufgrund von falschen Beratungen schilderte, gab Siegmund nach. Eric Knudsen übernahm Siegmunds Anteil an der Kanzlei. Sofia nahm keine gesellschaftlichen Verpflichtungen mehr an.

    Zuhause füllte Siegmund das Kaffeepulver in den Wasserbehälter und stopfte den Kaffeefilter in die Kanne. Im Bad putzte er sich mit dem Kamm die Zähne und kämmte sich mit der Zahnbrüste. Er verirrte sich sogar nachts in seinem eigenen Haus und rief Sofia, die ihn ins Bett zurück brachte. Beim Essen versuchte er, mit der Gabel zu schneiden. Als er mit dem Messer die Suppe löffeln wollte und nicht mehr wusste, wohin die Suppe geführt werden musste, ging Sofia dazu über, Siegmund zu füttern.

    Bei einer neurologischen Untersuchung zeigte Siegmund eine schwere Störung beim Benennen von Gegenständen und beim Rechnen im Zehnerbereich. Als er eine Uhr mit Zeigern zeichnen oder ein Quadrat und ein Dreieck nachmalen sollte, saß er ratlos mit zitterndem Stift vor dem Blatt und krakelte nur zusammenhanglose Striche aufs Blatt. Der Arzt bat ihn, möglichst rasch viele Gegenstände aufzuzählen, was man in einem Supermarkt kaufen könne. Siegmund dachte lange nach, schließlich fielen ihm Kartoffeln ein, mehr nicht. Die Untersuchungen und die Vorgeschichte sicherten die Diagnose Rasch fortschreitende Alzheimer-Demenz. Siegmund konnte dem einfühlsamen Gespräch des Arztes nicht folgen. Als Sofia und Siegmund die Klinik verließen, fragte er: „Was hat er gesagt? Bin ich krank?“

    Siegmunds geistige Fähigkeiten und das alltägliche Verhalten verschlechterten sich auch unter gesteigerter Medikamentendosis rapid. Die Tabletten wurden deshalb wieder abgesetzt. Sofia betreute Siegmund rund um die Uhr. Sie musste ihm auch auf der Toilette beim An- und Ausziehen und bei der Reinigung helfen.

    Eines Morgens wollte er sich im Schlafzimmer anziehen und wurde wütend, als sie ihm helfen wollte. „Das kann ich allein!“, brauste er auf, „geh ins Wohnzimmer!“ Also beobachtete sie ihn durch den offenen Türschlitz und kämpfte mit den Tränen, als sie sah, wie lange er brauchte, um das Hemd so hinzuhalten, dass er es anziehen konnte. Als er nach einer langen Weile erschöpft ins Wohnzimmer kam, hatte er das Unterhemd auf das Hemd angezogen, die Knopfreihe falsch geknöpft, und das Hemd hing teilweise aus der Hose. Einen Socken hatte er vergessen, und die Schuhbändel waren nicht gebunden. So kam jeden Tag ein neues Vergessen dazu, der Wortschatz wurde kleiner, die Sprache lückenhaft.

    Im Sommer stand Siegmund einmal lange im Garten vor den blühenden Rosen. Sofia fragte: „Woran denkst du?“ Nach einigem Überlegen fragte er: „Ist heute Dienstag oder Dezember?“

    In einem unbeobachteten Moment verließ Siegmund bei strömendem Regen auf Socken das Haus, nur mit Hemd und Hose bekleidet. Sofia rannte sofort los, als sie die offene Haustür sah und fand ihn durchnässt an einer Bushaltestelle. Sie gewöhnte sich deshalb an, die Haustür abzuschließen.

    Eines Nachts wachte Sofia auf, das Bett neben ihr war leer. Sie fand Siegmund innen vor der Haustür stehen. Er war nackt. Sie fragte: „Was machst du hier?“ – „Warte auf den Bus, muss zur Arbeit!“

    Am nächsten Tag sah Sofia, wie Siegmund im Arbeitszimmer mit heruntergelassener Hose auf dem Papierkorb saß. Sofia stieß einen entsetzten Schrei aus. Siegmund fragte ruhig: „Warum schreist du, Mama? Bin auf der Toilette!“ – Sofia hatte er vergessen.

    Sofia sah ein, dass sie Siegmund nicht mehr zu Hause pflegen konnte. Das überstieg ihre Kräfte. Sie brachte ihn in einem Pflegeheim in der Nähe unter und besuchte ihn täglich. Siegmund nahm die Ortsveränderung nicht wahr. Jeder Besuch Sofias war ein neues Erlebnis für ihn, aber es tat ihr weh, jeden Tag zu hören: „Schön, Mama, dass Du endlich kommst!“

    Sie blieb eines Abends wie immer an seinem Bett sitzen und wartete darauf, dass er einschlief. Da atmete er leise ein und aus und ein und aus. – –

    Die Eiche war gefällt.

     

    Copyright Dr. Dietrich Weller

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    Ab und zu musste sie mal Stadtluft schnuppern, mal viele Menschen erleben, sich ins Gedränge begeben, sich berühren lassen, vielleicht nur mit den Augen. Menschen wahrnehmen, ganz offen sein für die kleinen Alltagsepisoden einer Stadt.

    Sie konnte die Stadt gut mit der Bahn erreichen und lebte doch scheinbar weit weg von ihr in ihrer Art „Einsiedelei“. Das war der große Garten und der nahe Wald, das Zuhause ihrer Seele. Das kleine Haus nicht zu vergessen.

    Heute war wieder so ein Stadt-Tag. Sie hatte sich „stadtfein“ angezogen und begutachtete sich im Spiegel. An ihre grauen Haare hatte sie sich gewöhnt. Manchmal fand sie diese sogar schön, wenn sie – frisch gewaschen – einen silbernen Schimmer hatten.

    „Richtig wertvoll bin ich“, sagte sie dann mit einem Schmunzeln, „ich sollte mich hoch versichern lassen.“

    Als sie dann in der Stadt war, schlenderte sie durch ihre Lieblings-Einkaufsstraße. Sie mochte die vielen kleinen Geschäfte, die Möglichkeiten an der Straße sitzend einen Kaffee zu trinken und einfach Leute zu beobachten. Und diese gab es in allen Größen und Farben.

    Irgendwann stand sie an einer Fußgänger-Ampel, um nun auf der anderen Straßenseite weiter zu bummeln. Eine junge Frau ging vorbei mit ihrem schlanken, schönen Körper, langen mittelblonden Haaren und glatter Haut. Solche Haarfarbe hatte sie auch einmal. Sie dachte das ohne Wehmut und betrachtete die junge Frau mit einer Art Wohlwollen. Sie war einfach nett anzusehen.

    Die Ampel hatte die Phase längst gewechselt. Sie hatte es ja nicht eilig. Sie hatte der jungen Frau lange hinterher geschaut.

    Jetzt fuhren die Autos an. Das erste Auto, ein Kleintransporter, hielt kurz vor ihr. Der Fahrer drehte die Scheibe herunter, wandte ihr das Gesicht zu und sagte deutlich:

    „Du bist doch schön!“, lachte sie an, drehte das Fenster wieder hoch und fuhr weiter.

    Wann hatte sie zum letzten Mal solch einen roten Kopf gehabt? Sie wusste es nicht. Ein wenig benommen, doch mit einem ganz tiefen Glücksgefühl, drehte sie sich um, ging zurück zu dem kleinen Straßencafé, an dem sie grad vorbeigekommen war. Sie setzte sich an einen 2-er Tisch und bestellte einen Cappuccino. Sie wollte dieses Gefühl einfach genießen.

    Für eine Weile blieben alle Menschen und Dinge „draußen“, ausgeschlossen von ihrem Lächeln. Wenn sie den Cappuccino ausgetrunken hatte, würde sie zu der kleinen Eckboutique zurückgehen und sich dieses auffallende Oberteil mit den verschiedenen aufeinander abgestimmten Rottönen kaufen, das sie vorhin schon eine Weile angehimmelt hatte. Ihre Schwester würde zwar wieder sagen: „In deinem Alter kannst du so was nicht mehr tragen!“

    Doch sie konnte!

    Manche Worte waren einfach so kostbar, dass sie in Samt und Seide gekleidet werden mussten.

    Copyright Barbara Kromphardt

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    Über das Schriftbild der Ärzte – vornehmlich traditionelle Rezepte und Unterschriften betreffend – gehen die Meinungen auch wohlmeinender Betrachter nicht weit auseinander. Den Medizinern wird allgemein eine schlechte und vor allem unleserliche Handschrift attestiert. Das hat Ursachen in der Hatz des beruflichen Alltags, was das erwähnte Urteil allerdings auch nicht mildert. Doch es gibt rühmliche Ausnahmen.

    Mein verehrter klinischer Lehrer Professor August Sundermann – weit bekannter und strenger Ordinarius für Innere Medizin an Erfurts nunmehr erfolgreich beerdigter Medizinischer Akademie, Erzieher vieler Studenten und Ärzte – hatte selbst ein bemerkenswert schönes und deutliches Schriftbild. Zusätzlich fesselte er in seinem Kolleg und bei wissenschaftlichen Vorträgen mit wohlverständlicher Artikulation der Sätze. Zu Ärzten und Studenten, die handschriftliche Texte oder ihre Unterschriften nicht lesbar oder in abstrakter Form zu Papier brachten, sagte er ironisch: „Schämen Sie sich Ihres Namens, dass Sie ihn so unlesbar entstellen, oder können Sie nicht richtig schreiben?“

    Im Übrigen forderte er – wie jeder verantwortungsbewusste Lehrer – generell für alle und von allen eine lesbare Schrift und verständliche Aussprache. „Denn Sprache und Schrift sollen zur Verständigung der Menschen dienen und nicht zur Verschleierung von Identität, Gedanken und Problemen!“

    Womit er nicht nur die Mediziner in die Pflicht nahm. Und, recht überlegt, scheint das Sundermannsche Credo immer mehr an Bedeutung zu gewinnen.

     

    Aus Kardach, Medizin tropfenweise, Peter-Stein-Verlag, Weimar.

    Copyright Dr. Siegbert Kardach

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    Auch unser tägliches Befinden ist gespalten. Einmal in unser eigenes Hoch und Leiden. Zum anderen werden wir stark beeinflusst vom Befinden anderer, die uns unmittelbar begegnen. Manchmal ist dann deren Befinden schon unser eigenes. Nicht, weil wir keinen Charakter hätten, sondern weil andere ihren nicht immer ausgeglichenen Charakter wie einen schweren Schmiedehammer auf unseren sensiblen Amboss der Empfindsamkeiten schlagen.

    Umgekehrt geschehen, würden diese seelischen Schlägertypen schon nach kurzer Zeit zusammenbrechen.

    Dann sähe wohl die kleine Welt um uns herum noch zerstörter und unharmonischer aus. Und dementsprechend auch unser tägliches Befinden.

    Aus Kardach, Medizin tropfenweise

    Copyright Dr. Siegbert Kardach