Month: August 2022

  • Am 27. Juli 2022 bekam ich überraschend Post von Herrn Dr. Klaus Baier, dem Präsident der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg. Er gratulierte mir zum goldenen Promotionsjubiläum! Und er entschuldigte sich dafür, dass die Universität Heidelberg-Mannheim keine Urkunden mehr zu diesem Feiertag ausstellt, „auch nicht gegen Bezahlung!“
    Das hat mich verblüfft: Die Ärztekammer denkt an meine Doktorarbeit, und der Präsident schickt mir einen persönlichen Brief! Herzlichen Dank dafür! Diese Post kam auf den Tag richtig! Der 27. Juli 1972 war nämlich der genaue Tag meiner Promotionsprüfung. Da musste ich wieder einmal schmunzeln, als ich über meine Doktorarbeit nachdachte. Diese Geschichte wollte ich schon lange aufschreiben. Hier ist sie.

    Ich studierte im Wintersemester 1969 und Sommersemester 1970 im Klinikum Mannheim, das der Universität Heidelberg angeschlossen war. Nebenbei machte ich Nachtwachen in der Abteilung für Schwerverbrannte in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik Ludwigshafen. Die beeindruckenden und manchmal tragischen Erlebnisse in dieser Klinik gehören nicht hierher, aber sie haben mich nachhaltig geprägt. Das will ich wenigstens erwähnen.

    Eines Morgens im Januar 1970 sagte ein Kollege im Hörsaal der Uni zu mir: „Du suchst doch nach einem Thema für eine Doktorarbeit. Bei Prof. Stoll in der Frauenklinik steht am Schwarzen Brett, dass er eine Arbeit zu vergeben hat! Interessiert dich das?“

    Also bat ich im Sekretariat von Herrn Prof. Stoll um einen Termin zu einem Gespräch. „Gut, der Termin ist jetzt!“, sagte die Sekretärin, „Er ist da und hat jetzt gerade Zeit, ich melde Sie an!“

    Prof. Stoll erklärte mir nach einer kurzen Begrüßung sein Anliegen: „Für 1968 habe ich von einer Doktorandin überprüfen lassen, mit welchen Indikationen die Neugeborenen in die Kinderklinik verlegt werden, welche Diagnosen sie dort erhalten und in welchem Zustand sie entlassen werden. Ich möchte wissen, inwiefern sich das verändert hat. Dazu habe ich zwei besondere Fragen: Haben wir alle Kinder rechtzeitig verlegt? Und eine andere Besonderheit sollten Sie genauer anschauen. Ich habe nämlich bemerkt, dass im Sommer 1969 eine Durchfallepidemie im Neugeborenenzimmer ausgebrochen ist und wir deshalb noch viel mehr Neugeborene verlegt haben als in den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Ich will wissen, ob das etwas mit den hygienischen Zuständen des Neugeborenenzimmers zu tun hat. Wir verlegen sehr viele Kinder nur, weil wir keinen Platz haben, sie hier zu behandeln. Sie müssen sich das Zimmer mal anschauen und mit den Schwestern dort über die Situation sprechen. Interessiert Sie das Thema?“

    „Ja, das interessiert mich! Ich möchte nach dem Examen eine Kinderfacharztweiterbildung machen. Da passt dieses perinatologische Thema sehr gut! – Mir fällt spontan ein Vorschlag ein: Mein Vater ist niedergelassener Kinderarzt, und ich werde morgen zum Wochenende zu meinen Eltern fahren. Da kann ich mit meinem Vater zusammen eine Gliederung der Arbeit und eine Liste der Dinge erstellen, die ich brauche, um die Grundlagen für die Arbeit zu sammeln.“

    „Gut, dann kommen Sie am Montag wieder zu mir, damit wir das besprechen können. Ich möchte, dass wir immer wieder kurz während Ihrer Arbeit miteinander reden, damit Sie möglichst keine Umwege machen und zielgerichtet und rasch das Ergebnis erreichen. Einverstanden?“

    Ja natürlich war ich einverstanden, was konnte mir Besseres passieren? Andere Doktoranden warten monatelang, bis ihr Doktorvater mal Zeit für sie hat.

    Als ich am Wochenende meinen Eltern den Plan vorlegte, den ich mir schon teilweise gemacht hatte, war mein Vater voll Interesse, und wir wollten gleich mit der gemeinsamen Arbeit loslegen.

    Da bremste meine Mutter: „Kennst du die Frau von Prof. Stoll?“ – „Nein, natürlich nicht, warum?“ – „Ich habe den Verdacht, dass das die Freundin ist, die ich seit vielen Jahren suche. Mit ihr habe ich viel Zeit im Reichsarbeitsdienst verbracht und seither den Kontakt verloren. Bei jedem Kongress, zu dem ich Vater begleitet habe, halte ich Ausschau nach ihr, weil ich gehört habe, dass sie einen Frauenarzt geheiratet hat. Ich hole mal mein Fotoalbum aus der RAD-Zeit!“

    Sie zeigte mir in dem Album einige leicht vergilbte Bilder und deutet immer wieder auf die Freundin, die sie suchte.
    „Ich möchte sie so gern wieder treffen!“

    „Mutter, dann mache ich dir einen Vorschlag. Ich nehme das Album am Montag mit zu Prof. Stoll und frage ihn, ob diese Frau seine Frau ist.“

    „Ja, das ist prima. Und ich schreibe jetzt einen Brief an diese Frau, den du ihm geben kannst, wenn er seine Frau auf diesen Bildern erkennt! Und jetzt könnt ihr beiden an die Arbeit gehen.“

    Vater und ich entwarfen unseren Plan, und es machte uns beiden richtig Spaß, dieses Projekt gemeinsam anzustoßen.

    Am Montag war ich bei Prof. Stoll, und er fragte sofort: „Na, was haben Sie mit Ihrem Vater erarbeitet?“ – „Das erkläre ich Ihnen gleich, aber ich möchte Ihnen vorher etwas anderes zeigen!“
    Ich zog das Album aus meiner Aktentasche. Er schaute erstaunt: „Wo haben Sie das Buch her? So eines haben wir auch zu Hause?“

    Ich legte das Album auf den Tisch und schlug es gezielt auf bei einer Seite, die meine Mutter mit einem kleinen Zettel markiert hatte. Dann deutete ich auf die Frau, die meine Mutter suchte:
    „Ist das Ihre Frau?“ –
    „Ja! Ja!“
    Er war ganz begeistert, als ich ihm berichtete, wie ich zu dem Buch gekommen war und dass ich jetzt auch noch einen Brief für seine Frau hatte:

    „Bitte nehmen Sie das Album und den Brief mit für Ihre Frau! Sie können mir das Album ja gelegentlich wieder geben.“
    Dann besprachen wir die Arbeitsliste, wegen der ich eigentlich gekommen war. Prof. Stoll war sehr angetan von dem Plan und schlug noch wenige kleine Änderungen vor, dann verabschiedete er mich: „Gehen Sie ins Archiv, lassen Sie sich alle Akten geben, die Sie brauchen, dann gehen Sie in die Kinderklinik und suchen dort alle Akten raus. Und dann gehen Sie noch in das Neugeborenenzimmer und schauen sich dort um! Meine Sekretärin meldet sie überall an. Wenn Sie die Unterlagen beieinander haben, melden Sie sich wieder. Sie bekommen dann kurzfristig wieder einen Termin!“

    Am Abend erfuhr ich telefonisch von meiner Mutter, dass Frau Stoll schon angerufen hatte! Sie hatten wohl eine lange Unterhaltung, und beide Frauen waren hoch erfreut über das späte Treffen.

    Ich erstellte in der Frauenklinik eine Liste der Kinder, die 1969 in der Frauenklinik geboren worden waren und füllte meine Fragebogen mit allen Daten aus, die ich brauchte. Dafür hatte ich mir einige Abkürzungen festgelegt, um die Liste übersichtlich zu halten. Dann ging ich mit der Liste in die Kinderklinik und ergänzte die Daten von dort.

    Der Besuch im Neugeborenzimmer war besonders interessant. Die Kinderkrankenschwester, die mir öffnete und der ich erklärte, warum ich komme, war schon informiert über meine Aufgabe. Sie war sehr bereit, mir zu helfen und kam gleich zum Punkt: „Schauen Sie, hier an dieser Wand ist der lange Wickeltisch, wo vier Kinder gleichzeitig gewickelt werden können. Und es ist sehr praktisch, dass ich mich nur umdrehen muss, um die volle Windel in diesen Papierkorb zu werfen. Aber dieser Korb hängt am ersten Bett der Reihe von Kinderbetten, die hier im Zimmer stehen! Und so haben wir vier Bettchenreihen, die alle am ersten Bett der Reihe einen Windelkorb tragen! Wir haben festgestellt, dass immer zuerst das Kind im ersten Bett den Durchfall bekam und dann das zweite, und das dritte. Kein Wunder! Merken Sie was? Das ist ein Planungsfehler! –  Und wir können keine Kinder isolieren  und wegen des geringen Platzes keine Kinder unter 2500 g Geburtsgewicht hier unterbringen, weil sonst die Station überläuft. Deshalb müssen wir so viele Kinder verlegen. Und deshalb will der Professor das unbedingt ändern, aber er sagt, er bekommt kein Geld dafür!“ –

    Jetzt war mir schlagartig klar, worum es ging. Das war eine zusätzliche Motivation, diese Arbeit zu schreiben. Keine wissenschaftlich anspruchsvolle Arbeit, aber immerhin mit der Aussicht, etwas Praktisches und Wichtiges in der Klinik verbessern zu helfen!

    Ich machte mich mit Freude und gewisser Neugier an die Auswertung meiner vielen Daten und stellte tatsächlich die vermehrte Überweisungsaktivität im Sommer fest und konnte sie genau mit der Diagnose Enteritis verbinden. Außerdem konnte ich als Begleitergebnis dokumentieren, dass kein einziges Kind zu spät verlegt worden war. Auch die schwerstkranken Neugeborenen, die später in der Kinderklinik verstarben, waren sofort nach der Geburt in die Kinderklinik verlegt worden. Aber von den 1853 Kindern, die 1969 in der Frauenklinik geboren waren, -das sind durchschnittlich fünf Kinder jeden Tag!-, mussten 472 verlegt werden. Das sind 25%! Diese sehr hohe Zahl lag ganz offensichtlich an den sehr schlechten hygienischen und beengten räumlichen Bedingungen im Kinderzimmer der Frauenklinik. So entschloss man sich zum Beispiel, alle Kinder unter 2500 g Geburtsgewicht auch gesund zu verlegen, weil eine angemessene Versorgung nicht möglich war. In einer gut ausgestatteten Frauenklinik wäre zum Beispiel ein gesundes Neugeborenes mit 2000 g nicht verlegt worden! Die Kinder mussten also von der Mutter getrennt werden, weil das Kinderzimmer zu klein war, nicht weil das Kind oder die Mutter krank waren.

    Als ich Prof. Stoll meine Ergebnisse erklärte und schriftlich zeigte, war er sehr zufrieden: „Das habe ich erwartet! Jetzt schreiben Sie das sehr genau und detailliert in einen flüssigen Text, berücksichtigen Sie die einzelnen Diagnosegruppen der Verlegungen, und bleiben Sie streng bei Ihrer Gliederung. Dann kommen Sie wieder.“

    So war ich immer, nachdem ich einen Teilschritt der Arbeit erledigt hatte, bei ihm zu einem kurzen Gespräch, das nie länger als zehn Minuten dauerte, aber mich sehr zielsicher auf meiner Arbeitsspur hielt. So machte ich nichts Überflüssiges und musste nichts Falsches korrigieren. Diese Bereitschaft von Prof. Stoll, mich so zu unterstützen, war eine echte und vorbildliche Hilfe, für die ich heute noch dankbar bin.

    Ich fand auch noch eine Sekretärin, die in enormer Fleißarbeit meine gesamte Datenliste abschrieb, die wir dann später verkleinert in die Arbeit hinten einfügten.

    Als ich sechs Wochen nach unserem ersten Gespräch Herrn Prof. Stoll an einem Freitag nach seiner Vorlesung meine fertige Arbeit abgab, die ich selbst in die Schreibmaschine getippt hatte, fragte ich ihn: „Wann darf ich wieder kommen, um das zu besprechen?“

    Er überlegte kurz: „Ich fahre morgen mit dem Zug nach Bremen, um einen Vortrag zu halten. Da lese ich die Arbeit während der Fahrt. Meine Frau hat mir verboten, mit meinem schnellen Auto selbst zu fahren. Kommen Sie am Montag nach meiner Vorlesung wieder!“

    Na, besser konnte es ja nicht laufen!

    Als ich am Montag die Arbeit abholen wollte, sagte Prof. Stoll: „Die Arbeit ist prima, ich habe nur ein einziges Adjektiv geändert, den Rest lassen Sie so. Ich habe die Arbeit heute Morgen schon unserem Perinatologen gegeben. Bis morgen hat er sie gelesen, dann gehen Sie zu ihm, holen sie ab und fragen nach seiner Meinung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas auszusetzen hat.“

    Auch von diesem Kollegen bekam ich freundlich und knapp den Kommentar: „Ja. Sehr gut, nichts ändern!“

    Prof. Stoll schlug noch vor, Herrn Prof. Huth, das war der Direktor der Kinderklinik, und Herrn Prof. von Keiser, das war der Dekan der Medizinischen Fakultät und gleichzeitig Direktor der Radiologischen Klinik, als Prüfer der Arbeit zu benennen. Diesen beiden Professoren brachte ich die Arbeit auch, als ich sie in Reinschrift verfasst hatte, und sie waren ebenfalls einverstanden.

    So, könnte man denken, das war´s.

    Aber so einfach geht es natürlich nicht. Zu jeder Doktorarbeit gehört eine Prüfung! Rigorosum nennt man das oder in manchen Fakultäten sogar Verteidigung. Das hört sich sehr militärisch nach einem großen Widerstand an, dem sich der Kandidat stellen muss. In einigen Universitäten findet diese Prüfung öffentlich statt, und der Kandidat muss sich nach einem Vortrag, in dem er seine Arbeit vorstellt, nicht nur über sein Promotionsthema, sondern auch über alle anderen Themen seines Fachs prüfen lassen! Das bedeutet in meinem Fall über die gesamte Medizin! In dieser Prüfung kann man wirklich durchfallen, und ich kenne Menschen, die in dieser Prüfung regelrecht gegrillt wurde, weil auch Themen genau hinterfragt wurden, über die der Kandidat gar nicht gearbeitet hat. Solche Prüfungsmanöver sind oft nur Profilierungsversuche der Prüfer vor ihren Kollegen.

    Es ist Vorschrift, dass diese Prüfung erst nach bestandenem Staatsexamen stattfinden darf. In den meisten Fächern darf man erst nach einem sehr gut bestandenen Examen eine Doktorarbeit anfangen! Das ist dann eine zusätzliche Auszeichnung, bei der man weiß, dass dieser Mensch eine sehr gute Gesamtexamensnote geschafft hat. In der Medizin gibt es da die Ausnahme, dass man die Arbeit schon vor dem Examen schreiben darf. Aber man darf den Titel erst nach dem Rigorosum tragen.

    Das war also noch eine Weile hin. Denn ich musste noch drei Semester studieren, und ich wollte wieder zurück nach Tübingen zum Endspurt. Es gab da nämlich die drei Freunde, mit denen ich Physikum gemacht hatte. Dann hatten wir in Wien ein Semester lang offiziell Medizin studiert und inoffiziell den großen Theater – Oper – Konzert – Kino – Freizeit – Schein gemacht. Den haben wir mit Bravour bestanden, nachdem wir fast jeden Abend bei einer anderen großartigen Veranstaltung waren – oft auf den Stehplätzen, aber wir waren dabei! In diesem Sommer fiel in Wien das 100-jährige Ballettjubiläum mit den Wiener Festwochen zusammen. Das durfte ich mir als großer Klassikliebhaber nicht entgehen lassen.

    Im Klartext: Es gab Fächer, in denen man tatsächlich zwei Mal in einen Kurs kommen musste: zur Anmeldung und um den Schein abzuholen. Deshalb wollte ich ja nach Mannheim, um dort in zwei Semestern an einer kleinen Uni die neun Scheine nachzuholen und tatsächlich zu erarbeiten, die ich Wien „gewonnen“ hatte.

    Meine Freunde hatten so wie ich nach Wien auch andere Unis besucht: München und Innsbruck. Deshalb verabredeten wir uns für das Sommersemester 1970 in Tübingen, um miteinander auf das Staatsexamen zu lernen.

    Su diesem Grund fragte ich Prof. Stoll bei meinem Abschied, wie wir das mit dem Termin für das Rigorosum machen sollten.

    „Das ist einfach: Sie rufen meine Sekretärin an, und sie macht Ihnen die Termine bei mir und den Prüfern.“

    Also zog ich beruhigt wieder nach Tübingen.

    Einen Monat vor der letzten der 18 Prüfungen rief ich im Sekretariat der Frauenklinik an und bat um die Termine. „Ja klar, mache ich für Sie! Wann ist ihr letzter Prüfungstermin? 25. Juli? Gut, rufen Sie mich morgen wieder an, dann habe ich die Termine.“

    Am nächsten Tag sagte die Sekretärin: „Ich habe alle drei Termine auf den 27. Juli gelegt, dann haben Sie es an einem Tag hinter sich und müssen nur einmal hierher fahren!“

    Also fuhr ich am 27. Juli nach Mannheim.

    Erster Termin bei Prof. Stoll. Er begrüßte mich sehr freundlich, bot mir einen Platz vor seinem Schreibtisch an und setzte eine ungewöhnlich ernste Miene auf. Das kannte ich nicht von ihm.

    „Herr Weller, Sie sind zur Prüfung hier!“

    Er machte eine Pause, schaute mich mit unbeweglicher Miene an und wartete offensichtlich darauf, dass seine Worte Wirkung zeigen.
    In welchen Film bin ich denn jetzt geraten?, schoss mir durch den Kopf? So kenne ich den Professor gar nicht!

    Dann fuhr er fort: „Ich habe mir drei besondere Fragen für Sie ausgedacht, die müssen Sie alle sehr gut beantworten, sonst kann ich Sie nicht bestehen lassen! Sind Sie bereit?“

    „Ja natürlich“, sagte meine Stimme, mein Kopfkino stellte auf Alarm und begann mit Rauswurfszenen.

    „Also, erste Frage: Welche Gesamtnote haben Sie im Staatsexamen erreicht?!“

    Puh, das war leicht.

    „Eine Eins.“

    Aber wie geht es weiter?

    „Zweite Frage: Wie geht es Ihren Eltern?“

    Jetzt wurde ich viel lockerer, er spielte mit mir und machte sich einen Spaß daraus. Ich wurde lockerer.

    „Oh, denen geht es gut, ich war gestern bei ihnen und soll freundliche Grüße ausrichten, auch von meiner Mutter an Ihre Frau!“

    „Dritte Frage: Wohin fahren Sie jetzt in Urlaub?“

    Ja bitte, gern noch mehr solche Fragen! Jetzt war ich wieder ganz entspannt.

    „Ich werde am kommenden Montag mit einem Freund eine sechswöchige Rundreise durch die Balkanstaaten bis Istanbul und dann um das Marmarameer zurück über Griechenland nach Deutschland machen.“

    Jetzt lachte der Professor: „Na, sehen Sie, Sie haben doch alles sehr gut beantwortet. Ich unterschreibe das hier jetzt, und Sie grüßen Ihre Eltern sehr herzlich. Und alles Gute für Ihre nächsten Prüfungstermine!“

    „Die habe ich jetzt gleich im Anschluss. Aber ich habe noch eine Frage an Sie.“

    Er schaute verwundert, fragend.

    „Was habe Sie denn mit meiner Arbeit gemacht, hatte sie irgendwelche Konsequenzen?“

    „Das kann man wohl sagen! Ich bin damit zum Baubürgermeister gegangen und habe mir 200.000 DM geben lassen, um das Neugeborenenzimmer endlich umbauen und vergrößern zu lassen. Sie sollten sich das noch ansehen, bevor Sie das Haus verlassen. Ist richtig schön geworden!“

    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ging direkt dorthin, und man zeigte mir gern den schönen Umbau.

    Deshalb habe ich immer noch das gute Gefühl, eine sinnvolle Arbeit geschrieben zu haben. Nicht wissenschaftlich, aber dafür pragmatisch mit einem echten Vorteil für diese Klinik und die Neugeborenen! Keine Arbeit für die Schublade, sondern etwas Notwendiges, das die Not wendet! Dafür bekam ich die Note cum laude – mit Lob. Das ist die beste Note, die man für eine nicht experimentelle Arbeit erhalten kann. Es gibt ja noch magna cum laude und summa cum laude.

    Bei Prof. Huth in der Kinderklinik war die erste Frage: „Welche Arbeit haben Sie denn geschrieben, ich erinnere mich nicht mehr. Können Sie mir kurz das Wesentliche erklären?“

    Das war einfach, und ich konnte fließend berichten und einige beeindruckende Zahlen einstreuen, weil ich am Tag davor meine Arbeit noch einmal gelesen hatte. Außerdem hatte ich sicherheitshalber ein Exemplar der Arbeit in meiner Aktentasche dabei, aber das wollte er gar nicht sehen.

    „Das war eine gute Arbeit, jetzt erinnere ich mich wieder! Also kann ich hier unterschreiben, dass Sie die Prüfung bei mir bestanden haben! Alles Gute für Sie!“

    Bei Prof. von Keiser wurde ich freundlich und jovial begrüßt. Das war schon mal erfreulich, weil er als sehr strenger Prüfer bekannt war.

    „Herr Weller, zuerst will ich mal wissen, welche Note Sie im Staatexamen gemacht haben.“

    „Eine Eins.“

    „Also, Sie wissen ja, wenn ich Sie durchfallen lassen will, schaffe ich das!“ Das klang sehr streng.

    Ich nickte und ahnte Schlimmes. Er setzte sich bequem hin. Ich noch nicht.

    „Wenn Sie aber in 18 Einzelprüfungen bewiesen haben, dass Ihr medizinisches Wissen insgesamt eine Eins wert ist, muss ich jetzt nicht eine 19. Prüfung machen! Erzählen Sie mir einfach mal, was Sie für eine Arbeit geschrieben haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran.“

    Nach meinem Bericht sagte er freundlich und schon im Aufstehen: „Also, mein Glückwunsch! Ich unterschreibe hier und wünsche Ihnen alles Gute!“

    Damit war ich draußen, erleichtert und mit verschwitztem Hemd, aber das kam natürlich nur von der Bullenhitze an diesem heißen Julitag und meinem dunklen Anzug und der korrekt geknoteten und hochgezogenen Krawatte!

    Anschließend ging ich –endlich ohne Sakko und Krawatte!- in einen Herrenkonfektionsladen und kaufte mir eine beige Hose. Ich hatte nämlich fast während der ganzen Prüfungsvorbereitung und der sechsmonatigen Prüfungszeit beim Lernen und Lesen am Schreibtisch immer dieselbe Hose an, weil sie so bequem war. Sie war jetzt durchgewetzt, und ich hatte mir vorgenommen, sie erst nach dem bestandenen Examen zu ersetzen. Die neue Hose behielt ich gleich an, weil sie so schön leicht war. Dazu passte ein helles Sommerhemd, das auch noch auf dem Ausstellungstisch lag. Auch das behielt ich gleich an. Die dunkle Anzughose und mein weißes Hemd ließ ich einpacken.

    Jetzt wurde mir die Symbolik richtig bewusst: Studium ade – Urlaub, ich komme!

    Die neue Hose und das Hemd bezahlte ich mit einem Scheck, und ich unterschrieb zum ersten Mal in meinem Leben und sehr aufmerksam mit Dr. Dietrich Weller. Darüber habe ich mich noch viel mehr gefreut als über die Hose und das Hemd.

    Das war mein ganz stiller Triumph in diesen Minuten des Einkaufs: In einer einzigen Woche hatte ich mein Studium nach sechs Jahren und die Promotion abgeschlossen und das mit 25 Jahren! Das fühlte sich sehr großartig an!

    Ich fuhr in bester Stimmung und gemütlich nach Leonberg zurück, wo meine Mutter schon Vorbereitungen getroffen hatte für das Fest am morgigen Samstag. Meine Eltern hatten nämlich schon vor Monaten, als die Prüfungstermine bekannt waren, die Idee gehabt, meine drei Studienfreunde mit ihren Eltern zu einem Grillfest in unserem Garten einzuladen. Ein meinen Eltern gut bekanntes Ehepaar, er war Koch, machte sich eine Freude daraus, uns am Grill leckere Speisen zuzubereiten. Es wurde ein richtig stimmungsvoller Abend an diesem wunderbaren Sommertag und ein denkwürdiger Abschluss unseres Studiums!

    Einen Nachklapp zur der Geschichte will ich der Vollständigkeit halber noch hinzufügen.

    Lange, nachdem ich schon meine eigene Praxis in Leonberg hatte, bekam ich von der Kreisärzteschaft eine Einladung zu einem Vortrag von Prof. Stoll in Leonberg.  So sah ich meinen Doktorvater wieder, und mein Vater brachte meine Mutter mit, die sich während des Vortrags im Restaurant des Hotels mit Frau Stoll zwei gute Stunden machte.

    Einige Jahre später, als ich in einem meiner Bücher eine kurze Geschichte aus einer Vorlesung bei Prof. Stoll veröffentlichte, suchte ich ihn, um ihm das Buch zu schicken. Ich erreichte telefonisch seine Frau, die mir erzählte, er sei an einer Lungenfibrose verstorben. Also schickte ich das Buch an Frau Stoll.

    Leonberg, am 08.08.2022


  • Katrin und Roger hatten sich einfach sehr, sehr gern. Sie hatten sich so gern, dass sie alles gemeinsam unternahmen. Sie aßen zusammen, sie kochten zusammen, sie lasen zusammen, manchmal in einem Buch. Natürlich wohnten sie zusammen in einem Haus.
    Katrin liebte Roger und Roger liebte Katrin.
    Jeden Morgen, wenn sie erwachten, wenn sie gemeinsam erwachten, freuten sie sich, dass sie wieder einen Tag zusammen erleben würden.
    Das war nicht selbstverständlich. Katrin war nämlich sehr, sehr krank. Sie war so krank, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen, dass sie nicht mehr laufen konnte.
    Zum Glück war Roger ein erfahrener Ingenieur. Er plante, probierte, baute und konstruierte, damit Katrin trotz ihrer Krankheit das Bett verlassen konnte, wann sie das wünschte. Er baute kleine, aber sehr kräftige Kräne, die Katrin aus dem Bett hoben, ganz sacht.
    Er baute einen wunderschönen, zarten Rollstuhl mit goldenen Rädern, der mit feinem Surren.
    Katrin nach ihren Wünschen durch das Haus rollte, ganz sacht.
    Katrin war froh, dass Roger sie so gut versorgte, denn so konnte sie sich immerhin eine Weile in ihrem Haus bewegen. Längere Zeit ging das nicht, denn dafür war Katrin zu schwach.
    Manchmal rollte Katrin auf den Balkon, besonders im Sommer, wenn es warm war. Da hatte sie nämlich ihre Pflanzen. Das waren ihre Pflanzen, sie gehörten ihr ganz allein. Katrin hegte und pflegte die Pflanzen, die Tomaten, die Sonnenblumen und die Hortensien.
    Roger hatte nur einen Gedanken im Kopf: Er wollte Katrin alle Wünsche erfüllen. Er wollte sie glücklich machen.
    „Was wünschst du dir?“, fragte er wieder.
    Katrin wurde nachdenklich. Roger sah, dass sie traurig war. Da fragte er nochmal:
    „Was wünschst du dir? Sag es bitte.“
    „Mein größter Wunsch ist es, einmal das Meer zu sehen, den Strand zu fühlen, die Brandung zu hören, das wäre wunderbar“, sagte Katrin. „Leider ist das ja nicht möglich, aber es wäre sehr schön.“
    Roger wollte Katrin diesen Wunsch sehr, sehr gerne erfüllen, aber er wusste nicht, wie er sie ans Meer transportieren sollte. Katrin war einfach zu schwach. So kaufte er ihr Postkarten vom Meer, er kaufte große Bilder, die den Strand zeigten und hängte sie am Fußende des Bettes auf, damit Katrin sie sehen und sich daran erfreuen sollte. Er kaufte Sand in Säcken und verteilte ihn auf dem Balkon, damit Katrin das Gefühl von Strand haben sollte.
    „Ach“, sagte Katrin, „lass es bitte sein. Es macht mich noch trauriger, denn nun merke ich, dass ich niemals an das Meer kommen werde. Ich ertrage es nicht, dass du dich so anstrengst.“
    Katrin wurde in dieser Zeit langsam, aber zuverlässig immer schwächer, und bald konnte sie das Bett auch mit den Hilfen nur noch für kurze Zeit verlassen.
    Roger wurde immer sorgenvoller und trauriger. Er musste zusehen, wie seine Liebste verging.  Aber er gab nicht auf. Er plante und zeichnete, er baute und telefonierte.
    Eines Nachts schlief Katrin sehr unruhig, denn draußen ging ein großer Sturm. Er heulte und bebte, er ergriff das Haus so fest, dass sogar die Fensterrahmen rüttelten. Zudem war Roger fort. Er hatte sehr viel Arbeit. Katrin machte sich große Sorgen. Irgendwann schlief sie erschöpft ein. Als sie erwachte, war ihr Liebster wieder da.
    „Wo warst du? Es hat sehr stark gestürmt. Gut, dass du zurück bist!“, sagte Katrin erleichtert.
    Roger roch irgendwie fremd. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht in der Fabrikhalle gearbeitet.
    Als die Zeit für das Frühstück kam, zog Roger die Vorhänge des Schlafzimmers auf, wie immer.
    „Das Licht ist heute so hell, und was sind das für Maschinen draußen, die so komische Geräusche machen?“, fragte Katrin.
    Vorsichtig, sehr vorsichtig hob diesmal ihr Liebster Katrin in den Rollstuhl und rollte sie hinaus.
    Katrin verschlug es den Atem.
    Das Hinausrollen ging schwerer als sonst, denn die Reifen des Rollstuhles mussten im Sand laufen. Katrin sah sich um: Das Balkongitter war offen, der Weg führte direkt in tiefen, weißen Sand. Es war nichts als Sand zu sehen, Sand überall. Und dort vorne, direkt vor ihr, zum Greifen nah, da war Wasser, da war Wasser ohne Ende. Da war Wasser mit Wellen, die immer wieder den Strand hinaufliefen, sie rollten ruhig und doch entschlossen. Katrin sah den Sand und roch das Meer, sie hörte den Schrei der Möwe, und fern am Horizont erblickte sie große Schiffe.
    „Roger, wo sind wir? Wie hast du das nur geschafft?“
    Roger freute sich mit Katrin. Beide lachten laut und waren vor lauter Glück ganz aufgeregt.
    „Wenn wir nicht zum Meer gehen können, dann müssen wir einfach mit dem Haus zum Meer reisen, das hatte ich mir überlegt.“
    Und wirklich: Roger hatte es geschafft, das ganze Haus mit Katrin darin in die Luft zu heben, es von großen Transporthubschraubern über Nacht hier an den Strand tragen zu lassen.
    Das Haus stand nun wie selbstverständlich am Strand, am Meer.
    „Nimm das!“, sagte Roger zu Katrin und gab ihr eine zarte Kette aus Glasperlen in die Hand.
    Es war eine sehr besondere Kette, das merkte Katrin gleich. Die Perlen waren unterschiedlich groß, unterschiedlich geformt und schillerten im Licht in allen Regenbogenfarben. Durch sie hindurch zog sich ein metallisch glänzendes Band, das an beiden Enden der Kette mit filigranen Goldkügelchen befestigt war.
    „Wenn wir mit dem Haus auf unser Grundstück zurückkehren sollen, dann musst du nur das Band dehnen. Das Haus steht an diesem Ort auf dem Sand und kann daher ganz leicht zurück transportiert werden, wenn du dazu mit der Kette den Befehl gibst.“.
    Roger verriet nicht, dass das nur ein paar Mal funktionieren würde, denn die Mauern des Hauses waren nicht für ständige Luftreisen gemacht.
    Er und Katrin aber wussten, dass das nicht wichtig war.
    Solange Katrin lebte konnten die zwei nun immer wieder ans Meer reisen und dort gemeinsam kochen, essen und lesen, manchmal zusammen in einem Buch.

  • Die Überlegungen zu einigen Exemplaren anatomischer Votive aus der Sammlung Stieda sind als Ergänzung zu dem kleinen Band “Kultische Anatomie”, der 2008 die Ausstellung im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt begleitete, gedacht. Seit dieser Zeit hatten mich als Medizinerin die in anatomischer Hinsicht spärlichen Deutungsversuche nicht ruhen lassen. Das große Intervall zwischen dem Erscheinungsjahr und dem jetzigen Beitrag ist ohne mein Zutun entstanden.

        Im Gegensatz zu den leichter interpretierbaren Darstellungen von Extremitäten, Sinnes- und Geschlechtsorganen geben die etruskischen Votive in Form der inneren Organe manches Rätsel auf. Ohne den Anspruch, wegweisende Deutungen gefunden zu haben denke ich es mir lohnend, offene Fragen, die sich der Ordinarius für Anatomie Ludwig Stieda in den ersten Publikationen zu seiner außergewöhnlichen Sammlung bereits gestellt hatte, neuerdings aufzugreifen[1].

        Zunächst wollen wir uns mit zwei isolierten Organen befassen, T III-16 und T III-17. Wir halten sie, um das gleich vorweg zu nehmen, für Harnblasen[2] (Abb. 1).    

    Aufnahmen: M. Recke, Gießen/Frankfurt am Main

        Inv. T III-16  Birnen – oder beutelförmiger Gegenstand (Abb. 1 links)

    Lit.: Recke 2008, 3. 56-63. hier 61 Abb. 7; Recke, Neues aus der Antikensammlung – Jahresbericht 2009, 8 c; Recke 2010, 8 Abb. 8c (um 1800 gedreht); Recke – Wamser-Krasznai 2008, 24 Abb. 4, 24. S. 65 f. und S. 109, Kat. Nr. 19 Abb. 34; Recke – Wamser-Krasznai 2008 Begleitheft, 11 Abb. 22 (um 1800 gedreht); Stieda 1899, 242; Stieda 1901, 109-111 Taf. 4/5, 24.

    Stark glimmerhaltiger, hell rötlicher (2.5 YR 7/5) im Bruch rotbrauner Ton (2.5 YR 5/7). Reste von Engobe, keine Farbspuren.

    L: 10,5 cm; B: 5,4 cm; H: 4,5 cm

    Parallelen: Aus dem Depot der Minerva Medica Rom, Gatti lo Guzzo 1978, 138 Nr. 14 Taf. 51(unsere Abb. 4); C. Martini 1990, 18. 24 Abb. 9a (um 90o gegen den Uhrzeigersinn gedreht: “Placenta”; Holländer 1912 198 f. Abb. 108 “Herz oder Wasserblase”; ferner ders. Florenz Archäol. Mus. 198 Abb. 106. 107 (alle um 180o gedreht; ebenso Bartoloni 1970, 266 f. Nr. 33 Taf. 21c (“Teil des männlichen Geschlechtsorgans”); Bartoloni – Benedettini 2011,566 f.Taf. 72 h-l (Vesciche/Blasen); Museum von Modena, Alexander 1905, 179 Abb. 10. 11 Taf. 1/2; ders. ebenda Abb. 106. 107 (alle um 180o gedreht): “Skrotum”; Decouflé 1964, 26f. Abb. 14. 15 “Uterus”; Schauerte 2010, 54 Abb. 7(unsere Abb. 3); Holländer 1912 198 f. Abb. 108; ferner ebenda Abb. 106. 107 (alle um 1800 gedreht).

        Kommentar: Stieda hatte das Objekt, Abb. 1 links, zunächst als Hoden gedeutet, wie auch Alexander, der diese Auffassung weiterhin vertrat[3] als Stieda längst davon abgekommen war. Neuerdings lebte die Interpretation als männliches Geschlechtsorgan oder als Teil desselben wieder auf. Auch die Verfasserin dachte anfänglich an Hoden mit den anliegenden Nebenhoden (Abb. 2)[4].

               Abb. 2: Männliche Genitalien und Harnwege nach Spalteholz 1907. Hier: Caput und Cauda epididymidis, Ureteren. 


    [1] Stieda 1899, 230-243; Stieda 1901; Recke – Wamser-Krasznai 2008.  Die beiden menschlichen Torsen mit geöffneter Leibeshöhle sind zwischen 2008 und 2015 von M. Recke weiter intensiv bearbeitet worden. Zu den “pyramidalen Objekten”: W. Wamser-Krasznai, Herzen? 2021, Homepage des Bundesverbandes Deutscher Schriftstellerärzte.  

    [2] Recke – Wamser-Krasznai 2008, 24 Abb. 4, 24. S. 65 f. und S. 109.

    [3] Vgl. Alexander 1905, 179 Taf. 1, 10. 11 (“Skrotum”);

    [4] Epididymis nach Spalteholz 1907, W. Wamser-Krasznai, Ungedruckte Magisterarbeit 1996, 42-44. “Probabilmente testicolo con vaso spermatico”,  Baggieri 1996, 62 Abb. 57; MacIntosh Turfa 1994, 226 Abb. 20.1 D (“Testis”).


        Stieda, der sich gründlich mit der einschlägigen Literatur und den Stellungnahmen seiner Zeitgenossen befasst hatte, erkannte die Ähnlichkeit der ‘Beutel’ mit den von ihm so genannten Nebenkörpern an Gebärmuttervotiven[5]. Allerdings irritierten ihn bei den Uterus-Nachbildungen die quer verlaufenden Runzeln, Falten und Streifen, sodass er sich in deren Einschätzung keineswegs sicher war. Am Ende hielt er sowohl seine “Nebenkörper” als auch deren isolierte Exemplare für Harnblasen. Decouflé dagegen sah in den kleinen glatten ‘Beuteln’ den Uterus. Das geht klar aus seiner Umzeichnung einer Eingeweidetafel[6] hervor, neben die er noch zwei Details skizzierte, Larynx und “Uterus”. Dabei weist er auf die Ähnlichkeit des letzteren mit Stiedas Nr. 24 hin (Abb. 1 links), ohne freilich dessen Deutung als Harnblase zu übernehmen.  


    [5] Stieda 1901, 108-120.

    [6] Schauerte 2010, 54 Abb. 7; Decouflé 1964, 27 Abb. 14. 15 Taf. 11-12; Fabbri 2019, 33 Abb. 9; Lehmann 2006, 92 Abb. 35c; Kiderlen – Strocka 2006, 142 f. Nr. 60; „Etrusker in Berlin“ 2010, 73-75 Abb. 6.7; Parallele aus Falerii veteres, Tabanelli 1962, 44 Abb. 15.


                     Abb. 3  Heutiger Zustand der Tafel in Berlin, Inv. Tc 1333  Aufnahme der Verfasserin

    Eine gut erhaltene Parallele aus dem Votivdepot des “Tempels der Minerva Medica” in Rom wurde von Gatti Lo Guzzo und C. Martini als Mutterkuchen[7] gesehen, doch ist diesem Vergleich wegen des amorphen Zustandes der Säugetier-Placenta kaum zu folgen (Abb. 4).  

    Abb. 4: Aus dem Votivdepot der Minerva Medica.    Nach E. Holländer 1912, 198 f. Abb. 108 (um 1800 gedreht


    [7] Gatti lo Guzzo 1978, 138 Nr. 14 Taf. 51; C. Martini 1990, 18. 24 Abb. 9a (um 90o gegen den Uhrzeigersinn gedreht); anders Baggieri 1996, 62 Abb. 57; Holländer 1912, 198 f. Abb. 108.


        Inv. T III-17  Flacher birnförmiger Gegenstand (Abb. 1 rechts)

    Lit.: Recke – Wamser-Krasznai 2008, 67 und 109 f. Kat. Nr. 20 Abb. 35; Stieda 1899, 242; Stieda 1901, 109-112, S. 110; Pensabene  2001, 277 f. Nr. 284, Taf. 58 (um 1800 gedreht).

    Stark glimmerhaltiger hellbrauner (7.5 YR 7/4), im Bruch mittelbrauner Ton (7.5 YR 6/5) mit grob sandigen Einschlüssen. Keine Reste von Engobe oder Bemalung.

    L: 7,9 cm; B: 5,0 cm; T: 3,2 cm

    Parallelen: Collezione Kircheriana, Pensabene 2001, 277 f. Nr. 284, Taf. 58 (“Blase”); aus Fregellae, Ferrea1986, 138 Nr. 5.6 Taf. 83 (“Votivblase”).

    Über den Rücken des Objekts, das breiter und flacher ist als das Exemplar T III-16, läuft eine schmale Furche von geringer Tiefe.

        Wir[8] halten also beide Objekte (Abb. 1) für Harnblasen. Die gewundenen ‘Schnüre’, die sich bei besser erhaltenen Exemplaren des Typus T III-16 auf dem Rücken abzeichnen (Abb. 4) könnten auf ein Venengeflecht hindeuten[9]; die längs verlaufende Furche bei T III-17 wurde möglicherweise durch ein Ligament hervorgerufen.

        Die ebenfalls häufigen Darstellungen des Organs in Kugelform geben vermutlich einen höheren Füllungsgrad der Blase wieder, an den sich das außerordentlich dehnbare Organ anpasst[10].

        Dass es sich bei den Objekten um eine Vesica fellea (Gallenblase) handeln könnte, war von Stieda gar nicht erst erwogen worden. Er hatte Wiedergaben der Gallenblase in Darstellungen der Leberschau nur als lang gestreckt und dünn kennengelernt[11].

        Wir wenden uns jetzt den Eingeweidetafeln zu.

    In der Sammlung Stieda sind zwei Typen vertreten, die sich nach Form und Anordnung der Organe unterscheiden, sowie zwei menschliche Torsen, in deren Öffnungen innere Organe zu erkennen sind (Abb. 5[5]).


    [8] Recke – Wamser-Krasznai 2008, 65 f. 109 f. ; Bartoloni – Benedettini 2011, 566 f. Taf. 72 h-l.

    [9] Gatti lo Guzzo 1978, 138 Nr. 14 Taf. 51; C. Martini 1990, 18. 24 Abb. 9a; Baggieri 1996, 62 Abb. 57.

    [10] Z. B. aus Lavinium, Fenelli 1975, 265 Abb. 358; Decouflé 1964, 28 f. Abb. 19. 20; Stieda 1901, 101 Nr. 11. 15. 26; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 112 f. Abb. 38. 39.

    [11] F. P. Moog, in: Recke – Wamser-Krasznai 2008, 142-144 Abb. 60-62.

    [12] Weibliches Gegenstück s. Recke – Wamser-Krasznai 2008, 120 Nr. 25 Abb. 47.


                  Abb. 5: Männertorso mit Fenster zum Leibesinneren T III-9

                             Aufnahme M. Recke, Gießen/Frankfurt am Main

        Eingeweidetafel Typ 1:

    Instruktive Beispiele für komplette Tafeln dieses Typs zeigt Tabanelli 1962, 65 Abb. 30 b und 31 a[13].

        Oberer Teil einer Eingeweidetafel,  Inv. T III-34

    Lit.: Lewis 2016/2017, 126 Abb. S. 35; M. Recke, Auf Herz und Niere, Spiegel der Forschung 25. 2, 2008, 58 Abb. 3a; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 24 Abb. 4,14.  S. 67. 110 Kat. Nr. 21a Abb. 36; Stieda 1901, 70 f. Taf. 4/5, 14; Tabanelli 1962, 70 f. Nr. 17.

    Hellbrauner (7.5 YR 7/5) glimmerhaltiger Ton mit vielen Einschlüssen. Keine Spuren von Farbe oder Engobe.

    H: 14,4 cm; B. 13,9 cm

        Mittlerer Teil eines Eingeweidevotivs, Inv. T III-12 (Abb. 6)

    Lit.: Recke 2008, 58 Abb. 3b; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 111 Kat. Nr. 21 b Abb. 37; Recke – Wamser-Krasznai 2008 Begleitheft,13 Abb. 25; Stieda 1901, 100 f; Tabanelli 1962, 70 f.

    Hell rotbrauner Ton (5 YR 7/5) mit Spuren von Glimmer und vielen feinen dunkleren Einschlüssen. Keine Reste von Bemalung oder Engobe.

    H: 14,4 cm; B: 12,1 cm


    [13] Deutsches Archäologisches Insitut  Rom; gleiche Anordnung der Organe bei einem männlichen Torso mit Einblick in die Leibeshöhle, Rom, Sambon 1895, 148 Abb. 5.


                                                       Abb. 6: T III-12

                           Aufnahme: M. Recke, Gießen/Frankfurt am Main


                                                       Abb. 7: T III-33

                             Aufnahme: M. Recke, Gießen/Frankfurt am Main

      Mittlerer und unterer Teil eines Eingeweidevotivs, Inv. T III-33 (Abb. 7)

    Lit.: Lewis 2016/2017, 126 Abb. S. 35; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 24. 111-112 Kat. Nr. 21c  Abb. 4, 11. 38; Stieda 1901, 100 f. Taf. 4/5, 11.Hell beige-rötlich brauner (10 YR 7/3-10 R 7/5) glimmerhaltiger Ton mit dunkleren Einschlüssen. Blaue Bemalung der `Gallenblase´. H: 11,5; B: 14,0  cm.

        Unterer Teil einer Eingeweidetafel, Inv. T III-13

    Lit.: Recke 2012-13, 402 Abb. 3; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 113 Kat. Nr. 21d Abb. 39; Stieda 1901, 100 f. Nr. 15 Taf. IV/V.

    Glimmerhaltiger hellbrauner Ton (5 YR 7/5) mit dunklen Einschlüssen. Keine Engobe- oder Farbspuren.

    H: 9,5 cm; B: 13,0 cm

    Recke konnte dem Fragment ein Teilstück aus dem Fundus der über Jahrzehnte in den Kriegs- und Nachkriegswirren verschollen geglaubten Objekte zuordnen,  Neues aus der Antikensammlung – Jahresbericht 2012-2013, 402,  Abb 3.

    Parallele: Votivdepot Minerva Medica Rom, C. Martini 1990, 18 Abb. 9 b (um 180o gedreht).

        Mittlerer und unterer Abschnitt einer verschollenen Eingeweidetafel (Abb. 8)

    Stieda 1901, 100 Abb. 26 Taf. IV/V; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 24 Abb. 4. 114 Kat. Nr. 21 e Abb. 40; Tabanelli 1962, 70 f. Nr. 19. 

    H: 20,9 cm; B: 20,2 cm (nach Abbildung)  

                                  Abb. 8 nach Stieda 1901, 100 Taf. IV/V, 26

        Kommentar zu Typ 1: Die Tafeln schließen nach oben als annähernd gleichseitige Dreiecke mit einer Spitze ab. Zwei darunter liegende Wülste bilden ebenfalls einen spitzen Winkel miteinander und nehmen eine kleine Kugel in die Mitte, ein Ensemble, das übereinstimmend als Herz mit den Lungenflügeln erkannt worden ist. Nach unten folgen zwei Paar langgezogene Wülste, die jeweils durch stumpfe Winkel miteinander verbunden sind. Das erste Paar stellt anscheinend das Zwerchfell dar[14], das zweite die “dreilappige Leber”, deren kleinerer mittlerer “Lappen auf dem verhältnismäßig großen Magen” ruhe[15].


    [14] Stieda 1901, 100.

    [15] Stieda ebenda; de Lait – Desittere 1969, 23 f. Nr. 19 Taf. 7 Zeichnung.


    Gegen diese Interpretation aber sprechen die tropfenförmige Gestalt des “Lappens” und seine farbige Fassung, die ihn deutlich von der Umgebung absetzt (T III-33 Abb. 7[16]).  

        Im nächst tieferen Register schließt eine Sequenz von C-Schlingen an eine Sigma-Form an. Offenbar handelt es sich um Darmwindungen. Am unteren Rand sitzt ein kugeliges Objekt, darüber liegt horizontal ein breiter Wulst, der symmetrisch von zwei spindelförmigen Körpern flankiert wird. Stieda bezeichnet die kleine Kugel als Harnblase, die drei übrigen Gegenstände im untersten Register deutet er nicht. Andere Autoren sehen in den symmetrischen Organen die beiden Harnleiter (Ureteren), in dem breiten Gebilde dazwischen die Harnblase (Vesica urinaria) und in der kleinen Kugel am unteren Rand die Harnröhre (Urethra). Das weiter oben gelegene glatte Dreieck mit leicht abgerundetem Unterrand und aufliegendem ‘Tropfen’ bezeichnen sie ebenso wie Stieda als “Magen”[17].

        Wir schlagen stattdessen vor: der ‘Tropfen’ mit seiner blauen, ursprünglich wohl grünen Farbe bietet sich förmlich als Gallenblase an, die sich vom großen Leberlappen, Stiedas “Magen”, wirkungsvoll abhebt[18]. Der Magen selbst und auch die Nieren sind bei diesem Modell nicht dargestellt, wie überhaupt die Eingeweide-Votive kein vollständig getreues Abbild der Natur geben. Bisweilen wird, wie bei unserem Typ 1, auf den Magen, die Milz und die Nieren verzichtet. Koroplast und Käufer bzw. Besteller setzten gewiss Prioritäten. So zeigt sich ja auch die Unterseite der Leber mit der Gallenblase in Frontansicht, d. h. nach oben herumgedreht. Die “intestinale Seite” der Leber war und ist ja auch interessanter[19]! In der Sammlung Decouflé befindet sich der Torso eines jungen Mannes, der in der großen Öffnung seines Leibes eine vertikal positionierte Leber erkennen lässt, die aus zwei mächtigen Lappen, zwei kleinen Lobuli und der Gallenblase besteht, ein Ensemble, das die Nähe zu einer Terrakotta-Leber aus Falerii (Abb. 9) und dem Modell in der Hand eines Haruspex aus Volterra deutlich macht[20], wenn man es um 90o im Uhrzeigersinn dreht.


    [16] Recke – Wamser-Krasznai 2008, 111 f. Abb. 38; eine dreilappige Leber (ohne Gallenblase) zeigt die  männliche Figur mit geöffneter Leibeshöhle Stieda 1901 Taf. II, 5, hier  unsere Abb. 3.  

    [17] de Laet – Desittere 1969, 23 f. Nr. 19 Taf. 7.

    [18] Beim Menschen Lobus dexter, beim Schaf, das vielleicht für die etruskischen Terrakotta-Nachbildungen der inneren Organe Modell gestanden hat, sind die beiden Hauptlappen etwa gleich groß.

    [19] Decouflé 1964, 28.  

    [20] Decouflé 1964, 28 f. Abb. 19- 21; Cristofani 1985, 141 mit Abb.


           Abb. 9: Terrakotta-Leber aus Falerii Nach Cristofani 1985, 141 Abb. B

    Auch der poliviscerale Torso Malibu[21] zeigt eine mehrlappige Leber mit der auf die Ansichtsseite projizierten Gallenblase. Magen, Milz und Nieren sind nicht dargestellt.      Problematisch ist das unterste Register. Die paarigen Organe können nicht die Nieren darstellen, denn diese sind weiter oben positioniert und meist bohnenartig  kurz und dick wiedergegeben (vgl. unseren Typ 2 Abb. 10). De Laet – Desittere bezeichnen sie als Ureteren, was jedoch ihrer Form als lange dünne Schläuche im Situs des gesunden Säugers widerspricht[22]. Decouflé freilich deutet einen voluminösen gebogenen Schlauch im linken Unterbauch seines Terrakotta-Jünglings als den linken Ureter, der scheinbar vom größten Leberlappen nach unten zur kugeligen Harnblase führt[23]. Könnte eine Harnleiter-Entzündung (Ureteritis) zu dieser Auftreibung geführt haben? Darstellungen krankhafter Veränderungen an Körperteilvotiven sind zwar bekanntlich eine Rarität, doch fällt dieser Einwand hier kaum ins Gewicht, weil nach Decouflé die tönernen Körperteile eher als Lehrmaterial an etruskisch-italischen Medizinschulen taugten denn als Kollektion anatomischer Votive[24]. Wie auch immer – Decouflés asymmetrischer “Harnleiter”, der eher einen Abschnitt des Darmes vertritt, steht den paarigen Organen im Unterbauch (Abb. 7) als Vergleichsbeispiel allzu fern. Sollten knöcherne Beckenteile, die Schambeine (Ossa pubis) etwa, als Rahmen der ableitenden Harnwege dienen? Unvorstellbar ist das nicht. Die kleine Kugel am Unterrand der Tafeln überzeugt als Harnblase, aber nicht als Harnröhre (Urethra) oder deren Mündung (Orificium urethae). Das oberhalb der Kugel gelegene Element könnte sowohl eine Harnblase vorstellen wie einen Darmabschnitt, beim weiblichen Situs sogar einen Uterus. Was bliebe dann für die kleine Kugel? Die Symphyse?          


    [21] s. F. P. Moog, in: Recke – Wamser-Krasznai 2008,131 -148, Abb. 57.

    [22] de Laet – Desittere 1969, 23 f. Nr. 19 Taf. 7. Dagegen der “Ureter” nach Spalteholz 1907, unsere Abb. 2.

    [23] Decouflé 1964, 28 Abb. 20.

    [24] Decouflé 1964, 19-24.


    Typ 2:

    Vollständige Tafeln dieses Typs, leicht variiert, in Modena: Tabanelli 1962, 69 Nr. 14 Abb. 35[25]; aus Veji: Bartoloni – Benedettini 2011, 577 f. Taf. 78 g.

        Unterer Teil einer Eingeweidetafel, Inv. T III-10 (Abb. 10)

    Lit.: Korobili 2016/2017, 127 Abb. S. 75; Recke – Wamser-Krasznai 2008, 24. 68. 114 f.  Abb. 4, 27. Kat. Nr. 22 a Abb. 42; Stieda 1901, 101 f. Taf. 4/5, 27; Tabanelli 1962, 71 Nr. 20

    Glimmerhaltiger hell rötlich-brauner Ton (5 YR 6/5) mit feinen sandigen Einschlüssen. Keine Engobe, Spuren dunkelbrauner Bemalung am linken Rand.

    H: 10,4 cm; B: 18,0 cm; Stärke der Platte 0,7 cm – 1,2 cm, mit Relief 2,5 cm.

                                                        Abb. 10:  T III-10

                                Aufnahme M. Recke/Gießen-Frankfurt am Main

        Kommentar: Das horizontal gelagerte birnförmige Element setzt sich in Zick-Zack-Schlingen bis zum unteren Rand der Tafel fort. Damit sind offenbar  Magen und Darm gemeint. Die paarigen nach innen konkaven Organe entsprechen den Nieren, von denen die rechte etwas höher positioniert ist als ihr schlankeres Gegenstück. Das pyramidale Gebilde links vor dem Ende des Darmes entspricht wohl der Harnblase. Für den spindelförmigen Wulst am rechten Rand kommt kaum etwas anderes in Frage als die Milz[26].   


    [25] Alexander 1905, 181 f. 184 Abb.18 Taf. 1/2; Fabbri 2019, 107 Abb. 60c..

    [26] Bartoloni – Bendettini 2011, 577 Taf. 78 g;  Stieda 1901, 101 f. Nr. 27. 28 Taf. IV/V; Alexander 1905, 182. 184  Taf. 1/2, 18.


        Fragment einer stark verschliffenen Eingeweidetafel, Inv. T III-11

    Lit.: Recke – Wamser-Krasznai 2008, 116 Kat. Nr. 22 b Abb. 43; Stieda 1901, 101 f. Taf. 4/5, 28.

    Sandgemagerter glimmerhaltiger Ton, an der Oberfläche beige (10 YR 7/3), im Bruch mittelbraun (10 YR 6/4), im Kern grau (6/1).

    H: 8,1 cm; B: 15,8 cm; Stärke der Platte 1,3 cm – 1,6 cm, mit Relief 2,3 cm.                Kommentar: Hier sind lediglich einige vertikal angeordnete Schlingen zu erkennen (Darm). Davor deutet sich die Kegelform der ‘Blase’ an. Links erscheint der untere Pol der rechten Niere, während die linke nur schemenhaft erhalten ist, ebenso wie der untere Abschnitt der ‘Milz’. 

        Fragment einer verschollenen Eingeweidetafel (Abb. 11)

    Lit. Recke – Wamser-Krasznai 2008, 117 Nr. 23 a Abb. 45; Stieda 1901, 102 Abb. 28 Taf. IV/V. Tabanelli 1962, 71 f.

    H: 15,4 cm; B: 17,7 cm (nach Abbildung)

                       Abb.11: Nach Stieda 1901, Taf. 4/5, 28 

        Kommentar: Leicht variiert präsentieren sich die Abdominalorgane auf der  nur als Abbildung vorhandenen Eingeweidetafel. An den runden ‘Magen’ schließen sich die Darmschlingen an, Zick-zack-artig vertikal. Die paarigen ‘Nieren’ sind auf gleicher Höhe positioniert. Unmittelbar oberhalb der linken Niere (auf der Abbildung rechts) folgt die fragmentierte spindelförmige ‘Milz’. Der Abstand zwischen rechter Niere (auf der Abbildung links) und  ‘Harnblase’ ist geringer als bei T III-10.  

    Es zeigt sich, dass genügend Fragen offen bleiben.

    Als die etruskisch-italischen Kunsthandwerker Körperteile und innere Organe formten, bedienten sie sich des Tones, eines billigen überall verfügbaren Werkstoffs, den sich auch ärmere Bevölkerungsschichten leisten konnten. Ihre Aufgabe bestand nicht darin, Werke von hoher wissenschaftlicher Präzision zu schaffen. Sie verfertigten Devotionalien, die ihre potentiellen Käufer erkennen konnten, da sie ungefähr, im Großen und Ganzen, die Bestandteile und das Innere eines vierfüßigen Wesens wiedergaben. Dabei waren die Wünsche der Kunden zu berücksichtigen, denen die Koroplasten die Qualität ihrer Arbeit und das  günstige Preis-Leistungsverhältnis zu suggerieren versuchten.  

    Noch heute besteht keine Gewissheit darüber, ob und wann die antike Medizin auf dem Gebiet der Anatomie ein Niveau erreichte, das dem der Neuzeit annähernd entsprach. Die Kenntnis eines Handwerkers und das Verständnis des Käufers für die Verhältnisse im Inneren des Körpers gingen gewiss nicht so weit[27]. Der  Koroplast musste vom Ertrag seiner Arbeit leben, der Offrant hingegen wollte seine Gottheit durch eine bescheidene Gabe erfreuen, wenn er sie um Hilfe bat oder für ihren Beistand dankte. Ob die Terrakotta-Organe den Ort des Leidens bezeichneten oder ähnlich wie Fußstapfen im Heiligtum die Anwesenheit des Gläubigen dokumentierten oder ob sie gar, wie Decouflé vermutete, den Anatomie-Schülern als Lehrmaterial dienten – werden wir das jemals wissen? Wenn wir der Bedeutung der nachgebildeten Organe so weit wie möglich näher kommen wollen, haben wir weiterhin mit derartigen Unsicherheiten zu rechnen.    


    [27] Fabbri 2019, 34 f.; Tabanelli 1962, 87-89.


    Literatur:

    Alexander 1905: G. Alexander, Zur Kenntnis der etruskischen Weihgeschenke, Anatomische Hefte Wien 90, 1905, 157-198

    Baggieri 1996: G. Baggieri (Hrsg.), Speranza e sofferenza nei votivi anatomici della antichità (Roma 1996)

    Bartoloni 1970: G. Bartoloni, Alcune terrecotte votive delle Collezioni Medicee ora al Museo Archeologico di Firenze, StEtr 38, 1970, 257-270

    Bartoloni – Benedettini 2011: G. Bartoloni – M. G. Benedettini, Veio (Roma 2011)

    Cristofani 1985: M. Cristofani, Die Etrusker (Stuttgart und Zürich 1985)

    Decouflé 1964: P. Decouflé, La notion d’ex-voto anatomique chez les Étrusco-Romains, Latomus 72, 1964, 15-42    

    Fabbri 2019: F. Fabbri, Votovi anatomici fittili (Bologna 2019)

    Ferrea – Pinna 1986: L. Ferrea – A. Pinna, Il deposito votivo, in: F. Coarelli (Hrsg.), Fregellae 2. Il Santuario di Esculapio (Roma 1986) 89-144

    Gatti Lo Guzzo 1978: L. Gatti Lo Guzzo, Il deposito votivo dall’ Esquilino detto di Minerva Medica (Firenze 1978)

    Holländer 1912: E. Holländer, Plastik und Medizin (Stuttgart 1912)

    Korobili 2016/2017: G. Korobili, Ernährung  Leben und Gesundheit des beseelten Körpers, in: Die Seele ist ein Oktopus. Antike Vorstellungen vom belebten Körper (Berlin/Ingolstadt 2016/2017) 127 Abb. S. 75

    S. J. de Laet – M. Desittere, Ex voto anatomici di Palestrina del Museo Archeologico dell’ Università di Gand, L’Antiquité classique 38, 1969, 16-25

    Lewis 2017: O. Lewis, Gehirn und Herz als Organe der Seele, in: Die Seele ist ein Oktopus. Antike Vorstellungen vom belebten Körper (Berlin – Ingolstadt 2017) 37-45

    MacIntosh Turfa 1994: J. MacIntosh Turfa, Anatomical Votives and Italian Medical Traditions in: R. D. de Puma – J. Penny Small, Murlo and the Etruscans. Art and Society in Ancient Etruria (Madison – London 1994) 224-240

    C. Martini 1990: C. Martini, Il deposito votivo del Tempio di Minerva Medica (Roma 1990)

    Pensabene 2001: P. Pensabene, Le terrecotte del Museo Nazionale Romano II. Materiale dai depositi votivi di Palestrina (Roma 2001) Anatomici 258-278

    Recke 2008: M. Recke, Auf Herz und Niere, Spiegel der Forschung 25. 2, 2008, 3. 56-63

    Recke 2013: M. Recke, Jahresbericht aus der Antikensammlung der Justus-Liebig-Universität Gießen 2012-2013, in: Mitteil. d. Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen 98, 2013, 400-408, hier 402 Abb. 3

    Recke – Wamser-Krasznai 2008: M. Recke – W. Wamser-Krasznai, Kultische Anatomie (Ingolstadt 2008)

    Sambon 1895: L. Sambon, Donaria of Medical Interest, British Medical Journal II, 1895, 146-150. 216-219

    Schauerte 2010: G. Schauerte, Archäologie des Krieges (Berlin 2010) 54

    Stieda 1899: L. Stieda, Über alt-Italische Weihgeschenke, RM 14, 1899, 230-243

    Stieda 1901: L. Stieda, Über die ältesten bildlichen Darstellungen der Leber. Anatomisch-Archäologische Studien I (Wiesbaden 1901) 1-48

    Stieda 1901: L. Stieda, Anatomisches über Alt-Italische Weihgeschenke (Donaria)  Anatomisch-Archäologische Studien I (Wiesbaden 1901) 51-131

    Tabanelli 1962: M. Tabanelli, Gli ex-voto poliviscerali etruschi e romani (1962)

  • Goethe, Schiller – Kreativität trotz Krankheit
    Außerordentliche Persönlichkeiten werden häufig anhand ihrer Leistungen dargestellt und dabei wird oft vergessen, unter welch schwierigen Bedingungen diese, häufig im Kampf mit sich und gegen sich selbst, erbracht worden sind.
    Dies trifft zu einem beachtlichen Teil auch auf die Darstellung unserer großen Dichter Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller zu. Anhand der Lebenslaufs beider Dichter soll aufgezeigt werden, was ein zielgerichteter starker Wille vermag, ein Wille, der auch in schweren körperlichen und seelischen Belastungssituationen eine hohe Kreativität trotz des gestörten gesundheitlichen Befinden ermöglicht.
    So kann die Art der Krankheitsbewältigung durch Schiller und Goethe, beispielgebend für Menschen unserer Zeit sein, die sich selbst temporär oder auch länger dauernd in einer schwierigen physischen oder psychischen persönlichen Situation befinden.

    hesse-beitrag-Hesse_Goethe-Schil-ler-Kreativitaet-trotz-Krankheit-2-8-2022-mit_-1

    PDF Datei zu downloaden