Autor: Heiner Wenk Prof. Dr. med.

  • Beim Spazierengehen mit meinem Hund freue ich mich an einem sonnigen Februartag über die vielen Krokusse, die aus dem Gras spießen. Und während die Krokusse blühen, fällt mir ein, dass der Rasen auch in diesem Jahr wieder ein komplexes Programm abspult.
    Wie eine Lochkarte noch heute unsere Waschmaschine steuert, und ihr sagt, wann das Wasser abgepumpt werden soll und wann geschleudert wird. Lochkarten gibt es seit dem 19. Jahrhundert, und sie werden immer noch verwendet.
    Wo sitzt die Lochkarte für unseren Rasen?
    Wir wissen ziemlich genau, dass er bald, nachdem die Krokusse verblüht sind, zu wachsen beginnt. Dann kommen auch der Klee und die Gänseblümchen.
    Später treibt der Bambus durch das Gras, man muss ihn hundert Mal abschneiden, schließlich gibt er auf.
    Und an einem schönen Sommerabend starten plötzlich, wie auf Kommando, tausende fliegender Ameisen aus dem Rasen.
    So geht das jedes Jahr.
    Wo die Lochkarten unserer Enkel sitzen, wissen wir ziemlich genau. Die Steuerung ist beeindruckend. Da werden Gene angeschaltet, und dann wachsen Zähne aus den Kiefern, und dann werden die Gene wieder ausgeschaltet.
    Dann der Zahnwechsel.
    Mit etwa 12 Jahren fangen die Keimdrüsen an, zu arbeiten. Im Vergleich zu anderen Säugetieren ist das spät im Leben, man nennt es Pubeszenz, und die mündet unweigerlich ins Erwachsenenalter.
    Was dann alles lochkartengesteuert anders wird: Der Bartwuchs, die Haarfarbe, der Blutdruck, der Bauch, der Haarausfall…
    Man kann Gene, die in der Kindheit angeschaltet waren, und die im Erwachsenenalter „schlafen“, auch wieder aktivieren. Das passiert zum Beispiel bei Reparaturvorgängen und Heilungen nach Verletzungen.
    Der Ablauf der Lebensuhr kann gestört werden: Durch Mutationen können Tumore entstehen, Strahlung kann Alterungsvorgänge erheblich beschleunigen.
    Wir können auch die Lebensuhr manipulieren:
    Unser Lebensstil und unsere Ernährung beeinflussen unser Älterwerden genauso wie Sport. Sport verbessert nachgewiesenermaßen die Situation an den Telomeren, den Enden unserer Chromosomen, die nach jeder Zellteilung ein bisschen kürzer werden.
    Auch das Mikrobiom in unserem Darm, unser Blut, Schokolade mit viel Kakao und verschiedene Medikamente beeinflussen das Altwerden.
    Was bei der ganzen Geschichte das Wichtigste ist, sei dahingestellt. Eine der ältesten Frauen auf diesem Planeten ist über 120 Jahre alt-
    und raucht.
    Das tut unsere Mutter mit ihren erst 100 Lenzen nicht.
    Sie lebt einfach – gesund.
    Und vielleicht hat sie eine besondere Lochkarte, wie man sie in automatischen Musikinstrumenten findet. Diese sogenannten Lochbandrollen können ziemlich lange laufen.
    Aber nicht endlos,
    weil alles, was einen Anfang hat, auch ein Ende haben muss,
    wie auch diese Gedanken.
    Kehren wir zurück auf den grünen Rasen und freuen uns über die vielen schönen Blumen zu dieser Jahreszeit. Die Uhr läuft.

  • Vor einiger Zeit las ich ein besonders schönes Buch, in dem russische Erzählungen von Gogol, Tolstoi, Tschechow und Turgenjew vorgestellt und besprochen werden. Man lernt in diesem Buch, wie gute Geschichten funktionieren, wie man sie schreibt, und was sie uns über unsere Welt erzählen.
    Man lernt, dass gute Literatur moralische Einstellungen beeinflussen und das Leben verändern kann, so ein Rezensent. Stimmt.

    Die Szene, „bei Regen in einem Teich schwimmen“ entstammt der Erzählung „Stachelbeeren“ von Anton Tschechow aus dem Jahre 1898, sie hat dem Buch von George Saunders den Namen gegeben.

    Daran denke ich, als wir am 9. September 2022 im Regen von Worpswede die Hamme hinunterrudern.
    Eigentlich wollte ich an diesem Wochenende mit dem Schwager auf dem Kummerower See segeln, die Tour wurde wegen eines herannahenden großen Tiefdruckgebietes abgesagt.
    Viel Regen und kein Wind, das wäre tatsächlich ungünstig gewesen.

    Das Tief ist da. Es regnet. Dennoch freue ich mich: Ich friere nicht im Ruderboot – durch die Muskelarbeit, wir rudern trotz der Nässe im Takt, lediglich die Griffe der Skulls sind durch das Wasser etwas rutschig, was beim Einsetzen und Aushebeln stört.

    Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie der trockene Wandboden fast widerspenstig das Wasser aufnimmt, wie der Waldbrand unter dem Brocken im Hochharz langsam gelöscht wird, und wie der verbrannte Rasen in unserem Garten zu neuem Leben erwacht. Dem Jahrhundertsommer wird eine Abkühlung gegönnt.

    Mitten in dieser Abkühlung rudern wir freudig im Regen auf der Hamme – und erst an Land werden uns der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die Klimakatastrophe wieder einholen, wohl gegen 20 Uhr.

    Literatur:

    Die Stachelbeeren
    Anton Tschechow, Russkaja Mysl, August 1898

    Bei Regen in einem Teich schwimmen
    George Saunders, Luchterhand 2022


  • Die meisten Patienten sprechen nicht gerne über ihre Krankheit. Krankheit ist Verlust der körperlichen Unversehrtheit, Schwäche, Hilfsbedürftigkeit. Die Bremer Krebsgesellschaft kann hier helfen: Der Umgang mit Krankheit ist erlernbar, hinnehmbar, vielen hilft es, „Leidensgenossen“ kennenzulernen, das Wissen, mit seiner Krankheit nicht allein zu sein.

    Manche Menschen schreiben über ihre Krankheit. Die Schreibwerkstatt der Bremer Krebsgesellschaft legt Zeugnis davon ab. Oder auch ein Buchprojekt der besonderen Art, das 2019 unter dem Titel „Schau mich an“ abgeschlossen und vorgestellt wurde.

    Beeindruckend ist der Umgang von Theodor Storm mit seiner Magenkrebserkrankung. Er hat diese Erkrankung an sich selbst diagnostiziert:

    Kurz vor seinem Tod konnte Theodor Storm, der schon mit 15 zu schreiben begann, noch seinen „Schimmelreiter“ vollenden. Das war ein wichtiges Buch in der Zeit des bürgerlichen Realismus. Noch heute legt der Hauke Haien Koog zwischen Dagebüll und Reußenköge am Nordseestrand in Nordfriesland Zeugnis von den Schwierigkeiten der damaligen Zeit ab.

    Theodor Storm hatte Magenkrebs.

    Das war damals häufiger als heute.

    Wir wissen, woran das lag:  Der erste europäische Kühlschrank wurde 1929 von den durch Jørgen Skafte Rasmussen gegründeten „Zschopauer Motorenwerken“ gebaut. Bei Storms zu Hause gab es also noch keinen Kühlschrank. Lebensmittel mussten geräuchert, gepökelt oder getrocknet werden, um sie haltbar zu machen.

    Räuchern oder Pökeln führt aber dazu, dass wir mit der Nahrung krebserregende Substanzen, „Karzinogene“, aufnehmen, die beim Essen direkt im Magen landen. Aus dem Nitritpökelsalz entstehen im Magen Nitrosamine, und die sind für die Krebsentstehung sehr gefährlich.

    Erst mit der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Kühlschränken nach dem zweiten Weltkrieg, im Wirtschaftswunder, wurde dem Magenkrebs die wichtigste Entstehungsgrundlage entzogen.

    Man konnte Magenkrebs damals auch noch gar nicht operieren: Erst 1881 gelang Theodor Billroth –ebenfalls einem Norddeutschen, auf Rügen geboren- die erste Magenresektion. Bestrahlung, Chemotherapie: Das waren alles Zukunftsvisionen.

    Man konnte noch nicht mal ein Röntgenbild machen: Erst 1895 entdeckte Wilhelm Conrad Röntgen die X-Strahlen, mit denen man das machen konnte, was wir heute „röntgen“ nennen. Er erhielt dafür 1901 den Nobelpreis.

    Die Magenspiegelung steckte auch noch in den Kinderschuhen: 1868 schob Kußmaul einem Schwertschlucker eine starre Röhre in den Magen und vollführte damit die erste Magenspiegelung. Bis zum flexiblen „Gastroskop“ war es noch ein sehr weiter Weg.

    Theodor Storm hat seinen Magenkrebs dennoch diagnostizieren können.

    Er konnte nicht in sich hineinsehen, da Endoskopie und Röntgen -wie gesagt- noch nicht zur Verfügung standen. Er konnte aber in sich hineinhorchen, hineinfühlen.

    Er hatte buchstäblich „Einfühlungsvermögen“.

    Und:

    Er war ein exzellenter „Beschreiber“.

    Das wünschen wir uns heute, wenn wir eine Magenspiegelung machen lassen: Daß der Untersucher den Befund auch entsprechend und verständlich beschreibt, und sich nicht auf die Verwendung von Textbausteinen beschränkt.

    Theodor Storm tat mehr als das: Er beschrieb die Symptome seiner Magenkrebserkrankung sehr treffend in einem Gedicht:

    Beginn des Endes

    Ein Punkt nur ist es, kaum ein Schmerz,
    Nur ein Gefühl, empfunden eben;
    Und dennoch spricht es stets darein,
    Und dennoch stört es dich zu leben.

    Wenn du es andern klagen willst,
    So kannst du’s nicht in Worte fassen.
    Du sagst dir selber: »Es ist nichts!«
    Und dennoch will es dich nicht lassen.

    So seltsam fremd wird dir die Welt,
    Und leis verläßt dich alles Hoffen,
    Bist du es endlich, endlich weißt,
    Daß dich des Todes Pfeil getroffen.

    Theodor Storm hatte keine Schmerzen. Schmerz ist häufig ein entscheidendes Anzeichen einer Erkrankung, ein Warnsignal. Beim Magenkrebs versagt dieses Signalelement häufig, was das Erkennen dieser Erkrankung so erschwert.

    Für Theodor Storm war die Diagnose „Magenkrebs“ sein Todesurteil.

    Das ist heute anders: Wir haben viele verschiedene Therapiemöglichkeiten und können diesen Krebs behandeln: Operation, Chemotherapie, manchmal auch Bestrahlung, Antikörperbehandlung und zielgerichtete Therapie können helfen.

    Theodor Storm war das nicht vergönnt.

    Er nahm es gelassen, er war ein gelassener Mensch:

    „Es kommt das Leid,
    es geht die Freud,
    es kommt die Freud,
    da geht das Leid-
    die Tage sind nimmer dieselben.“

    Theodor Storm ist also einer der Schriftsteller, die mit ihrer Erkrankung umgehen konnten. Er starb 1888.

    50 Jahre später wurde der Lübecker Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann krank und kraftlos: Er hatte viel hinter sich. Erst war er von Lübeck nach München gezogen, wegen der Repressionen im Nationalsozialismus war er von Deutschland erst in die Schweiz, dann nach Amerika emigriert. Er schrieb dort an seinem Roman „Doktor Faustus“.

    Thomas Mann beschreibt einen Kräfteverfall im Januar 1946, im Tagebuch mehrten sich die Vermerke über Kopfschmerzen, Hustennächte und eine „absurde“ Müdigkeit.

    „Röntgenaufnahmen meiner Lunge hatten einen „Schatten“ irgendwo in diesem Organ zum Vorschein gebracht.“

    Mann hat seine eigene Erkrankung sehr scharf beobachtet. Er litt unter Fieber oder auch nur unter erhöhter Temperatur und genoss teilweise den zugleich matten und gehobenen Zustand, in den ihn das mäßige Fieber versetzte. Er bekam von seinem Arzt Dr. Friedrich Rosenthal Eigenblut-Injektionen und eine Bellergal® Kur. Bellergal® erkenne ich noch aus den Erzählungen meiner heute 98-jährigen Mutter, es handelt sich chemisch um Gesamtalkaloide aus Belladonnablättern, Ergotamin und Phenobarbital.

    Das ist eine gefährliche Kombination.

    Ich bin überzeugt, dass diese Substanzmischung heute nicht mehr angewendet wird.

    Nach dem Versuch mit einer Penicillinkur wurde dann endlich der Entschluss gefasst, eine Bronchoskopie durchzuführen. Diese beschreibt Thomas Mann sehr detailliert: „Ich hatte nach dem Empfange kaum noch zwei Worte gesprochen, als mein Bewusstsein so sanft wie restlos entschwand und ich – wohl nur für kurze Frist, fünf oder sechs Minuten – tief einschlief. Was geschah, muss wachen Geistes recht peinlich hinzunehmen sein – der kalifornische Consiliarius hatte ja gesagt, dass ich mich binnen einer Woche ganz gut davon erholt haben würde. Hier war Erholung nicht Not, denn es gab keine Strapaze. Ich erwachte, schon wieder in meinem Zimmer, davon, dass der gute Dr. Adams, der mich hinaufbegleitete, mir mildtätig die Nase schnäuzte. In die Einführung des mit einem elektrischen Lämpchen versehenen Apparates durch die Luftröhre in die Lunge (wobei eine Art von periskopischer Vorrichtung erlaubt, sich genau über die Verhältnisse dort unten aufzuklären) bewirkt natürlich eine schleimige, leicht blutige Reizung des gesamten Atmungstraktes, und man braucht nach der Rückkehr in seinem Bett einige Papierservietten, was aber auch von Unannehmlichkeit alles ist. Ich war entzückt und sprach tagelang zur Erheiterung namentlich der jungen Mediziner, mit Bewunderung, Preis und Dank von der magischen Spritze.

    Nach der Bronchoskopie ist Thomas Mann tatsächlich operiert worden. Es wurde eine Unterlappenresektion auf der rechten Seite vorgenommen. Der Patient beschreibt wieder seine Narkose und vor allem auch die Phase, in der er aus der Narkose wieder erwacht ist: „noch stark benommen sprach ich gegen alle Gewohnheit Englisch zu mir, und sonderbar:

    Ich führte Klage: “It was much worse than I thought, sagte ich. I suffered too much!”

    Noch heute denke ich nach über den Sinn dieses Unsinns. Wovon redete ich? Ich hatte ja von allem nichts gespürt. Gibt es irgendwelche Tiefen des Vitalen, in denen man, bei völlig ausgeschaltetem Sensorium, dennoch leidet? Ist Leiden vom Erleiden im untersten nicht vollkommen zu trennen? Dies könnte sich sogar auf den toten Organismus beziehen, von dem niemand weiß, wie tot er vor seiner wirklichen Auflösung ist; es könnte, wen nur auch nur als misstrauische Frage, ein Argument gegen die Feuerbestattung bilden, um englisch zu sprechen: It may hurt.

    So klassisch und jedes Zwischenfalls bar die Operation verlaufen war, so ereignislos, im klinischen Sinn, hurtig und ungestört ging es mit der Wiederherstellung voran. Ein 30-Jähriger, versicherten die Ärzte, hätte sich nicht entgegenkommender verhalten können. Ich galt als eine Art „prize patient“.

    Der Schock, den jeder Eingriff dieser Art für den Gesamtorganismus, das Nervensystem bedeutet, war mir wohl fühlbar. Auch war eine Schwäche der Brust zurückgeblieben, die bei großer Neigung zu falschem Schlucken führte, das Räuspern und Husten ängstlich erschwerte.

    Obligate Verwachsungsbeschwerden im Rücken wurden mit Codein® bekämpft und die Veränderungen die in meinem Inneren, unter Entfernung der siebten Rippe, vorgenommen wurden, eine Höherlagerung des Zwerchfells und dergleichen, schufen nach vorschneller Bewegung wohl einige Atembedrängnis. Aber der Sauerstoffapparat, der eine Weile neben meinem Bett gestanden, verschwand sehr bald und der meterlange Einschnitt heilte vortrefflich, so dass der hübsche Carlson (hübsche Menschen sind eine Freude, ob männlich oder weiblich) nach ein paar Wochen die Fäden entfernen konnte. Mit einer Geschicklichkeit, die jede erwartete Unannehmlichkeit hintanhielt. Er war von der Highschool, deren Bildungsziele nichts überspanntes haben, ohne College Besuch sogleich auf die Medical School gekommen, wo er übrigens als Marine Aspirant seine Ausbildung gratis erhalten hatte, und wusste offenkundig in aller Welt von nichts etwas als von Chirurgie, für die er ebenso offenkundig geboren, und in der er glücklich war. Noch sehe ich ihn in Gummihemd und Schürze eine Schubkarre auf Gummirädern, mit einer lakenverhüllten Gestalt darauf, in jungenhaftem Trab durch die Korridore von Billings Hospital vor sich hertreiben, – ein vergnügt einseitiges, gut anzuschauendes und tüchtiges Stück Leben.“

    Thomas Mann hat über die Reaktion des rechten Unterlappens mehrfach in seinen Tagebüchern berichtet er, ausführlicher in seinen Essays über die Entstehung des „Doktor Faustus“- Roman eines Romans.

    Welche Beweggründe haben Thomas Mann zu diesem Entschluss geführt?

    Darüber sprechen, darüber schreiben, hilft, die Krankheit aufzuarbeiten.

    Es ist darüber hinaus reizvoll, einen Blick auf die Thoraxchirurgie der Mitte des letzten Jahrhunderts zu werfen, auf die Usancen in der Klinik, auf das Gehabe der ärztlichen Kollegen jener Zeit, auf die Medikation, die Operation und die perioperative Behandlung und Pflege, und das aus der Sicht eines prominenten Laien und Patienten.

    Thomas Mann hat sich nicht erst mit seiner eigenen Lungenerkrankung mit Medizin beschäftigt. 1912 hat er seine Frau im Waldsanatorium in Davos besucht und wollte seine Eindrücke und Erfahrungen und die Atmosphäre der Behandlung in einer Novelle zusammenfassen. Herausgekommen ist in den zwanziger Jahren der berühmte Roman „Der Zauberberg“. Im Juli 1913 begonnen, während des Krieges mehrfach unterbrochen, vor allem durch „Die Betrachtungen eines Unpolitischen“, gedanklich aber ständig weitergeführt, konnte Thomas Mann den Zauberberg im September 1924 abschließen. Die Geschichte, erklärte Thomas Mann in einer Einführung in den Zauberberg, arbeitet wohl mit den Mitteln des realistischen Romans, aber sie ist kein solcher, sie geht beständig über das Realistische hinaus, indem sie es symbolisch steigert und transparent macht für das Geistige und Ideelle.

    Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren.

    Ich habe ebenfalls eine Zeit meines Lebens in Lübeck verbracht, war dort an der Universitätsklinik tätig, bin dort Facharzt für Chirurgie und Gefäßchirurgie geworden, wurde als Viszeralchirurg ausgebildet, und ich durfte mich habilitieren. Als Mitglied des Lehrkörpers durfte ich das medizinische Staatsexamen abnehmen. Immer, wenn ich mit unserem Radiologen prüfte, kamen Fragen aus dem Zauberberg. Herr Professor Weiß war der Überzeugung, dass jemand, der in Lübeck Medizin studiert hatte, über den Zauberberg Bescheid wissen müsse. So fühle auch ich mich genötigt, den Zauberberg zu lesen, und ich habe das nie bereut. Insbesondere die Beschreibung der damals noch so jungen Röntgentechnik ist nach wie vor faszinierend.

    Im Juni 1955 schließlich feierte Thomas Mann, wieder in Europa, seinen 80. Geburtstag. Er beklagte eine Schwellung des rechten Beines und man vermutete eine Thrombose. Als Ursache dieser Thrombose musste ein großes Iliacalaneurysma angesehen werden, das die Beckenvene komprimierte. Thomas Mann ist an einem rupturierten Aneurysma gestorben. In der Literatur wird mal von einem rupturierten Bauchaortenaneurysma gesprochen, aber es wird wohl ein Iliakalarterienaneurysma gewesen sein.

    Auch diese Lebensphase von Thomas Mann ist literarisch dokumentiert, im Thomas Mann Jahrbuch findet sich ein Journal-Artikel mit dem Titel „Thomas Manns letzte Krankheit“.

    Mann befindet sich mit seiner Aneurysmaerkrankung nicht nur in guter Gesellschaft mit Charles de Gaulle aus dieser Zeit, sondern auch mit Albert Einstein, der in den vierziger Jahren von Rudolf Nissen in New York erfolgreich am Bauchaortenaneurysma operiert worden war (Gefäßprothesen gab es noch nicht, aber es wurde ein Aneurysmawrapping, eine Ummantelung des Gefäßes, durchgeführt), und der zehn Jahre später (1954) ebenfalls an einem rupturierten Aneurysma starb. Albert Einstein war wie Thomas Mann zur Zeit des Nationalsozialismus in die USA emigriert, beide lehrten an der University of Princeton.

    Der Bogen von Theodor Storms Magenkrebs über Thomas Manns Lungenkrebs bis hin zu seinem rupturierten Aneurysma schlägt einen literarischen Bogen von den Anfängen der modernen Medizin, der internistischen Endoskopie, den ersten Röntgenbildern und den ersten großen Operationen hin zu den Erfolgen der Thorax- und Gefäßchirurgie, die in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen weiteren entscheidenden Impuls mit der Einführung der minimal invasiven Techniken erfahren haben.

    Die Anästhesie darf dabei nicht zu kurz kommen: „I suffered too much“ bezog sich schließlich nur auf die Narkose, aber Thomas Mann hat das -wie er selbst schreibt- ironisch gemeint.

    Man muss ihn verstehen lernen.

    Thomas Mann ist ein Beispiel dafür, wie man mit Krankheit umgehen kann. Darüber sprechen, darüber schreiben hilft, die Krankheit aufzuarbeiten.

    Das Lesen hilft uns andererseits, die Krankheit zu verstehen, wir bekommen Einblicke in die Medizin, und wir lernen, was sie Krankheit mit dem Patienten macht.

    Eines noch: Hätte Thomas Mann nicht geraucht, wäre ihm vielleicht sowohl der Lungenkrebs, als auch die Gefäßerkrankung erspart geblieben. Er wäre diesen berühmten Satz „I suffered too much“ niemals losgeworden.

    Literatur:

    Bernhard, M.: Theodor Storm Hausbuch. Gondrom Verlag, Bayreuth (1981)

    Bremer Krebsgesellschaft (Hrsg): Schau mich an. Druckpartner Coels, Verden (2019)

    Kropp,R., Schaberg T.: Thomas Manns Bericht über seine Lungenoperation. Pneumonologie 68: 752-757 (2014)

    Mann, T.: Der Zauberberg. Fischer, Frankfurt (1924)

    Schrecher T., Wiethoff E.: Thomas Manns letzte Krankheit. Thomas Mann Jahrbuch 10: 249-276 (1997)

    Wenk H.: Theodor Storm und der Magenkrebs: Zum Weltkrebstag 2019. In: Informiert – Mitteilungen der Bremer Krebsgesellschaft (2019)

  • Heute, am 29. Juni 2021 spielt im Achtelfinale Deutschland gegen England im Wembley-Stadion in London.

    Ich bin gespannt, wie das wird: Seit 1966 hat Deutschland gegen England nicht mehr verloren. Deutschland ist allerdings in der aktuellen Europameisterschaft nur mit sehr viel Glück ins Achtelfinale vorgerückt. Die Chancen für England stehen also gut.

    Nach dem verlorenen Spiel von Wembley 1966 habe ich Sabine Nolting, die damals etwa acht Jahre alt war, eine Ohrfeige gegeben. Ich möchte mich heute, 55 Jahre später, dafür entschuldigen.

    Ich hatte nämlich keine Probleme mit Sabine. Noltings wohnten 3 Häuser weiter in unserer Straße. Jochen Nolting war einer meiner Schulkameraden in der Grundschule, wir waren in der dritten Klasse.

    Bis zum Abitur sind wir später zusammen zur Schule gegangen, dann haben wir uns aus den Augen verloren. Jochen kommt auch nicht zu unseren Klassentreffen. Zum Gymnasium bildeten wir zeitweise eine Fahrgemeinschaft, ich durfte in Noltings Mercedes mitfahren – mein Vater fuhr Opel Rekord. Jochens Vater hatte studiert.

    Mein Vater hatte hohen Blutdruck und große Schweißflecken unter den Armen, als Deutschland gegen England spielte. Nach dem Spiel stand es 2 : 2.

    Und dann kam die Nachspielzeit, die Verlängerung, als das sogenannte Wembley-Tor fiel. Wikipedia beschreibt das so:

    Als Wembley-Tor wird im deutschen Fußball ein Lattentreffer bezeichnet, bei dem der Ball von der Unterkante der Torlatte nach unten springt und dabei die Torlinie möglicherweise nicht vollständig überschreitet und anschließend wieder ins Spielfeld springt. Nach derartigen Spielszenen ist es oft umstritten, ob der Ball im Tor war oder nicht. Ist der Ball nachweislich nicht im Tor, handelt es sich dabei um ein Phantomtor.

    Im Speziellen ist damit das derartige Tor der englischen Fußballnationalmannschaft in der Verlängerung des Finales der Fußball-Weltmeisterschaft 1966 gegen Deutschland im Wembley-Stadiongemeint. Das Tor wurde gegeben, obwohl der Ball die Torlinie möglicherweise nicht vollständig überschritten hatte.

    In der 101. Minute überwand Hurst den deutschen Torwart Hans Tilkowski mit einem Schuss aus kurzer Distanz. Der Ball prallte von der Unterkante der Latte auf den Boden auf und wurde dann von dem deutschen Verteidiger Wolfgang Weber übers Tor ins Toraus geköpft. Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst entschied zunächst auf Eckball und erst nach Rücksprache mit dem sowjetischen Linienrichter Tofiq Bəhramov auf „Tor“. 

    Deutschland verlor am Ende 2 :4,

    und nach dem Spiel trafen wir Kinder uns draußen auf der Straße. Es war der 30 Juni 1966.

    Es war sonnig und warm.

    Der zweite Weltkrieg war mehr als 20 Jahre vorbei, aber für meinen Vater war die Sache noch nicht erledigt, war Rußland immer noch der bolschewistische Feind im Osten.

    „Der Russe“ hatte in Wembley dafür gesorgt, daß Deutschland gegen England verloren hatte. Als Sabine Nolting in diesem Kontext sagte, das sei Deutschland recht geschehen, habe ich ihr eine geknallt.

    Aus Mitleid – mit meinem Vater.

    Ich möchte mich heute dafür entschuldigen: Sabine kannte meinen Vater gar nicht, sie meinte vielleicht einfach, der Ball sei hinter der Linie gewesen.

    Und vielleicht hatte sie sogar recht.

    Und ich musste damals noch viel lernen.

    Also: Sorry.

    Und: Schön, dass wir heute den Videobeweis haben.

  • Tote Tante oder Lumumba ist heißer Kakao mit Rum. Der Name Tote Tante geht auf eine Legende der Insel Föhr zurück, nach der die Urne mit der Asche einer in Amerika verstorbenen Föhrerin in einer Kakaokiste auf die Insel zurückkehrte.

    Patrice Lumumba war ein Politiker des Kongo. Lumumba war Gegenstand der Diskussion über die Umbenennung rassistischer Bezeichnungen, wie auch Negerkuß und Zigeunerschnitzel, nachzulesen bei Wikipedia.

    Helida heißt das Hoch, das uns aus Skandinavien Sonne und Kälte bringt.

    Identisches Wetter hatten wir, als wir vor genau drei Jahren hierher gezogen sind, aufs Dorf. Am Umzugstag waren es minus 15 Grad. Heute Nacht waren es minus 16, und Bruder Torsten hatte in Braunschweig sogar minus 20. Höher, schneller, weiter, kälter.

    Der Mühlenteich ist vom Schnee geräumt und bereit zum Schlittschuhlaufen.

    Gestern habe ich uns die Liegestühle auf die Terrasse gestellt, und dann konnten wir in der Mittagssonne ein Sonnenbad nehmen.

    Die Luft roch nach Skiurlaub, die Liegestühle im Sonnenschein erinnern an den Zauberberg, nur ohne Berge.

    Im Urlaub würden wir jetzt auf der Hütte eine „Tote Tante“ bestellen, die im Süden Lumumba genannt wird: Heißer Kakao mit Rum.

    Tote Tante macht auch bei tagelangem Regenwetter im August auf der bekannten Nordseeinsel südlich von Dänemark gute Laune.

    Kakao haben wir noch. Aber Rum ist alle.

    Im Spirituosenschrank findet sich allerdings noch eine angebrochene Flasche Cognac. Den haben unsere Mütter immer gerne getrunken, wenn sie vor 30 Jahren auf unsere Kinder aufgepaßt und eingehütet haben. Immer die Diskussionen, ob Martell oder Hennessy der bessere sei.

    Offensichtlich war Martell besser, denn Hennessy hat überdauert. Niemand trinkt heute mehr Cognac. So hat die Cocnacflasche den Umzug von Lübeck nach Bremen genauso überlebt wie den Umzug von Bremen nach Meyenburg.

    Nachdem wir die „Tote Tante“ gegoogelt haben und wissen, dass das erlaubt ist, soll der Hennessy in die Tote Tante.

    Der Kakao ist gekocht.

    Der Hennessy wird entkorkt. Allerdings: Der Korken, in 30 Jahren total vertrocknet, zerbröselt in tausend Stückchen. Ein Teil fällt in die Flasche. So wird der Kakao mit gesiebtem Hennessy zur Toten Tante veredelt.

    Schmeckt.

    Umgehend durchflutet eine wohltuende Wärme den Körper.

    Und die Stimmung steigt noch weiter, wobei sie wegen des Sonnenscheins im Schnee bereits auf hohem Niveau stabil war.

    Was für ein schöner Tag. Die Erinnerung an die Omas und unsere Kinder – jetzt sind wir die Großeltern, und wir werden die Tradition aufrechterhalten.

    Die Tote Tante lebt, und Oma auch.

    Der gesiebte Hennessy wird aufgehoben.

  • Prolog 1: Die „Fritz“ ist ein Renndoppelzweier unseres Ruderclubs RV OSCH (Osterholz-Scharmbeck), ein in die Jahre gekommenes Boot des Herstellers Filippi, einer Ruderwerkstatt aus Wetzlar. Zugelassen bis 90 kg. Es fährt nicht mehr so richtig geradeaus, es ist ein bisschen „weich“, aber ich liebe es.

    Prolog 2: Alexander von Humboldt reiste im Jahr 1800 ins Orinoco-Tal. Zusammen mit seinem Begleiter, dem französischen Botaniker Aimé Bonpland sammelte er wichtige geographische, zoologische und botanische Daten, die viele Mythen um die unerforschte Region entkräften konnten. Humboldt faszinierten vor allem die für den gewaltigen Strom so charakteristischen „zerstreuten Landschaftszüge, dieses Gepräge von Einsamkeit und Großartigkeit.“ (Wikipedia)

    Sonntagmorgen im Januar 2021, Temperatur knapp unter Null, Windstille, die Sonne möchte rauskommen, traut sich aber nicht richtig.

    Zu zweit gehen wir aufs Wasser, und wir müssen aufpassen: Es sind noch zwei Rennzweier unterwegs.

    Richtung Ritterhude passieren wir die bewaldete Mündung des Scharmbecker Bachs.

    Solange wir hier rudern, fällt mir an dieser Stelle der Orinoco ein.

    Witzig, der Scharmbecker Bach ist vergleichsweise klein, und der Orinoco ist der viertgrößte Strom der Welt.

    Aber: Diese Gegenden haben etwas gemeinsam: So, wie der Orinoco und der Amazonas über den Rio Negro miteinander in Verbindung stehen, und vom Rio Negro haben die Entdecker mal behauptet, es sei der einzige Fluß, in dem das Wasser bergauf fließen kann, so ist es auch in diesem Wassernetzwerk von Hamme und Wümme.

    Auch die fließen (wegen der Tide) mal bergauf, mal bergab, stehen miteinander in Verbindung, beispielsweise durch die Semkenfahrt bei Waakhausen.

    Durch diese Amphibienlandschaft kurven wir, unter der Hammebrücke hindurch, wo man sehr aufpassen muß, der Durchlaß ist für das Ruderboot gerade ausreichend. Dann passieren wir den ersten Zweier, ohne Berührung, mit Begrüßung.

    An der Ritterhuder Schleuse treffen wir den zweiten Zweier ohne Berührung.

    Der Rückweg ist dann frei, hinter der Brücke.

    Heute fließt das Wasser weder bergauf noch bergab. Dafür ist es windstill.

    Warum das Wasser beim Orinoco bergauf fließen kann?

    „Der Orinoco führt nach der Einmündung sedimentreicher Nebenflüsse aus dem höheren Bergland trübes Wasser und bildet hier bei seinen Verzweigungen nicht nur Inseln, sondern auch eine – in Oberläufen von Flüssen sehr seltene – Flussbifurkation; sie gilt als die bedeutendste Flussverzweigung weltweit. Der Brazo Casiquiare zieht vom Wasser des Orinoco (1.400 m³/s[4]) zwischen 12 % bei Niedrigwasser und mehr als 25 % bei Hochwasser ab und wächst im weiteren Verlauf zum linken Quellfluss des Rio Negro heran, der wiederum in den Amazonas mündet.“

    Der Hamme fehlt einfach so eine Flußbifurkation.

    Aber das ist auch gut so.

    Sonst würden wir uns ständig verfahren oder nicht entscheiden können, in welche der Bifurkation wir hineinrudern sollen.

    Wir haben auch keinen Fitzcarraldo.

    Wir haben dafür „Fritz“.

    Die „alte Fritz“.

  • Wie mein Enkelkind meine Erinnerungen ordnet und durcheinanderbringt.

    Mein ganzes Leben lang wollte ich wissen, wie wir wissen können und denken, und wie wir gelerntes in unserem Gehirn abspeichern. In der Schule habe ich etwas in Biologie dazu gehört, und dann gab es noch bei meinem Deutschlehrer den Kurs „Pädagogische Psychologie“. Dort lernte man, was Intelligenz ist. Dass Intelligenz ein Konstrukt ist.

    1978 erschien dann ein Buch von Frederik Vester mit dem Titel „Denken, Lernen, Vergessen“. Das war schon interessant, und das Gedächtnis wurde in ein Ultrakurzzeitgedächtnis, ein Kurzzeit- und ein Langzeitgedächtnis unterteilt.

    Was gelernt war, wurde im Langzeitgedächtnis abgespeichert.

    Im Ultrakurzzeitgedächtnis wurde eigentlich alles gleich wieder gelöscht.

    Heute wissen wir, dass vieles, sogar das meiste, gar nicht ins Gedächtnis gelangt. Das meiste verarbeiten wir im Unterbewusstsein. Über dieses, und über das Unbewusste arbeitete Sigmund Freud.

    Dann kam Daniel Kahnemann mit „Thinking, Fast and Slow“, er unterteilte das Hirn in zwei Systeme. Das System 1 ist unwillkürlich, arbeitet automatisch und schnell, weitgehend mühelos und ohne willentliche Steuerung.

    System 2 macht die anstrengenden mentalen Aktivitäten, die komplexen Berechnungen und Betrachtungen. System 2 gibt uns das Gefühl der Entscheidungsfreiheit und der Konzentration.

    Für seine Erkenntnisse wurde Daniel Kahnemann mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.

    Schließlich schreibt Martin Korte aus Braunschweig das Buch „Wir sind Gedächtnis“.

    Und da sieht man dann, dass es so einfach nicht ist, es gibt nicht System 1 und 2, sondern Prozesse, Programme und Gedächtnis lassen sich nicht voneinander trennen. Gespeicherte Routinen und Prozesse lassen sich nicht vom Prozessor trennen. Das ist anders als beim Computer mit seiner Festplatte.

    Wir wissen nun auch, wie Lernen funktioniert: Neues wird am einfachsten gelernt, wenn man es mit Bekanntem verknüpft. Wenn Gelerntes ins Langzeitgedächtnis gegeben wird, werden neue Synapsen, neuronale Verbindungen geknüpft. Funktionelle Veränderungen, nämlich die Verstärkung einer Synapse zieht strukturelle Veränderungen nach sich: Die Zahl der Synapsen wird größer.

    Eine Erinnerung heißt in diesem Zusammenhang nicht, etwas von der Festplatte abzugreifen. Wenn wir uns erinnern, unterliegen die neuronalen Aktivitätsmuster der Großhirnrinde und im Hippocampus den gleichen plastischen Prozessen, die zu ihrer Einspeicherung geführt haben. Anders als das Abspielen einer DVD ist jede neue Erinnerung anders, quasi neu konsolidiert. Das Gedächtnis kann so aktualisiert, aber auch verändert oder sogar manipuliert werden.

    Mir wird das alles gerade sehr bewusst.

    Ich bin nämlich Opa geworden.

    Jeden Tag bekommen wir Bilder und Filme von den Entwicklungsfortschritten unseres Enkelkindes.

    Da denkt man zwangsläufig eine Generation zurück.

    Und nun:

    Mitten im Zeitalter der Digitalisierung haben ich analoge Datenträger wiederentdeckt. Erst den Videokassettenrecorder, weil ich die Bilder meines Enkelsohnes mit den Bildern unserer Kinder vergleichen wollte. Jahrelang lag die Videokamera unbenutzt in der Schublade. Video 8 von Sony aus den 80er Jahren. Es funktioniert perfekt. Und ruft die Erinnerungen wach, rückt sie aber auch zurecht.

    Um das Maß voll zu machen, haben wir nun auch unseren Cassettenrecorder wieder an die Stereoanlage angeschlossen. Auch der funktioniert. Die Bänder drehen sich. Und ich höre wieder „Sweet, Soft und Lazy“ aus dem Jahr 1983. Die Erinnerung kommt wieder. Und das Vergessen, selbst eine Leistung des Gedächtnisses, wird zurechtgerückt.

    Den Bandsalat, den wir früher bei den Magnetbändern beklagten, haben wir vor allem auch in unserem Kopf.

    Re-Konsolidierung macht Spaß.

    „Denken, Lernen, Vergessen“ muss ergänzt werden durch „Erinnern“.

    Erinnern scheint die entscheidende kognitive Leistung für Kreativität und Wissen zu sein. Immer wieder anders, immer wieder neu.

    Und nun: Film ab.

    April 2020

  • Tschüß, süßes Mädchen!

    Gestern waren wir in Bremerhaven und haben uns von der „Seuten Deern“ verabschiedet.

    Sie sieht erbärmlich aus.

    Sie war im Hafenbecken gesunken, dann hat man sie ausgepumpt und mit Luftsäcken und Leinen wieder hochgehoben. Zwei  Millionen Liter Wasser müssen pro Stunde aus dem Schiffsrumpf gepumpt werden, damit sie nicht wieder absäuft.

    Das Absaufen der Seuten Deern ist ein Menetekel.

    Es zeigt, was passiert, wenn man sich nicht kümmert, wenn man den Dingen ihren Lauf, wenn man alles verrotten läßt.

    Wir wird bange um die „Deutschland“, um die Alexander von Humboldt.

    In die Schulen in Bremen, die Universität, überall regnet es hinein.

    Die Krankenhäuser und der Flughafen, alle haben Aufsichtsräte, die das Absaufen gar nicht bemerkt haben. Die Bremer Landesbank hatte gar die Finanzsenatorin als Aufsichtsratsvorsitzende. Nun steht von der Bremer Landesbank nur noch das Gebäude auf dem Domshof, die Bank selber ist weg.

    Lothar Probst, Politikwissenschaftler aus Bremen, schreibt im Weserkurier über den Kampf um die Schwarze und die Grüne Null.

    Es ist schon klar, was er damit meint. Der fiskalischen Sparpolitik steht das Klimaschutzpaket gegenüber.

    Aber die Politik der grünen Null besteht darin, zur Weltklimakonferenz zu fahren und anschließend an den Leichtathletikmeisterschaften in Katar teilzunehmen, wo die Sportler um Mitternacht Marathon laufen müssen, und selbst dann noch reihenweise umkippen.

    Es ist ein schönes Wortspiel, und es ist ein schönes Farbenspiel, der Kampf um die grünen und schwarzen Nullen.

    Trotzdem gibt es noch andere Nullen.

    Es gibt auch viele Standpunkte.

    Es gibt Menschen mit einem geistigen Horizont mit dem Radius von Null, die genau das als ihren Standpunkt bezeichnen.

    Und so geben wir unser Geld dafür aus, pro Stunde 2 Millionen Liter Wasser aus dem Bauch der Seuten Deern in das Bremerhavener Museumshafenbecken zu pumpen, und unser CO2-Abdruck entsteht durch das Klimatisieren einen Leichtathletikstadions in der Wüste von Katar. Wir sind dafür mitverantwortlich, weil wir da mitmachen.

    Erich Kästner schrieb:

    Allein ging jedem alles schief.
    Da packte sie die Wut.
    Und man bildete ein Kollektiv
    Und meinte, nun sei’s gut.
    Addiert die Null zehntausend Mal,
    rechnet‘s nur gründlich aus,
    multipliziert‘s mit jeder Zahl:
    Steht Kopf, es bleibt Euch keine Wahl:
    Zum Schluss kommt Null heraus.

    Bitte: Stellt die Pumpen ab und gebt der Seuten Deern ihren Frieden.

    30.9.2019

  •  

    Kevin Kühnert, 1989 geboren und Juso-Vorsitzender, hat ordentlich eingeheizt. Er will BMW verstaatlichen und reiche Leute enteignen.

    Das hat in der SPD für Wirbel gesorgt. Und bei den Konservativen für Entrüstung.

    Und doch: Das ist etwas anderes als „Jetzt gibt’s was in die Fresse“ von Andrea Nahles zur Begrüßung des Regierungspartners einer großen Koalition.

    Ein Juso darf so etwas denken, so etwas sagen.

    Das Beste ist: Es ist von ihm.

    Unsere Wahlkämpfer haben keine authentische eigene Botschaft mehr. Deshalb brauchen sie PR Agenturen für ihren Wahlkampf, die so einfallsreiche Sätze wie „Wir lieben Bremen“ generieren; EDEKA lässt grüßen: Wir lieben Lebensmittel.

    Wer hat da abgeschrieben?

    In der Zeit, in der ich Sympathisant dieser Partei war, hatten die Politiker selbst etwas zu sagen.

    „Mehr Demokratie wagen“ war von Willy Brandt.

    Markante Formulierungen gab es auch von Helmut Schmidt. Mit denen hat er uns bis ins hohe Alter verfolgt: Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral.

    Beide brauchten keine PR, sie hatten selbst gute Ideen und konnten begeistern, polarisieren, pointieren.

    Dann kam die Troika.

    Bereits in dem Dreigespann zog jeder in eine andere Richtung.

    Zwei blieben übrig, nachdem Rudolf Scharping nicht mehr tragbar war.

    Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine haben die SPD zerlegt.

    Oskar Lafontaine hat eine neue Partei geschaffen, neben der SPD.

    Gerhard Schröder hat im Anschluss an sein Amt als Bundeskanzler Aufsichtsratsposten bekleidet, unter anderem beim russischen Gaslieferanten. Er wurde als Genosse der Bosse angesehen, für viele Parteigenossen kein guter Gefährte.

    Danach kam nichts mehr, was Veranlassung gewesen wäre, die Sozialdemokratie ernst zu nehmen: Martin Schulz, aus dem europäischen Parlament zurück nach Deutschland geholt, und dann im Wahlkampf verbrannt. Die Schulz-Story wird inzwischen in Hamburg im Theater aufgeführt.

    Es ist ein Theater.

    Zuletzt: Andrea Nahles. 1970 geboren, war sie schon als Politikstudentin Bundestagsabgeordnete. Hat nie gearbeitet, außerhalb der Partei.

    Und Kevin?

    Hat Abitur. Hat ein Studium abgebrochen. Hat dann ein Fernstudium begonnen, das derzeit ruht.

    Da schließt sich ein Kreis. Beamtensohn, behütet, saturiert aber unzufrieden. Vielleicht ist es das, was die Leute so schwierig macht.

    Es mag überheblich klingen, wenn man Politiker kritisiert, die „nie richtig gearbeitet“ haben. Aber: Wer das Leben nur aus der Schule und dem Studium kennt, weiß noch nicht, wie Gesellschaft funktioniert. Und wenn man etwas verändern will, und das will die SPD doch immer, muss man doch wissen, wie es funktioniert. Darum sollte ein Justizminister ein Jurist sein und der Gesundheitsminister ein Arzt.

    Und man sollte wissen, was Demokratie bedeutet, was sie wert ist. „Die geglückte Demokratie“ ist ein Buch, das Edgar Wolfrum, ein Heidelberger Professor für Zeitgeschichte 2006 veröffentlicht hat. Demokratie ist aber nicht in Stein gemeißelt.

    Willy Brandt und Helmut Schmidt wussten, was Diktatur, Krieg und Völkermord bedeuten. Demokratie war nicht selbstverständlich, musste erkämpft und erarbeitet werden.

    Die Politiker unserer Tage erwecken den Eindruck, als würden sie dieser Errungenschaften überdrüssig.

    Mit maßlosen Forderungen sammelt man keine Leute hinter sich.

    Vielleicht kommt jetzt Kevin.

    Aber seine Partei ist zerlegt, gleitet ab in die Bedeutungslosigkeit, muss anderen die Richtungsgebung überlassen, mal den Konservativen, mal den Grünen. Eine im Moment  seelenlose Partei enteignet sich selbst:

    „Kevin allein zuhaus“ wird Wirklichkeit.