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Ein kleines Beispiel für einseitige Betrachtungsweisen
Eigentlich weiß der moderne Mensch, dass er sich dem Bösen stellen muss, für seine eigene – nicht nur spirituelle – Entwicklung, wie auch für die Entwicklung der Menschheit ist es erforderlich. Er weiß auch, dass er seinen Egoismus überwinden muss. Überwinden, wandeln, nicht abspalten… Doch dazu muss er es wahrnehmen, sehen, erkennen … in sich und in der Welt. Doch was geschieht? Täuschung und Illusionierung werden aktiviert! Es entsteht die Tendenz, schnell (vorschnell) zu pathologisieren… natürlich vor allem seinen Mitmenschen (dass er sich vielleicht täuscht, kommt ihm nicht in den Sinn) und weil er seinen eigenen Anteil bagatellisiert, fehlinterpretiert, erliegt er Illusionen, die die Selbsterkenntnis schließlich stören beziehungsweise verunmöglichen. Die Fehlinterpretation, die an Verleumdung grenzt beziehungsweise die einseitige Übertreibung eines Aspektes des schönen Narziss-Mythos sind ein Beispiel für diese Haltung.
Mir ist jetzt ein kleines Beispiel eingefallen, das es verdeutlicht. Eine Erklärung zum besseren Verständnis: Ich beschäftige mich mit der Rose in all ihren Facetten, symbolischen Aspekt, ihre Bedeutung in der Menschheitsgeschichte, mit dem Namen der Rose, dem Wort, das in unzähligen Zusammenhängen existiert (Rosenwunder, Rosengarten, Rosarium, Rosenkreuz, Rosenkranz, Rosalien, Rosenmontag, die rosenfingrige Göttin). Ich habe die Rose in der Osterglocke verborgen entdeckt … alles Themen, mit denen ich mich beschäftige und über die ich – hoffentlich – noch schreiben werde. Heute früh dachte ich, die Verleumdung – oder objektiver gesagt: die einseitige Betrachtungsweise des Narziss betrifft z. T. auch seine Blume (die doch wunderschöne Sternenblume, Becherblume, Frühlingsbote, die an vielen Orten die Böschungen der großen Strassen verschönt). Die Rose ist – zum Glück – davon verschont geblieben. Da fiel mir ein Spruch ein, der in meiner frühen Schulzeit mir ins Poesiealbum geschrieben wurde:
Sei wie das Veilchen im Moose
bescheiden und still
und nicht wie die stolze Rose
die immer bewundert sein willMir tat die Rose leid, ich fand es ungerecht. Ich vermute, ich sah in ihrer entfalteten Blüte die sichtbare Hingabe an die Welt und die Freude, die sie durch ihr Blühen uns schenkt. Über das Veilchen dachte ich nicht nach, es war wie das Schneeglöckchen ein stiller Frühlingsbote, ich liebte seine Farbe, seinen Duft. In der Pubertät sah ich in diesem Poesiealbumspruch die Reste einer kleinbürgerlichen Erziehung.
Und heute? Bescheidenheit ist keine erstrebenswerte Tugend mehr – zumindest nicht im virtuellen Chatroom. Zum Glück hat noch keiner gesagt: das Veilchen sei feige und ein Duckmäuser!
Helga Thomas
25.7.2018
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HEAVEN
The Chinese pictogram (Tiān) means the heaven. It consists of the line above a simplified drawing of a man with his arms stretched. The line directly above represents the horizon.
The heaven is ever greater than humanity. The sign puts human beings between heaven and earth, and reminds one ,that human beings are just a minute part of everything under the heaven.
The heaven is infinite, vast, omnipresent and ever-changing.
However, the heaven has no beginning, because if it had, it would have had an end. It is a circle that at each point starts and ends infinitely.
Heaven is not an abstract philosophical concept but an every – daily presence. The wind blows through its blue expanse. Clouds gather and vanish in its vastness.
The human spirit of a genius is very possibly as extensive like a heaven.
Dr. med. André Simon © Copyright
Übersetzung von Dietrich Weller
Himmel
Das chinesische Piktogramm Tian bedeutet Himmel. Es besteht aus der Linie über einer vereinfachten Zeichnung eines Menschen mit seinen ausgestreckten Armen. Die Linie direkt darüber versinnbildlicht den Horizont.
Der Himmel ist sogar größer als die Menschlichkeit. Das Zeichen stellt menschliche Wesen zwischen Himmel und Erde dar und erinnert uns, dass menschliche Wesen gerade mal ein winziger Teil von allem unter dem Himmel sind.
Der Himmel ist unbegrenzt, riesig, überall und ändert sich ständig.
Aber der Himmel hat keinen Beginn, denn wenn er einen hätte, hätte er auch ein Ende. Es ist ein Kreis, der an jedem Punkt beginnt und im Unendlichen endet.
Der Himmel ist kein abstraktes philosophisches Konzept, sondern eine all-tägliche Gegenwart.
Der Wind bläst durch seine blaue Ausdehnung. Wolken sammeln sich und verschwinden in seiner unendlichen Weite.
Der menschliche Geist eines Genies ist sehr wahrscheinlich so umfassend wie der Himmel.
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Eindrücke
(21.7.2018)
Auf beiden Seiten des Fahrradweges
frisch gemähte Getreidefelder
an kurz geschorene Köpfe erinnernd
zum Streicheln einladend
An einigen Stellen schon der neue Pflug
Schimmernde Heuballen abholbereit
dazwischen ein einsamer Streifen Sonnenblumen
Eine Schar wilder Gänse emsig weidend
Ein junges Reh hastig den Weg überquerend
Kreisförmige Wellen im Baggersee
auf beschäftigte Insekten hinweisend
Großer Ratschlag der Vögel auf der Stromleitung
Der Himmel farbenfroh von der Abendsonne
Neben mir deine beglückende Anwesenheit
Immer wieder Hand in Hand -
Book
The Chinese pictogram Shū describes a book presented in bamboo strips tied together with threads. This book type is far ahead of the books written on the rice paper.
A legend has it, that once an earthquake caused the displacement of boulders and reopened a cave. The cave was hidden for centuries by rocks and vegetation. When the people of this time explored the cave, they found art designs on the walls. In the center of the cave they also found human bones and the remains of a “book” with the signs etched on bamboo strips. This partially legible book told an obvious message. Unlike the dominant thoughts of that era, it described a person who had reconsidered his whole life and imparted the lessons of a new way of seeing things.
The writings in this book are deeply respected and allow people to read about forgotten knowledge and to travel distances over time and space.
Books are the safest bridge over which the time flows and which connects the time.
Authors note:
The oldest book of the Chinese classics and divination text, written more than 3500 years ago. is known as “I Ching” (易經)
“I Ching” has philosophical commentaries and provides inspiration to the world of psychoanalysis offering the life’ lessons. It was translated by German sinologist and missionary Richard Wilhelm (1873-1930), who lived in China for 25 years and became fluent in spoken and written Chinese. The psychologist Carl G. Jung was his friend and took interest in the possible universal nature of the” I Ching”, and a possibility of access to the unconscious. He explained it in the introduction to the first translated edition of “I Ching” (1923). Carl G. Jung used the term synchronistic principle publicly in 1930 in his obituary to the friend.
Dr. med. André Simon © CopyrightÜbersetzung von Dietrich Weller
Das chinesische Piktogramm Shū beschreibt ein Buch, das in Bambusstreifen vorliegt, die mit Fäden zusammengebunden sind. Diese Art von Buch stammt aus einer Zeit, die lange vor den Büchern liegt, die auf Reispapier geschrieben wurden.
Eine Legende schildert, dass einmal ein Erdbeben Felsgestein verschob und eine Höhle wieder eröffnete. Die Höhle war Jahrhunderte lang von Felsen und Gewächs verdeckt. Als die Menschen jener Zeit die Höhe erforschten, fanden sie Kunstwerke an den Wänden. Im Höhlenzentrum fanden sie auch menschliche Knochen und die Überbleibsel eines „Buchs“, auf dem die Zeichen auf Bambusstreifen geätzt waren. Das teilweise lesbare Buch vermittelte eine offensichtliche Botschaft. Anders als die überwiegenden Gedanken jener Zeit, beschrieb es eine Person, die ihr ganzes Leben betrachtet hatte und die Lektionen einer neuen Sicht auf die Angelegenheiten des Lebens vermittelte.
Die Schriften in diesem Buch werden tief respektiert und erlauben den Menschen, über vergessenes Wissen zu lesen und Entfernungen über Zeit und Raum zu überwinden.
Bücher sind die sicherste Brücke, über die Zeit fließt und die Zeiten verbinden.
Anmerkung des Autors:
Das älteste Buch der chinesischen Klassiker und Prophezeihungstexte, geschrieben vor mehr als 3500 Jahren, ist als I Ching (易經) bekannt.
Das „I Ching“ enthält philosophische Kommentare und vermittelt Einsichten in die Psychoanalyse, indem es Lebenslektionen anbietet. Es wurde von dem deutschen Sinologen und Missionar Richard Wilhelm (1873 – 1930) übersetzt, der 25 Jahre lang in China lebte und Chinesisch in Wort und Schrift fließend beherrschte.
Der Psychologe Carl G. Jung war sein Freund und zeigte Interesse an der allumfassenden Natur des „I Ching“ und an der Möglichkeit eines Zugangs zum Unterbewusstsein. Er erklärte das in der Einleitung zu der ersten übersetzten Ausgabe des „I Ching!“ (1923). Carl G. Jung benützte den Begriff „synchrone Prinzipien“ 1930 öffentlich in seinem Nachruf für den Freund.
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Selbstüberwindung
(19.7.2018)
In durchlöcherten Schuhschachteln
umgeben von Maulbeerblättern
sah ich die Entwicklung der Seidenraupen
ihr mehrfaches Häuten
die Entstehung der Kokons
das kurze Dasein der Schmetterlinge
die Farbveränderungen der kleinen EierIn ständiger Selbstüberwindung
auf unterschiedlichen Ebenen
nahm mein Leben seinen Lauf
bei aller Versunkenheit und Glückseligkeit
stets begleitet von der Sehnsucht
einen Meißelschlag auszuführen
an der werdenden Statue
der Menschengesellschaft֎֎֎
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Die Kunst des Belanglosen
(2.7.2018)
in Erinnerung an Hans Paasche (1881-1920)
Kapital und Macht wurden vermehrt
durch Herstellung und Vermarktung allerlei Gifte
und durch Behandlung der Folgekrankheiten
mit allem, was dazu gehörteUnter diesen tragischen Umständen wurde
die Kunst des Belanglosen bewusst
von den Machthabern gefördert
unter schäbiger Mitwirkung
von Wissenschaftlern und Künstlern
So verdunkelten vielschichtig
hitzige Wortgefechte und irrwitzige Beschäftigungen
die Ursachen der gesellschaftlichen Misere֎֎֎