Monat: Februar 2017

  •  

    Paradoxon

    (Die deutsche Übersetzung von Dietrich Weller  folgt nach dem englischen Text)

     

    USELESSNESS

    Many years ago, on a hot sunny day, in the shade of an old tree, Master Xi and his pupils were resting. There was silence in the air. Suddenly, one of his pupils remarked;

    “The leaves on this tree look as if they have blight, and the tree bears no fruit at all, and is useless.”

    The Sage replied: “This tree illustrates the importance of “uselessness”. Any large old tree has significance, and is a landmark in terms of spiritual pride. One should ask oneself the question; “Is this tree useful today for us, for protection from the continuous sunshine?”

    Throughout my life ,many have questioned the usefulness of all spiritual exercises of men. By natural reasoning alone, one can arrive at a broad philosophical perspective that recognizes the uselessness of all alleged human usefulness. The following example illustrates the importance of “uselessness”. The Earth surface is immense, but you make the use of only one small area of it under your feet. Let us imagine that only this small area remains, and the remainder of the Earth surface drops into a deep hole. Is this small area of ground now useful to you or not?”

    No”, replied the pupil. “In this instance, the whole Earth surface is superfluous and therefore, useless”

    The Sage concluded: “This example highlights the importance of uselessness. Only when one comprehends uselessness, then one is able to understand the meaning of usefulness.”

    Copyright Dr. André Simon

     

    Nutzlosigkeit

    Vor vielen Jahren ruhte sich Meister Xi mit seinen Schülern an einem heißen sonnigen Tag im Schatten eines alten Baums aus. Ruhe erfüllte die Luft. Plötzlich bemerkte einer seiner Schüler:

    Die Blätter an diesem Baum sehen aus, als hätten sie Mehltau, und der Baum trägt überhaupt keine Früchte, er ist nutzlos.“

    Der Weise antwortete: „Dieser Baum veranschaulicht uns die Wichtigkeit von Nutzlosigkeit. Jeder große alte Baum hat Bedeutung  und ist ein Denkmal für spirituellen Stolz (Hochmut). Man solle sich die Frage stellen: „Ist dieser Baum heute für uns nützlich zum Schutz vor andauerndem Sonnenschein?

    Während meines ganzen Lebens haben viele die Nützlichkeit aller spirituellen Übungen der Menschheit infrage gestellt. Allein durch natürliches Argumentieren kann man bei einer breiten philosophischen Sichtweise ankommen, die die Nutzlosigkeit aller unterstellten menschlichen Nützlichkeit erkennt.

    Das folgende Beispiel zeigt die Wichtigkeit von Nutzlosigkeit.

    Die Erdoberfläche ist unmessbar groß, aber du nutzt nur eine kleine Fläche davon unter deinen Füßen. Lasst uns annehmen, dass nur diese kleine Fläche bleibt und der Rest der Erdoberfläche in ein tiefes Loch fällt. Ist diese kleine Bodenfläche jetzt für dich nützlich oder nicht?“

    „Nein“, sagte der Schüler: „In diesem Fall ist die ganze Erdoberfläche überflüssig und deshalb nutzlos.“

    Der Weise schlussfolgerte: „Dieses Beispiel zeigt ganz klar die Wichtigkeit der Nutzlosigkeit. Nur wenn man Nutzlosigkeit versteht, ist man fähig, die Bedeutung von Nützlichkeit zu verstehen.“

  • Wasser

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der grüne Raum“; erste Erscheinung 1967
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

    Machen wir das Wasser nicht dreckig:
    flussabwärts trinkt vielleicht eine Taube Wasser.
    Oder in einer fernen Lichtung wäscht ein Stieglitz die Feder.
    Oder in der Oase wird ein Krug voll.
    Machen wir das Wasser nicht dreckig:
    Vielleicht läuft dieses fließende Wasser zum Fuße einer Weinpappel,
    um eines Herzens Trauer herunter zu waschen.
    Vielleicht hat die Hand eines Derwischs
    ein trockenes Brot ins Wasser eingetaucht.
    Eine schöne Frau kam an den Flussrand,
    machen wir das Wasser nicht dreckig,
    das schöne Antlitz hat sich verdoppelt.
    Wie belebend ist dieses Wasser!
    Wie rein ist dieser Fluss!
    Was für eine Reinheit haben die Menschen flussaufwärts!
    Ihre Quellen sollen perlend bleiben,
    ihre Kühe sollen lange Milch spenden!
    Ich habe ihr Dorf nicht gesehen,
    zweifelsohne ist an ihren Hütten die Fußspur Gottes.
    Der Mond erhellt dort das Feld des Wortes.
    Zweifelsohne sind die Mauern in dem Dorf flussaufwärts niedrig.
    Seine Bewohner wissen, was für eine Blume die Anemone ist.
    Zweifelsohne ist dort das Blaue blau.
    Die Dorfbewohner wissen Bescheid, wenn eine Knospe aufgeht.
    Was für ein Dorf muss es sein!
    Seine Gassen und Gärten sollen voller Musik sein!
    Die Menschen am Ursprung des Flusses verstehen das Wasser.
    Sie haben das Wasser nicht dreckig gemacht,
    machen wir auch das Wasser nicht dreckig.

    ۞۞۞

     

  • Was bedeutet das Leben?

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980)
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

    Es war eine ruhige Nacht.
    Ich ging auf die Terrasse,
    um mir die Frage zu stellen,
    was das Leben bedeutet.
    Meine Mutter,
    ein Tablett mit Teegläsern in der Hand,
    pflückte eine Blume des Lächelns
    und schenkte sie mir.
    Meine Schwester holte ein Stück Brot,
    setzte sich dort an den Rand des Beckens,
    wo man sich die Füße wäscht.
    Um von den Fischen etwas zu erfahren,
    tauchte sie ihre Hände in das Wasser.
    Mit den Händen bildete sie eine Schüssel,
    widerspiegelte ein warmes Gesicht in dieser Schüssel,
    verzierte es mit einem Lächeln
    und schenkte es den aufnehmenden Augen meines Herzens.
    Mein Vater holte ein Gedichtbuch,
    lehnte sich an das Kissen,
    las ein wundervolles Gedicht vor
    und führte mich
    zum wunderbaren Frieden der Gewissheit.
    Ich sprach zu mir,
    das Leben ist ein großes Geheimnis,
    das in uns fließt.
    Das Leben ist der Abstand
    zwischen unserem Kommen und Gehen.
    Der Fluss der Welt ist in Bewegung.
    Das Leben ist das Schwimmen in diesem Fluss.
    Zum Zeitpunkt des Gehens sind wir so nackt,
    wie wir beim Eintreten gekommen sind.
    Die Geschichte unseres Kommens und Gehens
    ist ein sich wiederholendes Stück.
    Manche treten weinend ein,
    manche sind beschäftigt mit den Unruhen dieses Flusses,
    manche, Trauer auf den Lippen,
    beabsichtigen das Austreten.
    Der Unterschied zwischen uns
    ist die Länge dieses Schwimmens,
    oder vielleicht die Art und Weise des Eintauchens.
    Wonach sucht unsere Hand am Bett dieses Flusses,
    nach Nichts?
    Das Leben ist der Glaube an Umwandlung der Zeit in Lebensgedanken.
    Das Leben ist die Summe der Herzschläge.
    Das Leben ist das Gewicht eines Blickes,
    der in Erinnerungen fortbesteht.
    Das Leben ist das vereitelte Spiel,
    in dem du Sachen anhäufst,
    die man nicht mitnehmen darf.
    Und dabei vergessen wir,
    was unsere Wegzehrung ist.
    Vielleicht wird diese sinnlose Wehmut,
    die du in deinem Herzen trägst,
    die Wärme der Flammen deiner Hoffnung vernichten.
    Das Leben ist das Begreifen eben dieser Gegenwart.
    Das Leben ist die Freude des Erreichens jenes morgigen Tages,
    der nicht kommen wird.
    Du befindest dich
    weder im vergangenen noch im kommenden Tag.
    Die Schale des Heute
    ist voll deiner Anwesenheit.
    Vielleicht ist das Lachen,
    das du heute verweigert hast,
    die letzte Gelegenheit gewesen,
    um die Hoffnung zu begleiten.
    Das Leben ist eine zarte Fessel,
    die sich um den Hals der Seele gelegt hat.
    Das Leben ist die Gelegenheit für das Zusammengehen des Körpers und der Seele:
    die Seele mit einer Beschaffenheit wie Gott;
    und der Körper:
    eine zusammengefügte Welt aus Vergänglichem.
    Das Leben ist eine seltsame Erinnerung, die im Gedächtnis der Erde fortbesteht.
    Das Leben ist die Gelegenheit für eine Erfahrung.
    Damit es alle wissen,
    solange es die Geburt gibt,
    kann gesagt werden,
    dass Gottes Hoffnung auf Befreiung der Menschen besteht.
    Das Leben ist das höchste Zeichen für das Grüne
    in den Gedanken eines Blattes.
    Das Leben ist die Sehnsucht eines Wassertropfens nach Meer
    in der Stille des Flusses.
    Das Leben ist die Empfindung des Aufblühens eines Feldes
    im Glauben eines Korns.
    Das Leben ist der Glaube eines Fisches an das Meer,
    gefangen in einem Glas.
    Das Leben ist das leuchtende Abbild der Erde
    im Spiegel der Liebe.
    Das Leben ist das Begreifen des Unbegreiflichen.
    Das Leben ist ein offenes Fenster zum Universum.
    Solange dieses Fenster offen ist,
    ist die Welt mit uns,
    sind Himmel, Licht, Gott, Liebe und Glück mit uns.
    Verpassen wir nicht die Chance,
    wenn dieses Fenster offen steht.
    Schlagen wir dem Lichte die Tür nicht zu.
    Schlagen wir dem liebevollen Frieden der Brise die Tür nicht zu.
    Enthüllen wir unsere Herzen,
    das Gesicht diesem Fenster entgegen,
    sprechen wir mit Freude einen Gruß aus.
    Das Leben ist die Gastfreundschaft
    Was das Schicksal mir beschert,
    was es auch sein mag,
    daran denke ich nicht.
    Das Ausmaß meines Glücks
    ist das Ausmaß meiner Zufriedenheit.
    Vielleicht ist dieses Geheimnis
    das Geheimnis des Annehmens des Schicksals
    und des Eingehens von Kompromissen mit ihm.
    Das Leben ist vielleicht das Gedicht meines Vaters,
    das er vorlas,
    der Tee meiner Mutter,
    der mich erwärmte,
    das Brot meiner Schwester,
    mit dem sie die Fische speiste.
    Das Leben ist vielleicht jenes Lachen,
    das wir verwehrten.
    Das Leben ist der reine Gesang des Lebendigen
    zwischen zwei Stillen.
    Das Leben ist die Erinnerung
    an unser Kommen und Gehen.
    Im Moment unseres Kommens und Gehens
    besteht die Einsamkeit.
    Und ich wünsche,
    dass wir diese Erinnerung wertschätzen.

    ۞۞۞

     

     

  • Und ich zerbrach und lief und fiel

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der Osten der Schwermut“; erste Erscheinung 1961
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

    Deinen Klängen öffnete ich die Türen.
    Jeden Teil meines Blickes warf ich irgendwo hin,
    das Leben füllte ich mit dem Blick.
    Am Rande eines Sumpfes
    sah ich ein Stück deines Lächelns im Schlamm,
    ich fing an zu beten.
    Am Stiel eines Dornbusches
    war deine Erinnerung verborgen,
    ich pflückte sie
    und streute sie in die Welt.
    Auf den Saiten der Bäume
    spielte ich das Lied des Aus-sich-Hinauswachsens
    und des In-sich-Entwickelns.

    Und ich pflügte die harmonische Nacht des Betens,
    streute den Samen des Geheimnisses
    und zerbrach den Haken der Täuschung.
    Und ich lief bis zum Nichts
    und lief bis zum Antlitz des Todes,
    bis zum Kern des Bewusstseins.
    Und ich fiel auf die Felsen des Schmerzes.

    Von dem Tau deiner Begegnung wurde mein Finger feucht,
    ich zitterte.
    Eine Brise war am Überqueren eines Berghanges,
    einen Schritt ging ich mit ihr.
    Am Ende der Finsternis
    sah ich ein Stück einer Sonne,
    verzehrte es,
    und verließ mich
    und war frei.

    ۞۞۞

     

  • Und eine Botschaft unterwegs

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der grüne Raum“; erste Erscheinung 1967
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    Eines Tages
    werde ich kommen und eine Botschaft mitbringen.
    Das Licht werde ich in die Adern gießen.
    Und werde ausrufen: Ihr mit Körben voller Träume!
    Ich habe Äpfel gebracht, den roten Apfel der Sonne!
    Ich werde kommen, dem Bettler werde ich einen Jasminzweig geben.
    Der schönen leprakranken Frau
    werde ich einen weiteren Ohrring schenken.
    Dem Blinden werde ich erzählen, wie sehenswürdig der Garten ist.
    Ich werde fliegender Händler,
    werde durch die Gassen gehen,
    werde ausrufen: Tau, Tau, Tau.
    Ein Passant wird sagen:
    der Aufrichtigkeit halber, es ist eine dunkle Nacht,
    ihm werde ich die Milchstraße geben.
    Auf der Brücke ist ein Mädchen ohne Bein,
    ihr werde ich den Großen Bären am Himmelzelt um den Hals hängen.
    Sämtliche Beschimpfungen werde ich auf den Lippen beseitigen.
    Sämtliche Mauern werde ich abreißen.
    Den Räubern werde ich sagen:
    Eine Karawane kam, beladen mit Lächeln!
    Die Wolke werde ich zerreißen.
    Ich werde zusammenknoten
    die Augen mit der Sonne,
    die Herzen mit der Liebe,
    die Schatten mit dem Wasser,
    die Äste mit dem Wind.
    Und ich werde miteinander verbinden
    den Traum des Kindes mit dem Summen der Grillen.
    Drachen werde ich in die Luft steigen lassen.
    Blumentöpfe werde ich gießen.
    Ich werde kommen,
    den Pferden, den Rindern
    werde ich das grüne Gras der Zärtlichkeit hinlegen.
    Einer durstigen Stute
    werde ich den Eimer mit Tauwasser hinstellen.
    Einem alten Esel unterwegs
    werde ich die Fliegen wegschlagen.
    Ich werde kommen und auf jede Mauer
    eine Nelke pflanzen.

    Unter jedem Fenster werde ich ein Gedicht singen.
    Jeder Krähe werde ich eine Tanne geben.
    Der Schlange werde ich sagen,
    welche Pracht der Frosch hat.
    Ich werde versöhnen.
    Ich werde bekannt machen.
    Ich werde schreiten.

    ۞۞۞

     

  • Hinter den Meeren

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der grüne Raum“; erste Erscheinung 1967
    Auszugsweise Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    Ich werde ein Boot bauen
    und zu Wasser lassen.
    Von diesem fremden Land werde ich mich entfernen,
    in dem es keinen Menschen gibt,
    der in der Lichtung der Liebe die Helden weckt.
    Das Boot ohne Netz
    und das Herz ohne Wunsch nach Perlen
    werde ich weiterhin fahren.
    Ich werde mich weder in die blauen Farben
    noch in die Meeresfeen verlieben,
    die ihren Kopf aus dem Wasser herausstrecken….

    Hinter den Meeren ist eine Stadt,
    in der die Fenster zum Licht der Erkenntnis geöffnet sind.
    Und die Dächer sind der Aufenthaltsort von Tauben,
    die das Aufsteigen der menschlichen Intelligenz beobachten.
    In der Hand jedes zehnjährigen Kindes dieser Stadt
    ist ein Ast der Einsicht.
    Die Stadtbewohner betrachten eine Feldbegrenzung genau so
    wie eine Flamme, wie einen zarten Traum.
    Die Erde hört die Musik deines Gefühls,
    und der Klang der Flügel der mythischen Vögel kommt mit dem Wind.
    Hinter den Meeren ist eine Stadt,
    in der die Weite der Sonne
    dem Blickwinkel  der Frühaufsteher entspricht.
    Die Dichter sind dort der Erbe von Wasser, Weisheit und Licht.
    Hinter den Meeren ist eine Stadt!
    Man muss ein Boot bauen.

    ۞۞۞

     

  • Der Tod der Farbe

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem gleichnamigen Buch; erste Erscheinung 1951
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    Eine Farbe ist am Rande der Nacht
    wortlos verstorben.
    Ein schwarzer Vogel ist über ferne Wege gekommen
    und besingt von Daches Höhe die Nacht der Niederlage.
    Siegesbetrunken ist gekommen
    der Vogel, der die Trauer anbetet.

    In dieser Niederlage der Farbe
    ist  jegliches Liedes auseinandergerissen.
    Einzig die Stimme des tapferen Vogels
    verziert das Ohr der einfachen Stille
    mit dem Ohrschmuck des Widerhalls.

    Der schwarze Vogel, über ferne Wege gekommen,
    hat sich auf das hohe Dach der Nacht der Niederlage gesetzt
    wie ein Stein, regungslos.
    Den Blick hat er
    über die vernebelten Gestalten in seiner Phantasie gleiten lassen.
    Ein seltsamer Traum quält ihn:
    die Blumen der Farbe sind im Boden der Nacht aufgegangen.

    Auf den Straßen des Wohlgeruchs
    ist die Brise verstummt.
    Jederzeit eine Täuschung im Sinne
    zeichnet etwas mit seinem Schnabel
    dieser Vogel, der die Trauer anbetet.
    Eine Fessel ist gerissen.
    Ein Schlaf ist zerbrochen.
    Der Traum des Landes
    hat die Legende vom Aufblühen der Blumen der Farbe
    vergessen.
    Still muss man die Windung dieses Weges passieren:
    eine Farbe ist am Rande dieser grenzenlosen Nacht verstorben.

    ۞۞۞

     

  • Der Ruf des Anfangs

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der Reisende“; erste Erscheinung 1967
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    Wo sind meine Schuhe,
    wer hat gerufen: Sohrab?
    Die Stimme war bekannt,
    so wie die Luft den Körper des Blattes kennt.
    Meine Mutter schläft,
    Manouchehr und Parvaneh und vielleicht alle Menschen der Stadt schlafen (1).
    Die Nacht im Monat Khordad (2) geht seicht wie ein Klagelied
    über die Köpfe der Sekunden hinweg.
    Und eine kühle Brise fegt meinen Schlaf vom Rande der Decke weg.
    Der Duft des Verreisens ist in der Luft:
    mein Kissen ist voller Gesang der Schwalben.
    Der Morgen wird ankommen
    und in diese Wasserschüssel
    wird der Himmel verreisen.

    Heute Abend muss ich gehen.
    Ich, der durch das am weitesten geöffnete Fenster
    mit den Menschen dieser Region sprach,
    hörte kein Wort über die Eigenschaften der Zeit.
    Kein Auge betrachtete verliebt die Erde.
    Keiner wurde durch das Erblicken eines Beetes angezogen.
    Keiner nahm einen kleinen Häher auf einem Feld ernst.
    Wie eine Wolke werde ich traurig,
    wenn ich durch das Fenster sehe, dass Houri (3),
    die erwachsene Tochter des Nachbarn,
    am Fuße der seltensten Ulme der Welt
    islamisches Recht liest.

    Es gibt auch Gegebenheiten,
    Augenblicke voller Erhabenheit.
    Ich sah zum Beispiel eine Dichterin,
    die so sehr mit dem Betrachten des Universums beschäftigt war,
    dass der Himmel in ihre Augen Eier legte.
    Und einer Nacht der Nächte
    fragte mich ein Mann,
    wie viel Stunden würde es dauern
    bis zum Aufgang der Weintraube.

    Heute Abend muss ich gehen.
    Heute Abend muss ich den Koffer nehmen,
    der für das Hemd meiner Einsamkeit gerade Platz hat,
    und in die Richtung gehen,
    wo die epischen Bäume sichtbar sind,
    jenem weiten Land ohne Worte entgegen,
    das ständig nach mir ruft.
    Jemand hat wieder gerufen: Sohrab!
    Wo sind meine Schuhe? 

    ۞۞۞

    Erläuterungen:

    (1) Hier sind die Schwester des Dichters, Parvaneh, und sein Bruder, Manouchehr, gemeint.

    (2) Khordad ist der Name des dritten Monats im iranischen Sonnenjahr und dauert von 22. Mai bis 21. Juni.

    (3) Houri ist ein Mädchenname und bedeutet Huri oder Paradiesjungfrau.

     

     

  • Der Klang des Ganges des Wassers

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980); erschienen im Jahr 1965
    Auszugsweise Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    den stillen Nächten meiner Mutter gewidmet

     

    Ich stamme von Kashan.
    Mir geht es nicht schlecht.
    Ich habe ein Stück Brot,
    ein bisschen Intelligenz
    und eine Nadelspitze Geschmack.
    Ich habe eine Mutter,
    besser als das Blatt des Baumes.
    Freunde, besser als das fließende Wasser.

    Und ich habe einen Gott, der hier in der Nähe ist:
    zwischen den Levkojen,
    am Fuß jener hohen Tanne,
    in dem Bewusstsein des Wassers,
    in dem Gesetz der Pflanze.

    Ich bin ein Moslem.
    Beim Beten beuge ich mich in Richtung einer Rose.
    Mein Gebetstuch ist eine Wasserquelle,
    mein Gebetsstein das Licht,
    mein Gebetsteppich die Ebene.
    Mit dem Pulsschlag der Fenster
    nehme ich meine religiöse Körperwaschung vor.
    In meinem Gebet bewegt sich der Mond,
    fließt das Lichtspektrum.
    Hinter meinem Beten ist der Stein sichtbar:
    alle Teilchen meines Betens sind zu Kristallen geworden.
    Ich bete dann,
    wenn der Wind zum Gebet aufgerufen hat
    auf dem Wipfel der Zypresse.

    Ich habe Sachen auf dieser Erde gesehen:
    Ich sah ein Kind,
    das an dem Mond schnupperte.
    Ich sah einen Käfig ohne Tür,
    die Helligkeit flatterte in ihm herum.
    Ich sah eine Leiter,
    die Liebe stieg auf sie zum Dach des Himmels.
    Ich sah eine Frau,
    die das Licht in einer Reibeschale zerrieb.
    Zum Mittag war Brot auf ihrer Essensdecke
    das Grüne,
    der Teller mit Tau,
    die heiße Schüssel der Liebe.
    Ich sah einen Bettler,
    der ging von Tür zu Tür
    und verlangte nach dem Gesang der Lerche.

    Ich stamme von Kashan, aber
    Kashan ist nicht meine Stadt.
    Meine Stadt ist abhanden gekommen.
    Ich habe kraftvoll, fieberhaft
    auf der anderen Seite der Nacht ein Haus gebaut.

    In diesem Haus bin ich der feuchten Anonymität des Grases nah.
    Ich höre das Atemgeräusch des Beetes
    und die Stimme der Dunkelheit,
    wenn sie von einem Blatt herunterfällt,
    und das Geräusch des Hustens der Helligkeit hinter dem Baum,
    das Niesen des Wassers aus einer Öffnung des Steines,
    das Klopfen der Schwalbe am Dach des Frühlings.
    Und den klaren Klang des Auf- und Zugehens des Fensters der Einsamkeit.
    Und den reinen Klang der verborgenen Häutung der Liebe,
    das Sich-Zusammenballen der Neigung zum Fliegen in dem Flügel,
    und die Entstehung von Rissen in der Selbstbeherrschung des Geistes.
    Ich höre den Klang des Ganges des Verlangens .

    Ich bin dem Anfang der Erde nah.
    Ich fühle den Puls der Blumen.
    Ich bin vertraut mit dem feuchten Schicksal des Wassers,
    mit der grünen Gewohnheit des Baumes. . .

    Ich habe keine zwei Pinien gesehen, die miteinander verfeindet sind.
    Ich habe keinen Weidenbaum gesehen,
    der der Erde seinen Schatten verkauft.
    Umsonst schenkt die Ulme der Krähe seinen Ast.
    Überall wo ein Blatt ist, blüht meine Leidenschaft auf. . .

    Ich weiß es nicht, wieso sie sagen:
    das Pferd ist ein edles Tier,
    die Taube ist schön.
    Und wieso ist im Käfig von keinem ein Geier.
    Was hat die Kleeblüte weniger als die rote Tulpe.
    Die Augen muss man waschen,
    auf eine andere Weise muss betrachtet werden.
    Die Wörter muss man waschen.
    Das Wort muss in sich selbst der Wind,
    das Wort muss in sich selbst der Regen sein. . .

    Entfernen wir das Bedeckende:
    lassen wir das Gefühl in frischer Luft spazieren gehen.
    Lassen wir die Reife unter jedem Gebüsch übernachten.
    Lassen wir den Instinkt dem Spielen nachgehen,
    die Schuhe ausziehen
    und den Jahreszeiten hinterher über die Blumen springen.
    Lassen wir die Einsamkeit singen,
    Verse verfassen,
    auf die Straße gehen.

    Seien wir einfach.
    Seien wir einfach sowohl an einem Bankschalter
    als auch unter einem Baum.
    Es ist nicht unsere Aufgabe, das „Geheimnis“ der Rose zu erforschen,
    es ist vielleicht unsere Aufgabe,
    dass wir im „Zauber“ der Rose schwimmen,
    hinter dem Wissen Zelte aufschlagen,
    die Hände in der Anziehung eines Blattes waschen
    und dann zum Gedeck gehen,
    morgens, wenn die Sonne aufgeht, geboren werden
    und die Aufregungen fliegen lassen. . .

    Der Menschheit, dem Licht, der Pflanze und dem Insekt die Tür öffnen.
    Unsere Aufgabe ist es vielleicht,
    dass wir zwischen der Seerose und dem Jahrhundert
    dem Gesang der Wahrheit hinterherlaufen.

    ۞۞۞

     

  • Bodhi *

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der Osten der Schwermut“; erste Erscheinung 1961
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    Es war ein Moment,
    die Türen waren aufgegangen.
    Nicht ein Blatt,
    nicht ein Ast,
    der Garten der Vernichtung war sichtbar geworden.
    Die Vögel des Raumes still,
    dieser still, jener still,
    die Stille fing an zu sprechen.
    Was war auf jenem Feld?
    Ein Wolf war zum Begleiter eines Schafes geworden.
    Das Bild des Schalles farblos,
    das Bild des Rufes blass.
    War vielleicht der Vorhang zusammengefaltet?
    ‚Ich‘ gegangen,
    ‚Sie‘ gegangen,
    ‚Wir‘ hatte uns verlassen.
    Die Schönheit war einsam geworden.
    Jeder Fluss hatte sich zu einem Meer,
    jedes Wesen hatte sich zu einem Buddha verwandelt.

    ۞۞۞

    * Mit Bodhi wird im Buddhismus ein Erkenntnisvorgang bezeichnet, der auf dem vom Buddha gelehrten Erlösungsweg von zentraler Bedeutung ist.