Monat: Mai 2017

  • Ich meine
    dass ich sage
    was ich meine
    aber ich weiß
    das ich nicht immer
    meine
    was ich sage
    und auch nicht sage
    was ich meine
    Manchmal erkenne
    ich erst wenn ich etwas sage
    was ich wirklich meine…
    In der Kluft zwischen
    meinen und sagen
    erscheint mein Spiegelbild
    ich erkenne mich
    wie sich Narziss erkannte
    – wenn er sich denn wirklich erkannte –
    beim Blick in das Wasser
    Ich hoffe nur
    dass sich das was ich sage
    aber nicht meine
    nicht zur echten Lüge entwickelt

    Das ist gar nicht so einfach, habe ich inzwischen durch die Duplizität eines Vorfalles erkannt. Ich muss dazu etwas ausholen. Also: ich nehme an zwei Arbeitsgruppen teil, die sich regelmäßig treffen. Inhalt und Art der Arbeit ist fast identisch, die TeilnehmerInnen sind es nicht. Auf eine Gruppe freue ich mich schon im Voraus, was mich nicht hindert, fernzubleiben, wenn ich zu müde oder anderweitig beschäftigt bin. Die andere Gruppe: reine Pflichterfüllung, auch wenn ich einzelne Teilnehmer gerne sehe und hinterher immer etwas „herauskam“. Ich weiß nicht, warum das so ist und anscheinend habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Einmal wurde es schlussendlich ganz stark, als nämlich das Treffen abgesagt wurde. Ich… freute mich! Wahrscheinlich, um das schlechte Gewissen zu kompensieren, sagte ich: “Oh je, wie schade!“ Ich dachte, ich höre nicht richtig! Der Ton, in dem ich es sagte, war pure Heuchelei! Ich habe nicht nur nicht gesagt, was ich meine, sondern… ich habe gelogen. Lügen finde ich schlimm! Ich muss besser wahrnehmen, was ich eigentlich meine, wenn ich etwas sage! Ich benutzte meine gerne-bei-ihr-sein-Gruppe als Übungsfeld. Auch hier passierte es, dass ein Treffen verschoben wurde. Was sagte ich? „Toll, dass ihr als neuen Termin einen ausgesucht habt, wo ich schon besetzt bin. So habe ich einen Abend frei!“ Alle verstanden es nicht nur, sondern waren im Gegenteil froh, dass mein Bedauern nicht so groß war, dass wir nun neu auf Terminsuche gehen mussten. Und sie meinten wirklich, was sie sagten!

     

    Helga Thomas

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    KRANK? GESUND? HOCHSENSIBEL?

    Zwischen normal und krank. . . Nein, da befindet sich nicht der Zustand des Gesundseins… Gesund und krank sind Gegensätze – auch dazwischen befindet sich nicht das Normale. Ist denn das Normale a priori gesund? Oder: ist das aus der Norm Gefallene denn krank?

    Zwischen normal und krank befindet sich die ganz einzigartige Individualität, sie kann krank sein, auch gesund, nur normal ist sie nun einmal nur bis zu einem bestimmten Punkt. Beziehungsweise wenn diese Individualität noch nicht sehr gekräftigt ist, legt sie sich die Maske, die Rolle (im Jungschen Sinne Persona) des Normalen an, ein Schutz wie ein Regenmantel bei Regenwetter…

    Je weiter  entwickelt diese Individualität ist, um so weniger ist sie normal. Aber ist sie deshalb krank? Ja ist das nicht der Irrtum vom vorletzten und letzten Jahrhundert? Wenn der individualisierte Mensch erfolgreich ist, akzeptiert man es, spricht nicht mehr von Krankheit, sondern… von Genialität! Genie und Wahnsinn! Nein, kein Wahnsinniger a priori ist ein Genie und wenn das Genie nicht der Norm entspricht, ist es nicht unbedingt wahnsinnig. Doch darüber mag ich  jetzt nicht nachdenken, denn sonst packt mich der Zorn denn… wie viele Jugendliche, Kinder, junge Erwachsenen wurden wegen dieser Anschauungen nicht nur in ihrer Entwicklung gehemmt, sondern krank gemacht!

    Wer in zwei Welten beheimatet ist (sei es sein eigener Innenraum, sein Unbewusstes, die geistige Welt, die Anderswelt, die Zwischenwelt), wird zwangsläufig zum Grenzgänger ohne im psychiatrischen Sinne ein Borderline zu sein. Wer mit seinem inneren Du spricht, ist nicht unbedingt schizophren, wer immer wieder zum Quell des schöpferischen Werkes zurückkehrt, schaut, nachdenkt, nachspürt, nach innen lauscht, weil er es noch nicht richtig gestalten kann so, dass der unbekannte, unsichtbare Auftraggeber zufrieden ist, ist nicht unbedingt ein Narziss. Vielleicht ist er ja von all diesen Beschäftigungen erschöpft, aber nicht unbedingt depressiv! Ich als Psychotherapeutin möchte gerne leidenden Menschen (gleich ob sie krank sind oder nicht) zu besserer Lebensqualität verhelfen (wie toll, wenn sie ihren Weg wieder finden, vielleicht sogar den Sinn des Umwegs verstehen), vor allem möchte ich den gesunden Kern in jedem individuellen Menschen entdecken und… dann dem ganz Außergewöhnlichen, dem nicht Normalem zum Durchbruch verhelfen. Selbst wenn es destruktiv sein sollte, wer stark ist, erkennt es selbst, kann es zurückhalten oder wandeln, ohne krank, verrückt zu werden. Das ist meine Hoffnung, ich habe es erlebt und erlebe es immer wieder.

    Als ich diese Überlegungen niederschrieb, hatte ich noch nicht bemerkt, dass sie sich als Einführung eignen für meine Beschäftigung mit dem Thema der Hochsensibilität.

    Gehören vielleicht die folgenden Überlegungen auch dazu?

    Was ist der Grund, dass wir, und auch Fachleute, so schnell unseren Mitmenschen, aber auch uns selbst, Diagnosen anheften, die oft kränkend und damit krank machend sind? Ich will nicht bagatellisieren , denn ich gehöre durchaus zu den Menschen, die für Prophylaxen sind, also gerne auf Nummer sicher gehen und nicht erst aktiv werden, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Wer könnte aus welchem Grund so schnell (und ungeprüft) Diagnosen bereit haben? Aus Angst, Unsicherheit? Wie der Verbraucher, der das eingeschweißte Nahrungsmittel am Tag des letzten Verkaufstages entsorgt, ohne daran zu denken, dass es noch weitere (mindestens) drei Tage ohne Gesundheitsgefährdung verzehrt werden kann? Ich habe mich das oft gefragt – manchmal wirken die Diagnosen (ich spreche von psychiatrischen Diagnosen) wie ein Gefälligkeitsgutachten, vor allem, wenn sie den Angehörigen gegenüber geäußert werden. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und jetzt hatte ich die Idee einer möglichen Erklärung:
    Je besorgniserregender die Diagnose, um so kranker unsere Mitmenschen (wollen wir ihn bestrafen oder beschützen, indem wir ihn fast unmündig machen?), aber umso großartiger ist auch der Therapeut, der ihn von dieser Krankheit heilt! Kann das wirklich ein Grund sein oder . . . bin ich heute besonders boshaft?

     

     

     

     

     

     

  • Wenn das Gestern
    und der Tag davor
    noch zu meinem Jetzt gehören
    wie auch das Morgen
    und der Tag danach
    dann ist das meine Gegenwart

    Wenn ich mich an vorgestern erinnere
    und wieder das Jetzt von dort
    betrachte
    und die Zukunft von damals
    die inzwischen schon vergangen ist
    dann spüre ich
    den Hauch der Ewigkeit
    und im gedanklichen Tun
    kann mein Engel
    sich mir nahen

    ***

    Ein Tropfen
    auf dem Boden des Zimmers
    ein Tropfen aus Wasser
    kein Tautropfen
    kein Regentropfen
    ein Tropfen vom Giessen der Pflanzen
    oder…

    Sichtbar gewordene Träne
    eines unsichtbaren Wesens?

    ***

    Gedichte sind …

    Gedichte –
    gewandeltes Leid

    Erkenntnisfrucht
    nach langer Suche

    Antwort der Engel
    auf die ungestellte Frage

    Botschaft aus fremden Welten
    Auftrag
    Von wem?

    Ruf deines Du
    oder der Ruf nach ihm?

    Strandgut am Morgen
    aus dem Nachtmeer

     

     

  • Die Münze auf dem Weg

    Heute Morgen
    auf dem gewohnten Weg
    (nur das Ziel in der Ferne
    war nicht alltäglich)
    gingen meine Füße von selbst
    wussten wohin
    meine Augen halfen
    die Hindernisse im Voraus
    zu beseitigen

    Ich blickte innerlich
    weder voraus
    noch zurück
    ich  …  entwirrte Gedankenfäden
    – habe ich ein inneres Katzenwesen
    das mit den geordneten Gedankensträngen
    spielte? –

    Viele Fäden
    hatten ihren Ursprung im Wesentlichen
    wie zum Beispiel:
    was ist das Böse?
    Kann ich es überwinden?
    Gemeinsam mit anderen?
    Können wir es angstfrei betrachten?
    Wo liegt der Sinn?
    Ist Wandlung möglich?
    Wie?

    Noch konnte aus den Gedankenfäden
    kein brauchbares Gewebe entstehen
    ( brauchbar
    nichts Künstlerisches)
    da fragte ich mich
    – oder wer war es?–
    was willst du erreichen?
    Ich möchte
    Mut machen
    helfen Ängste zu überwinden
    ohne irgendwas
    zu verniedlichen
    ohne der Illusion
    einer heilen Welt zu verfallen
    Da
    mein Auge sah ein kleines Blinken
    der Fuß stoppte
    eine Münze
    verloren?
    Achtlos fallen gelassen?

    Der Wert ist gering
    und doch…
    Die fünf Eichenblätter
    die beiden Eicheln …
    Bevor Zweifel
    mein Wollen stören konnten
    bin ich ermutigt worden
    Welchen Wert
    kann eine kleine
    Ein-Cent Münze besitzen!

    Helga Thomas

    11.3.2017

  • An meine Mitmenschen, die in der Öffentlichkeit (neben mir!) telefonieren

    Sie stören mich. Ihr stört mich. Vor allem wenn es nicht nur Telefongespräche sind, da gibt es ja im Allgemeinen Hörpausen, aber wenn es ausführliche Sprachmitteilungen sind… wisst Ihr eigentlich, dass Ihr Exhibitionisten seid? Das wäre nicht so schlimm, nur…   was mich wirklich ärgert: ich werde gezwungenermaßen zum Voyeur! Ist das nicht auch eine Art Freiheitsberaubung? Zumindest ist es Hausfriedensbruch! Auch im öffentlichen Tram.

    Gerade dachte ich, dass wär vielleicht ein Beitrag für die Lesung zum Thema: „Gehen oder bleiben“

    Ja, in solchen Situationen würde ich gerne gehen, aber warum eigentlich ich? Sollte ich vielleicht dem telefonierenden Mitmenschen sagen: „Möchten Sie nicht lieber woanders ungestört reden?“ Überhaupt, die Lösung: ich fange an – nein, nicht zu telefonieren – aber zu reden, zu ihm, den telefonierenden! Oder: ich nehme mein iPhone und täusche ein Gespräch vor, ich sage in normaler Lautstärke meinem imaginären Zuhörer, wie es mir so geht, vielleicht erzähle ich ihm auch, was ich gerade gehört habe? Vielleicht – und das wäre wirklich was – regt sich dann jemand über mich auf… Und dann entsteht ein richtiger Lärm im PST – Zugabteil!

    Aber vielleicht nehme ich den angebotenen Erziehungsauftrag nicht wahr, sondern übe mich neben Toleranz auch im Abgrenzen! Aber Geräusche kann ich nicht draußen vorlassen!

    Ich werde gehen, obwohl ich bleibe! Ich werde die Ebenen wechseln, nicht im Zug, aber in mir. Entweder abtauchen, in die Tiefen des eigenen Unbewussten oder mich emporschwingen zu geistigen Höhen… Ja, das werde ich tun… Ich werde nachdenken, vielleicht vorausdenken, mich auf den Ort meiner Ankunft einstellen… Ich darf dann dort nur nicht vergessen, gleich zu Hause anzurufen, dass ich gut gelandet bin.

     

    Helga Thomas

     

  • Ich schreibe um
    Unsichtbares
    sichtbar
    Unhörbares
    hörbar
    werden zu lassen
    Ich könnte auch
    malen oder komponieren
    wenn ich es könnte
    aber im Schreiben
    ist beides vereint:
    das Sehen
    das Hören
    und wenn du
    zu den Worten tanzt
    sie tanzen lässt in dir
    dann schließt sich dem Sehen und Hören
    das Tasten noch an

    Ich schreibe um
    Unsichtbares
    sichtbar
    Unhörbares
    hörbar
    werden zu lassen
    für mein Du
    für den Fremden
    der sich
    vielleicht zum Freund wandelt
    für mich

    Ich – und vielleicht auch der andere –
    kann so erkennen
    mich erfreuen
    und allmählich
    beginnt mein unsichtbarer Leser Hörer
    für den ich schreibe und dichte
    zu sprechen
    Meine Worte
    werden zum Netz
    das Fische fängt
    aus dem Meer der geistigen Welt
    meine Worte
    werden zur Schale
    die unsichtbare Tropfen
    aus anderen Welten empfängt

    Vielleicht
    schreibe ich eigentlich
    um mit meinem
    Engel
    im Gespräch zu sein

    Das Gedicht ist eigentlich entstanden aus einem Mangel*, aus Erlebnissen und Synchronizitäten, die sich zum eigentlichen Gedicht verdichteten. Vielleicht sollte ich davon erzählen?

    *Ich vermisse meine Aphorismensammlung „Ich schreibe um“

     

    Helga Thomas

    6.3.17, 8.15 Uhr

  • Das Licht

    Verschiedene kleine Begebenheiten und einzelne Gedanken veranlassten, dass mir plötzlich eine meiner ersten Kurzgeschichten einfiel (um genau zu sein meine zweite, die ich mit knapp 16 Jahren schrieb, es war jetzt vor 58 Jahren). Ich erinnerte mich an die Gesamtkomposition, an das Geschehen, durch das für meine Protagonistin plötzlich alles ganz anders war, aber ich erinnerte keine Einzelheiten, keine Worte. Erstaunlicherweise fand ich meine Kurzgeschichte ganz schnell. Objektiv gesehen schien mir mein Werk besser als vermutet, es reizte mich, sie heutigen Zuhörern vorzulesen. Ilse, genannt Ille, ist ein 17-jähriges typisches Mädchen der damaligen Zeit (vor 58 Jahren). Sie wohnt im achten Stock eines Hauses, im Haus gegenüber wohnt ein junger Mann, in den sie sich verliebt hat.

    Zuerst hatte sich Ille über dieses Haus geärgert, weil es ihre sonst so freie Sicht versperrte, aber jetzt kann sie nicht oft genug hinüber blicken. Das Leben war gleich viel schöner, weil sie wusste, dass es “ ihn“ gab. Trat Ille ins Zimmer, galt ihr erster Blick gleich dem Gegenüber. Sie wusste, es war kindisch, aber sie freute sich darüber, dass das Licht bei „ihm“ im Zimmer brannte.

    Ille hat mit ihrem Vater Krach.

    Als sie wieder im Zimmer war, hielt Pa ihr wortlos den Mantel, ihre Büchertasche und einen gepackten Koffer entgegen. Dann trat er zum Schreibtisch, überreichte ihr einen Scheck und einen Brief an ihre Tante Emma. „Hier. Ich habe von dir frechem Ding erst mal eine Weile genug. Du ziehst für einen Monat zu Tante Emma und übergibst ihr den Brief und den Scheck. Ich werde mich regelmäßig erkundigen, ob du zur Schule gehst.“

    Ille ist sprachlos. Jetzt wird sie also buchstäblich rausgeschmissen. Sie geht langsam aus ihrem Zimmer. Der Vater blickt fassungslos auf seine Tochter. Er hat sie doch nur aus dem Haus geschickt, damit sie endlich ihre Fehler einsieht und sich entschuldigt. Ein lauter Knall zeigt, dass Ille die Wohnung verlassen hat. Jetzt steht sie im Treppenhaus.

    Ille geht nun die acht Stockwerke hinunter, begegnet auf jedem Stockwerk Mitbewohnern oder Besuchern. Ihr Wesen und ihr Leben wird uns so etwas deutlicher durch diese Begegnungen. Aber wo soll sie hin?

    Wenn sie nun nicht zu Tante Emma zieht, wo dann hin? Umkehren und Vater um Entschuldigung bitten ist ebenso unmöglich. Da fällt ihr Blick zufällig durch das Flurfenster auf das gegenüberliegende Haus. Bei „ihm“ im Zimmer ist Licht. Es scheint ihr vertrauensvoll zu zunicken.

    Im fünften Stock weiß Ille, dass sie zu „ihm“ gehen wird. Jetzt ist es im Flur dunkel. Lichtdauer ist abgelaufen, aber Ille drückt nicht auf den Knopf. So im Dunkeln kommt das Licht von „ihm“ viel besser zur Wirkung.

    Während sie weiter Stockwerk für Stockwerk runtergeht, denkt sie voraus.

    Ille will nun zu Andreas gehen. Aber was soll sie sagen? Sie kennt ihn doch gar nicht richtig? Aber das sind für Ille keine Probleme. Sie wird anklopfen, eintreten und sagen: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, dass ich sie störe, aber ihr Licht brannte und flösste mir so viel Vertrauen ein und ich weiß sonst nicht, wo ich hin soll.“ Einfach wegschicken kann er sie ja dann auch nicht.

    Ille kommen Zweifel:

    Aber wenn das Licht aus ist und Andreas im Dunkeln sitzt, was soll sie dann machen? Sie wird nichts weiter sagen als: „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber könnten Sie nicht das Licht an knipsen?“ Und dann wird sie alles das sagen, was sie vorher auch sagen würde.

    Inzwischen ist sie schon im zweiten Stock.

    Jetzt steigen Ille die ersten Zweifel auf. Wenn sie auf der Straße sieht, dass das Licht gar nicht mehr brennt, was dann? Ja, dann würde sie nicht zu Andreas gehen. Aber darüber will sie sich noch nicht den Kopf zerbrechen.

    Und dann ist sie auf der Strasse

    Auf der Straße ist nicht mehr so viel Verkehr. Ille kann sie gleich überqueren. Kurz vor der Haustür blickt sie noch nach oben, nur um sich zu versichern, dass das Licht immer noch brennt. Aber so viel sie sucht, sie kann es nicht finden. Ille tritt einen Schritt zurück und da sieht sie auch sein Zimmer, aber das Licht brennt nicht mehr. Sie dreht sich um und geht wieder zu ihrem Haus. Wo soll sie nun hin? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass es keinen anderen Weg als den zu ihren Eltern gibt. Zu einer Freundin möchte sie nicht und nur in den Straßen herum treiben, davor hat Ille Angst. 

    Im vorletzten Stockwerk hat Ille ein Spiegel Erlebnis, Sie wird Zeugin eines Streites zwischen ihrer Freundin und deren Eltern. Nachdenklich geht sie weiter. Es hat sich etwas geändert, Sie erkennt nicht nur eigenes, sondern auch Fehlverhalten der Eltern.

    Ille steht vor ihrer Wohnung. Dreimal klopft sie kurz, es ist das allgemeine Erkennungszeichen, an die Tür. Der Vater öffnet. Als ob es das Selbstverständlichste der Welt sei, nimmt er ihr den Mantel und den Koffer ab. Ille überreicht ihm den Brief und den Scheck mit den Worten: „Entschuldigt bitte, dass ich wiederkomme, aber das Licht brannte nicht mehr und ich gehe nicht gerne ins Dunkel.“

    Pa, obwohl er nichts verstand, nickte mit dem Kopf und führte sie in ihr Zimmer. Ille tritt ein und blickt wie immer, diesmal aber vollkommen unbewusst, zu „ihm“ hinüber.

    Und das Licht, das ihr so viel Vertrauen eingeflößt und ihr den Weg zur Vernunft gewiesen hatte, brannte wieder.

    Helga Thomas

    Geschrieben im Januar 1959, für die Lesung beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017 vorbereitet 31.3.2017

  • Ein Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben beim BDSÄ-Kongress in Gummersbach 2017

     

    Ein Blütentraum 

    Immer, wenn ich durch Schönhagen fuhr, der an dem verzweigten See gelegenen Stadt mit einer doppeltürmigen Kirche, stieg in mir die Erinnerung an Dich auf.

    Bevor der Zug hielt, blickte ich in die Bahnhofstraße, eine Allee mit japanischen Zierkirschen, die zur Blütezeit im Mai mit ihrem strahlenden Weiß-Rosa die Seele heller leuchten ließ.

    Und wenn der Zug hielt, schaute ich auf den Bahnsteig hinaus. Aber ich sah Dich nie.

    Hätte ich aussteigen sollen, um Dich zu suchen? Nein. Das Leben war anders gelaufen. Ich hatte schließlich Familie, Kinder, eine interessante Arbeit.

    Und doch. Ich musste an Dich denken.

    Warum bin ich nicht bei Dir geblieben? Du warst so großartig. Dir vor allem verdanke ich  so wunderbare Erlebnisse und Gefühle. Wir konnten so herrlich miteinander lachen. Was haben wir nicht alles gemeinsam unternommen!

    Du warst nicht nur schön, sondern auch klug. Das in einer Person, sagte mein Vater, finde sich selten.

    Du spieltest Flöte und machtest mich mit Musik vertraut, die ich nicht kannte. Ich war fasziniert davon, wie Du die richtigen Finger im richtigen Moment auf die richtigen Öffnungen setzen konntest, damit der richtige Ton entstand. Ich durfte auch probieren, aber es kam nur ein Quietschen zustande.

    Als wir in Berlin waren und Du mich in die Staatsoper zum Violinkonzert von Mendelssohn-Bartholdy führtest, lernte ich eine ganz andere Welt kennen. Aber als Du mir die Schallplatte mit diesem Konzert, Du hattest sie unter Schwierigkeiten gerade erst erworben, eine Woche  später vorspieltest, kam mir die Musik nur „irgendwie bekannt“ vor.

    Du warst mir in dieser Beziehung über, ebenso beim Anhören von Balladen, die Peter Anders sang. Und Du verfolgtest sogar alles auf der Partitur.

    Ich besitze diese Schallplatten noch und höre sie zuweilen.

    Weißt Du noch, als wir zelteten? Nachts kamen Wildschweine. Ohne Dich hätte ich mich nicht getraut, sie zu vertreiben. Wir gingen dann noch am See entlang. So schön hat der Mond – ganz nahe, groß und orangefarben leuchtete er – nie wieder geschienen. Über dem Wasser zogen zarte Nebelschwaden dahin. Beim Fangen von Glühwürmchen glitten wir ins schon etwas feuchte Gras, was wir erst später bemerkten. So laue Nächte gab es niemals mehr.

    Als wir einmal an den FKK-Strand gelangten, bedeutetest Du mir, dass das noch nichts für mich sei.

    Nun ja, von zu Hause kannte ich Nacktbaden nicht. Aber Du warst doch ohne Badeanzug noch viel schöner als mit. Deine ebenmäßigen Beine waren an den Waden mit kleinen schwarzen Fusselhaaren bedeckt. Du hattest es gerne, wenn ich sie Dir streichelte. Heute rasieren sich die Mädchen diese Haare ab und erinnern mich an Nacktschnecken.

    Oh, und die Leberflecke auf Deinem Rücken sahen aus wie das Sternbild der Waage. Du hattest gescherzt: „Wer waagt, gewinnt.“

    Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass Du die Gans zum Mittag im Backofen braten musstest. Deine Mutter wollte mir wohl zeigen, dass Du auch kochen konntest.

    Und ich durfte die braun gebratene Gans zerlegen. Vermutlich wollte Deine Mutter sehen, ob ich das Tranchieren beherrsche.

    Als ich den ersten Flügel abtrennte, kam noch Blut aus dem Gelenk. Die Gans war nicht gar geworden. Ein Schreck für Deine Mutter und vor allem wohl für Dich. Und sofort erklärtest Du, dass wir Chinesisch essen würden. In China würde, jedenfalls bei Ente, nur die Oberschicht mit der Haut in Oblatenstärke abgetrennt und verspeist. Das hattest Du gelesen, wie Du mit später verraten hast. Wir aßen also Chinesisch und die Situation war gerettet.

    Später haben wir noch oft darüber gelacht, vor allem über das Gesicht Deiner Mutter.

    Du konntest auch so unbeschwert tanzen. Unvergesslich, Dich in den Armen zu halten.

    Als Du auf dem Betriebsfest, wohin ich Dich mitgenommen hatte, in Deinem weißen Kleid mit dem wehenden Rock allein weiter tanztest, weil Du nicht bemerktest, dass die Musik gar nicht mehr spielte, bildeten die Anwesenden einen Kreis und klatschten im Takt. Und mein Chef, verheiratet, drei Kinder, sagte zu mir: „Schauen Sie sich das an! Da bekommt man doch gleich Lust auf was Neues.“

    Ach, Deiner Mutter hattest Du auf eindringliche Nachfrage erzählt, ich hätte versucht, Dich zu küssen. Dabei hatten wir uns längst geküsst. Und wie!

    Deine Mutter stellte mich zur Rede: ob denn das jetzt schon sein müsse? Brav und etwas eingeschüchtert hatte ich verneint, wurde aber rot bei dieser Lüge.

    Ich musste an den Tag denken, den wir bei meinen Eltern, als sie im Urlaub waren, im wesentlichen im Bett verbrachten, so wie Klärchen und Wolfgang in Kopenhagen. Du hattest lächelnd aus dem Fenster in den blauen Himmel geschaut und festgestellt: „Ihr habt aber eine hübsche Stadt hier.“

    Und haben wir nicht herrlich verspielt mit Deiner kleinen Schwester herum getollt? Sie hing an mir wie an einem großen Bruder. Oder – ich war ganz erschrocken bei dem Gedanken – wie an einem Vater?

    Einmal hatte sie Schluckauf, schon seit Stunden. Tiefes Einatmen und Luftanhalten hatte nicht geholfen. Da nahmst Du die Sache in die Hand:

    „Leg Dich mal hin“, sagtest Du. „Die Augen schließen. Tief einatmen. Die Luft anhalten. Und an den Schluckauf denken. Wie sieht er aus? Welchen Mund hat er? Wie groß ist seine Nase? Siehst Du ihn? Ganz dunkelgrün ist er.“

    Deine Schwester nickte.

    „Nun fliegt er in den Himmel, an den Kuschelwolken vorbei, wird immer kleiner. Weg ist er.“

    Und tatsächlich, der Schluckauf war verschwunden.

    Deine Schwester fragte ungläubig: „Woher hast Du gewusst, wie er aussieht?“

    Du hattest Deine langen Wimpern bedeutsam auf und zu geklappt und geantwortet: „Ich wusste es nicht, ich habe es nur geahnt.“

    Warum war unsere Liebe eigentlich verschwunden?

    Manchmal dachte ich, sie ist gar nicht zu Ende gegangen.

    Warum geht eine Liebe überhaupt vorbei? Und warum beginnt sie? Wieso verliert am Beginn alles bisher Gewesene seine Bedeutung?

    Als Du mir in einer dunklen Nacht ins Ohr flüstertest, Du wünschtest Dir ein Kind von mir, hattest Du mich damit erschreckt. Du dachtest ans Heiraten. Und ich wollte nicht, jedenfalls noch nicht. Bindungsangst nennt man das wohl.

    Ich verhielt mich zögerlich bis ablehnend, wollte plötzlich nach Hause.

    Du hast mich zum Bahnhof begleitet und geweint. Der Zug fuhr erst in einer Stunde. Die ganze Zeit hast Du geweint.

    Dann sah ich Dich nie wieder.

    Aber immer, wenn ich durch Schönhagen fuhr, warst Du mir wieder nah.

    Dein Lachen erinnerte mich an unsere glücklichen Zeiten. Dein Weinen weckte Schuldgefühle in mir.

    Ich bin Dir unendlich dankbar.

    Du hast mir die Augen geöffnet für Donizettis „Liebestrank“, für die Musik von Mendelssohn-Bartholdy im „Sommernachtstraum“ und für den großen Geiger und Dirigenten Yehudi Menuhin. Für Kurt Masur – noch in Berlin – mit „Le Sacre du Printemps“ von  Strawinsky und Manfred Krug in „Porgy and Bess“, für die Felsenstein-Inszenierungen an der Komischen Oper insgesamt. Für Wolf Kaiser als Mackie Messer und Helene Weigel als Mutter Courage im Berliner Ensemble. Für die ganze Kulturszene überhaupt. Und für viele andere Dinge des Lebens und Liebens, deren ich mir erst nach Dir bewusst wurde.

    Heute fuhr ich wieder durch Schönhagen.

    Zu Füßen der japanischen Kirschbäume war ein Meer von Blütenblättern zu rosafarbenen Schneehaufen aufgetürmt. Die Äste wirkten noch ein wenig kahl, denn erst jetzt, nach der Blüte, begannen die ersten Blätter zu sprossen.

    Wie gewohnt, sah ich auf den Bahnsteig, um nach Dir zu schauen.

    Ein heißer Schauer durchfuhr mich. Da standest Du. Schlank wie eh und je. Die dunklen Haare immer noch sportlich kurz. Deine Augen wie Kohlen. Dein Lachen  dunkler als früher.

    Ich stürzte aus dem Zug, als zum Einsteigen aufgerufen wurde, und eilte auf Dich zu.

    Fast, aber eben nur fast, hätte ich Dich umarmt.

    Ich sah Deinen Mund mit den senkrechten Falten in der Oberlippe. Es war der Mund meiner Mutter. Hab ich Dich deshalb geliebt? Gibt es tatsächlich so eine Prägung?

    „Hallo, erkennst Du mich nicht?“

    Du gucktest verständnislos.

    „Ich bin es. Georg Falkenstein!“

    Erkanntest Du mich wirklich nicht? Na ja, 50 Jahre sind eine lange Zeit. Ich war fülliger geworden, eben älter, hatte keine Haare mehr auf dem Kopf und trug eine Brille.

    Du sagtest: „Falkenstein? Georg Falkenstein? Irgendwo muss ich den Namen schon einmal gehört haben.“ Dabei schütteltest Du leicht den Kopf.

    Und Du gingst davon, erst langsam, dann immer schneller.

     

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    Beitrag zur Lesung Gehen oder Bleiben auf dem BDSÄ-Kongress 2017 in Gummersbach

     

    Zähne, die fehlen

    Ein Zahn, der beißt, der tut nicht weh,
    ein Zahn, der nicht mehr beißt, tut doppelt weh.
    Ist es mit Zähnen wie mit Partnern?
    Sie machen Schmerzen, bis man sie bekommen hat,
    sie machen Schmerzen, seit man sie bekommen hat,
    und machen Schmerzen, wenn sie hassen
    und schließlich uns verlassen.
    Der Zahnbruch, subjektiv genommen,
    ist ohne Zweifel immer unwillkommen.

    Mitunter sitzt die ganze Seele
    In eines Zahnes dunkler Höhle.
    Ein hohler Zahn ist ein Asket,
    der allen Lüsten widersteht,
    weil Mundgeruch dem hohle Zahn entweht.
    Auch können Zahnspanggürtel
    fungieren wie ein Keuschheitsgürtel.
    Doch hat’s die gute Eigenschaft,
    dass sich dabei die Lebenskraft,
    die oft man außenhin verschwendet,
    auf einen Innenpunkt hinwendet.
    Es ist und bleibt ein weher Zahn
    ein schlechter Schlafkumpan.

    Ein Zahn, er macht mitunter
    die faulsten Leute munter.
    Besonders an den Zähnen nagt
    der Zahn der Zeit und plagt.
    Die Lust aufs allerbeste Beafsteak
    wächst, wenn der letzte Zahn fällt weg.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schlechter Fresskumpan.

    Wird der Betäubungsstich gesetzt,
    und fühlst du das bekannte Bohren,
    das Zucken, Rucken und Rumoren,
    ist sie beendet, deine Weltgeschichte,
    vergessen sind die Kursberichte,
    die Steuern und das Einmaleins,
    kurz, jede Form gewohnten Seins.
    Was sonst real erscheint und wichtig,
    wird plötzlich wesenlos und nichtig.
    Es ist und bleibt der wehe Zahn
    ein schadenfroher Wegkumpan.

    Warum bohrt bloß
    der Zahnarzt früh am Morgen los?
    Ach ja: die Morgenstund
    hat Gold im Mund!

    Ja, selbst die alte Liebe rostet,
    man weiß nicht, was der Zahn im Urlaub kostet,
    denn einzig in der engen Höhle
    des wehen Zahnes weilt die Seele,
    und unter Toben und Gesaus
    entschließt du dich: Er muss heraus!

    Du kommst zum Schluss:
    Dich reizt das Apfel-Essen nicht.
    O, lass uns schauen!
    Du hast bloß Implantate nicht
    genug zum Apfel-Kauen!

  • Beitrag zur Lesung über das Thema Gehen oder bleiben

    BDSÄ-Kongress Mai 2017

    Vorbemerkung: Mein Freund Ronald hat mir ausdrücklich erlaubt, diese Geschichte hier vorzutragen.

    Die emotionale Hürde

    Ronald rief mich an:

    „Du hast doch Erfahrung mit Patientenverfügungen. Ich brauche Deinen Rat.

    Meine Mutter lebt in Kanada mit ihrem zweiten Mann. Vor ein paar Tagen ist sie in der Küche gefallen und hat sich eine Kopfplatzwunde zugezogen. Ihr Mann rief den Krankenwagen, man brachte sie in die Klinik, dort wurde die Wunde genäht. Dann haben sie meine Mutter wieder entlassen. Ein paar Stunden später stürzte sie noch einmal und verletzte sich wieder. Als sie jetzt in das Krankenhaus kam, hatte einer der Ärzte die Idee, ein Computertomogramm vom Schädel zu machen. Dabei stellten sie eine große Hirnblutung fest, und Mutter wurde stationär aufgenommen.

    In den folgenden Stunden verschlechterte sich ihr Zustand rapide, und sie starb.

    Mein Stiefvater war natürlich völlig entsetzt, er fuhr aber schließlich nach Hause. Am nächsten Morgen wollte er beim Bestattungsinstitut die Beerdigungsformalitäten regeln. Der Bestatter sagte nach einem Blick in seinen Computer:,Ihre Frau ist nicht als tot gemeldet. Sie lebt noch.`

    ,Nein, nein, sie ist tot! Ich war dabei, als sie starb!`

    Der Bestatter blieb bei seiner Meinung: ,Sie würde hier auf meiner Liste stehen, wenn sie tot wäre. Bitte gehen Sie noch einmal zur Klinik, und vergewissern Sie sich!`

    Mein völlig verunsicherter Stiefvater fuhr zur Klinik. Dort traf er auf die Krankenschwester, die beim Sterben meiner Mutter anwesend gewesen war.

    Sie erschrak beim Anblick meines Stiefvaters und berichtete stockend:

    ,Ich habe Ihre Frau nach ihrem Tod zugedeckt in den Raum für Verstorbene geschoben. Als ich eine Weile später kam, um sie zu waschen, hörte ich ein Röcheln unter der Decke. Ihre Frau war tief bewusstlos und atmete ganz flach. Ich schlug sofort Alarm, und wir brachten sie auf Station. Dort liegt sie jetzt.‘

    Ein Arzt erklärte meinem Stiefvater, es sei ihm völlig unklar, wie es nach dem festgestellten Tod noch einmal zur Spontanatmung hatte kommen können. Dieser jetzige Zustand könne noch lange anhalten. Vielleicht sogar Wochen und Monate. Eine Hoffnung auf Heilung habe er nicht, die Hirnblutung sei viel zu ausgedehnt. Wenn Mutter überleben würde, dann nur schwerst hirngeschädigt.“

    Ronald machte eine kurze Pause, dann fragte er: „Wie sollen wir uns verhalten, was soll ich meinem Stiefvater raten? Soll die Ernährung fortgeführt werden? Sollen Medikamente gegeben werden?“

    „Zuerst will ich dir sagen, wie leid mir diese Situation tut. Das ist eine echte Schock- und Horrorgeschichte. Gibt es eine Patientenverfügung?“

    „Ja, die gibt es, und meine Mutter hat ganz klar verfügt, dass sie in einem hoffnungslosen Krankheitszustand keine lebens- und leidensverlängernden Maßnahmen will.“

    „Dann ist nach deutschem Recht die Situation ganz klar. Ernährung anzuordnen, zum Beispiel intravenös oder mit Magensonde, und Medikamente zu geben, sind ärztlich anzuordnende Leistungen. In dem vorliegenden Fall würden Ernährung und Medikamente das Leben und vielleicht sogar das Leiden verlängern. Die Ärzte dürfen also gar keine Ernährung und Medikamente geben, da dies gegen den erklärten Willen deiner Mutter geschieht.

    Die entscheidenden Fragen bei jedem neuen Medikament oder jedem neuen Ernährungsbeutel sind:

    • Darf ich diesen nächsten Beutel, dieses nächste Medikament geben?
    • Nützt es dem Patienten?
    • Würde der Patient das jetzt wollen?

    Es geht nicht darum, ob das Medikament oder die Ernährung objektiv wirkt, sondern ob sie subjektiv nützen. Und über den Nutzen entscheidet allein der Patient.

    Nach deutschem Recht sind Ernährung und Medikamentengabe gegen den erklärten Willen des Patienten vorsätzliche Körperverletzung nach §223 StGb. Ich vermute, das ist nach kanadischem Recht auch so. Aber das kann man ja fragen.“

    Ronald sagte erleichtert: „Diese Antwort habe ich erwartet. Danke, dass du das so klar formulierst. Was soll ich tun?“

    „Schlage deinem Stiefvater vor, mit der Patientenverfügung zu den behandelnden Ärzten zu gehen und sie auf die Vorschriften deiner Mutter zur Therapie in dieser Lebensphase aufmerksam machen. Er sollte sie bitten, die Ernährung und die Gabe von Medikamenten einzustellen. Wichtig ist eine sorgfältige palliative Versorgung, die für Beschwerdefreiheit sorgt. Dann wird sie in den nächsten Tagen, vielleicht sogar innerhalb eines Tages sterben. Das ist meiner Meinung nach das Gnädigste, was Ihr für sie noch tun könnt. Sie hat es so verfügt, deshalb müsst Ihr es so machen.

    Das Therapieziel ist nicht mehr, die Frau am Leben zu halten und zu heilen, sondern es hat sich durch die sehr schlechte Prognose verändert. Jetzt besteht das Therapieziel darin, der Patientin zu helfen, damit sie möglichst beschwerdefrei sterben kann.“

    Wir wechselten noch herzliche Worte, und ich bat Ronald, mich über den weiteren Verlauf zu informieren. – Ein paar Tage später rief er mich wieder an:

    „Mein Stiefvater ging in die Klinik und wollte mit den Ärzten sprechen. Er war sich völlig klar darüber, dass es seine Aufgabe war, jetzt den vor Jahren gemeinsam verfassten Beschluss umzusetzen und die Ärzte um eine Beendigung der Therapie zu bitten. Aber er brachte es nicht über´s Herz, den Ärzten diese Entscheidung zu vermitteln. Denn er sah plötzlich den Konflikt, dass er dann entscheiden müsste, dass JETZT die Flüssigkeitszufuhr abgestellt wird. Er hatte das Gefühl, damit den Todeszeitpunkt durch Verhungern zu bestimmen. Und dies, obwohl er wusste, dass der natürliche Verlauf diesen Zeitpunkt bestimmen würde.

    Also verließ er die Klinik, ohne den Ärzten den Beschluss in der Patientenverfügung mitzuteilen. Er sagte zu mir: ,Lass mich noch ein paar Tage warten. Ich hoffe, dass die Natur einen gnädigen Abschluss findet.`“

    Die Mutter starb einen Tag später bei laufenden Infusionen.