Kategorie: Prosa

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    Der Deutsche hat zwei sehr unterschiedliche Charakterseiten, die aber eigentümlicherweise zusammengehören. Einesteils neigt er zum unkontrollierten Herrenmenschen, der Weltkriege vom Zaun bricht und menschenmordende, perfektionierte Massenvernichtungssysteme ausklügelt und zulässt.

    Zum anderen leidet er an einem gemischten Anbiederungs-Selbstaufgabe-Selbstverleugnungssyndrom, garniert mit erstaunlicher Klagfähigkeit und Selbstbemitleidsphasen.

    Trost – wenn auch keine Absolution – können wir Deutsche bei einigen bemerkenswerten Menschen unserer Geschichte finden, die sich in bestimmten, charakterfordernden Situationen politisch und privat verweigerten und Widerstand geleistet haben. Diesen verdanken wir eine angemessene Form von Selbstachtung.

    Zum Glück vergisst die internationale Kritik nicht deutsche Dichter, Denker, Musiker, Maler, Wissenschaftler, aber auch Sportler, deren Leben und Leistungen die Welt- und Kulturgeschichte wesentlich bereichert haben.

    Ergo: wenn wir allen Völkern mit notwendigem Respekt begegnen, positive Lehren aus unserer wechselvollen Geschichte ziehen und auch normalen Umgang mit uns selbst pflegen, haben wir Deutsche keinen ersichtlichen Grund, uns nicht zu mögen.

     

    Der Text stammt aus Kardach, Tropfenweise Medizin, Peter-Stein-Verlag, Weimar.

    Copyright Dr. Siegbert Kardach

     

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    „Liebe Kinder“, sprach der Feuervogel zu seinen Enkeln. „Heute erzähle ich euch die Geschichte von der Entstehung der Diamanten.“

    Die Kinder betrachteten aufmerksam das goldene Federkleid der Großmutter, die Phönix gerufen wurde. Großmutter erzählte in jedem Jahr am Abend vor dem Aschermittwoch, dem Tag des Neubeginns des Jahres, an dem ausgelassen gefeiert wurde, eine Geschichte.

    Im letzten Jahr hatte sie von ihrem Bauch erzählt, der, so sagte sie jedenfalls, Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit widerspiegeln soll. Das konnten sich die Kinder gar nicht so richtig vorstellen. Aber es konnte schon sein, denn Großmutter ernährte sich ausschließlich von Tautropfen.

    Im Jahr davor wurde die Bedeutung der Flügel erklärt. Sie stehen in Verbindung zum Wind und vertreiben dunkle Gedanken.

    Und noch ein Jahr früher erfuhren die Kinder von den Füßen, die die Verbindung zur Erde herstellen, und sie erfuhren vom Kopf als Sitz der Tugenden.

    Die Enkel wussten inzwischen, dass ihre Oma in der ihr eigenen Sanftmut und Friedfertigkeit die Gesamtheit der Gegensätze vereinigte und für Harmonie, Frieden und Weisheit einstand, weshalb ihre Gestalt in den alten Zeiten auch das Symbol für die gütige und gerechte Herrschaft der Könige war.

    Die Kinder konnten auch die fünf verschiedenen Farben von Großmutters Federn deuten, die den Elementen zugeordnet waren: Wasser, Erde, Feuer, Luft und Äther. Letzteren, die Seele der Welt, symbolisiert durch die Mondsichel, über der sich eine Krone befindet, atmeten nur die Götter.

    Am beeindruckendsten aber war für die Kleinen, dass Omas Tränen jede Wunde in kürzester Zeit zur Heilung brachten.

    Großmutter fuhr in ihrer Rede fort: „Ihr habt euch bestimmt schon gewundert, dass ich trotzmeines Alters von Zeit zu Zeit jünger als zuvor bei euch erscheine. Das liegt daran, dass ich alle 57 Jahre einen Scheiterhaufen aus wohl riechenden Kräutern errichte, in welchem ich mich dann verbrenne. Bin ich vollständig verbrannt, also gereinigt und geläutert, steige ich aus der Asche verjüngt hervor. Als einmal in einem anderen Land viele große Feuer brannten und meterhoch Asche auftürmten, legten sich die Berge auf die Glut, um sie zu ersticken. Später, als die Natur nachgewachsen war und dort wieder Tiere und Menschen lebten, fand man statt der Asche die edelsten der Edelsteine: Diamanten. Sie sind das Licht der Sonne und der Sterne, unvergänglich, unbezwingbar, vollkommen vollkommen. Sie stehen für die seelische Ganzheit und für absolute Reinheit. Mit ihnen sind Krankheiten zu heilen und Gifte zu neutralisieren. Es gelingt sogar, mit ihrer Hilfe wilde Tiere und Hexen zu vertreiben. Gelegentlich kann ein Diamant seinen Träger unsichtbar machen, was mir allerdings noch nicht gelungen ist.

    Ihr seht also, liebe Kinder, jeder, der verbrennt, wird zu Asche. Ab nicht jeder, der verbrennt, bleibt Asche. Mancher, wie ich, kehrt verjüngt zurück. Und andere werden zu Diamanten.“

     

    Copyright Dr. Jürgen Rogge

     

     

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    Die Paläographie, die Schriftgeschichte oder genauer Lehre von der alten Schrift, ist eine etablierte Wissenschaft, ebenso ein Zweig davon, die Inschriftenkunde oder Epigraphik. Dazu ein kurzer Beitrag.

    Inschriften wurden und werden mit unterschiedlichen Schreibwerkzeugen angefertigt, mit Meißel, Messer, Feder, Pinsel, Stift et cetera, und entstehen auf ganz verschiedenen Beschreibstoffen: auf Tontafeln, Steinen, Metall, Glas, Papyrus, Leder, Haut, Holz. Um das letztere Medium geht es, um Holz, aus dem die Hörsaalbänke gemacht sind.

    Er hatte, nicht zum ersten Mal, die ehrenvolle Aufgabe übernommen, den Mediziner-fasching mit einer Büttenrede zu bereichern, und suchte nach Ideen. Da las er in seiner Zeitung einen Artikel über Sprüche und Texte auf Hörsaalbänken, welcher mit einer groben Unwahrheit schloss: Nur Studenten der Geistes- und Naturwissenschaften würden Kleinkunst im Hörsaal produzieren, Medizinstudenten dagegen täten niemals ihre Hörsaalbänke beschmieren. Bloß einen einzigen Spruch habe der Autor in einem medizinischen Auditorium gefunden: „Lieber eine Vorlesung als gar keinen  Schlaf.“ –

    Es war ein schwerer Affront gegen die gesamte Medizin und ihre Studenten. Er beschloss, seine Büttenrede an dieser Infamie, an diesem Generalangriff auf die literarische Schöpferkraft des medizinisch-akademischen Nachwuchses aufzuhängen und für die Studenten eine Redeschlacht zu schlagen, sind umgekehrt doch auch schon Studenten für ihren Professor in den Krieg gezogen, zumindest in den Glaubenskrieg.

    Die Aufgabe war allemal interessant für einen, der sein halbes Leben mit Studenten zugebracht hat und der deshalb immer auf der Pirsch war nach Informationen, was diese im Innersten bewegt, wie sie ganz eigentlich ticken. Deshalb war er Gesprächen mit ihnen niemals ausgewichen, deshalb ließ er sich sogar von Vertreterinnen derselben auch schon mal verführen, nur deshalb, und nicht etwa aus niedereren Beweggründen, wie missgünstige Kollegen ihm angelastet haben. –

    Er tat das Verrückteste, was er je in seinem Berufsleben angestellt hat: Eines Mittags in den Semesterferien schlich er, mit Stift und Zettel bewaffnet, in den großen Hörsaal und schritt systematisch, eine nach der anderen, von oben nach unten die engen, in langen, durch zwei Treppen unterbrochenen Halbkreisen sich hinziehenden hölzernen Bankreihen ab. Er las, wie in einem offenen Buch, auf den schmalen Schreibpulten all das, was die Studenten in pointierter aphoristischer Kürze, in mitunter durch Piktogramme und Skizzen illustrierten Aperçus zu Holz gebracht, während seine Kollegen und er mit umgekehrt großer und ermüdender Weitschweifigkeit sich vor ihnen abgemüht hatten.

    Was er las, war eine Enzyklopädie, war der ganze Kosmos studentischer Befindlichkeiten, waren politische Losungen, Auf- und Hilfeschreie äußersten Gelangweiltseins, Liebesschwüre, Obszönitäten, tiefsinnige Weltentwürfe und philosophische Traktate, alles vereint und oft dicht nebeneinander, nicht auf Pergament geschrieben, in Gold gedruckt oder in Stein gehauen, sondern notiert zu müßigem Zeitvertreib auf Holz, mit Bleistift, Kugelschreiber, selten auch eingeschnitzt mit einem Taschenmesser.

    Nicht alle Notate eigneten sich für die Bütt, etwa das Dozentenlob: „Sehr erbaulich, das Ganze.“ Schon eher das Gegenteil davon: „Professor N… ist doof.“ Da wird Kollege N… lange zu kratzen haben, bis er das wieder wegbekommt. Überhaupt waren demotivierende Äußerungen am häufigsten vertreten: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt.“ „Die Weisheit läuft dem Menschen nach, der Mensch jedoch ist schneller.“ Vielleicht am hinterlassungswürdigsten die unwiderlegbaren, lapidaren, gewichtigen, bedeutungsschweren Worte: „Hier saß ich.“ Punkt.

    Die abschließende Gesamteinschätzung seiner Recherchen: „Närrinnen und Narren, ich kann ihnen versichern, sie beschmieren ihre Hörsaalbänke genau so, wie die Studenten der anderen Fachrichtungen es tun“, wurde als Ehrenrettung begriffen, begrüßt und mit Beifall quittiert.

     

    Copyright Prof. Dr. Paul Rother

  • Heute war er etwas früher aufgestanden. Er wollte seinen Vater zur Arbeit begleiten. Vor drei Tagen hatte Hubertus Long Moller den Bachelor of Engineering gemacht. Sie hatten gefeiert im schwimmenden Restaurant „Ni Hao“ auf dem Goitzschesee. Es war ein schöner Abend mit Cyber-Music 6.0 und der neuen Droge LMA. Hubertus Long hatte noch am selben Abend mit seinem i-i-i zu Hause angerufen und dem Vater erklärt, dass er nun doch Interesse an dessen Berufsfeld habe. Dann hatte er mit seiner Freundin in Lilli Pilli über Videofone besprochen, ob sie sich nicht heuer zum ersten Mal treffen könnten. Es war schwieriger geworden, seit die Flugpreise nach Australien erneut gestiegen waren.

    Vater Kevin Moller arbeitete seit zwei Jahren bei Xinhua Ltd. in Bitterfeld. Der Investor aus Nanjing hatte geduldig gewartet, bis der große deutsche IT- und Elektrokonzern im Strudel der Eurokrise zusammenbrach und für einen symbolischen Betrag zu erwerben war. Das war in den zwanziger Jahren. Chen Qiang, der neue Boss, hatte bald darauf eine spezielle Entwicklungsabteilung für i-Minding in Bitterfeld installiert. Die Wahl war auf diese Stadt gefallen, weil im Großraum Halle–Leipzig Satellitenstädte mit Migranten aus Indien, dem restlichen Asien und Afrika entstanden waren. Hier konnten bezahlbare Spezialisten für IT leicht je nach Bedarf rekrutiert und gefeuert werden.

    Nach dem Frühstück brachen Vater und Sohn auf. Sie schnallten ihre Fußgänger-Airbags um, die im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz zur Drogenfreigabe Pflicht geworden waren und machten sich auf den Weg zwei Blocks weiter zum Cab-Pool. Unterwegs trafen sie auf einen alten Bekannten. „Hi, Heckenreuther, wie geht es Ihnen?“ „Prächtig!“  „Sie sehen müde aus!“ „Kein Wunder. Bis sechs hatte ich Nachtschicht und dann wollte ich schlafen. Aber seit wir hier die Schulbushaltestelle haben, ist von Montag bis Freitag ein Höllenspektakel, die ganze Viertelstunde lang vor Abfahrt. Es sind nur zehn oder zwölf Kids so von sechs bis zwölf. Aber die drehen vielleicht auf! Minimum 100 Dezibel – dass die Kehlen das aushalten!“ „Ja, und seit dem Kinderlärmgesetz vom Anfang des Jahrtausends müssen wir das auch noch schön finden,“ sagte Kevin Moller. „Naja, Papa,“ meinte Hubertus, „ich glaube, wir haben es auch so gemacht.“ „Ich vermute“, antwortete Kevin mit einem Grinsen, „eure Eltern haben euch nichts beigebracht über Etikette und dass es Dinge gibt, die man einfach nicht tut.“ „So muss es gewesen sein – und wie war es bei dir?“ „Mea culpa – wir haben wohl genauso Randale gemacht.“ „Na, dann waren deine Eltern auch nicht besser – tröstet dich das?“ „Mich vielleicht, aber den armen Heckenreuther nicht. Versuchen Sie doch jetzt noch ein Nickerchen, bis die lieben Kleinen mittags zurückfluten.“ „Ja“, sagte Heckenreuther, „und dann schmeißen sie die Folien vom Pausenbrot und leere Getränke-Paks in unseren Vorgarten. Wozu schicken wir die eigentlich in die Schule?“ „Oh, da muss ich mal lange drüber nachdenken. Na, schönen Tag auch!“

    Am Cab-Pool öffneten sie mit der Chipkarte eine der geparkten Elektro-Kabinen. Mit der fuhren sie zur S-Bahn und mit dieser zum Betrieb, den sie intern „Develocloud“ nannten. Vater Kevin hielt die linke Hand vor den Tür-Sanner. Der ID-Chip unter der Haut am Handrücken öffnete die Tür. Für den Sohn musste er einen Gästepass schreiben. Das ging problemlos, da Hubertus Long schon während des Studiums hier ein Praktikum absolviert hatte. Dann fuhren sie mit dem Lift zum 14. Geschoss und gingen ins Labor des Vaters.

    Er arbeitete am Epikef. Das Projekt genoss die besondere Förderung des Politbüros. Es war eine Weiterentwicklung der Smart-Sheets, jener flexiblen Kleincomputer von der Größe eines Notizzettels. Die Besonderheit der neuen Maschine war ihre Ankoppelung an den Kopf des Benutzers. Die altmodischen Smartphones, die Hubertus Long noch von seinem Großvater kannte, hatten den Nachteil, dass man sie umständlich aus der Tasche kramen, anschalten, antippen und ablesen musste. Außerdem war andauernd der Strom verbraucht, man hätte am besten noch ein transportables Elektrizitätswerk mit sich schleppen müssen. Zudem hatten viele Besitzer das Problem, dass sie die Kästchen vergaßen, verlegten und den halben Tag lang suchen mussten. Oft fehlte das Gerät gerade dann, wenn es am nötigsten gebraucht wurde. Der Epikef sollte alles besser machen. Er wurde direkt am Kopf oder Nacken getragen und durch Körperwärme mit Energie versorgt. Die Befehle wurden über Sprache eingegeben, die Antworten kamen ebenfalls als Sprache über kleine Ohrhörer aus der Hörgerätetechnik. Das war schon ein bedeutender Fortschritt gegenüber archaischen Zeiten, von denen der Großvater zu berichten wusste. Damals, so erzählte er, hätten sie in der Schule noch Fakten auswendig pauken und in den Prüfungen hersagen müssen. Allerdings hatten sie schon – im Gegensatz zu ihren Vorfahren – kein einziges Gedicht mehr auswendig gelernt. Das war ihnen als Fortschritt verkauft worden. Erst in reiferen Jahren hatte er erkannt, dass es eher einen Mangel an geistigem Besitz bedeutet.

    „Siehst du,“ sagte Kevin zu seinem Sohn, „in der vorigen Entwicklungsstufe ging es darum, nicht mehr den Schülern das Wissen nach Quantität ins Gedächtnis zu quälen, sondern sie fit zu machen im Gebrauch einer Maschinerie, die im entscheidenden Moment diejenigen Daten herbeiholt, die man gerade braucht.“ „Und natürlich auch,“ ergänzte Hubertus, „den Import kritisch zu filtern.“ „Genau! Aber jetzt gehen wir wieder einen Schritt weiter. Die Ankoppelung muss lückenlos, unverlierbar und schnell sein.“ „Na ja,“ entgegnete Hubertus, „eure Sprachausgabe ist ja noch ziemlich holprig.“ „Ja, und deshalb beschreiten wir neue Wege. Einen Teil der Information übertragen wir über Hautelektroden, dort oder in der Nähe, wo der Epikef aufgeklebt ist. Es erfordert zwar ein bisschen Training, der Nutzer muss konditioniert werden. Aber das gab es ja früher auch schon. Denk nur mal daran, wie mühsam sich unsere Urahnen an Tastaturen gewöhnen mussten.“ „Schön, nur allzu viel Information werdet ihr über die Haut nicht übertragen können.“ „Ja, da werden noch andere Möglichkeiten gesucht. Darüber kann ich jetzt nicht sprechen.“

    Hubertus schaute sich im Labor ausgiebig um. An den Wänden waren wunderschöne Blumen auf Screen-Folien zu sehen. Pünktlich zu bestimmten Zeiten wurde Blumengießen simuliert – vollautomatisch und ganz von allein. Man konnte aber auch andere Programme je nach Stimmung wählen.  Zuletzt verabredete er sich mit dem Vater für die Mittagspause im Park am See und ging. Auf dem Korridor wäre er fast mit dem Reinigungsroboter zusammengestoßen, der rechnergesteuert und leise schnurrend seine Bahnen zog.

    Mittags trafen sie sich. Sie schlenderten durch den Park und bogen in den Wirtschaftsweg zu den Komposthaufen ab. „Hier gibt es wahrscheinlich keine Mikrofone und Kameras“, sagte Kevin. „Was ich dir vorhin im Labor nicht sagen konnte, ist dieses. Wir haben einen Body in der Neurochirurgie Halle, der an einem direkten Zugangs-Port zum Hirn arbeitet. Das Ganze läuft natürlich unter Tarnung. Offiziell geht es darum, defekte Sinnesorgane wie Auge und Ohr zu ersetzen durch elektronische Prothesen. Die koppeln über operativ eingepflanzte Leitungen direkt ans Hirn an. Damit es keine Infektionen gibt, wird die Empfangsantenne dicht unter die Haut gelegt.“ „Ah, verstehe, es gibt also keine offene Stelle. Raffiniert! Und wo ist der Sender?“ „Der sitzt direkt darüber und überträgt drahtlos durch die Haut.“ „Und euer neuer Epikef hat den Sender vermutlich integriert?“ „Genau so ist es. Wir haben jetzt zwei Aufgaben. Die Mediziner müssen für die Elektroden neue Koppelpunkte im Gehirn finden – je nach Verwendungszweck ganz verschiedene Stellen. Und zweitens werden wir die passenden Programme und Algorithmen entwickeln.“ „Das Dumme ist nur, dass die Installation der Elektrode einen Eingriff bedeutet.“ „Ja,“ sagte Kevin, „das ist nur für die Pilotphase. Wenn wir die richtigen Orte kennen, schicken wir die Signale drahtlos über Interferenzwellen von zwei Epikefs direkt ans Ziel. Die nächste Generation wird der Epikef/!\Twin® sein.“ „Hört sich großartig an. Ich glaube, ich kann mir vorstellen, bei dir mitzuarbeiten.“ Der Vater hörte das nicht ungern. Er schwieg eine Weile, während sie in ein Wiesengelände außerhalb des Parks wanderten. „Ja“, begann er nachdenklich, „es eröffnen sich neue Möglichkeiten. Bei der heutigen Relaisdichte hast du praktisch überall web-Verbindung und kannst auf den weltweiten Datenschatz zugreifen. Wenn die Provider noch ein bisschen an Bandbreite und Tempo zulegen, geht das ganz ordentlich. Nur…“ Hubertus horchte auf: „Nur was?“ „Wer herrscht über die Datenbanken und Provider? Es gibt im Politbüro eine Gruppe um Mao Chun Dong, die schon angefangen hat, in vielen Ländern über Beteiligungen und Aufkauf ganzer Firmen, die Hoheit an sich zu bringen. Das läuft alles über das SID.“  „SID?“ „Strategic Investment Department in der Bank of Chinchan. Die haben Kohle ohne Ende.“ „Meinst du, sie schaffen es?“ „Na ja, das geht langsam und lächelnd und schön im Verborgenen… und dann ist da noch etwas…“ „Was denn nun noch?“ „Sie haben schon eine Schnittstelle vorbereitet, wo sie direkt auf die ethische und politische Haltung der User Einfluss nehmen.“ „Donnerwetter“, Hubertus kratzte sich hinter dem Ohr, „dann möchte ich da doch lieber nicht mitmachen. Andererseits…“ „Andererseits was?“ „Wenn man nicht dabei ist, kann man keinen Einfluss nehmen, wenn, dann doch – vielleicht?“ „Vielleicht, ja, und vielleicht, nein, sogar wahrscheinlich kannst du eines: mit schuldig werden.“ „Du denkst wohl jetzt an den einen Urgroßvater, der bei den Nazis mitmachte in der naiven Erwartung, er könnte irgendetwas zum Besseren wenden?“ „Ja, und an den anderen, dem dasselbe bei den Kommunisten passierte. Die Diktaturen, oder allgemeiner: das Böse im Menschen ist immer gleich, vor fünfzig Jahren, heute und in fünfzig Jahren wieder.“ „Und das Gute, das sich dagegen stemmt, aber auch.“ „Natürlich, da hast du Recht, Hubertus. Anders wäre es ungerecht gegenüber allen Generationen vor und nach uns – wobei nirgends geschrieben steht, dass Geschichte oder Schicksal gerecht sein müssten. In diesem Punkt aber scheint es tatsächlich so zu sein.“ „Ach Papa, man müsste in die Zukunft sehen können.“ „Ich weiss nicht, ob du dir das wirklich wünschen willst. Prognosen bleiben jedenfalls unsicher, weil Veränderungen nicht geradlinig laufen. Nur die ernsten Dinge des Lebens bleiben immer die selben, die Rahmen und die Torheiten wechseln. – So, mein Jung, ich muss jetzt wieder in meine Klitsche, ciao bis heute Abend!“ „Mach’s gut, Papa.“

    Auf dem Heimweg fuhr Hubertus Long über Chinatown zu seiner Mutter Wang Feng. Sie war die dritte Frau seines Vaters und lebte in zweiter Partnerschaft mit Tenzin Tashi mit vier Kindern aus drei Beziehungen. Es war ein fröhlicher Haushalt, alle verstanden sich ganz gut und ließen einander ziemlich viel Freiheit. Allerdings waren zwei seiner Achtel-Schwippgeschwister in Psychotherapie. Irgendwie fühlten sie sich durch den Rost gefallen und hatten Verhaltensstörungen. Bei der Hälfte ihrer Schulfreunde war es nicht anders. Der viel jüngere Felix hatte mal zu Hubertus gesagt: „Ich beneide dich um deinen Vater.“ „Na gut, Felix, du hast dafür Muttern.“ „Könnte man nicht beide haben?“ „Früher kam das öfter vor. Aber heute … kennst du noch eine Archefamilie mit Vater, Mutter, Kind, Kind, Kind?“ „Nee, bestenfalls Mann, Frau, Drittauto, Motorboot, Harley und drei Haustiere.“  „Felix, das kann ich dir sagen, ein freundliches Patchwork ist immer noch besser als eine kranke Zwangsgemeinde. – Schau doch mal, ob der Lieferwagen noch vor der Haustür steht.“ Felix ging Blumen gießen und schaute nebenbei nach unten. „Ja, «Facility Service Grötzschke» steht da.“ „Steht der im Branchenbuch?“ Felix tippte ins i-i-i und sagte nach wenigen Sekunden „Fehlanzeige.“ Dann flüsterte er: „Klarer Fall, deshalb dreht sich auch der Werbewürfel auf dem Dach nicht mehr.“ Er zwinkerte Hubertus zu und lief auf leisen Sohlen die Treppe hinunter. Vom Hinterhaus gelangte er in die Kanalisation und von dort zu dem Gully direkt unter dem Wagen. Die Spezialausrüstung für derartige Fälle hatte er dabei. Er befestigte eine Schnur mit leeren Blechdosen und einen angebohrten Topf mit hellroter Leuchtfarbe unter dem Wagen. Als Draufgabe presste er eine Kartoffel in den Auspuff. Dann verschwand er, wie er gekommen war, lief zur nächsten Straßenecke und gab der Politesse einen Hinweis wegen des Parkverbots. Als sie sich dem Wagen näherte, ergriffen die Kerle mit dunklen Brillen und falschen Bärten die Flucht. Der Wagen startete mit einem Knall und fuhr mit Getöse und gut sichtbarer Farbspur zum Depot. Der Boss der Außenstelle von Büro 610, zuständig für Tibeter, sonstige Minderheiten und Dissidenten, war stinksauer.

    „Magst du etwas essen, Hubertus?“ fragte Wang Feng. „Ja, gerne.“ „Ich habe noch etwas Chop Suey übrig. Lass dir’s schmecken.“ Tenzin Tashi setzte sich zu ihm. „Na, mein Junge, was wirst du jetzt machen, als frisch gebackener Bakkalaureus?“ „Ich gehe vielleicht in den Develocloud. Der neue Epikef ist eine spannende Sache. Was meinst du, wie lange wird die Branche noch wachsen? Davon hängt ja wohl die Zukunft ab.“ „Wenn du in die Zukunft schauen möchtest, denke zuerst an das alte Gedicht:

    Prognose

    Meistens ist nicht völlig klar,
    wie es einst gewesen war,
    und es herrscht der grösste Zwist
    ob der Lage, wie sie ist.
    Um so mehr ein jeder irrt,
    der voraussagt, wie es wird.

    Wenn du nun Wachstum in die Höhe meinst, was die Gewinne betrifft, wird es nicht bis in den Himmel gehen. Was wir längst mehr brauchen, ist, wenn du so willst, Wachstum in die Breite, Wachstum an gerechter oder sogar humaner Verteilung. Aber die Philosophie unserer Führungsmacht lernt in diese Richtung nur langsam. Die sind noch beim vorigen Kapitel: Wenn du sieben Schnitzel hast, kämpfe um das achte. Dabei täte es ihnen selber besser, wenn sie für das erste Schnitzel des armen Nachbarn eintreten würden.“ „Ja, ihr Tibeter könnt ein Lied davon singen.“ „Die lieben Nachbarn denken so: wenn es einem schlecht geht, ist er selber schuld, vielleicht wegen eines früheren Lebens. Wenn überhaupt jemand helfen soll, dann die Familie. Soziales Denken im größeren Rahmen fällt ihnen schwer.“ „Das sind aber keine rosigen Aussichten!“ „Na ja, wie man’s nimmt. Es werden immer nur die Kinder gerettet, die in den Brunnen gefallen sind – da liegt schon noch Hoffnung.“ „Im Brunnen? Du meinst, es muss erst schlimmer werden, ehe es besser wird?“ „In gewisser Weise ja. Wenn sie erkennen, dass eine andere Ordnung ihnen selber nützt, kann es statt nur vorwärts auch aufwärts gehen.“ „Was meinst du, wo haben wir den größten Nachholbedarf mit dem, was du Breitenwachstum nennst?“ „Die fünf wichtigsten Baustellen, auf denen wir schon seit – sagen wir mal – über 250 Jahren strampeln, sind: wirtschaftliche Gerechtigkeit, Gleichachtung der Frauen, Respekt gegenüber den Menschenrechten, ein bisschen mehr Wahrhaftigkeit und…“  „…und die Bewahrung der Natur?“ „Genau, Ökologie. Einfacher gesagt: Säge nicht an dem Ast, auf dem du sitzt.“ „Ich glaube, da liegst du richtig. Wenn ich die Rückschritte und bescheidenen Fortschritte der letzten fünfzig Jahre anschaue, werden wir wohl auch in den nächsten fünfzig nicht allzu weit kommen.“ „Ach, mein lieber Long, wir werden nie damit fertig werden. Trotzdem ist es das einzige, was sich lohnt, jeden Tag neu anzupacken.“ „Komisch, so etwas Ähnliches hat mein Vater heute Mittag auch gesagt.“  „Ein kluger Mann, ich mag ihn. Grüß ihn von mir.“  „Klar, ciao Tashi, ciao Mama, danke für das Essen, bis bald mal wieder.“

    Hubertus Long fuhr nach Hause. Als er bei Heckenreuther vorbeikam, sammelte er aus dem Vorgarten sechs Kugeln zusammengeknüllte Alufolie und vier leere Paks Blue Bull. Vielleicht hat er eine kleine Freude, dachte sich Hubertus – oder er ist enttäuscht, weil seine Welt nicht mehr stimmt.

    Zu Hause angekommen setzte er sein Bewerbungsschreiben an Xinhua Ltd. auf. Abends kam Kevin nach Hause. „Was wollen wir essen?“ „Du, ich hab schon bestellt. In zehn Minuten kommt über den Pneumotube eine Käseplatte mit Salat.“ Fast auf die Minute genau bekam Hubertus ein Signal auf das i-i-i. Er fuhr in den dritten Stock zur Rohrpostzentrale und holte das Essen. Nach dem Mahl schauten sich beide einen uralten Film aus der Mottenkiste an. Sie schalteten den 4D-TV spherosense um auf Flachbild-2-Ton und genossen nostalgische 109 Minuten bei „Zettl“. Dazu tranken sie Wippraer Bier. Das war wegen seiner Wasserqualität inzwischen zum Geheimtipp geworden. Der Film handelte von Charakterlosigkeit und Karrieregeilheit im Politikbetrieb. Als er seinerzeit herauskam, war er verrissen worden, dann wurde er Kult. Scheinbar traf er doch mehrere Nägel auf die Köpfe. „Sag mal, Vater, der Streifen ist doch jetzt um die fünfzig Jahre alt?“ „Ja, das kommt hin.“ „Und es hat sich nichts geändert?“ „Nichts Wesentliches jedenfalls.“ „Na, dann gute Nacht – für die nächsten fünfzig!“

     

    Erschienen in: 2062: Eine Anthologie. Halle: 2012, Projekte-Verlag Cornelius
    Mit freundlicher Genehmigung des Verlages.
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    Hier hinter dem großen Häuserblock auf einem Ödland blüht Jahr um Jahr ein Apfelbaum mittleren Alters.

    Zur gleichen Zeit, da er über und über mit rosa Knospen und feierlich weißen großen Blüten wohl zu Tausenden übersät ist, faulen unter seinen Ästen seine Früchte des Vorjahres, die nicht aufgehoben worden sind. Keiner sieht es ihm an, ob er etwa krank ist? Seine Blüten duften zurückhaltend, sehr süß und wirken in der Vielzahl ganz wunderbar auf mich, vergleichbar mit der ganz stillen, ganz innigen Hochzeit eines Paares ganz allein für sich, ohne Gäste. Die Äste hängen tief herab bis ins Gras und die Brennnesseln sind beinahe schwarz und von messingfarbenen Flechten überwachsen. Selbstverständlich summen ein paar rundliche Hummeln ihre Harmonie in Moll in der großen Baumkrone.

    Warum eigentlich ruft es in mir Parallelen zum Menschen ins Denken, warum „Gleichnis“? Es ist ganz einfach:

    Der Baum kann gar nicht anders als zu blühen und Früchte zu spenden, einfach so. Da gibt es Menschen, die ähnlich sind: Immer aufs Neue müssen sie blühen, auch wenn es nutzlos scheint, sie sind die „Blütenmenschen“ oder „Menschenblüher“. Sie blühen um der Schönheit willen, nur deshalb. Wenn genug Hummeln da sind, ja, dann kann man sich einbilden, der blühende Baum hätte seine Sprache gefunden, natürlich als ein Lied, ein ganz leises, süßes, voll Hoffnung und Zukunft, sicherlich erklingt sein Lied in den Sprachen jener Länder, in denen Apfelbäume vorkommen, ja sicherlich.

    Unsere Familie besteht aus jenen bezeichneten Blütenmenschen und Menschen-blühern, jeder für sich schafft in seinem Blühen Schönheit und Poesie, Lieder und Harmoniesymbole. Wie auch genau so bei jedem Apfelbaum geht das nur in Frieden und in einem gewissen geschützten Rahmen. Die Schönheit des Blühens und das Hervorbringen von Schönem jeglicher Gestalt braucht Beschützende. Das Blühen fragt auch gar nicht nach Krankheiten seines Wirtes, nach all seinen Sorgen oder so. Sagt mir doch, warum blühen immer wieder und wieder die gleichen Bäume und die gleiche Art von Menschen und wann wird es sein, dass Schönes sich selbst schützen können wird und von allen geschätzt und gesehen werden wird, einfach um der Schönheit selbst willen?

    Habe ich allein die Angst, dass Schönheit nicht so zählt?

     

    Copyright by Dr. Ruth Berles-Riedel

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    Schon als Kind hat Peter unter den gnadenlosen Hänseleien seiner Mitschüler gelitten. Bei jeder Gelegenheit verspotteten sie ihn wegen seines Übergewichts. Er versuchte, seine Vorliebe für Marzipan zu verbergen. Aber einmal, als er kurzatmig hinter dem Fußball herlief, rief ein Klassenkamerad: „Du brauchst noch ein paar Marzipankugeln, dann wirst du schneller!“ – So hatte Peter seinen Spitznamen weg. Und als dann auch noch einer der Kameraden mit ihm in die Hotelfachschule ging und Peters empfindlichsten Punkt preisgab, wurde Peter dort oft nur Marzipankugel oder in der Hektik des täglichen Betriebs Marzipan gerufen. Peter aß Marzipan in allen Variationen, um sich nach den Kränkungen wohler zu fühlen. Dieser weich schmelzende Geschmack verschaffte ihm wenigstens vorübergehend ein wonnevolles Gefühl der Zärtlichkeit und inneren Ruhe, wenn die geifernden Kollegen und die jungen Mädchen ihn mit abschätzigen Blicken und provozierenden Bemerkungen beleidigten.

    Deshalb hatte er sich eine besonders freundliche, ja fast unterwürfige Art des Umgangs angewöhnt, nicht nur die Höflichkeit, die zum alltäglichen Geschäftsgebaren in der Gastronomie gehört. Er spürte jeden Tag, wie er sich mit der frisch gestärkten Kellnerjacke die dringend nötige Sicherheit anzog und mit der gebügelten weißen Schürze seine Beleibtheit bedeckte, um mehr Beliebtheit zu gewinnen. Er versteckte den angegessenen Schutzpanzer, der ihn vor den Schlägen der Mitmenschen bewahren sollte, so gut es ging. Mit dieser hohen Empfindsamkeit für Schwächen und Verletzlichkeit betreute er auch die Gäste in dem vorzüglichen Lokal, zu dessen Oberkellner er mittlerweile aufgestiegen war.

    Seit einem Jahr kam regelmäßig samstags ein älterer Herr mit seiner jungen Frau zum Abendessen. So attraktiv sie war mit ihren schlicht-eleganten und eng anliegenden Kleidern auf der verführerischen Figur und den weich gewellten, schulterlangen braunen Haaren, die Peters Fantasie zu kühnen Tag- und Nachtträumen verleitete, so demütigend verhielt sich der Mann ihr gegenüber. Bei jeder Gelegenheit nörgelte er an ihr herum, wies sie beim Essen zurecht, kritisierte ihre Aussprache und machte sich über das kesse Lächeln lustig, das Peter verzaubert hatte. Diese groben Unhöflichkeiten waren für Peter schwer zu ertragen. Er tarnte seine Wut über den Mann und seine heimliche Zuneigung für dessen Frau hinter einer antrainierten Fassade von Höflichkeit und Dienstbereitschaft.

    Was er aber nicht verbergen konnte, war das Leuchten in seinen Augen, wenn die Dame ihn beim Kommen und Gehen mit einem geradezu herzlichen Blick grüßte. Peter musste darauf achten, dass seine Freude darüber nicht allzu offensichtlich und verräterisch wurde.

    Und war es Zufall, dass diese sonst so achtsame und wohl erzogene Dame die Serviette vom Schoß ihres elegant geschnittenen Kleides rutschen ließ? Sie berührte Peter im flüchtigen Vorbeigleiten mit ihren schlanken Fingern an der Hand, als er mit eiliger Geste die Serviette vom Boden aufhob und ihr mit leicht errötetem Gesicht reichte. War das ein Zeichen der zarten Annäherung? Täuschte er sich auch nicht? Es konnte doch gar nicht sein, dass diese vornehme Dame – und dazu noch in Gegenwart ihres Mannes! – ihm, dieser abstoßenden Marzipankugel, Sympathie zeigte! Und doch schwankte er zwischen bangem Hoffen und tief sitzendem Selbstzweifel. Er spürte ihre Zärtlichkeit, sah ihren kurzen und doch innigen Blick, der sofort kalt wurde, wenn er in die trägen Augen des Ehemannes traf.

    Immer wenn die Sekretärin des Mannes einen Tisch für das Paar reservierte, begann Peter auf den sanften Wolken der Vorfreude zu schweben, weil er dann wieder seinen weiblichen Lieblingsgast am angestammten Platz bedienen und ihre Nähe genießen durfte. Peter hatte mehrfach gehört, wie der Mann seine Frau mit Helene ansprach. Und Peter bemerkte, dass er in Gedanken längst nur von Helene sprach und sie nicht mehr mit ihrem Familienname in Verbindung brachte. Zu der offiziellen Anrede musste er sich im Restaurant ganz bewusst überwinden, um ja keine Indiskretion oder Unhöflichkeit zu begehen.

    Eines Tages, als Peter an der Kasse etwas buchte, hörte er einen leisen, aber unüberhörbar scharfen Wortwechsel zwischen dem Paar. Er spitzte seine Ohren, um zu lauschen, aber er hörte nur, wie Helene ihren Mann anzischte: „Na, dann eben nicht!“

    Der Ehemann verlangte kurz angebunden die Rechnung, bezahlte, und das Paar verließ rasch das Lokal. Dabei eilte der Mann achtlos voraus, sodass Peter Helene den Mantel reichen, galant die Tür öffnen und sich besonders freundlich verabschieden konnte: „Es war sehr schön, Sie wieder als Gast zu haben!“, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und war sich bewusst, dass er nur Helene und nicht ihren Mann meinte. Offensichtlich hatte sie das auch so verstanden, denn sie nickte, lächelte in ihrer unwiderstehlichen Art und flüsterte: „Ich komme auch gern zu Ihnen!“ Und ganz leise, sodass Peter es gerade noch hören konnte, fügte sie hinzu: „Tut mir leid wegen gerade!“ Dann drehte sie sich um und ging in der klirrenden Januar-Kälte zum Auto.

    Peter blieb etwas verwirrt zurück. Sie kommt gern zu mir! Sie hat meine Hand berührt! Und dieser Blick! Sogar mehrfach! Peter lag lange wach in dieser Nacht und wollte seiner Fantasie freien Lauf lassen, aber die anerzogene Disziplin hemmte ihn, sich Wunschbilder auszumalen oder hoffnungsvolle Gefühle zuzulassen.

    Dann geschah etwas Unerwartetes: Das Paar kam nicht wieder. Peter empfand Helenes Ausbleiben als schwer zu ertragende Trennung. Er schaute sogar in ruhigen Momenten das Telefon an und erwartete mit dem nächsten Anruf die Reservierung für Samstag. Peter versuchte immer, den Platz für Helene freizuhalten. So vergingen einige Monate, in denen Peter sich mit Erinnerungen an sie tröstete.

    Eines Tages, als er im warmen Frühsommer beim Einkaufen war, sah er sie auf dem Gehsteig entgegenkommen: Das lange Haar mit einem roten Stirnband gefasst, ein roter, eng anliegender Sommerpulli, ein weißer weiter Rock und die schlanken Beine in passend roten, halbhohen Schuhen, eine weiße Tasche hing locker über der Schulter. Sein Herz schlug schneller, seine Schritte beschleunigten sich. Er spürte, wie eine Welle der zärtlichen Freude seinen ganzen Körper überrollte und erwärmte. Dann ging er entschlossen auf Helene zu und sah ihren erfreuten Blick, als sie ihn wahrnahm. Sie blieben voreinander stehen. Nach einem kurzen Moment der Stille, in der nur die beiden Augenpaare ein Glückslied sangen, hörte Peter wie von fern seine eigene zärtliche Stimme: „Es ist wunderbar, dass ich Sie sehe. Ich habe Sie sehr vermisst.“ –

    Helene neigte den schlanken Kopf zur Seite und lächelte in ihrer charmanten Art, die Peter immer verzückt hatte: „Ich freue mich auch!“ Dann deutete sie auf ihren rechten Ringfinger, wo Peter keinen Ehering mehr sah und fragte: „Können Sie es so verstehen?“

    Peter holte etwas erschrocken Luft. Es klang wie ein erleichterter Seufzer: „Oh ja, das kann ich gut verstehen.“ Bevor er darüber nachdenken konnte, deutete er auf die freien kleinen Tische des Straßencafés neben sich: „Darf ich Sie zu einem Cappuccino einladen?“ – Sie strahlte ihn an: „Ja gern, warum eigentlich nicht!“

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    Ein Rabe, ein Hase, ein Fuchs und ein Schwein,
    die fühlten sich einsam und so allein.
    Der Fuchs lud sie alle zum Feiern ein:
    den Raben, den Hasen, sich selbst und das Schwein.

    Was wollt ihr speisen, fragt er galant
    und reicht dem Schwein seine Vorderhand.
    Was ihr auch wollt, alles kommt frisch
    aus unseren Landen gekocht auf den Tisch.

    Der Hase nähert sich froh aus dem Feld.
    Ich hätte gern Bier und Salat bestellt.
    Gern, sagt der Fuchs, das mache ich Dir.
    So kommst Du als erster zum Fest zu mir.

    Der Rabe fliegt krächzend vom Schornstein herbei.
    Ich wünsche gebratenen Hasen mit Ei.
    Gern, sagt der Fuchs, ich bin schon dabei.
    Du bist mein Gast mit der Nummer zwei.

    Das Schwein grunzt: Vogel, gebacken in Teig,
    garniert und gepfeffert mit Thymianzweig.
    Das wäre ein Riesenfestessen für mich.
    Sag aber, Fuchs, was kochst Du für Dich?

    Tja, was sag ich Dir auch?
    Ich wünsche mir Wein, fetten Schweinebauch.
    Vielleicht auch ein Schnitzel, garniert mit viel Kohl,
    dann wär’s mir beim Feste so richtig wohl!

    Der Hase flüchtet zurück in das Feld
    Und denkt sich, ich bin für den Raben bestellt.
    Der Rabe krächzt, das ist so gemein,
    ich bin nur das Futter für das dämliche Schwein.

    Das Schwein meint, ich bin doch nicht dumm,
    geh zu dem Fest und der Fuchs bringt mich um!
    Alle rannten nach Haus und blieben allein:
    Der Hase, der Rabe, der Fuchs und das Schwein.

     

    Copyright Prof. Dr. Dr. Kayser

     

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    Unsere Seniorengruppe „Hirnjogging“ lässt ihre Mitglieder auch immer mal von Ausflügen oder Urlauben berichten, die sie gemacht haben.

    Wir treffen uns an jedem Donnertag. Die Leitung hat Frau Ziegenbein übernommen, die, wie ich finde, auch noch so aussieht wie sie heißt.

    Heute berichtete Frau Ziegenbein selbst von einem Ausflug am 1. Advent zum Weihnachtsmarkt nach Annaberg-Buchholz. Das liegt gleich hinter Chemnitz im Erzgebirge, wo vor ein paar hundert Jahren Silber gefördert wurde.

    Frau Ziegenbein besuchte auch die Kirche Sankt Annen und war von den dortigen Reliefs „Lebensalter“ ganz begeistert.

    Auf der einen Seite in der Kirche sind zehn Frauen abgebildet, die erste zehn  Jahre alt, die letzte 100 Jahre alt. Die Veränderung wurde alle zehn Jahre festgehalten. Und zu jedem Bild und Alter wurde noch ein Tier abgebildet.

    Auf der anderen Seite in der Kirche ist das ebenso mit den Männern gemacht.

    „Was meinen Sie denn: Welches Tier würden Sie aussuchen für einen Mann von sechzig Jahren?“

    Die Männer der Gruppe empörten sich. Zuerst sollten die Frauenbilder besprochen werden.

    Frau Ziegenbein und die Frauen hatten nichts dagegen.

    „Mit Sechzig“, sagte Richard Beerenbeißer zögerlich, „ja, eine Taube ist, glaube ich, nicht richtig. Die Zeit ist wohl vorbei.“

    „Na“, sagte Wilhelm Dörsingmann, „da kommt es mit einer Glucke schon eher hin.“

    „Oder mit einer Eule“, grinste Friedrich Schlaftrinker.

    „Dann kannst du auch gleich eine Fledermaus nehmen“, meinte Paul Trostbeutel.

    „Vielleicht ist eine Elster das Richtige“, vermutete Heinz Tiefschneider, „von wegen Schmuck und so.“

    Emil Heißbaum dachte an Singvögel: „Ich bin für eine Krähe oder Amsel.“

    Doktor Pötter hatte lange überlegt: „Eine Gans könnte zutreffen.“

    Die Frauen waren mit den ganzen Vögeln nicht so richtig einverstanden.

    Doktor Pötter wiederholte: „Das kann nur eine Gans sein. Mit den Nachtigallen ist es doch wohl schon lange vorbei.“

    Frau Ziegenbein: „Und warum gerade eine Gans?“

    „Naja,“ meinte Doktor Pötter, „eine Gans ist doch ein schönes Tier. Sie ist niedlicher als Gössel und gibt einen guten Braten zu Weihnachten ab. Sie schnattert gerne mit anderen Gänsen, ist aber auch bissig, kennt die Gefahren und schlägt Alarm. Die ältere Frau wärmt mit ihrer Erfahrung die Kinder und Kindeskinder wie die Gans mit ihren Federn, die uns jede Nacht zudecken.“

    „Ja, das klingt gut“, sagte Paul. „Als Braten, hat meine Großmutter gesagt, ist die Gans ein närrischer Vogel: Für eine Person ist das zuviel, für zwei zu wenig.“

    „Mit den Federn und dem Bett hast du recht“, überlegte Emil. Vor den Gänsen muss man den Hut ziehen. Sie haben schon mehr Menschen kuriert als alle Doktoren zusammen.“

    „Und sie haben Plattfüße wie die Menschen“, machte sich Heinz bemerkbar.

    „Sehr schöne Gedanken“, lobte Frau Ziegenbein. „Eine Gans ist auch richtig. Na, wer sollte das wohl nicht heraus bekommen, wenn nicht unser Nervendoktor Pötter.“

    „Was fällt Ihnen denn sonst noch ein, wenn sie Gänse und Menschen in Verbindung bringen?“

    Nun riefen alle durcheinander.

    „Wenn einer auf der Geige übt, heißt es: Die Wildgänse schreien.“

    „Besser als gar nichts, sagte der Fuchs, und lag am Gänsestall.“

    „Gänsewein ist der beste Wein.“

    „Zwei Weiber und eine Gans machen zusammen schon einen Jahrmarkt aus.“

    „Das ist eine schlechte Gans, die nicht zum Ganter geht.“

    „Nun ist es genug“, sagte Frau Ziegenbein. „Oder hat noch einer einen ganz wichtigen Beitrag? Ja, Sie Herr Dörsingmann?“

    „Ich habe noch ein Rätsel für Kinder: Auf welcher Seite hat die Gans die meisten Federn? Antwort: Auf der Außenseite.“

    „Hm“, machte Frau Ziegenbein. Wir kommen nun zu den Männern mit sechzig. Welches Tier passt wohl dazu?“

    „Ja“, fing Erna Leisefeder an, da fällt mir ein Esel ein.“

    „Es kann auch ein Ochse sein“, meinte Gertrud Weinschäfer.

    „Oder ein Bock“, überlegte Marie Steinschlaf. „Aber mit sechzig? Das ist wohl schon zu alt, jedenfalls für einen guten Bock.“

    Emma Sauerfeldt konnte sich mit einem Fuchs anfreunden. Der ist klug, vorsichtig, aber auch hinterlistig und verschlagen. Er kann seine Kräfte richtig einteilen. „Also ein Fuchs.“

    Ida Wurzelnass war abwägend. „Ein Fuchs ist nicht schlecht. Aber noch mit sechzig? Ich glaube, ein Wolf passt besser. In diesem Alter hat er es zu etwas gebracht. Und das verteidigt er mit Mut, Kraft und Klugheit. Er ist auch zu Geld gekommen, wenn die Inflation ihm das nicht wieder nimmt. Es stellt sich natürlich auch die Frage, ob er abgeben kann von dem, was er besitzt. Er ist nicht mehr so bissig wie vor zwanzig Jahren, aber noch nicht so angepasst wie ein Hund.“

    Frau Ziegenbein: „Ja, Wolf ist richtig. Was fällt Ihnen dazu noch so ein?“

    „Wenn Neumond ist, hat der Wolf den Mond aufgefressen.“

    „Wo der Wolf liegt, dort beißt er nicht.“

    „Auch, wenn du die Schafe gezählt hast, beißt der Wolf sie trotzdem.“

    „Wer sich zum Schaf macht, den frisst der Wolf.“

    „Die alten Propheten sind tot. Und die neuen frisst der Wolf.“

    „Beim Ringwechsel soll der Mann still zu sich sagen: Ich der Wolf, du das Schaf. Dann führt er das Regiment.“

    „Wenn man sich einen Wolf gelaufen hat, soll man sich an der Stelle einen Salzhering durchziehen.“

    Das war nun der Punkt, wo Frau Ziegenbein sich wieder einklinkte.

    „Da haben wir doch allerhand Gedanken zusammen bekommen. Und das waren erst die Tiere für die Sechzigjährigen. Wir könnten uns also, wenn wir wollten und die Zeit dazu hätten, glatt zehn Stunden mit dem Thema befassen.“

    Ida fragte: „Welches Tier ist denn da in der Kirche für die Siebzigjährigen vorgesehen?“

    „Ja, meine Damen“, sagte Frau Ziegenbein und holte tief Luft, „das ist für die Frauen ein Geier.“

    Die Männer riefen im Chor: „Und für uns?“

    „Für Sie ist das ein Hund.“

    „Und für achtzig?

    „Eule und Katze“.

    „Und für neunzig?“

    „Fledermaus und Esel.“

    „Und für hundert?“

    „Da gibt es keinen Unterschied mehr: Sensenmann für Frau und Mann. Bei hundert sind wir am Ende angelangt.“

    Doktor Pötter murmelte: „Oder am Anfang.“

     

  •  

    1.

    Wohin man sich auch wendet, man trifft immer wieder auf Lehrer. Es gibt kein Entrinnen.

    Meine ersten Lehrer waren Frau Barth und Herr Möller in einem kleinen Dorf nahe einer kleinen Kreisstadt. Wir schrieben das Jahr 1947. Sie unterrichteten die erste und zweite Klasse in einem Raum, insgesamt wohl etwa 60 Schüler. Wenn sie der ersten Klasse etwas beibrachten, beschäftigten sie die zweite Klasse zum Beispiel mit Schreiben. Und umgekehrt. Die guten Schüler der ersten Klasse beherrschten dann am Ende des Schuljahres auch den Lehrstoff der zweiten Klasse. Und die guten Schüler der zweiten Klasse langweilten sich, weil sie ja schon alles wussten.

    Frau Barth war alleinstehend. War ihr Mann im Krieg geblieben? Ab und zu kaufte sie bei meiner Großmutter Eier. Solche Beziehungen, sagte meine Mutter, würden mir nur nutzen können.

    Herr Möller hatte im Krieg ein Bein verloren. Nun hatte er ein Holzbein als Ersatz, womit er humpelte. Er hat uns das Holzbein nie gezeigt. Dabei waren wir doch neugierig, wie so etwas funktioniert.

     

    2.

    Frau Barth war eine kluge Frau. Als sie einmal zum Eierholen kam, fragte sie mich, ob ich denn wüsste, was mein Name, Rogge, eigentlich bedeutet. Na ich konnte es mir denken:

    „Das kommt von Roggen, dem Korn, das bei uns wächst”.

    „Ja”, erklärte sie mir, “da hast du recht. Weißt du denn auch, dass man die ersten Roggenehren, die man im Sommer sieht, durch den Mund ziehen soll? Das hilft gegen Fieber.”

    Ich wusste das nicht, aber ich fragte: “Haben Sie schon einmal den Roggenfuchs und den Roggenwolf gesehen?”

    Frau Barth verneinte.

    “Der Roggenfuchs sitzt in der letzten Garbe und der Roggenwolf ist das Tier, das man in den Wellen des wogenden Korns sehen kann.”

    “Woher weißt du das denn”.

    “Von meiner Oma. Sie hat es mir bei der letzten Roggenernte erzählt”.

    “Ein kluger Junge”, sagte Frau Barth zu meiner Mutter.

    “Ja”, antwortete diese.

    Und ich musste an den ersten Schultag denken, als meine Mutter gesagt hatte: “Wie komme ich nur zu diesem Kind!”

    Wir sollten auf der Schiefertafel Kreise zeichnen, was mir nicht so gelang, wie ich einen Kreis kannte, nämlich rund.

     

    3.

    In späteren Jahren habe ich nachgelesen, dass man Hexen dann erkennen kann, wenn man drei heile Roggenkörner in einem Brot findet. Das ist mir nie gelungen.

    Und dass man eine Warze mit drei Roggenähren bestreichen soll, habe ich auch nicht gewusst. Diese hängt man dann in den Schornstein. Dann würde die Warze weggehen. Dieses Verfahren praktizierte ich mit Erfolg.

    Und meine Oma legte drei Roggenähren unter das Butterfass. Das half gegen Verhexung.

    Unsere Butter schmeckte immer besonders gut.

    Und meine Tante Marie erzählte, dass eine junge Frau eine doppelte Roggenehre nicht pflücken soll, sonst bekommt sie Zwillinge. Das habe ich Brigitte erzählt, meiner Freundin in der ersten und zweiten Klasse.

    Sie wollte aufpassen.

     

    4.

    Nachdem Frau Barth mir klar gemacht hatte, dass alle Namen eine Bedeutung haben, fragte ich sie, was denn ihr Name, also Barth, bedeutete. Hatte das was mit dem Bart der Männer zu tun?

    “Ja”, berichtete sie. “Der Bart der Männer gehört zu ihnen wie der Schwanz zum Hund. Er ist in seinen verschiedenen Formen Schmuck, Nistplatz, Speisekammer und Tarnung. Manche Männer bringen sich hinter ihm in Deckung. Ein langer Kinnbart ist ein Zeichen von Alter und Lebenserfahrung. So heißt es denn auch: Der muss etwas wissen; dessen Bart ist durch einen steinernen Tisch gewachsen. Und von sinnlos Betrunkenen sagt man: Der kann nicht mehr über den Bart spucken. Wenn man jemandem schmeichelt, geht man ihm um den Bart.”

    “Aber warum haben Frauen keinen Bart?”

    “Weil sie den Mund nicht so lange still halten können, wie das Beschneiden des Bartes dauert. Ein Mann, der ein Mädchen zum Kuss auffordert, kann schon mal sagen: Mädchen, komm und jag mir die Flöhe aus dem Bart. Und wenn ein Mann bartlos ist, heißt es: Der hat einen Bart wie ein nacktes Gössel.”

    Ich dachte an Brigitte und fragte: “Kratzt oder sticht denn so ein Bart nicht, wenn man sich einen Kuss gibt?”

    Frau Bart lachte: “Wenn der Kuss nicht schmeckt nach Priem und Bart, hat die ganze Küsserei keine Art.”

    Ich fragte weiter: “Kann man am Bart denn sehen, ob jemand klug oder dumm ist?”

    Frau Bart: “Auch den Dummen wächst der Bart. Sonst würde man sie gleich erkennen.”

    “Eine Frage habe ich noch”, sagte ich. “Es gibt doch aber Männer, die keinen Bart haben, wie kommt denn das?

    Die Antwort von Frau Bart war: “Wenn ein Junge mit dem selben Taufwasser getauft wurde, wie vor ihm ein Mädchen, bekommt er keinen Bart.”

    Das habe ich Brigitte weiter gesagt.

     

    5.

    “ Wenn alle Namen eine Bedeutung haben”, sagte ich, “dann bedeutet der Name von unserem Lehrer Möller, dass es sich um einen Müller handelt.

    “Ja”, antwortete Frau Barth, “das besprechen wir beim nächsten Mal, ich muss noch den Unterricht vorbereiten”. Komisch, erst erzählt sie lang und breit, und dann hat sie plötzlich keine Zeit.

    Ich wollte aber doch mehr wissen zum Namen von Herrn Möller.

    So fragte ich erst meine Mutter und dann meine Oma, aber die hatten auch keine Zeit. Also ging ich zu meiner Tante Marie, sie wohnte gegenüber von der Schule.

    “Tja”, sagte sie, “die Müller gelten, natürlich nicht alle und nicht der aus unserem Dorf, als unehrlich. Sie werden Mehldiebe genannt.”

    “Aber warum?”

    Da gibt es verschiedene Ansichten. Es heißt zum Beispiel, dass der Müller von der Katze die Milch aufgesogen hat. Dadurch hat er das Mausen gelernt.”

    Und plötzlich lachte Tante Marie. “Weißt du, warum der Storch nicht auf der Mühle baut? Weil er Angst hat, dass der Müller ihm die Eier stiehlt.”

    “Da hat Herr Möller aber keinen schönen Namen”, erklärte ich.

    “Es kommt nicht auf den Namen an”, sagte Tante Marie, “sondern auf den Menschen, der ihn trägt. Ich meine, ob er ein guter oder ein böser Mensch ist. Dein Lehrer hat ein gutes Herz. Er hat im Krieg ein Bein verloren und beklagt sich nicht. Er zeigt euch, dass man trotz Schwachstellen Gutes vollbringen kann.

    Und: Lehrer sind auch nur Menschen”.

     

  •  

    Es waren einmal zwei Schwestern, die saßen unter einer Platane am See. Da kamen kräftige Jäger geritten und verliebten sich sogleich in die beiden Schönen. Den Schwestern gefielen die Waidmänner zwar, aber ihr Hochmut ließ eine solche Regung nicht zu. „Schau mal“, rief die eine der anderen zu, „die haben wohl eben erst Reitunterricht genommen. Gleich werden sie vom Pferd fallen.“ Und die andere lachte und antwortete: „Mit Pfeil und Bogen können sie gewiss auch nicht umgehen. Sie haben ja noch gar nichts geschossen.“

    Und so ging es weiter, bis der rothaarige Jägersmann sprach: „Habt Ihr Lust, uns zum Hofe zu begleiten? Wir könnten Euch heute Abend zum Tanze ausführen“. Die Schwestern riefen wie aus einem Munde: „Mit einem Rotfuchs?“ Aber sie wurden stutzig: „Wieso zum Hofe? Seid Ihr keine Jäger?“ – „Nein“, sagte der Jägersmann mit der Hakennase, „wir sind Königssöhne.“ Da lachten die Schwestern noch höhnischer. Sie riefen: „Haha, gewiss handelt es sich um ein ganz besonderes Königreich, vielleicht sogar um das, welches am Zauberberg liegt, wo der Zauberkönig regiert.“ „Genauso ist es“, erwiderten die Jäger. Die Schwestern konnten vor Lachen kaum noch sprechen und stammelten: „Dann seid Ihr natürlich fähig, uns ein Zauberkunststück vorzuführen, damit wir vor Ehrfurcht erstarren.“ Und sie lachten weiter.

    Da hob der rothaarige Jäger einen Pfeil, der zum Zauberstab wurde, und machte damit wellenartige Bewegungen. Flugs befanden sich die Schwestern nicht mehr am Ufer des Sees, sondern auf einem Floß inmitten des Wassers. Der Habichtnasenjäger, der einen Falken auf seiner Schulter trug, rief: „Ihr werdet erst wieder an Land kommen, wenn Ihr mittels dieses Sees ein gutes Werk getan habt. Den Falken lassen wir Euch hier. Er wird Euch durch Zauberkraft helfen. Und nun, Bruder, kommt, sonst verpassen wir noch den Ball.“
    Da war den Schwestern das Lachen vergangen. Sie versuchten, an Land zu kommen, was wegen einer Strömung nicht gelang. Sie riefen um Hilfe, aber niemand kam. Und der Falke antwortete auf ihre drängenden Fragen, dass sie sich selbst etwas überlegen müssten.
    Da kamen sie auf die Idee, das Wasser des Sees ablaufen zu lassen, damit die Fische als Nahrung für die Bewohner des umliegenden Landes Verwendung finden könnten. Aber die Fische schwammen mit fort.
    Dann ließen sie mit der Hilfe der Zauberkraft des Falken das Wasser des Sees salzig werden, damit sich Heringe, Flundern und Kabeljau vermehrten und nicht bloß Plötzen. Da aber starben alle Wasserpflanzen und Bäume ab und die Tiere des Waldes hatten kein Trinkwasser mehr.
    Später untersagten sie das Angeln, damit sich die Fische rascher vermehren konnten. Da hungerte das Volk.
    Danach mussten die Blesshühner jeden Tag zwei Eier legen, wodurch die Schwäne, Wildenten und Wildgänse sich gestört fühlten und abzogen. Die Schwestern hatten jeden Tag einen neuen Einfall, aber eine wirklich gute Tat war nicht dabei.
    Die Jahre vergingen. Der See wucherte allmählich zu. Da kam den Schwestern die Erleuchtung: Sie baten den Falken, aus dem See eine Wellness-Oase zu entwickeln. 24 Stunden Spaß! Beauty-Shops! Sauna! Massagen! Wasserski! Tauchkurse! Die Achterbahn landet im Wasser!
    Eines Morgens erschienen die Königssöhne, begleitet von ihren Gemahlinnen, und ließen die Schwestern an Land kommen, damit sie kein weiteres Unheil anrichten konnten.

    Copyright Dr. Jürgen Rogge