Monat: März 2020

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. –
    Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen, Verlag Weinmann, Filderstadt.
    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. – Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen,
       Verlag Weinmann, Filderstadt.

    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Viele Menschen versuchen, ihr eigenes mangelndes Selbstwertgefühl zu verbessern, indem sie ihre Mitmenschen hetzen, demütigen, beleidigen, als minderwertig darstellen oder in irgendeiner anderen Weise herabsetzen. Es ist ja sehr einfach, am Anderen Fehler zu entdecken und zu kritisieren. Dass wir diese nur entdecken können, weil wir sie in der Anlage selbst auch besitzen, wird meist großzügig übersehen. Die Logik dahinter ist einfach: Wenn der Andere meiner Meinung nach weniger wert ist als ich, bin ich „sozial mehr wert“. Der scheinbare Vorteil dieser Verhaltensweise besteht darin, dass ich nicht an mir arbeiten muss, um meinen gesellschaftlichen Wert und mein soziales Ansehen zu verbessern. Der Andere muss etwas tun und besser werden! Und wenn er etwas verbessert, werde ich ihn kleinhalten und weiter niedermachen, um den Abstand zwischen uns nicht kleiner werden zu lassen. Deshalb werden Friedensaktivisten auch so oft Opfer von hoch aggressiven Mitmenschen.

    Die gegensätzliche Sichtweise besteht darin, an sich selbst zu arbeiten und sich zu verbessern. Dann kann ich den Anderen als Hilfe sehen, in dessen Spiegel ich meine Unzulänglichkeiten sehe. Das ist eine therapeutische Begegnung, die mir helfen kann, meine eigene Entwicklung zu verbessern.

    Die erste Lebenseinstellung ist die einfachere und vordergründig und besonders in der Menschenmasse wirkungsvoller. Sie beflügelt die Populisten und sichert ihnen ein zahlreiches Publikum und Wahlvolk, das jemanden gefunden hat, der so ist wie sie selbst (sein wollen) und „es den Andern mal richtig zeigt“![1]

    Die zweite Lebenseinstellung ist schwieriger, bringt aber zuverlässig charakterliches Wachstum und echtes Ansehen in der Gemeinschaft.

    Wenn wir die politische Landschaft von der Familienebene bis zur Weltpolitik überschauen, finden wir überall Beispiele für beide Lebensweisen. Die Abwertung, Verfolgung, Bestrafung, Ablehnung Andersdenkender zählt zum täglichen Geschäft der Populisten, die dem breiten Volk das Blaue vom Himmel herunter versprechen und die einfachsten menschlichen Instinkte bedienen, um unterstützt und wiedergewählt zu werden. Angeblich wollen sie dem Volk dienen, in Wirklichkeit dienen sie ihrem eigenen Ego und Geldbeutel. Dazu sind ihnen (fast?) alle Mittel erlaubt, die sie selbstverständlich dem Gegner mit Macht verwehren und bei ihm anprangern, wenn er sie auch nützt.

    Ein besonders fieses und nicht sofort im Detail durchschaubares Beispiel dieses scheinbar seriösen politischen Denkens habe ich neulich kennengelernt.

    Ich wurde auf dieses Video aufmerksam gemacht:

    https://www.youtube.com/watch?v=8eO_HNs_BwQ&feature=share

    Hier hält Stefan Magnet einen kurzen Vortrag darüber, dass ein italienisches Gericht einem Mörder mit dem sogenannten Killergen geringere Strafen auferlegt hat als Mördern, die dieses Gen nicht in sich tragen. Magnet bringt einige drastische Beispiele von grausamen Verbrechen und vergleichsweise abgemilderten Strafen, weil bei den Tätern dieses Killergen nachgewiesen werden konnte. 2009 zum Beispiel erhielt ein verurteilter Mörder im Berufungsverfahren eine um ein Jahr reduzierte Haftstrafe, weil bei ihm die weniger aktive Variante dieses Killergens nachgewiesen wurde.

    Der Zuhörer wird automatisch emotional aufgeladen, und die Forderung „Gleiche Strafen für gleiche Taten!“ springt sofort im Zuschauer an. Magnet spielt virtuos und beredt mit diesem Gefühl, das –wenn der kritische Kopf nicht eingeschaltet wird-, genauso rasch harte Strafen für die gengeschädigten Menschen fordert wie für einen „normalen“ Mörder. Die Darstellung von Magnet legt nahe, dass die Träger dieses Gens gemeingefährlich sind. Wie das Wort sagt, scheinen alle Träger dieses veränderten Gens Mörder zu sein oder zu werden.

    Aber: War da nicht mal etwas in der deutschen Vergangenheit mit sogenanntem lebensunwertem Leben? Mit Menschen, die Erbkrankheiten hatten, vermindert intelligent oder missgebildet waren oder gar zu einer fremden Religion gehörten? Was hat der größte Populist aller Zeiten und Führer der „Herrenrasse“ mit diesen gemacht? – Ersparen Sie mir Details. Jetzt merken Sie, worauf ich raus will.

    Deshalb habe ich über dieses Killergen recherchiert. Dabei war meine erste Entdeckung, dass es in der wissenschaftlichen Literatur Warrior-Gen, also Kriegergenheißt. Aber Killergen klingt schlimmer, absolut verdammenswert und ist deshalb in einer Rede mit Magnets Ziel viel wirkungsvoller! Populisten bedienen sich typischerweise einer einfachen und suggestiven Sprache!

    Tatsächlich gibt es ein Enzym, das Monoaminooyxidase A (abgekürzt MAOA) heißt und den Abbau der wichtigen Botenstoffe Dopamin und Serotonin im Nervensystem steuert.[2] Das Gen, das die Bildung von MAOA kodiert, ist auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms lokalisiert. Wenn der Körper eine weniger aktive Variante des Gens hat, kann die gesteigerte Menge von Dopamin die Aktivität einiger Hirnareale und damit auch Aggression fördern. Dies geschieht aber nicht zwangsläufig, sondern nur, wenn Umweltfaktoren wie Traumatisierung, Frustration oder Provokation die Verhaltensveränderung begünstigen.[3] Missbrauch im Kindesalter, eine der schwersten Traumatisierungen, ist in den meisten Fällen von MAOA-Mangel mit kriminellem oder besonders aggressivem Verhalten nachgewiesen worden und wird als stark begünstigender Faktor für spätere Agressionen gesehen.

    Auch in Ruhe konnte bei Menschen mit inaktiver MAOA-Genvariante in MRT-Serienuntersuchungen eine geringere Aktivität in verschiedenen Arealen nachgewiesen werden, die für kognitive Kontrolle, Aufmerksamkeit und Steuerungsfunktionen wie Planen, Denken und Problemlösen verantwortlich sind. Das zeigt, dass die Wirkung des geschädigten Gens schon in Ruhe und ohne äußere Einflüsse nachweisbar ist. Ob daraus eine spezifische Therapie der Betroffenen abgeleitet und entwickelt werden kann, ist zurzeit noch Gegenstand der Forschung.

    Magnet sagt, dass nur 0,1-0,5 % der Deutschen die verminderte Genvariante von MAOA tragen, die Araber aber mit 15,6 % der Bevölkerung betroffen sind. Was schließt der unkritische deutsche Zuhörer daraus?  Er denkt: „Wir sind die Guten, und die Araber sind die Bösen!“ Ist das nicht eine Steilvorlage für einen angeblich wissenschaftlich begründeten Ausländerhass und eine fremdenfeindliche Politik? Und schon steht an der nächsten Wand eines Migrantenwohnheims: „Ausländer raus!“

    Wenn man aber die wissenschaftlichen Zahlen liest, sieht es ganz anders aus: Dr. Benjamin Clemens von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Aachen schreibt[4], dass etwa 40 %(!) der westeuropäischen Bevölkerung diese vermindert aktive MAOA-Genvariante in sich tragen. Jetzt möchte ich Herrn Magnet fragen, ob wir mit diesem Wissen und seiner Logik die Araber und Türken, die zu uns kommen wollen, vor den Europäern warnen(!) müssen, weil nach Magnets Darstellung (fast) alle Träger dieses Gens aggressiv und potenzielle Mörder sind oder werden.

    Der niederländische Genetiker Han Brunner von der Universität Nijmwegen entdeckte 1993 eine besonders schwerwiegende Variante des MAOA-Gens bei einer Familie, deren männliche Mitglieder alle durch ihr aggressives Verhalten und ihren Hang zur Kriminalität auffielen. Es wurde von ihnen kein MAOA mehr produziert. Diese Erbkrankheit heißt heute Brunner-Syndrom. Die Betroffenen sind alle Männer, zeigen oft verminderte Intelligenz und einen starken Hang zur Impulsivität, gesteigertes sexuelles Verlangen, extreme Stimmungsschwankungen und den Hang zu Gewalttätigkeit. Es gibt aber auch noch weitere Mutationsformen dieses Gens, die weniger eindeutige Auswirkungen haben.

    Nehmen wir drei einfache Beispiele aus dem Alltag zur Anschaulichkeit: Ein Schizophrenie-Kranker denkt in einem psychotischen Schub mit Verfolgungswahn, dass sein Arzt ihn umbringen will und ersticht ihn „in Notwehr!“ –  Ein anderer Mann hat einen Hass auf den Liebhaber seiner Frau, plant minutiös dessen Mord und tötet ihn kaltblütig. – Der nächste Täter hat das Brunner-Syndrom und rastet aus, als ein Stammtischbruder ihm widerspricht und ermordet diesen im Affekt. – Nach Magnets Logik verdienen alle die gleich hohe Strafe!

    Mal zynisch weitergedacht: Tot ist tot, egal wie der Mensch zu Tode kam. Dann brauchen wir auch keine Unterschiede zu machen zwischen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung mit Todesfolge, kaltblütig kalkuliertem und verübtem Mord oder Tötung durch einen geisteskranken oder gengeschädigten Menschen. Dann erhalten alle Täter dieselbe Strafe, weil alle „über einen Kamm geschoren“ werden. Das wäre eine radikale Vereinfachung unserer Justiz und würde viel Geld sparen.

    Ich denke, sie verdienen individuelle Gerichtsprozesse mit Überprüfung der jeweiligen Sachlagen, Motivationen, Hintergründe und Schuldfähigkeit und ein individuelles Urteil im Rahmen unserer Strafgesetzgebung. Das ist mühsam, zeitaufwändig, teuer und oft eine schwere Belastung für alle Beteiligten. Aber es ist ein Versuch, jedem Menschen, der straffällig geworden ist, gerecht zu werden.

    Was sollen wir mit Menschen machen, die gen-verändert sind und vielleicht gefährlich werden? Die populistische Antwort ist einfach: „Gen-veränderte Menschen, die gemeingefährlich sind, müssen aus dem Verkehr gezogen werden.“ Dieses wörtliche Zitat bekam ich als Antwort, als ich den Entwurf dieses Artikels einer Bekannten geschickt hatte!

    Wenn wir aber wissen, dass etwa 40% der Europäer, also fast die Hälfte!!, das vermindert aktive MAOA-Gen haben und vielleicht gefährlich werden, was sollen wir dann mit unserer Bevölkerung machen? Und wir wissen aus der täglichen Erfahrung,. Dass bei Weitem nicht 40% der europäischen Bevölkerung aggressiv und gewalttätig sind.

    Sollen wir etwa eine Pflicht einführen, dass jeder Mensch auf die Aktivität seines MAOA-Gens untersucht wird, damit wir ihn dann –wie auch immer – „aus dem Verkehr ziehen“ können, wenn es eine zu geringe Aktivität ausweist? – Ich hoffe, Sie spüren meine tiefe Ablehnung hinter dieser absurden und zynischen Frage! – Als ich diesen Satz über das „Aus-dem-Verkehr-Ziehen“ gelesen habe, erschienen die Bilder von Gaskammern, Konzentrationslagern und Massenerschießungen vor meinem inneren Auge.

    Ich will dieser Bekannten wirklich nicht unterschieben, sie plane diese Form des „Aus-dem-Verkehr-Ziehens“, aber wie sollen wir denn die potenziell Gemeingefährlichen entdecken, und wie sollen sie konkret behandelt werden? Gefängnis allein, „Wegsperren“ ist keine taugliche Antwort. Aber ein Verhalten, das eine zivilisierte und kultivierte Bevölkerung auszeichnet, sollten wir schon anstreben bzw. weiterentwickeln. Die therapeutischen Möglichkeiten müssen weiter entwickelt werden. Sicherheitsverwahrung ist nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Und eine pauschale Verurteilung von irgendwelchen „verdächtigen Genträgern“ lehne ich rundweg ab.

    Noch etwas als Nachwort:

    Ich habe mal geschaut, wer Herr Stefan Magnet ist.[5] Er ist Werbetexter und war Führungskader der bis 2007 in Österreich aktiven Neonazigruppe „Bund freier Jugend“. Dort war Stefan Haider einer seiner Stellvertreter. Von Stefan Magnet gibt es Videos über seine politische Meinung auf Youtube, die ich nicht angeschaut habe, weil mir das oben besprochene schon gereicht hat. Ich möchte, wenn möglich, gern ausgewogene Informationen haben, auch mit dem „Risiko“, dass ich sorgfältiger darüber nachdenken muss.


    [1] Meine Prognose: Aus genau diesem Grund wird Donald Trump eine zweite Amtsperiode erhalten!

    [2] Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Oxytocin und Phenethylamin (PEA) und Endorphin gehören zu den sogenannten Glückshormonen.

    [3] Zusammenfassung von MAOA-Gen und Aggression sichtbar gemacht, siehe https://www.medmix.at/welchen-einfluss-haben-aggression-gene-wirklich/

    [4] https://www.medmix.at/welchen-einfluss-haben-aggression-gene-wirklich/

    [5] https://rfjwatch.wordpress.com/2013/05/27/ehemaliger-neonazi-kader-als-werbefachmann-haimbuchners/

  • Es ist hilfreich, einen Kompass zu nutzen, wenn wir unseren Weg suchen. Das setzt voraus, dass wir unser Ziel kennen und den Kompass richtig benützen. Dies gilt im übertragenen Sinn auch für die Orientierung in geistiger und sozialer Richtung.

    Meine Geschichte zeigt, was geschieht, wenn jemand einen defekten Kompass nutzt und ihn für voll funktionsfähig hält.

    Schon gleich zu Beginn der Abendsprechstunde um 18 h in der Notfallpraxis lag eine Anforderung von der DRK-Leitstelle vor, einen Hausbesuch zu machen bei einem Mann, der einen suprapubischen Blasenkatheter und Fieber habe. Der Patient war uns bekannt, weil er schon einmal mit Urosepsis stationär eingewiesen werden musste. Da ich der einzige Arzt in der Sprechstunde war, musste ich diese bis 22 Uhr abhalten. Deshalb hat ich den Praxishelfer, bei dem Patienten anzurufen, die Situation zu klären und unseren Besuch für kurz nach 22 Uhr zuzusagen. Die Ehefrau des Patienten klang alkoholisiert und machte den Besuch dringend, ihr Mann habe keine Schmerzen, und es gehe ihm gut, Fieber habe sie nicht gemessen, aber er habe wahrscheinlich Fieber, und wir sollten gleich kommen, sie könne nicht warten.  Wir vertrösteten sie, auch nachdem sie in den folgenden Stunden mehrfach sehr ungeduldig und verärgert den Besuch anmahnte. Aber da es ihrem Mann angeblich gut ging, sah ich keinen Grund, einen Notarztwagen zu ihm zu schicken.
    Als ich kurz nach 22 Uhr in die Wohnung des Patienten kam, lag der Mann im Bett und begrüßte mich freundlich, während im Nebenzimmer die alkoholisierte Ehefrau meine Fahrerin anschimpfte, weil wir so lange nicht gekommen seien. Sie müsse schließlich morgen früh wieder arbeiten und könne nicht so lange auf uns warten.
    Der Patient sagte, er habe seit morgens Fieber gehabt, aber nicht gemessen, weil er kein Thermometer habe. Er machte auf mich keinen kranken Eindruck. Mein Fieberthermo-meter zeigte jetzt bei ihm 37,5°C. Aus dem Blasenkatheter floss klarer Urin. Der Urin-teststreifen ergab keine Zeichen für einen Harnwegsinfekt. Herz und Lunge waren normal. Der Tastbefund des Bauches war unauffällig. Der Patient klagte keine Beschwerden.
    Ich sah keinen Grund für eine akute Therapie und fragte: „Haben Sie Ibuprofen da, falls Sie tatsächlich Fieber bekommen? Haben Sie ein Antibiotikum da?“ –
    „Nein, ich habe gar keine Medikamente da!“, meinte der Patient.
    Bei einem Blick auf ein Regal entdeckte ich Medikamentenschachteln, ging darauf zu und sagte: „Aber da haben Sie doch Ibuprofen!“
    Ich nahm die Schachtel, sah, dass sie fast voll war, da riss mir die Ehefrau die Schachtel aus der Hand und keifte: „Das sind meine Tabletten!“
    „Das ist prima,“, meinte ich, „da können Sie Ihrem Mann eine Tablette schenken, wenn er heute Nacht Fieber bekommt, und ich schreibe ihm jetzt ein Rezept, dann können Sie morgen für ihn die Tabletten holen.“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht! Die brauche ich manchmal!“
    Ihre Stimme wurde schärfer und lauter.
    Ich versuchte freundlich, sie umzustimmen:
    „Mir geht es doch nur darum, dass Sie in Ihrem Zustand jetzt nicht mehr Auto fahren sollten, um in der Nachtapotheke für Ihren Mann Tabletten zu holen!“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht!“ –
    Ich setzte mich hin und schrieb ein Rezept über Ibuprofen für den Mann und einen kurzen Informationsbrief für den Hausarzt.
    Eine weitere Diskussion erschien mir bei der angespannten Lage und dem nicht bedrohlichen Gesundheitszustand des Ehemannes nicht angebracht.
    Ich wandte mich zu ihm und sagte: „Also, da läuft gerade eine völlig bescheuerte Situation ab. Es wäre so einfach, Ihnen bei Bedarf heute Nacht die Tabletten zu geben, aber das sollten Sie besser allein mit Ihrer Frau abmachen. In dem Zustand kann sie jedenfalls nicht in die Apotheke nach M. fahren.“
    Ich verabschiedete mich freundlich bei dem Patienten und knapp bei der Frau und verließ das Haus.

    Im Auto dachte ich an meinen Vater, der einmal ein Ehepaar mit dem schwäbischen Satz beschrieben hat: „Er wär´ ja scho´ recht, aber sie isch a Aufgab´!“

  • Die Geschichte begann, als die Uhr stehen blieb. Allerdings ist es keine gewöhnliche Uhr. Nein, meine liebe Frau Birgit hat sie vor vielen Jahren geschenkt bekommen, und deshalb ist die kleine rechteckige Golduhr mit schlichter Eleganz ein wertvolles Erinnerungsstück. Auf dem schwarzen Zifferblatt steht der Name einer weltberühmten Modefirma.
    „Die Uhr braucht sicherlich eine neue Batterie“, meinte Birgit und brachte das Schmuckstück beim nächsten Bummel in Stuttgart zu einem namhaften Uhrenhändler.
    „So einfach ist das nicht!“, gab der Händler zu bedenken. „Diese Firma macht die Batteriewechsel selbst, wir bekommen keine Ersatzteile. Dafür müssen wir die Uhr einschicken. Und hier sehe ich noch einen kleinen Kratzer im Glas. – Ich lasse Ihnen einen Kostenvoranschlag machen. Dann melden wir uns in ein paar Tagen bei Ihnen.“
    „Was kostet denn so eine Batterie? Letztes Mal war die sehr teuer.“
    „Also mit etwa 200 Euro sollten Sie rechnen. Und dann müssen wir sehen, was die Firma noch alles reparieren will.“
    „Aber ich brauche doch nur eine neue Batterie!“
    Der Verkäufer beschwichtigte und vertröstete sie auf den Kostenvoranschlag. Als dieser per E-Mail bei uns eintraf, war ich zuerst einmal sprachlos.
    Da stand „Kompletter Service 305 €, Ersatz des Zifferblattes 219 €, Ersatz des Glases 58 €, zusammen 582 €.“ Optional wurde noch Ersatz des Zeigersets für 44 € und Ersatz der Krone für 35 € in Aussicht gestellt. Alles zusammen für schlappe 661 €. – Und von Batteriewechsel stand da nichts. Immerhin wurden wir informiert, dass die Reparatur etwa 40 Werktage in Anspruch nehmen würde. Der Verkäufer bestätigte uns, dass die Firma die Batterie nur wechselt, wenn die erwähnten Reparaturen auch beauftragt werden.
    „Das lasse ich nicht machen, das ist doch viel zu teuer!“, war Birgit entsetzt.
    Ich pflichtete ihr bei, meinte aber: „Wenn du die Uhr nicht reparieren lässt, liegt sie im Schrank, und dann hast du gar nichts davon, und eine Uhr, die nicht läuft, nur als Schmuckstück anzuziehen, ist auch doof.“
    Nach einigen Wochen Bedenkzeit versuchten wir es noch einmal beim selben Händler, allerdings bediente uns ein anderer Verkäufer.
    Birgit machte ihn auf die etwas lockere Schließe im Lederarmband aufmerksam.
    „Die Schließe funktioniert prima, aber kann man sie etwas straffer einstellen? Und was kostet die Batterie, die in dem Kostenvoranschlag gar nicht aufgeführt ist, obwohl wir gerade deshalb kamen?“
    Der Verkäufer antwortete routiniert: „Ich muss die Uhr einschicken und einen Kostenvoranschlag anfordern. Wir benachrichtigen Sie!“
    Ein paar Tage später kam der neue Kostenvoranschlag.
    Jetzt standen außer den bereits bekannten Reparaturen noch folgende Kosten auf dem Plan: „Ersatz der Faltschließe 350 €, Ersatz des Armbandes 200 €.“ Zusammen waren das 1.214 €, und der Batteriewechsel wurde wieder nicht erwähnt. Aber die angekündigte Reparaturzeit schrumpfte auf 10 Werktage. Die Verdoppelung des Rechnungsbetrags verkürzte die Bearbeitungszeit auf ein Viertel.
    Na, man gönnt sich ja sonst nichts! Ich überlegte mir, dass ich Birgit von diesem Geld locker für jeden Wochentag eine neue Extrauhr kaufen könnte.
    Ich schrieb eine E-Mail zurück: „Da Ihre Firma nicht bereit ist, den Reparaturauftrag ohne Ersetzen der Schließe zu erledigen, möchten wir keine Reparatur und schließen daraus, dass es Ihrer Firma in erster Linie um Erschließung der Geldquellen geht und nicht um die Erfüllung der Kundenwünsche.“
    Prompt kam die Nachricht, die Uhr liege zur Abholung bereit. Als Birgit die Uhr entgegennehmen wollte, beklagte sie sich bei dem Verkäufer über das kundenfeindliche Verhalten der Firma.  Er lächelte etwas gequält, zuckte mit der Schulter und sagte bedauernd: „Ich kann Sie gut verstehen, aber das ist in dieser Firma üblich, wir kennen die Beschwerden schon lang und können nichts dagegen machen. – Sie sehen hier einen kleinen Spalt am Uhrglas , durch den Feuchtigkeit eingedrungen ist. Sie dürfen diese Uhren nie im Badezimmer liegen lassen! Deshalb will die Firma auch das Zifferblatt ersetzen. Die Schließe, die Krone und das Zeigerset muss man nicht ersetzen.“
    „Aber offensichtlich funktioniert die Geschäftsidee mit den angeblich notwendigen Zwangsreparaturen sehr gut, die Leute zahlen das. Sonst würde die Firma das nicht so machen!“, entgegnete ich. „Außerdem wissen wir jetzt genau, von welcher Firma wir in Zukunft keine Produkte mehr kaufen.“
    Als wir den Laden verlassen hatten, begegneten wir einem Bekannten, der uns ein Uhrengeschäft ganz in der Nähe empfahl: „Die wechseln die Batterie!“
    In dem sehr gepflegt wirkenden Geschäft wurden wir freundlich empfangen. Birgit legte die Uhr auf den Tisch und sagte: „Ich glaube, die Uhr läuft nicht mehr, weil die Batterie leer ist. Können Sie das prüfen und eventuell eine neue Batterie einsetzen?“
    Die Verkäuferin schaute die Uhr mit einem prüfenden Blick an und griff zum Telefonhörer: „Wir brauchen jetzt einen Batteriewechsel!“, und dann zu uns gewandt: „Haben Sie ein bisschen Zeit? Wir machen das gleich.“
    „Das trifft sich gut“, sagte ich, „wir gehen jetzt zum Mittagessen und kommen anschließend wieder vorbei.“
    Die Geschichte endet jetzt, weil die Uhr wieder zuverlässig läuft. Nach einem Batteriewechsel für 20 Euro.

  • Trauer Tag                                                                  

    Dunkel sind ihre Wasser
         Und zerfliessen im Nichts
    Sie bergen den steten Verlust
         Und zerbersten im Licht
    Kalt sind ihre Tiefen
         Und  überfluten das Sein
    Sie greifen nach Wirklichkeiten
         Und verschütten die Hoffnung
    Stark sind ihre Fluten
         Und versprechen welchen Trost?

    All Das                                                                          

    All das
    das rinnt
    die Gassen
    herab
     ein Strom
    trockener Tränen
    ihre Spur
    eingemeisselt
    wofür
    die Zweifel
    schwarzer Entbehrung
    für all das
    das Unvorstellbare
    lauert in jeder Sekunde
    beherrschend  die Welt
    Unverständnis
    für all das
     weht in Zweigen
    bricht den Baum
    fallend auf Stein
    der Gassen
    verborgen ist all das
    unter dem Schleier der Unwissenheit

    Das Zeichen                                                                       

    Flutend  durch Wolkenberge schwarz- geblähtes Segel 
    Ziellos im weiten Raum, einer Aufgabe gehorchend- mit verborgenem Sinn
    Schneidend die Erkenntnis  in Lichtreflexen der Furcht
    Widersprüchlich im zwingenden Strahl eines dunklen Warum
    Aufblitzend-  im fernen Wissen  Gehorsam fordernd
    Ahnen über  jenes Unverfügbare der Zeiten unerklärlich im Jetzt


  • Ein Hypochonder in Zeiten der Coronaviren

    Die Gasmaske hat er bereitgelegt,
    stündlich nimmt er neue Informationen auf,
    geht in Gedanken Infektionswege durch.
    Wovor denn haben Sie solche Angst?
    Er zögert kurz: Vor Leid und Tod.
    Fürchten wir das nicht alle – diffus, vage, unbewusst?
    Hilflos.
    Und nun haben Leid und Tod einen Namen und eine Form,
    ein Virus ist es, das man nachweisen,
    gegen das man den Kampf aufnehmen,
    dessen Ausbreitung man vermeiden
    kann.
    Weltweit schwenken alle ein in die Endstrecke des Nachdenkens
    über etwas Konkretes, Nachweisbares, Sichtbares, Fassbares.
    Vielleicht überleben ja nur die Paranoiden, meint er,
    weil sie sich konsequenter schützen.
    Wäre das zu wünschen?

    Heimat

    In der ganzen Welt ist man unterwegs,
    international tauscht man sich aus und
    auf Reisen findet man zum eigenen Selbst.
    Wenn aber Not auftritt, weltweit,
    zieht es einen zurück in die Heimat
    und man wird zurückgeholt
    in die eigene Nation.
    Verantwortung wird übernommen
    Im eigenen Land,
    in dem je eigene Erlasse gelten.
    Die Grenzen werden dicht gemacht,
    jedes Land steht für sich, steht ein für seine Bürger.
    Und schaut doch zu den Nachbarn im Vergleich.
    Wer schützt, wer behandelt, wer verhindert besser?
    Dabei ist es ein Virus,
    das überall gleich im Austausch ansteckt
    über Nationsgrenzen hinweg
    die Welt betrifft:
    Unsere gemeinsame Heimat.

    Besuchsverbot

    Oft wurden sie ohnehin nicht besucht.
    Alleinsein – das kennen sie;
    die Stille, den Blick aus dem Fenster
    in lichte, grüne, bunte, dörre Blätter,
    Rollgeräusche und Rufe am Gang,
    ungerichtet, ungehört.
    Zum Waschen kommt jemand, zum Essen, zum Anziehen.
    Griffe: geübt, fest, effektiv.
    Aber manchmal, ach manchmal, klopfte es
    und jemand sprach sie an, mit Vornamen,
    mit dem eigenen Namen, wie ihn die Mutter aussprach oder das Kind.
    Und dann traten die Erinnerungen ein,
    schöne allzumeist,
    Blumen hatten Farben und Duft,
    ein Gesicht sah sie an, eilig, aber es sah sie an,
    da blieb die Zeit stehen,
    da kam Freude auf,
    da war das Leben  zu spüren.
    Nun kommt niemand mehr.
    Besuch könnte den Tod bringen.
    Und?
    Er käme mit Blumen, Lächeln und Leben.
    Nun sterben sie allein vor sich hin.

    Häuslichkeit

    Einer der Großen hat gesagt,
    das Unglück der Menschen rühre daher,
    dass sie nicht allein mit sich in einem Zimmer sein könnten.
    Nun sind die Züge leer und die Flughäfen,
    auf einmal ist dem exzessiven Reisen ein Ende gesetzt,
    auf den Bühnen wird noch versucht zu spielen
    ohne Resonanz und Applaus im Zuschauerraum
    (das ist nicht, wozu Theater gedacht ist),
    in Espressobar und Pizzeria,
    Stammlokal und Pub
    stehen Stühle auf Tischen
    wie in leeren Schulen.
    Und auch Spaziergänge ohne Ziel sind bald untersagt.
    Wie gestaltet sich wohl die neue Häuslichkeit?
    Nicht jeder liest, liebt, lacht mit andern.
    Von (zu viel?) Außen auf die eigene Innerlichkeit
    zurückgeführt hat jeder nun zu Hausaufgaben
    Zeit und Raum und
    die Chance,
    neu und anders sich selbst und womöglich Glück zu finden
    und den Großen zu widerlegen
    oder auch nicht.

    Angst

    Wer keine Angst hat, ist dumm –
    hat sie gesagt, die kluge, reflektierte Lehrerin.
    Der denkende Mensch kennt Risiken,
    Vorsicht und – maßvolle Nachsichtigkeit.
    Aber adäquate Sorge kann kippen in krankhafte Angst.
    Und dann dominiert sie unweigerlich den Verstand.
    Alles, was ich tun kann derzeit ist,
    in der Sprechstunde
    Patienten die Frage
    Haben Sie selbst denn Angst?
    umsichtig
    mit Nein zu beantworten.

    Vergesst die Seele nicht!

    Da gibt es Zahlen und Figuren,
    das Virus ist entschlüsselt,
    Form und Übertragungswege sind bekannt.
    Tröpfchen.
    Abstrichgewebe.
    Lungenversagen.
    Abstand, Abwehr, Antikörper.
    Kein Händereichen, kein Kontakt, kein Treffen,
    keine Arbeit, kein Zusammensein,
    um den Körper zu schützen vor Körperlichem.
    Bleibt gesund
    ist Gruß und Wunsch und erste Pflicht,
    für die Staaten in die Knie gehen.
    Doch ist der Mensch Körper allein?

     Das Böse

    Das Böse kann sich allein nicht verwirklichen,
    wie ein Virus
    muss es sich eines Wirts bemächtigen –
    selbst unfertig, nicht existent ohne Ergänzung,
    Membranlos konturlos
    überlebt es nur schmarotzend im Wirt.
    Hat der es als solches kennengelernt,
    als etwas Wesensfremdes,
    kämpft er dagegen, stößt es ab und lässt es nicht wieder ein,
    gibt ihm keine Herberge mehr.
    Und wenn das Böse sich doch einnistete,
    zerstört es seine Herberge,
    aber der Wirt zieht weiter
    ins Weite
    und lässt es zurück.

    Planbarkeit

    Sparpreise der Bahn gibt es ein Jahr im Voraus,
    Urlaube werden gebucht für den übernächsten Sommer.
    Save the dates gelten weit in die Zukunft
    im virtuellen Kalender.
    Kinder werden geplant und das Sterben.
    Das Leben als Abfolge wohlüberlegter, vorentschiedener Termine.
    Jetzt tritt Corona auf den Plan und auf die Pläne, –
    die Kalender verlieren ihre Macht.
    Eintragungen verfallen;
    Was, wenn einem durchorganisierten Leben
    die Organe versagen?
    Wie schwer Menschen von heute das jeweils fallen mag,
    vielleicht ist es auch leicht,
    sich fallen zu lassen ins Hier und Jetzt
    des Schöpfungsplans.

    Ruhe vor dem Sturm

    Es ist wichtig, und sie haben es wichtig,
    es ist notwendig, und sie haben ihre liebe Not:
    Retter in Weiß sind aktiv bis zur Erschöpfung,
    Stationen werden leergeräumt,
    ganze Krankenhäuser neu geschaffen,
    Betten aufgerüstet,
    Monitore angeschlossen,
    ohne Ende wird organisiert.
    Wir warten auf den Ansturm.
    Und wenn er aber kommt?
    Und wenn er aber nicht kommt?

    Fledermaus

    Es war die Fledermaus.
    Skrupellose Forscher haben Versuchstiere auf den Markt entsorgt.
    Es war die Ernährung.
    Sie essen aber auch alles dort, Reptilien und Schlangen.
    Es war Waffe.
    Ein Virus –  gezüchtet und in die Welt gesetzt, um Großmächte zu schwächen.
    Es war Tabu.
    Die Ansteckungsgefahr wurde verheimlicht von der Macht.
    Es war der Teufel am Ende,
    der Gottesdienste und Glauben zu zerstreuen versucht.
    Es ist das Kausalitätsbedürfnis der Menschen,
    wenn sie Gründe suchen für den Alptraum des Geschehens,
    das sich ihrer Einflussnahme entzieht.
    Es waren einmal Theorien.
    aber nun ist es, wie es ist.
    Und was die Fledermaus uns sagen will,
    können wir nicht hören.

    Reset

    Man darf Freiheit nur zeitlich begrenzt einschränken,
    sonst erträgt der Mensch es nicht.
    Er braucht die Hoffnung auf eine Zeit danach,
    wenn die Gefahr vorüber ist,
    wenn alles wieder gut wird und schön.
    Wie Kinder aus Krankheiten gewachsen hervorgehen,
    wird der Mensch nach der Krise anders sein.
    Er wird verstanden haben,
    was und wer im Letzten trägt.
    Er wird dankbar sein
    und er wird wieder ein bisschen mehr
    lieben.

  • Herbert und Hölderlin – ein deutsches Requiem

    Prolog

    Dem Herbert und dem Hölderlin
    Das Lebenslicht einst beiden schien.
    Hölderlin, dem Geisttitan
    Herbert auch, dem armen Mann,
    Der sich aus der Armut raffte
    Zum Marine Maat es schaffte
    Dann bescheiden, pünktlich, klug
    Nach dem Krieg die Post austrug.
    Er wurde neunzig Jahre alt
    Als er aus dem Zeitenspalt
    Einsam in das Jenseits fuhr.
    Ein Grabstein ziert die Lebensspur.
    Er bleibt verschollen, unbekannt
    Auch sein Verdienst für Vaterland
    Anstand, Ehre, Einsatz, Pflicht
    Kümmern seine Nachwelt nicht.
    Hölderlin, in frischen  Jahren
    Ist bekannt und Kunst erfahren.
    Goethe, Schiller, Hegel, Fichte
    Zünden Friedrich Kerzenlichte.
    Die führen ihn dem Pindar gleich
    In ein neues Lyrikreich.
    Göttliches wird neu beschrieben
    Die Gunst des Höheren ist geblieben.
    Wohlstand, Größeres erreichen
    Wollte jeder von den Beiden.
    Herbert als Kind, Friedrich als Greis,
    Erfahren Jammer, Qual und Leiden.
    Hier ist zu berichten
    von vergangenem Sein.
    Berühmt und begraben
    Bei Brot, Wasser, Wein.

    Das Treffen

    Die Nacht war dunkel.
    Der Tag ward nicht hell.
    Das Leben zerfloss.
    Und Leben fließt schnell.
    Das Licht erlosch.
    Kein Traum schäumt den Schlaf.
    Als Hölderlin Herbert
    Herbert Hölderlin traf.

    Der Gesang

    Grausam und hungrig
    weht Herberts Jugendkleid.
    Wohl spielt behütet
    Hölderlins Kinderzeit.

    Die Jugend

    Linkshändig der Herbert
    Milch-intolerant
    Für Bildung zu arm
    Zum Knechtsein verbannt.
    Vaterlos Friedrich
    Im Pfarrhaus ernährt
    Von Sinclair zum Lehrer
    Von Hegel bekehrt.

    Der Gesang

    Ungerecht mächtig
    Dröhnt jedes Menschen Horn
    Wild peitschen Wellen
    Lust und Liebe nach vorn.

    Das Leben

    Herbert hofft Zucker
    Statt Salz, trocken Brot
    Findet im Krieg
    Auf See fast den Tod.
    Friedrich sucht Stimmen
    Im Wahnsinn der Welt.
    Fügt sorgsam zusammen
    Was wächst und erhält.

    Der Gesang

    Es lebt nur Heute
    Nur Heute ist wahr!
    Herbert vergangen.
    Wie Friedrichs Altar.

    Der Abschied

    Herbert war Kämpfen
    Frei von Armut im Krieg
    Führerlos und treu
    Kein Gott, keinen Sieg.
    Friedrich war Pfarrhaus
    Göttliche Liebe, Titan
    Denken, Sehnsuchtstriebe
    Turmzimmer in Wahn.

    Das Gebet

    Beide sprechen leise
    Das Gebet ihrer Zeit.
    Herbert bescheiden
    Friedrich Opferbereit.

    K.K. 8.3.2020

    Hölderlin digital

    Die Götter sind gegangen
    Nach Recht und Gesetz.
    Gesichter gefangen
    Im digitalen Netz.
    Es spinnen die Dämonen
    Youtube Freudenreich.
    Lassen Geister wohnen
    Unsterblich streiten gleich
    Glaube und Wissen, die beiden
    Halunken dieser Welt
    Singen von Freiheit und Leiden
    Dass ziellos zusammenfällt
    Was im Heute gegeben
    Morgen noch sicher scheint
    Zügelfrei das Leben
    Um Tod und Liebe weint.
    Die Götter sind verloren
    Digital verirrt.
    Glaube ist erfroren
    Wissen triumphiert.
    Nur in engen Räumen
    Virtuell in Bits
    Lässt Glaube sich erträumen
    Der Geister Farbensitz.

    K.K. 9.3.2020

    Hölderlins Gebet digital

    Möge der Himmel geben
    was die Erde versagt.
    Sei die Freiheit mein Leben
    digital geparkt.
    Sei Wissen im Netz geborgen
    Behütet den Göttern gleich.
    Bewirtet mit Früchten des Morgen
    im virtuellen Tafelreich.
    Möge die Freiheit siegen.
    Bleibe der Tod an der Macht.
    Lasse ihn Zäune biegen
    Bevor das Chaos erwacht
    Und selbst die Ziele schmiedet,
    Die den Göttern sind.
    Sei Menschenwahn befriedet
    Vom Netzwelt Götterkind.

    K.K. 9.3.2020

  • Aus: Platon, Der Staat (πολῑτεία)

    (Nach einem Referat im Hauptseminar Alte Geschichte (Prof. Dr. Helga Gesche, WS 1993/94)

    Platon, ein Sohn des Atheners Aristion und der Periktione, durch die er mit einer der führenden oligarchisch orientierten Familien Athens verwandt war, lebte von 427-348 v. Chr. Beim Tod des Sokrates 399 v. Chr. gehörte er seit acht Jahren zu dessen Schülern. Auf einer ersten großen Reise nach Unteritalien und Sizilien kam Platon in engen Kontakt mit den Pythagoräern. Er begegnete dem Tyrannen von Syrakus, Dionysios I. und soll versucht haben, ihn nach seinen in der Politeia formulierten Idealen zu beeinflussen. Nach seiner Rückkehr begründete er in Athen eine Akademie, eine Lebensgemeinschaft von Jüngern der Philosophie. Zwischen 366 und 361 v. Chr. reiste Platon erneut nach Syrakus.

    Fast alle platonischen Werke haben die Form des Dialogs. Sokrates entlarvt zunächst das Wissen seines Gesprächspartners als Scheinwissen und führt ihn dann, ständig fragend, induzierend, zu seinen Begriffen von den Haupttugenden.  Aristophanes verspottet ihn in den „Wolken“ als Sophisten, obwohl Sokrates sich in Gegensatz zu den sophistischen Lehren stellt.

        Das erste Buch der Politeia handelt vom Wesen der Gerechtigkeit. Dann entwirft Sokrates/Platon das Musterbild eines guten Staatswesens (472 d. e) in dem sich der Gerechte der Gerechtigkeit so weit wie möglich annähern soll (472 c). Im Gegensatz dazu steht die Ungerechtigkeit, die sich in den Zerfallsformen der Verfassungsarten zeigt und in den Seelen Derjenigen entsteht, die gezwungen sind, in einem derart degenerierten Staatswesen zu leben.  

        Oligarchie ist jene Verfassung, in der die Reichen herrschen und die Armen keine Macht haben. Außer den Herrschenden sind alle Bettler. Die Herrschenden aber gewöhnen sich und ihre Söhne von jung auf an Schwelgerei (556 b) und machen sie zu körperlicher und geistiger Arbeit unfähig, wenig tauglich im Ertragen von Lust und Leid (556 c) und träge dazu.

    Der Arme erkennt: die Männer gehören uns, sie sind ja nichts wert.

    Aus kleinem Anlass entwickelt sich ein Bürgerkrieg (556 d. e). 

        Demokratie entsteht, wenn die Armen siegen und ihre Gegner verbannen, alle übrigen aber nach gleichem Recht an Verfassung und Ämtern teilnehmen lassen. Fürs erste sind die Menschen frei, der Staat quillt über in der Freiheit der Tat und der Freiheit des Wortes und jedem ist erlaubt zu tun, was er will. Es gibt keinen Zwang zum Gehorsam, wenn du nicht willst; dass man dich nicht zum Krieg zwingt während eines Krieges oder zum Frieden, wenn du nicht Frieden halten willst; oder wenn ein Gesetz dir ein Amt oder eine Richterstelle verbietet, dass du dann nichtsdestoweniger Beamter oder Richter sein kannst, wenn dich die Lust dazu packt – eine angenehme, herrenlose und bunte Verfassung (557 a-558 c). Den Hochmut nennen sie Wohlerzogenheit, die Verschwendungssucht Großzügigkeit und die Unverschämtheit Mut (560 d). Kein ordnender Zwang waltet über dem Leben, doch süß nennt er und frei es und selig – und genießt es zur Neige (561d). Der Lehrer fürchtet in dieser Lage die Schüler und schmeichelt ihnen, die Schüler machen sich nichts aus den Lehrern. Zuletzt kümmern sie sich nicht einmal um die Gesetze, um nur ja nirgends einen Herrn über sich zu haben. Wie viel freier hier als anderswo das Leben der Tiere ist, das würde niemand glauben, der es nicht gesehen hat. ..die Esel gewöhnen sich gar frei stolz einher zu schreiten und stoßen auf der Straße jeden Begegnenden, der ihnen nicht ausweicht. Kurz, alles ist voll der Freiheit (563 a-e).

        Im demokratischen Staat gibt es drei Gruppen: die Drohnen, die Reichen –  auch als „Drohnenweide“ bezeichnet – und das arme, arbeitende Volk. Dies sind die meisten (564 d. e).

        Und sie werden einen Mann vor allen an die Spitze stellen, diesen aufziehen und aufpäppeln. Aus dieser Wurzel des Führertums wächst der Tyrann und aus keiner anderen. Er bittet das Volk um Wächter für seinen Leib, damit heil bleibe des Volkes Retter. Er beginnt immer neue Kriege, damit das Volk einen Feldherrn braucht (565 c-566 b). So folgt aus dem Übermaß an Freiheit die tiefste und härteste Knechtschaft, die Tyrannis (564 a).

        In dem Staat, den Sokrates den wahren, gesunden nennt, werden seiner Meinung nach die Leute in Frieden leben (372 c). Da nun die Menschen von Natur aus über unterschiedliche Anlagen verfügen und Besseres leisten, wenn sie ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt werden, braucht man eine genügend große Anzahl von Arbeitskräften in verschiedenen Berufen: Bauern und Handwerker (371 a), Händler und Lohnarbeiter (371 d. e).

        Doch die Gesprächspartner des Sokrates wünschen auch Annehmlichkeiten des Lebens, Bequemlichkeit, Luxus, Kunst, also einen „üppigen Staat“, τρυφώσαν πόλιν (372 e), der wachsen und mehr Menschen mit stärker differenzierten Berufen integrieren soll.  

        Darin liegt aber schon der Keim der Expansion, die Wurzel des Krieges (373 e). Dies erfordert einen besonderen Berufsstand, den des Soldaten (374 c) oder, wie ihn Sokrates nennt, den Wächter/φυλαξ (374 d). Ihm werden der  Grenzschutz sowie die innere Einheit und Sicherheit (Polizeidienst) anvertraut (423 b-d). Durch strenge Auswahl der Charaktere und sorgfältige zweigleisige musisch-gymnastische Erziehung soll die besondere Eignung der Wächter angestrebt werden (376 e), da sie den Feinden wachsam und scharf, ihren Angehörigen und Mitbürgern aber freundlich und verträglich gegenüber treten sollen.

        Neben dem sportlichem Training stehen der Unterricht in Arithmetik, Geometrie, Astronomie und den musischen Fächern (522 c. 526 c. 527 d). Die Wahl muss unter denen getroffen werden, die am meisten Verantwortungsgefühl für den Staat haben und davon überzeugt sind, dass der Vorteil der Polis zugleich auch der ihre ist (412 c. d).

        Da die Begabungen in beiden Geschlechtern gleich verteilt sind und die Frau ihrer Anlage nach für alle Berufe geeignet ist ebenso wie der Mann, nur dass sie schwächer ist als er (455 d. e), erhalten Männer und Frauen des Wächterstandes dieselbe Erziehung und nehmen gleichermaßen teil an der Sorge für den Staat und auch am Krieg (457 a). Beschäftigt mit dieser ihrer eigentlichen Aufgabe wird den Wächterinnen die Pflege ihrer Nachkommenschaft vollkommen von Ammen und Kinderfrauen abgenommen (460 d). Notwendige Folge des gemeinsamen Lebens für den Staat ist, dass diese Frauen den Männern gemeinsam angehören und auch die Kinder sind gemeinsam; weder kennt der Vater sein Kind noch das Kind seinen Vater (457 c. d).

        Geeignete Paare werden zusammengeführt und nur gesunde Kinder aus erwünschten Verbindungen sind der Aufzucht würdig (460-461 c). Die anderen sind an einem unzugänglichen und unbekannten Ort zu verbergen und so zu behandeln als sei für sie keine Nahrung vorhanden. Auch wer siech am Körper ist, den sollen sie [die Heilkundigen] sterben lassen, wer an der Seele missraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten! (410 a)                      

        Nun fehlt im Entwurf eines Staates mit guter Verfassung noch das Wichtigste und Schwerste (473 b). Die besten Wächter müssen zu Philosophen gemacht werden, (503 b) sodass ihnen Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit als die höchsten Tugenden gelten (487 a. 503 c). Wer fähig ist,  Zusammenhänge zu erfassen (537 c), wird etwa fünf Jahre lang in der Dialektik geschult (539 c). Wenn er an die Reihe kommt, den Staat zu leiten, so tut er das um des Staates willen, nicht weil es schön, sondern weil es notwendig ist (540 b), und er hält andere zu gleicher Tüchtigkeit an. Das gilt auch für die Herrscherinnen, τας  ἇρχούσας, soweit ihre Anlage sie dazu befähigt (540 c).              

        Die beschriebene Staatsform könnte Königtum, βασιλεία, heißen, wenn ein einziger unter den Herrschenden hervorragt, Aristokratie dagegen wenn es mehrere sind (445 d). Der Gerechte ist nicht nur auf Erden der Glücklichste  (580 c), auch nach seinem Tod erwarten ihn große Freuden, denn so glaubt Sokrates und so rät er auch seinen Freunden zu glauben: die menschliche Seele ist unsterblich (621 c).

    Aus heutiger Sicht stellt der Denkentwurf Platons für einen Staat eine Mischung einerseits aus Realisierbarem und Erstrebenswertem, andererseits aus  Unrealistischem und Verabscheuungswürdigem dar. Die Bildung geistiger Eliten durch Auswahl- und Prüfsystem ist zwar unmodern, aber durchführbar  und m. E. auch wünschenswert.   

  • An alle BDSÄ-Mitglieder

    Liebe Mitglieder des BDSÄ,

    es zeichnete sich ab, und ich will es kurz zusammenfassen:

    Der Vorstand hat beschlossen:

    1. Wir sagen hiermit den Kongress im Mai 2020 in Stralsund wegen der Corona-Krise ab.
    2. Der Kongress 2021 findet von 12. -16. Mai in Stralsund statt.
    3. Der Kongress 2022 findet in Bad Urach statt.

    Zur Begründung:

    Zu 1.      Die überwältigende Mehrheit der von mir letzte Woche angeschriebenen Teilnehmer des diesjährigen Kongresses hat sich für eine Absage des Kongresses ausgesprochen. Jürgen Rogge plädierte für eine Verlegung in den Oktober 2020.

    Eberhard Grundmann hat jetzt den Kongress und alle Zimmer der BDSÄ-Mitglieder kostenfrei storniert. Die Hoteldirektion bittet darum, dass jetzt keine Einzelabmeldungen mehr kommen. Sollte trotzdem jemand sein Zimmer behalten wollen, möge sich derjenige / diejenige binnen einer Woche im Hotel melden.

    Zu 2. Einige Teilnehmer haben den Wunsch geäußert, dass der Kongress 2021 in Stralsund stattfindet. Erstens können wir uns dann doch noch an Eberhards sehr intensiver Vorarbeit erfreuen, zweitens war die Mitgliederversammlung 2019 dafür, dass ein Kongress in Stralsund abgehalten wird. Ich schlage vor, die Themen für die Lesungen zu belassen, wie sie für dieses Jahr vereinbart sind.

    Zu 3. Ich habe mit dem Evangelischen Stift in Bad Urach vereinbaren können, dass wir die Räume auch im Jahr 2022 erhalten, allerdings in den Tagen unmittelbar vor Christi Himmelfahrt (Samstag, 21. Mai bis Mittwoch, 25. Mai). Ab Donnerstag, 26. Mai (Himmelfahrt) ist das Haus schon belegt.

    Um ein bisschen Zucker in die bittere Corona-Suppe zu streuen, möchte ich einen Vorschlag von Uta Hoeß weitergeben: Was halten Sie davon, dass jeder / jede sich für die Zeit der geplanten Kongresstage in diesem Jahr eine Schreibaufgabe vornimmt – Thema nach freier Wahl – oder mein Tipp: „Corona und ich“. Den Text könnte ich in unserer Homepage veröffentlichen  oder im internen Bereich zum Lesen anbieten.

    Alle weiteren Details zum nächsten Kongress erhalten Sie wie gewohnt im Weihnachtsbrief.

    Mit den besten Wünschen für stabile Gesundheit und situationsangepasstes Wohlbefinden grüße ich Sie im Namen des Vorstandes herzlich

    Dietrich Weller