Schlagwort: Wissenschaft

  • Wer Ohren hat zu hören[1]

    Im alten Ägypten war das Ohr mehr als nur ein Sinnesorgan, das krank werden und die Fähigkeit des Hörens einbüßen konnte. Es hatte zentrale Bedeutung für das Leben selbst. Man glaubte nämlich, dass der Hauch des Lebens in das rechte, der des Todes in das linke Ohr eintrete[2]. Göttern wie dem Ptah oder dem Amon-Re wurden steinerne Stelen mit Reliefs in Form von Ohren gestiftet, um wie aus den Inschriften hervorgeht[3] gnädiges Gehör zu erbitten oder für die Gewährung eines Wunsches zu danken.

    Gottheiten und andere machtvolle Wesen, denen besondere Kräfte gegen Krankheit und Not zugeschrieben wurden, mit anatomischen Votiven zu beschenken ist ein seit prähistorischen Zeiten überlieferter Brauch. Aus Ton, Marmor, Kalkstein und Metallen entstanden Nachbildungen von Körperteilen. In Wallfahrtskirchen, wo Sinnesorgane, Gliedmaßen und Herzen aus Holz oder Wachs, Kunststoff oder dünnem Blech die Altäre und Heiligenbilder schmücken, lebt die Tradition fort.

    Den Ohr-Votiven kommen außer ihrer Bedeutung für die Erkrankung oder Heilung des Hörorgans noch andere Funktionen zu. Sie appellieren als  materialisierte Bitte an die „gnädig hörende“ Gottheit, im griechischen Sprachraum: ἐπήκοος /epékoos. Weihinschriften mit dem Epitheton epékoos Waren natürlich besonders geeignet, die Dringlichkeit des Anliegens zu unterstreichen[4].

     

     

    Bild 1: Ohren-Relief, Kassel[5]

    Nach Bieber 1910, 5 f. Taf. I, 2

     

    Die mutmaßliche Entstehungszeit des Marmorreliefs (Bild 1) oszilliert zwischen dem  5/4. Jh. v. Chr. und der römischen Kaiserzeit. Margarete Bieber ist die einzige, die ihre hohe Datierung, unter Berufung auf Furtwängler, begründet: „Die beiden Ohren haben die runde und breite Form, die Furtwängler als die typisch attische für das perikleische und das folgende Zeitalter erwiesen hat. Er charakterisiert sie als eine breite, gedrückte Form mit sehr weiter Muschelhöhle und kurzem Läppchen“[6].

    Gelegentlich nimmt ein Ohrenpaar eine weitere figürliche Darstellung in die Mitte[7]. Eine Votivtafel aus dem Asklepieion von Korinth zeigt den Abdruck eines inzwischen verlorenen, von Ohren gerahmten männlichen Geschlechtsorgans.

     

     

    Bild 2: Korinth, 4. Jh. v. Chr. Terrakotta

    Nach Roebuck, 1951, 120 Nr. 10 Taf. 33

     

    Anders als in Griechenland handelt es sich in Etrurien und Latium auch bei den Darstellungen paariger Sinnesorgane, wie Ohren oder Augen, meist um Einzelexemplare. Man fertigte sie in Serie aus preiswertem Ton[8]; nur  ausnahmsweise sind sie mit Inschriften versehen. Wenige nennen göttliche Adressaten, wie die etruskische Vea oder die römische Minerva. Auch der Ceres und ihrer Tochter Proserpina, der Uni (Juno) und Turan (Venus) sowie dem Apollon[9] kamen anatomische Votive zu. Andere in kleinen, ländlichen Heiligtümern verehrte Gottheiten blieben anonym.

    Selten sind an Körperteil-Votiven krankhafte Veränderungen dargestellt[10].

    Der epigraphische Hinweis auf eine Norm-Abweichung am Lobulus eines zyprischen Kalksteinohrs ist eine Rarität. In syllabischer Schrift deuten sich die Worte an: „Ich gehöre einem Tauben“[11].

     

    Bild 3: Nach Masson 1998, 27 Nr. i. j. Taf. 7

     

    In früharchaischer Zeit hat man vor allem in Attika bestimmte Teile des menschlichen Körpers stark stilisiert wiedergegeben. Das ornamentale Ohr des über drei Meter hohen Kuros A von Sounion ist übergroß und flach, vertikal ausgerichtet und auffallend weit oben platziert.

     

    Bild 4: Kouros aus Sounion, Detail. Anf. 6. Jh. v. Chr.

    Nach Martini 1990, 18 f. Abb. 3

     

    Die anatomischen Details sind in die Fläche eingetieft. Eine gleichförmig breite Grube trennt Helix und Anthelix, die oben in zwei gekrümmte Grate übergehen. Unten schließt das Ohrläppchen an, das mit zwei konzentrischen Rinnen, einer breiteren und einer schmalen, geschmückt ist.  Vorn zwischen Ohrmuschel und Lobus sitzt der knopfförmige Tragus. Ein Antitragus ist nicht angegeben[12].

    Mit ähnlichen konzentrischen Kreise wie auf dem Ohrläppchen des Kouros hat man wenig später die Ohrscheiben an zyprischen Frauenköpfen verziert.

     

    Bild 5: Spätarchaisches Frauenköpfchen, Tamassos/Zypern

    Fund-Nr.  613/1975. Grabung Buchholz[13]

     

    Die aufwändig geschmückte junge Frau trägt zusätzlich ein Diadem und eine Ohrmuschel-Verkleidung aus Edelmetall. Ob das dünne Blech über dem Gehörgang dazu angetan war, den Lärm der Welt ein wenig zu dämpfen?

     

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Bieber 1910: M. Bieber, Attische Reliefs in Cassel, AM 35, 1910, 5-16    Bild 1

    Bieber 1815: M. Bieber. Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel (Marburg 1915) Beilage, Taf. I f.

    Buchholz 1978: H.-G. Buchholz, Tamassos, Zypern, 1974-1976, 3. Bericht, AA 1978, 155-230

    Buchholz – Untiedt 1996: H.-G. Buchholz – K. Untiedt, Tamassos. Ein antikes Königreich auf Zypern (Jonsered 1996)    Bild 5

    Çambel – Özyar 2003: H. Çambel – A. Özyar, Karatepe – Aslantaş Azatiwataya (Mainz 2003)

    Forsén 1996: B. Forsén, Griechische Gliederweihungen (Helsinki 1996)

    Gercke 2007: P. Gercke – N. Zimmermann-Elseify, Antike Steinskulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel (Mainz 2007)

    Hermary – Mertens 2014: A. Hermary – J. R. Mertens, The Cesnola Collection of Cypriot Art: Stone Sculpture. New York. Metropolitan Museum of Art (New Haven 2014)

    Karageorghis 2000: V. Karageorghis, Ancient Art from Cyprus. The Cesnola Collection in The Metropolitan Museum of Art (New York 2000)

    Krug 1985: A. Krug, Heilkunst und Heilkult (München 1985)

    Macintosh Turfa 2004: J. Macintosh Turfa, Weihgeschenke, Röm., ThesCra I (Los Angeles 2004) 362 f. Commentary

    Martini 1990: W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990)    Bild 4

    Masson 1998: O. Masson, Les Ex-Voto trouvés par L. Palma di Cesnola à

    Golgoi en 1870, Mélanges Olivier Masson, Centre d’Études Chypriotes, Cahier

    27 (Paris 1998) 25-29 Taf. 6-10   Bild 3

    Recke – Wamser-Krasznai 2008: M. Recke – W. Wamser-Krasznai, Kultische Anatomie. Etruskische Körperteil-Votive aus der Antikensammlung der JLU Gießen (Ingolstadt 2008)

    Richter 1988: G.M.A.  Richter, Kouroi  (New York 1988, reprinted from 31970)

    Roebuck 1951: C. Roebuck, Corinth 14. The Asklepieion and Lerna (Princeton 1951)    Bild 2

    Schnalke 1990: Th. Schnalke – C. Selheim, Asklepios, Heilgott und Heilkult (Erlangen- Nürnberg 1990)

    Stierlin 1986: H. Stierlin, Kleinasiatisches Griechenland (1986)

    Van Straten 1981: F. T. van Straten, Gifts for the Gods, in: H. S. Versnel (Hrsg.), Faith Hope and Worship (Leiden 1981) 65-151

    Weinreich 1912: O. Weinreich, ΘΕΟΙ  ΕΠΗΚΟΟΙ, AM 37, 1912, 1-68

     

    [1] Math. 11, 15.

    [2] pEbers 100, 3, zit. bei Schnalke 1990, 74.

    [3] Weinreich 1912, 47.

    [4] s. z. B. Van Straten 1981, 83: an Isis, die gnädig erhörende, oder ders. a. O. 116 Nr. 6.1, „Kallistrate ἐπήκόῳ –  der gnädig hörenden – Artemis Kolainis.

    [5] Forsén 1996, 32 f. Abb. 5; Gercke 2007, 306 Abb. 101; Krug 1985, 151 Abb. 68; Schnalke 1990, 68 Abb. 34; Van Straten 1981, 106 Nr. 1.5.

    [6] Bieber 1910, 5-7 Taf. 1, 1; dies. 1915, 37 Nr. 76 Taf. 33;

    [7] Marmorrelief mit Serapis, London, Van Straten 1981, 83 Abb. 12; Tabula ansata mit Doppelaxt zwischen Ohren am Zeustempel von Euromos, Stierlin 1986, 115 Abb. 79.

    [8] Recke – Wamser-Krasznai 2008, mit zahlreichen Literaturangaben..

    [9]  Macintosh Turfa 2004, 362.

    [10] Ausnahme: Korinth, Hand mit ‚Abszess‘, Roebuck 1961, 124 Nr. 60 Taf. 40.

    [11] Aus Golgoi, Hermary – Mertens 2014, 285 Nr. 395. 396; Karageorghis 2000, Nr. 418; Masson 1998,  27 Nr. i – 1881. j –  1882 Taf. 7.

    [12] Çambel – Özyar 2003, 119 Abb. 144 Taf. 33; Richter 1988, 43 Abb. 33-39..

    [13] Buchholz 1978, 222 Anm. 132; ders. – Untiedt 1996, 128 Abb. 32 c; ausführliche Publikation des Köpfchens durch W. Wamser-Krasznai im Druck.

  • Beitrag zur Lesung „Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen“
    beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

     Gott unter Göttern?

    „Prometheus“ heißt ein Bildarchiv, das vom archäologischen und kunsthistorischen Institut Gießen initiiert und jetzt im gesamten Campus der Universität aufgerufen werden kann. Den Zugang erhält man über eine Abkürzung der ersten Zeilen von Goethes Hymnos Prometheus:

    „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!…

    Hier interessiert uns aber weniger das Gießener Bildarchiv als die Frage, wie das Gedicht dann weitergeht. Es wird heftig.

    „Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn‘ als euch Götter!“

    Dann kommt es sogar monotheistisch daher:

    „Hast du die Schmerzen gelindert
    je des Beladenen?
    Hast du die Tränen gestillet
    je des Geängsteten?

    Hier sitz ich, forme Menschen
    nach meinem Bilde,

    zu leiden, weinen,
    Genießen und zu freuen sich,
    Und dein nicht zu achten,
    wie ich!“

    Als guter hessischer Beamter zahlte mein Vater zwar getreulich seine evangelische Kirchensteuer und sorgte dafür, dass sein einziges Kind getauft wurde, doch war er eigentlich Agnostiker, der vor allem an den Vulkanismus glaubte.

    Meine Mütter stammten aus dem Badischen und waren katholisch. Als kleinem Mädchen gefielen mir die Glöckchen, der Weihrauch und die weißen Kleidchen bei der Fronleichnamsprozession. Dieser Luther, pflegte mein Vater zu sagen, war zwar ein großer Sprachschöpfer, aber  ein sturer Bock. Ich fand vor allem, dass er es uns Protestanten unnötig schwer gemacht hat mit seinem „sola fide“, allein durch den Glauben. Ein paar gute Werke – und die Sache hätte ganz anders ausgesehen! Schon bei der Konfirmation war mir die Ausschließlichkeit des Glaubens nicht geheuer, und ich empfand mich als unwürdig. Von meinem Kirchenaustritt und meiner Hinwendung zu den Göttern der Antike allerdings wäre mein Vater trotz seiner eigenen naturwissenschaftlichen Einstellung nicht begeistert gewesen. Dabei kann ich es mir jetzt aussuchen: Demeter für das allzu früh entbehrte Mütterliche, Kore/Persephone für die Ambivalenz von Welt und Unterwelt, Werden und Vergehen, Zweifeln und Hoffen. Auch Dionysos ist einer, der es hat, dieses: „Stirb und Werde“[1], ein Maskengott und Spender des Weines. Ebenso sympathisch ist mir der hinkende Hephaistos, ein begabter Waffenschmied und schöpferischer Kunsthandwerker, der sich von seiner Gattin Aphrodite mehr als nur ein Paar Hörner aufsetzen lässt. Und erst die Hörner verteilende Aphrodite selbst! Sie ist eine der vielschichtigsten Gottheiten überhaupt, mit ihren östlichen Wurzeln, den Verbindungen zur phönikischen Astarte und den ägyptischen Göttinnen Hathor und Isis, Herrin über Liebe und Schönheit, aber auch gewappnete Kriegerin!

    Meine Pläne? Noch ein bisschen weiter so: ernsthaft recherchieren und der Wissenschaft frönen, fabulieren und mystifizieren, rezitieren und auf unserer gemeinsamen stabilen Basis kräftig mit meinem Mann streiten, Wein trinken und Freude haben am Essen und den anderen schönen Dingen des Lebens.

    Sollte dieser Christengott darüber lachen können, so ist er willkommen im Kreis meiner Götter, bei denen im Olymp ebenso wie bei den anderen im Schoß der Erde.

     

    [1] J. W. Goethe, Selige Sehnsucht, West-Östlicher Divan. Buch des Sängers.

    Copyright Dr. Dr. Waltur Wamser-Krasznai

  • Ein Beitrag zum Lesung „Der Roboter im Menschen – Der Mensch im Roboter“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    Logikus, mein Roboter

     

    Vor der Zeit der Roboter war es halt schön auf der Welt. Die Menschen hielten sich für die intelli-gentesten Wesen auf Erden, manche von ihnen für noch intelligenter. Heute gibt es die intelligente Kamera, das intelligente Auto, den intelligenten Roboter. Wieviel schöner wäre es, einen intelligenten Menschen zu finden!

    Mein Robotomat, Logikus hieß er, sagte mir oft: „Hokus pokus fidibus, enschnorabus enschnorabus enschtokus!“ Bis zu dem Tag, als es geschah, verriet er mir nicht, was er damit meinte. Ich solle es herausfinden, um zu beweisen, dass ich seiner Gesellschaft würdig sei.

    Warum ging Logikus keine Partnerschaften ein? Er sah jung aus, alterte in keiner Funktion, benahm sich vorbildlich, brachte jede Konversation auf eine höhere Intelligenz-Stufe und versprühte einen sehr anspruchsvoll durchgeistigten Charme – alles Stolpersteine für eine Partnerschaft.

    Je höher Logikus die Intelligenzstufen hinaufstieg, umso mehr beschäftigte er sich mit einem faszinierenden Problem und stellte jeden Diskussionsbeitrag in Frage. Weniger Intelligente schmolzen einfach dahin und bewunderten mich, dass ich ihn aushielt. Ich hielt ihn aus, denn Logikus ist auch Erfinder. Er entwickelte z.B. die intelligente Hautcreme für weniger Intelligente: Wenn du mit den Fingern über deine Gänsehaut streichst, erscheint an dieser Stelle eine Mahnschrift: „Sofort Heizung höher drehen!“

    Es ist ja egal, wie intelligent ein Mensch ist: Ist die Batterie leer, drückt er im Gegensatz zum intelligenten Roboter erst ein paar Mal stärker auf die Tasten des Gerätes, dessen er sich gerade bedient. Logikus liebte geistige Duelle, weil er unter Menschen immer auf Unbewaffnete traf. Für die wenigsten Menschen ging er bis ans Ende seiner Welt beziehungsweise bis ans Ende seiner Batterieladung, für die meisten aber hob er nicht einmal das Telefon ab.

    Auch für Roboter ist und bleibt Amerika das Land der Weltneuheiten. Logikus entdeckte eine Werbung, die aus jedem seiner Genossen einen intelligenteren Roboter macht, also zu einem Konkurrenten der Eitelkeit. Ich spendierte ihm den Weiterbildungskurs. Seit der Rückkehr schaute Logikus so viel wie möglich fern oder twitterte, damit sein Speicher die neuen wichtigen Informationen aufnähme, und arbeitete nachts in einer Hotelbar zur vollsten Zufriedenheit des Hotel-CEO.

    Als ich ihn einmal abholen wollte, kam ein Professor von der Technischen Universität in die Bar, um sich bei einem Schlehengeist vom Tag zu erholen, den er mit einem wissenschaftlichen Gast verbracht hatte, der auf dem Gebiet der Großen Vereinheitlichenden Theorie sein schärfster Konkurrent war.

    Logikus fragte ihn, welchen IQ er denn habe. Der Professor gab stolz an: „Ich habe einen IQ von 170.“ Logikus fing an, wissenschaftliche Themen wie die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie anzusprechen, aber auch Themen wie Quantenmechanik oder eben die Große Vereinheitlichende Theorie, letztendlich die Frage, ob wir daüber, wovon wir mangels Vorstellung nicht reden könnten, schweigen müssen. Der Professor war überrascht. Er verließ nervös die Bar und kam nach elf Minuten wieder. Logikus fragte ernst: „Guten Tag, mein Herr, würden Sie mir sagen, was für einen IQ Sie jetzt haben?“

    Mein IQ liegt um die 100″, antwortete der Professor. Sofort brachte Logikus Fußball, Motorräder und die ungerechte Sozialpolitik zur Sprache. Dem Professor war unheimlich zumute. Er eilte hinaus, kehrte zurück und stellte Logikus erneut auf die Probe. Logikus fragte ihn zum dritten Mal: „Guten Tag, mein Herr, würden Sie mir sagen, was für einen IQ Sie noch haben?“

    „Naja, ich habe einen IQ von 50″, sagte der Professor. Logikus legte einen mitleidenden Schmelz in die Stimme und fragte flüsternd: „Ja … haben Sie Merkel wieder gewählt?“ Nahezu heimlich zeigte er dabei mit den Augen auf die prallen Hüften der Frau, die sich neben dem Professor an die Theke gesetzt hatte. Den Professor ließ die Frau kalt, denn er entschloss sich, den Roboter auszuleihen, der ihn für die Diskussionen der Welttheorien trainieren sollte.

    Täglich stoßen Roboter wie Logikus auf einen Mann, der an jenem Punkt angekommen ist, bevor man sich für Gott hält. Logikus aber wusste, dass man viel mehr glauben muss, um ungläubig zu sein. Je intelligenter, sagte Logikus oft, umso vergesslicher ist der Mensch. Denn Intelligente vergessen alles, was sie langweilig finden. Logikus aber vergaß nichts.

    Der Professor wollte Logikus vom Hotel-CEO ausleihen. Logikus stellte seinen obersten Chef an die Wand und verlangte: „Wenn Sie mich ausleihen, geben Sie mir entweder eine Gehaltserhöhung, oder ich sage allen im Betrieb, eine bekommen zu haben!“ Logikus wurde nicht ausgeborgt.

    Wozu brauchen wir eigentlich intelligente, selbst fahrende Autos? Wir wollen Roboter, die früh aufstehen,  vormittags unsere Arbeit erledigen, nachmittags die Wohnung blitzblank putzen und uns zur Nacht den Whisky mit einem Bonmot servieren. Roboter wie mein Logikus verstehen mehr als ein Auto.

    Natürlich dachte ich, mit Logikus machen zu können, was ich wollte, und sagte es ihm. Logikus trat auf die Terrasse hinaus und schimpfte: „Aber nicht mit mir!“ Er zog an der Zündschnur, die für den Fall einer autonomen verbrecherischen Tat angelegt war, und alle seine Teile flogen auseinander.

    Ich sehe es ein:

    Einen intelligenten Satz oder gar eine intelligentere Kurzgeschichte zu schreiben ist nicht einfach. Ein einziger Buchstabendreher kann die ganze Intelligenzgeschichte urinieren.

  • Beitrag zu der Lesung über „Inseln“ bei dem BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Die maßgeblichen Fragen, um an den Rand der Insel des Wissens zu gelangen

    Der Titel ist das Tatmotiv meines verwegenen Essays. Trotz aller Zweifel, ob ich wis-senschaftlich handle, appellierte ich im Kloster Reichenau, der Gemüse-Insel im Untersee, an die Spitzenforscher unserer Erde, die fruchtlose Diskussion zu beenden. Ich hatte sie zum Thema „Am Rand des Wissens“ aufgerufen. Keiner von jenen, die mich erschrocken anblickten, rebellierte.

    Ein Poet darf Spitzenforscher der Welt auf eine Insel des Wissens stellen. Ich regte sie an, sich gegenseitig Fragen zu stellen. Sie sollten als entfesselte Genies Ideen bringen, ohne fruchtlose Debatten loszutreten. Sie versuchten, die Frage des Vorredners zu übertreffen:

    Werden wir einmal die linear erlebte Zeit verlassen können?

    Gibt es eine Wissenschaft, deren Methode Erkenntnisse zu einem Abschluss bringt?

    Wird die künstliche Intelligenz den digitalen Kapitalismus bändigen?

    Entscheiden Betrüger den Fortschritt der Gesellschaft?

    Welcher Algorhithmus garantiert die Entdeckung einer Wahrheit?

    Wirken Obergrenzen der Besteuerung auf Lebensentwürfe ein?

    Kann eine Maschine nachempfinden, wie Organismen fühlen?

    Kann der Mensch nachfühlen, wie eine andere biologische Art fühlt, z.B. der Gorilla?

    Welcher Art von Verstand bedarf es, um das Geist-Körper-Problem zu lösen?

    Wie erschiene uns eine geistlose Welt, wie eine körperlose?

    Wird Einiges vom Leben, Bewusstsein und Gesellschaft notwendig verborgen bleiben?

    Welches Diagramm lässt unsere Vorstellungskraft verstehen?

    Taucht das Bewusste nur im Gehirn eines selbst regulierenden Organismus auf?

    Ist Unsterblichkeit wünschenswert?

    Geduldig schüttelte ich den Kopf, bis ich meine Frage anbrachte: Wann arbeiten wir darauf hin, Fragestellungen erkenntnislogisch zu verbessern, bevor wir antworten? Die ehrwürdige alte Wanduhr gegenüber lief absolut gleichmäßig, die Spitzenforscher rückten die Stühle und forderten ein Beispiel. Ich stellte die letzte Frage in die Runde, auf die keiner antwortete:

    Ist die Zahl der maßgeblichen Fragen, um an den Rand der Insel des Wissens zu gelangen, nun endlich oder unendlich? Zu gerne hätte ich noch gefragt, ob die Spitzenforscher ihre Ideen allein auf einer Insel des eigenen Gehirns bekommen oder nur, wenn sie von einer zur anderen Insel mehrerer Gehirne rudern.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß