Monat: September 2020

  •     Aristodemos führt im zweiten Buch seiner spaßigen Erinnerungen aus: Dem Musiker Dorion, der einen Klumpfuß hatte, kam bei einem Symposion der Schuh des behinderten Fußes abhanden. Da sagte er, Ich will dem Dieb nichts Schlimmeres wünschen, als dass ihm der Schuh passt.
    Athenaios, Gelehrtenmahl 8, 338 a. ( 2./3. Jh. n. Chr.)

    Der angeborene Klumpfuß manifestiert sich in ein- bis drei Fällen auf 1000 Geburten, in ca. 50 % doppelseitig. Jungen sind mehr als zweimal so häufig betroffen wie Mädchen. Die Fehlbildung setzt sich aus den Komponenten Pes equinovarus et adductus, supinatus et excavatus zusammen, d. h. aus Spitzfuß, Innendrehung und-Kippung, Sichel- und Hohlfuß. Eine familiäre Häufung war frühzeitig aufgefallen, doch konnte ein klarer Erbgang bis heute nicht nachgewiesen werden. Wie oft bei ungewisser Ätiologie weicht man auf die  sog. multifaktoriellen Ursachen mit exogenen und endogenen Faktoren aus[1]. Die fehlerhafte Entwicklung beginnt anscheinend in den ersten sechs Embryonalwochen[2]. Knöcherne Deformierungen und pathologische Gelenk-und Weichteilveränderungen sind die Folge. Im Rahmen der muskulären Imbalance kommt vermutlich dem Musculus tibialis posterior eine besondere Rolle zu[3].  

    Die Theorie des Verharrens der embryonalen Skelettanlage auf einer frühen Entwicklungsstufe, also einer Hemmungsmissbildung, wurde im Kern bereits 1592 formuliert[4]. Um 1652 hielt man ein „Versehen“ der Mutter, französisch envie[5], bzw. eine starke „Einbildung“ für ursächlich. Gegen 1782 dominierte die Vorstellung von einem Platzmangel im Mutterleib[6].

    Für die Therapie gelten heute ähnliche Richtlinien wie zur Zeit des Hippokrates: sie soll möglichst rasch nach der Geburt einsetzen. Mit dem Schlagwort „zuerst behandeln, dann abnabeln“ wurde diese Forderung auf die Spitze getrieben.

        Bei denjenigen, welche von Geburt an einen  krummen Fuß haben, ist dieser Zustand in den meisten Fällen zu heilen, es müsste denn die Verbiegung eine sehr bedeutende sein. Am besten ist es demgemäß, wenn man derartige Zustände möglichst rasch ärztlich behandelt…Die Gänge des Verbandes lege man in derselben Richtung, in welcher auch die Einrichtung des Fußes durch die Hände stattgefunden hat, damit der Fuß eher etwas auswärts gekehrt erscheint [d. h. in Überkorrektur]. Man muss, um es mit einem Worte zu sagen, wie ein Wachsbildner die in widernatürlicher Weise verbogenen und verzerrten Teile in ihre richtige natürliche Lage zurückzuführen suchen, indem man einerseits mit den Händen, andererseits mit dem Verbande, und zwar in ähnlicher Art, die Einrichtung bewirkt. Man darf dabei aber nicht gewaltsam zu Werke gehen, sondern muss es behutsam machen.

    (Hippokratische Schriften, Band 3, Abschnitt 4 De articulis/περὶ Ἂρθρων[7])

                            

    Abb. 1:  Klumpfuß und Behandlung um 1768 . Nach Valentin 1961, 75 Abb. 57
                                   

    Vorsichtig redressierend nutzt man die noch vorhandene biologische Plastizität des Gewebes, um eine Korrektur zu erzielen, die man anschließend bei gebeugtem Knie in einem Oberschenkel-Gips fixiert[8]. Der Wechsel des Gipsverbandes erfolgt anfangs ein- bis zweimal wöchentlich. Nach fünf bis achtmaligem Redressement und Umgipsen wird eine Schiene angelegt, die in den ersten drei Monaten ganztägig, bis zum 4. Lebensjahr nur noch nachts zu tragen ist. Die Spitzfußkomponente bleibt zunächst bestehen, soll jedoch möglichst noch vor dem Erlernen des Laufens durch eine Achillotenotomie korrigiert werden.

    Die Zeitspanne zwischen Hippokrates von Kos und dem Beginn des 16. Jahrhunderts ist weitgehend dunkel. Um 1500 entstehen die ersten korrigierenden Schienen, zunächst aus Holz, dann aus Eisen. Den Rat zum behutsamen Vorgehen hat man nicht immer befolgt. So weist Franciscus Arcaeus (ca. 1493-1573) das Hilfspersonal an, den Knaben von einem kräftigen Kerl auf die Knie nehmen zu lassen, die Hände und Beine hinter sich gebunden. Danach gehe der Wund-Artzt hinzu und ziehe den Fuß mit großer Gewalt aus und bemühe sich denselben wieder einzurichten[9]. Doch der starke Druck des blockierten Talus, des Sprungbeins, auf die Knöchelrolle verursacht schwere Knorpelschäden[10]. Gewaltsame Repositions-Manöver mit anschließender brutaler Apparate-Versorgung des rechten Beines musste auch der 1788 geborene Lord Byron über sich ergehen lassen. Der Knabe litt Qualen, ohne dass Besserung erfolgte[11]. Die später von seinem Reisegefährten Trelawny beschriebene Deformität beider Füße und eine postmortale Untersuchung der Beine sind nicht bestätigt[12]. Byron hat die Vorteile der seit 1837 zunächst in London praktizierten Achillotenotomie um 13 Jahre verpasst[13].

    Wie hilflos man noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielerorts dem Klumpfuß  gegenüber stand, schildert der orthopädische Chirurg  L. Strohmeyer, der 1830 an einer Tagung der Naturforscher in Hamburg teilnahm. Unter allgemeiner Zustimmung der vorzüglichsten deutschen Chirurgen wurde ein mit Klumpfuß behaftetes Mädchen von 20 Jahren trotz Strohmeyers Vorschlag, es doch erst mit weniger radikalen Eingriffen zu versuchen, amputiert[14].    

    Strohmeyer übernahm die zuerst in Frankreich praktizierte subcutane Form der Achillotenotomie und publizierte sie in deutschen und erneut in französischen Zeitschriften. Nach 1835 konzentrierte sich V. Duval ganz auf die erfolgreiche operative Therapie der Spitzfußkomponente. Sein 1839 erschienenes Buch, „Traité pratique du pied bot“, Praktische Behandlung des Klumpfußes, veranlasste den Arzt Dr. Charles Bovary in Flauberts berühmtem Roman „Madame Bovary“ zur Achillotenotomie an einem behinderten Knecht. „Charles stach in die Haut; man hörte ein kurzes Knacken. Die Sehne war durchtrennt, die Operation war beendet.“[15] Wie die Leser des Romans wissen blieb leider der gewünschte Erfolg aus. Es kam zur Gangrän und der Hausknecht musste amputiert werden.

    Während meiner operativen Ausbildungszeit erlebte ich einen vergleichbaren besonders unseligen Fall. Eine Tänzerin litt berufsbedingt an einer ausgeprägten Paratenonitis achillea, einer schmerzhaften Entzündung der Weichteile in der Umgebung der Achillessehne. Nach wiederholten konservativen Therapieversuchen, zu denen damals noch die Infiltration mit Cortico-Steroiden gehörte, und ebenso zahlreichen Rezidiven entschloss sich der behandelnde Oberarzt, das entzündete, verquollene Gewebe um die Achillessehne herum operativ anzugehen. Eine schwere Eiterung war die Folge. Stück für Stück ging die gesamte Achillessehne der Tänzerin verloren. Am Ende blieb nur eine Unterschenkelamputation. „Da musste dann schon das ganze   Wiedergutmachungs-Repertoire aufgefahren werden“, war der gemütvolle Kommentar der lieben Kollegen. Ich konnte froh sein, meine eigenen Finger nicht in der Wunde gehabt zu haben.      

    Zurück zum Klumpfuß und in den Olymp. wo der klumpfüßige Künstler-Gott Hephaistos dringend erwartet wird, um den Bann zu lösen, der seine Mutter Hera auf dem von ihm geschmiedeten Thronsessel fixiert[16].

        Mein Sohn freilich, Hephaistos, den selbst ich gebar, ist ein Schwächling
    …mit krummen Füßen[17].
    Einst packt ich ihn grad an den Händen und warf ihn ins weite Meer;
    doch Thetis, die silberfüßige Tochter des Nereus,
    Fing ihn auf und versorgt ihn im Kreis ihrer Schwestern.
    (Homerischer Hymnos an Apollon, 316-320)

    Verständlich, dass Hephaistos sich für die Lieblosigkeit seiner Mutter ein wenig rächt.

                    

    Abb. 2: Rückführung des Hephaistos, 600-580 v. Chr..  Nach: Simon 31985, 219 Abb. 204

    Man erkennt die nach hinten gekrümmten Füße, die ihm den Beinamen κυλλοποδίων, der Krummfüßige, eingetragen haben[18].

    Nach dem Ende der hocharchaischen Zeit stellt man die Behinderung des Hephaistos weniger drastisch dar. Sie wird allenfalls angedeutet, beispielsweise durch einen unter die Achsel gestützten Stab (Abb. 3[19]) oder sie bleibt ganz außer Acht. 

                      

    Abb. 3: Athena und Hephaistos, Ostfries des Parthenon.   Nach Simon 31985, 228 Abb. 217

                                      

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Brommer 1978: F. Brommer, Hephaistos. Der Schmiedegott in der antiken Kunst (Mainz 1978)

    Goebel – Gille – Löhr 2005: E. Goebel – J. Gille – J. F. Löhr, Lord Byrons Klumpfuß. Historische Vignette, Der Orthopäde 34/ 2005, 75 f. 

    Laser 1983: S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom S (Göttingen 1983)

    Loeschcke 1894: G. Loeschcke, Korinthische Vase mit der Rückführung des Hephaistos, AM 19, 1894, 510-525 Taf. 8

    Michler 1963: M. Michler, Die Klumpfußlehre der Hippokratiker. Eine Untersuchung von De Articulis Cap. 62. Mit Übersetzung des Textes und des Galenischen Kommentars (Wiesbaden 1963) 

    Rössler – Rüther 2007: H. Rössler – W. Rüther, Orthopädie und Unfallchirurgie (München 2007)

    Simon 31985: E. Simon, Die Götter der Griechen (München 31985)       Abb. 2. 3

    Trelawny 1986: E. J. Trelawny, Letzte Sommer. Mit Shelley und Byron an den Küsten des Mittelmeeres (Berlin 1986)

    Valentin 1961: B. Valentin, Geschichte der Orthopädie (Stuttgart 1961) 6. 67-106      Abb. 1

    Wamser-Krasznai 2012/2013: W. Wamser-Krasznai, Hephaistos – ein hinkender Künstler und Gott, in: dies., Auf schmalem Pfad. Grenzgänge zwischen Medizin, Literatur und den schönen Künsten (Budapest 22012/2013) 72-82

    Wright 1986: D. Wright, Einleitung zu Edward John Trelawny, Letzte Sommer. Mit Shelley und Byron an den Küsten des Mittelmeeres (Berlin 1986)


    [1] Für entsprechende Informationen danke ich den Humangenitiker*innen  Prof. Dr. Ursel Theile, Mainz, und Prof. Dr. Ulrich Zechner, Frankfurt am Main.

    [2] E. Wrage-Brors, Ergebnisse chirurgischer Klumpfußversorgung…Diss. Hannover 10.10.2006.

    [3] Rösler – Rüther 2007, 322-324; Valentin 1961, 79; T. Chr. Grünewald, Mittel-bis langfristige Ergebnisse bei Pat. mit Klumpfußrezidiv…Diss. Köln 29.7.2009;  L. M. J. von Pfister, Der Klumpfuß, Diss. München 9.7.2014.

    [4] Hieronymus Fabricius ab Aquapendente, Valentin 1961, 71.

    [5] Valentin 1961, 74. 77.

    [6] P. Camper, Abhandlung über den besten Schuh, Valentin 1961, 81.

    [7] Hippokrates (ca. 460-370 v. Chr.) Hippokratische Schriften, Band 3, Abschnitt 4 „De articulis“,  München 1900, 152; Valentin 1961, 5 f.; Michler 1963, 5-16.

    [8] Besser: Gipsverband des ganzen Beines. Rösler – Rüther 2007, 324; erste Erwähnung der Gipsbehandlung im 10. Jahrhundert durch arabische Ärzte, Valentin 1961, 8.

    [9] Valentin 1961, 67 f.

    [10] Rössler – Rüther 2007, 324.

    [11] George Gordon Noel Lord Byron. Goebel – Gille – Löhr 2005, 75 f.

    [12] Wright 1998, 14. 25. 32; Trelawny 1998, 190-192.

    [13] Goebel – Gille – Löhr 2005, 76.

    [14] Valentin 1961, 94.

    [15] Gustave Flaubert (1821-1880), Madame Bovary.

    [16] Apul. Amphora, 330/320 v. Chr., LIMC (1988) 639 Nr.126 Taf. 392.

    [17] ῥικνὸς πόδας, Laser 1983, S 18 und Anm. 34.

    [18] Loeschcke 1894, 512 Taf. 8; Laser 1983, S 18 Anm. 34. Mit der Bezeichnung ist die Varusstellung des Fußes gemeint.

    [19] Parthenon-Fries, ca. 440 v. Chr., s. Brommer 1978, 242 Taf. 50,2; Wamser-Krasznai 2012/13, 73 Abb. 3.

  • It is an Apache tribe legend about the rite by which a boy is initiated into the world of adult men.

    In the evening, the father would take his son deep into the woods, put a blindfold over his eyes, and sit him on a stump. The boy would be instructed to remain seated on that stump without removing his blindfold until sunrise the next day. The father would say goodbye to the boy saying he would see him tomorrow, after sunrise.

    It was not allowed to cry or call for help. The boy who follows the morning instructions on the stump becomes a grown man. It was not allowed to talk about that experience with others.

    The boy would come to the stump with his father, scared, not knowing what to do. He would sit and wait. As time passed and darkness fell, the fear grew greater. In the silence of the night, various sounds, screams, noises, animals, wind echoed through the forest… The night would last indefinitely.

    And when he finally felt the first rays of the sun on his face, the boy would take off his blindfold. Only then, he would see that, his father the whole night was seated a few meters distant and had not left him alone.

    Dr.med.André Simon © Copyright

    Credits: The forest was photographed by Dr. Dietrich Weller, who has agreed to illustrate this story. The author is grateful for this permission.

    Übersetzung

    Die Einführung

    Es gibt eine Legende aus dem Stamm der Apachen über den Ritus, durch den ein Junge in die Welt der Erwachsenen eingeführt wurde.

    Am Abend brachte der Vater seinen Sohn tief in den Wald, stülpte ihm eine Binde über die Augen und setzte ihn auf einen Baumstumpf. Dem Jungen wurde gesagt, auf diesem Stumpf bis zum Sonnenaufgang am nächsten Morgen sitzen zu bleiben, ohne die Binde abzunehmen. Der Vater verabschiedete sich von seinem Sohn und sagte, er werde ihn morgen nach Sonnenaufgang abholen.

    Er durfte nicht weinen oder um Hilfe rufen. Der Junge, der den Anweisungen auf dem Stumpf bis zum Morgen folgte, wurde ein erwachsener Mann. Es war auch nicht erlaubt, mit anderen über diese Erfahrung zu sprechen.

    Er Junge kam mit seinem Vater zu dem Stumpf und war ängstlich, weil er nicht wusste, was er tun sollte. Er saß da und wartete. Während die Zeit verstrich und die Dunkelheit eintrat, wurde die Angst größer. In der Stille der Nacht schickten verschiedene Töne, Schreie, Lärmklänge, Tiere und der Wind Echos durch den Wald. Die Nacht dauerte unendlich lang.

    Und als er schließlich die ersten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht fühlte, nahm der Junge die Binde ab. Erst dann sah er, dass sein Vater die ganze Nacht ein paar Meter entfernt gesessen war und ihn nicht allein gelassen hatte.

    Dank: Der Wald wurde von Dr. Dietrich Weller fotografiert. Er hat zugestimmt, diesen Text mit dem Bild zu illustrieren. Der Autor ist dankbar für diese Erlaubnis.

  • Wieder unterwegs

    (19.9.2019)

    Soweit der Blick reicht
    fruchtbare Felder
    in der Ferne
    der mit mir sprechende Wald

    Auf eine trügerische Taubheit
    treffe ich täglich
    und auf Blinde
    alle zum Sehen befähigt

    Was würde ich machen
    ohne weise Wälder
    und tröstende Kornfelder

    ֎֎֎

  • Wie die Sonne

    (19.9.2019)

    So wie die Sonne
    die jeden Tag aufrecht
    ohne jegliche Rücksichtnahme
    auf vermeintliche Allmächtige
    Licht und Wärme spendet
    beleuchte du beharrlich
    Abläufe und Ereignisse
    schenke deiner Umgebung
    Zuversicht und Lebensfreude
    Täusche dich nicht
    denn tausend Sonnen
    trägst du in dir

    ֎֎֎

  • Lichtbogen

    (19.9.2019)

    Als ich im Lichte der Morgenröte
    mit den Tauperlen
    über meine Träume und Tränen sprach
    tauchte am Horizont
    ein heller Lichtbogen auf
    Seinem Ursprung ging ich nach
    und entdeckte dich
    Seitdem trage ich behutsam
    dein Licht in meinem Herzen

    ֎֎֎

  • Hand in Hand

    (15.9.2020)

    Mit dir baue ich blühende Brücken
    auf dem bewegten Weg
    zu den Herbergen der Geborgenheit
    den Anwesen der Verbundenheit
    den Stätten der Schönheit
    den Häusern der Wahrhaftigkeit
    Mit dir bau ich bleibende Brücken
    der hellen Lebendigkeit

    ֎֎֎

  • I.

    Komm mir nun, Hübsche
    blau sind die Augen,
    hohe Bögen die Brauen
    an deiner Gestalt
    nüchterne Kurven,
    komm mir
    Ein Rätsel dein Blick
    des eilenden Sommers Erfüllung
    des ermatteten Sommers Balsam,
    dass nicht weiter wird stören
    dies eine Wörtchen nur
    Schade

    II.

    Einen Augenblick
    nur einen,        
    ein Schweigen 
    für so kurze Zeit
    Sieh die Straße, schau!
    Es brach sich seinen Pfad                                           
    durch allen Ast das Licht,                                           
    kein Blatt das sich grad regt                                        
    mein Blick der sich nicht regt   
    Nicht einer kam vorbei
    um etwas Unrast hier zu lassen                        
    mir ein Heim die Pflastergassen,                      
    das Häuschen ein Palast im Glanz                               
    wertvollste Blume jedes Gras                                     
    mein Ein und Alles der Moment                                  
    es blitzt wie Sonnenpracht das Glas
    und alles hält’s verborgen

  • The art of composing and telling stories is the oldest art.

    What is the story? Aristotle’s definition: “The story takes with its fists from the magma of life, from the hot clay, from the living body its „pound of flesh“, and makes it something that we can understand as a whole, complete”.

    Nobody can live without the stories, because without it ,we cannot arrange our life. We are always in the core of a story, we have to determine the beginning, the middle and the end; we have to include the content; so that we can later view it as our life. Of course, life weighs on stories, not only from the material of what the life experienced, but also from, what the German philosopher Ernst Bloch (1885-1977) calls -waking dreams and hopes.

    Of course, not every story is a story. The story becomes a story only with a skillful, artistic narration. Content is important, and the beauty is in the narration. Regarding life’ stories is interesting the insight of American polymath Benjamin Franklin (1706-1790) “If you would not be forgotten, as soon as you are dead and rotten, either write things worth reading, or do things worth the writing”

    My respect for the story is even greater, because I have determined that every literary work at its core has a story. Even the poetry! Not only literature, but all other arts as well. The only art, that is above the story, is the music.  The music is certainly above all other kind of arts.

    Dr. med. André Simon © Copyright

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Simon – The Story – Die Geschichte

    Die Art und Weise, wie Geschichten zusammengesetzt und erzählt werden, ist die älteste Kunst.

    Was ist die Geschichte? Die Definition des Aristoteles sagt: „Die Geschichte nimmt mit ihren Fäusten vom glühenden Lebensfluss, von der heißen Tonerde, vom lebenden Körper ihr „Pfund Fleisch“ und macht daraus etwas, das wir als Ganzes, als vollständig verstehen.“

    Niemand kann ohne die Geschichten leben, weil wir ohne sie unser Leben nicht gestalten können. Wir sind immer im Kern einer Geschichte, wir müssen den Anfang bestimmen, die Mitte und das Ende; wir müssen den Inhalt einfügen, so dass wir es später als unser Leben betrachten können. Natürlich lastet das Leben auf Geschichten, nicht nur wegen des Gehalts, den das Leben erfahren hat, sondern auch von dem, was der deutsche Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) als Wachträume und Hoffnungen bezeichnet hat.

    Natürlich ist nicht jede Geschichte eine Geschichte. Die Geschichte wird zur Geschichte nur mit einer geschickten, kunstvollen Erzählweise. Der Gehalt ist wichtig, und die Schönheit liegt in der Erzählweise. Wenn man Lebensgeschichten betrachtet, ist die Ansicht des amerikanischen Universalgelehrten Benjamin Franklin (1706-1790) aufschlussreich: „Wenn du nicht vergessen werden willst, sobald du tot und verwest bist, schreib entweder Dinge, die lesenswert sind, oder mach etwas, über das es sich lohnt zu schreiben.“

    Meine Hochachtung für die Geschichte ist noch größer, weil ich beschlossen habe, dass jede literarische Arbeit in ihrem Kern eine Geschichte enthält. Sogar die Dichtkunst! Nicht nur die Literatur, sondern alle anderen Künste ebenso! Die einzige Kunst, die über der Geschichte steht, ist die Musik. Die Musik ist sicherlich allen anderen Arten von Kunst überlegen.

  • Azaleen

    Sie blühen eben im Verborgenen,                                                       

    unzugänglich:

    Die Gewächshäuser sind derzeit geschlossen

    wie Museen, vielbesuchte, engräumige.

    So entfalten sie sich üppig ungesehen,

    dem hiesigen Vorfrühling exotisch voraus,

    umsonst umgepflanzt aus dem Osten

    und gezüchtet in Abendlandböden –

    zu wessen Freude denn nun?

    Dabei bräuchten wir genau jetzt

    ihre Spur von Rosa im Dunkel,

    ihre Blütenkränze in der Begrenzung.

    Sind sie  auch schön ohne Betrachter?

    Urbi et orbi

    Mehr kann er nicht tun.

    Ein Äußerstes an Segen und Gebet –

    für den Erdkreis, den heimgesuchten.

    Es ist eine blaue Stunde,

    der Regen fällt,

    der weitläufige Platz ist menschenleer,

    der Baldachin ist weiß wie sein Gewand.

    Er sitzt allein, versunken, gebeugt

    und bringt die Angst, den Tod, die Not

    vor Gott.

    Man nimmt ihm die Verbundenheit ab.

    Wird die Last abgenommen –

    vor dem Pestkreuz des Mittelalters,

    zu dem so viel Gepeinigte schon aufsahen,

    vor der Ikonen-Mutter in Gold,

    zu der sie namenlos flehten?

    Er nimmt uns mit

    ins Innerste möglichen Glaubens,

    in die gesuchte Heimat.

    Schwarzer Tod

    Dem Sterbenden nahe zu sein,

    die Nahestehenden zu umarmen,

    gemeinsam Abschied zu nehmen –

    geht nicht.

    Nehmt Abstand

    von natürlichen Reflexen,

    von Bedürfnissen nach Trost,

    von Ritualen!

    Der Sterbende geht ohnehin allein hinüber,

    begleitet und getragen

    von Gedanken, Gefühlen, Gebeten und Geborgenheit –

    so Gott will.

    Aber wie damals zu archaischen Seuchenzeiten

    geht es nicht,

    das entgleitende Kind nicht zu umarmen,

    dem Bruder nicht von den Lippen zu lesen,

    der uralten Mutter nicht die Augen zuzudrücken.

    Und es muss doch gehen – um des Lebens willen.

    Dann nimm sie hin, Tod!

    Uns bleibt der Stachel –

    bis zum lichten Ostertag.

     Wie damals

    So viele Richtlinien und Empfehlungen,

    so viele Verbote.

    Es gibt wieder Denunzianten, besonders brave,

    und solche, die zu hinterfragen wagen,

    dass die Welt gleichsam stillsteht.

    Es gibt wieder die gleiche Ratlosigkeit,

    die nach starken Worten und klarer Führung verlangt,

    eine Unsicherheit wie sich zu verhalten,

    das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden

    und massig Informationen,

    ganze Schaltbäume an Verhaltensmaßregeln,

    die wie immer keiner liest.

    Man versucht, der Angst Herr zu werden.

    Jetzt ist die Zeit der Pragmatiker und der Bürokraten,

    die die Ungewissheit in Regeln bannen.

    Widerstand aber ist kaum möglich,

    denn die Macht, gegen die es zu kämpfen gilt,

    ist keine menschliche.

    Broken wings

    Eingesperrt – so empfand er sich,

    isoliert – fühlte sich das Leben an.

    Energie vibrierte,

    die virtuellen Welten genügten nicht.

    Immer nur verzerrte Gesichter auf Bildschirmen.

    Reden, Nachrichten schreiben – das war nicht Seines.

    Mit der Gruppe um die Häuser ziehen,

    in Parks zusammensitzen bei Musik,

    per Handschlag sich verständigen von Jugend zu Jugend:

    das wäre es, das ist es.

    So schlug er mit der flachen Hand aus Wut an die Wand –

    und brach sich den Arm.

    Die Welt räumt auf

    Die Welt räumt auf

    in ihrer Unordnung

    Die Welt steht still

    in ihrer Hetze

    Die Welt ist ratlos

    in ihrer Autonomie.

    Aber zu all dem gab Gott die Sonne

    nahezu jeden Tag in der Krise.

    Und es war gut.

    Gefährliche Hilfe

    Aus dem Haus wagt er sich kaum noch,

    aber so viele Male wird er das Blühen nicht mehr erleben und

    so macht er sich auf in die Sonne,

    um die Blüte festzuhalten im Bild

    für sein Wohnzimmer, das er kaum noch verlassen soll.

    Dabei stolpert er und fällt.

    Ein junger Mann stürzt herbei und hilft ihm auf –

    ganz nah kommt im dankbaren Lächeln

    Gesicht zu Gesicht.

    Quarantäne

    Vierzig Tage in der Wüste,

    Fastenzeit, Osterzeit –

    vierzig Tage hält der Mensch Ausnahmezustände aus,

    dann geht es nicht mehr,

    dann verwüstet die Wüste,

    dann mergelt der Hunger aus,

    dann würden sogar Feiern zu viel.

    Die Alten hatten  Augenmaß.

    Sie bemaßen die Zeit weise

    und ließen Rückkehr zu

    zum Altgewohnten

    mit neuen Augen.

    Welttheater

    Nun sind das Erste und das Letzte,

    was sie sehen auf dieser Welt

    Masken,

    über denen Augen schauen,

    glänzend, verschwimmend und forschend.

    Augen nur.

    Der Lebensatem der Welt

    Ist getrennt, verhüllt und je eigen.

    So einsam sind Kinder und Sterbende heute

    mit ihrem Selbst

    und der eigenen Rolle

    bei Auftritt und Abgang

    auf der Bühne des Lebens.

  • 1993 kam ich von einer kurzen sehr ergiebigen Griechenlandreise zurück und erfuhr aus der Zeitung, dass ich Konkurrenz bekommen hatte. Zwei Fachkollegen hatten sich 500 m von mir entfernt niedergelassen. Wir luden sie ein, sprachen freundschaftlich mit ihnen und es ließ sich gut an bis auf die Gewissheit, dass sich nun mehr Leute in den nicht größer gewordenen Kuchen teilen mussten. Alle Patienten, die männliche Ärzte bevorzugten, schöne große neue Praxisräume, hübsche Arzthelferinnen, Bestellsystem und Fahrstuhl haben wollten, verließen mich; auch diejenigen, denen ich zu ungeduldig war. Eine Katastrophe zunächst. Dann tröpfelten einzelne frühere Patienten zurück. Die Atmosphäre entspannte sich. Wir vertraten einander und waren einigermaßen sicher, dass wir miteinander leben konnten.

    Dann fiel der nächste Schlag. Von heute auf morgen wurde mir die Röntgenzulassung entzogen. Meine Einrichtung war veraltet, die Bilder entsprachen qualitativ nicht mehr den Anforderungen. Auf meinem Haben-Konto durfte ich allerdings verbuchen, dass meine Diagnostik und meine Therapie (-Vorschläge) bis dahin einwandfrei waren. Eine glanzvolle Erinnerung habe ich an eine Patientin, die unter dem Verdacht auf Schenkelhalsfraktur sekundär zu mir geriet. Ihre Hausärzte, die nicht besonders viel davon hielten, Überweisungen an Orthopäden auszustellen, da sie ja ohnehin selbst alles wussten und konnten, hatten die Patientin in eine radiologische Praxis geschickt. Der Befund:  „kein Anhalt für …“. Doch die Schmerzen bestanden unverändert weiter. Nun wurde ihr – einer bekannten Butzbacher Persönlichkeit –  tatsächlich eine Überweisung zum Orthopäden zugestanden, mit der Einschränkung „zur Diagnostik“, damit nur ja keine „fachärztliche“ Therapie daraus würde. Meine klinische Untersuchung mündete in den starken Verdacht auf eine Schenkelhalsfraktur. Jetzt musste das Röntgenbild angefordert werden. Es war trotz seiner fach-radiologischen Provenienz ziemlich verbesserungsfähig, zeigte aber doch eine eindeutige intermediale Fissur des Schenkelhalses. Das war den Hausärzten peinlich, mir aber ein inneres Gau-Turnfest.

    Zurück zum Entzug meiner Röntgenzulassung. Wir hätten das Röntgengerät aufmöbeln oder ersetzen und nach erneuter Prüfung die Zulassung behalten können. Nun war mein Mann und einziger Mitarbeiter in der Praxis ein exzellenter Wirtschaftsingenieur. Seine diesbezüglichen Fähigkeiten hatte er bereits beim Umzug der Praxis von Kassel nach Butzbach bewiesen. Durch Verkleinerung der Räume, Verzicht auf weiteres Personal, radikaler Verminderung der Ausgaben und Ausbau von ein paar Besonderheiten wie z. B. Hausbesuch – bei Orthopäden durchaus unüblich – war der Betrieb endlich „wirtschaftlich“ geworden. Er stellte mir frei, die Ausgabe für eine neue Röntgeneinrichtung in den Kauf zu nehmen, musste mir aber davon abraten, da der Röntgenanteil seinen Berechnungen nach nicht wirtschaftlich zu erbringen war.

    Wir verzichteten auf eigenes Röntgen – für einen Orthopäden ungeheuerlich – und trafen ein Abkommen mit einer sehr kollegialen Röntgenärztin. Meinen Befürchtungen zum Trotz stiegen unsere Einnahmen an. Auf einmal konnten wir von der Praxis leben. Ein bescheidenes Zubrot ergab sich aus meiner Mitarbeit im Prüfungsausschuss der Kassenärztliche Vereinigung. Über 10 Jahre saß ich dort, an Mittwoch Nachmittagen, lernte eine Menge und verdiente ein bisschen was dazu. Wir besuchten zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen. Ich hielt Vorträge in Volksbildungswerken und bildete mich zur Abrechnungs-Expertin aus. Der Schachzug gelang. Inzwischen sind wir Rentner und leben bequem. Die weitere Entwicklung, die ja durchaus Anlass zu Pessimismus gibt, liegt nicht mehr in unserer Hand.

    Es kommt aber noch eine Fortsetzung. Als ich versuchte, meinen Kassenarztsitz, den ich bis zum vollendeten 68. Lebensjahr innehatte, weiterzugeben, dachte ich natürlich an meine hiesigen Kollegen. Sie hatten inzwischen einen dritten Orthopäden als Angestellten, ohne eigene Kassenzulassung hinzu genommen. Dieser war aber ein rechter Stoffel, der es nicht einmal für nötig hielt, telefonisch bei mir vorzusprechen. Da fing ich an zu „mauern“ und Verhandlungen mit einem sympathischen etwa 18 km entfernt praktizierenden Kollegen aufzunehmen. Das zog sich in die Länge. Ein Anwärter z. B. nahm lieber eine Oberarzt-Stelle an und blieb in der Klinik, verständlich. Eine andere Praxis, etwas näher gelegen, sprang ein. Ich schloss mit dem jungen angestellten Orthopäden einen Vertrag. Jetzt begannen meine hiesigen Kollegen quer zu schießen, zitierten mich vor die KV, die Landesärztekammer und das Sozialgericht. Ich gewann erwartungsgemäß, denn einer neueren sozialgerichtlichen Entscheidung zu Folge war ein Kassenarzt-Sitz nicht gegen den Wunsch der Inhaberin zu vergeben. Wir konnten uns den Rechtsbeistand sparen. Die prominente Rechtsanwältin unserer Kontrahenten dagegen durfte  sich anschließend ein neues Auto leisten.

    Nach ihrer Trennung von dem „Stoffel“ und einer Gesetzesänderung haben meine Kollegen längst einen angenehmen „Dritten“. Wir sind versöhnt, und ich konsultiere sie bei Bedarf selbst.         

    Gut gegangen.