Autor: Amir Mortasawi Dr. med.

  • Mohammad Reza Shafi’i Kadkani[1], der iranische Dichter und Hochschuldozent, ist immer wieder eine erfrischende Quelle der Inspiration. Heute beim Spaziergang nahm ich in Anbetracht der im Keimen begriffenen Bäume sein Gedicht „“Im erhabenen, ausdrucksvollen Kleid der Nacktheit““ mit allen Sinnen wahr. Es entstand der folgende Text. Der persische Originaltext und eine sinngemäße Übersetzung des Gedichtes sind beigefügt.

    Rotenburg an der Fulda, den 15.2.2015

    ۞۞۞

    Erhabene Nacktheit

    Bäume habe ich betrachtet
    in unterschiedlichen Trachten,
    und keine war schöner
    als die blattlose Nacktheit
    in Erwartung des Frühlings.

    ۞۞۞

    Im erhabenen, ausdrucksvollen Kleid der Nacktheit
    von Mohammad Reza Shafi’i Kadkani

    Ich habe diesen Baum
    im Gange des Jahres
    in vier Kleidern gesehen und begutachtet.
    Viele Gedichte habe ich ebenfalls für ihn geschrieben:
    im Engelskleid des Schnees,
    in kurzen Ärmeln der Tage von Farvardin [2],
    im grenzenlosen Grün des Sommers
    wie ein zarter Seidenstoff,
    in den Winden wehend
    mit gelben und roten Seidenfasern des Herbstes.
    ۞
    In keinem Kleid kam er besser zur Geltung
    als im Moment der Erneuerung aus der Tiefe des Alterns,
    während der letzten Tage von Esfand [3],
    im erhabenen, ausdrucksvollen Kleid der Nacktheit.

    ۞۞۞

    Bemerkungen:

    [1] Weitere Schriften und Übersetzungen unter:
    https://amirmortasawi.wordpress.com/category/%D9%85%D8%AD%D9%85%D9%91%D8%AF-%D8%B1%D8%B6%D8%A7-%D8%B4%D9%81%DB%8C%D8%B9%DB%8C-%DA%A9%D8%AF%DA%A9%D9%86%DB%8C/

    [2] Farvardin (deutsche Schreibweise: Farwardin) ist der erste Monat des iranischen Sonnenjahres und fängt mit dem Beginn des Frühlings (normalerweise am 21. März) an.

    [3] Esfand ist der zwölfte und letzte Monat des iranischen Sonnenjahres und dauert von ca. 20. Februar bis 20. März.

    ۞۞۞

  • Mitbringsel

    (9.3.2019)

     

    Bei länger werdenden Tagen
    in Erwartung des Frühlings
    durchströmt von der Morgenröte
    gehe ich auf Meditationsreise
    Als Mitbringsel schenke ich dir
    den Glanz der Augen
    beim Pflücken der Träume
    die Zärtlichkeit des Lachens
    bei Wahrnehmung befreiender Erkenntnisse
    die Gesänge des Herzens
    beim Berühren der Glückseligkeit

    ֎֎֎

  • Licht-Hain

    (1.1.2019)

     

    Am ersten Tag des Jahres
    ruhte das Städtchen am Fluss
    im seichten Meer des Nebels
    In der Ferne zeigte sich magisch
    der Umriss der bewaldeten Berge
    Ich blieb voller Bewunderung
    am offenen Fenster stehen
    Die frühlingshaft anmutende Kulisse
    allmählich durchwebt mit Sonnenstrahlen
    verwandelte sich in einen Licht-Hain
    Der Gesang lichter Veränderungen
    durchströmte jede Ecke
    meiner verzauberten Seele

  • Gleichberechtigung

    (19.1.2019)

     

    Rufe nach Gleichberechtigung
    kann der Kapitalismus
    wohlwollend, großzügig
    in sein Ganzes Aufnehmen
    solange es um die Regulierung der Teilhabe
    an seinen Verbrechen
    oder deren Duldung geht
    Gnadenlos geht er allerdings vor
    wenn Bestrebungen nach Gleichberechtigung
    sein Bestehen in Frage stellen

    ֎֎֎

  • Gemeinsame Werke

    (1.1.2019)

     

    Manche Schriften und Gedichte
    aus meiner Heimat
    und anderen Teilen dieser Erde
    behüte ich wie Schätze in meiner Brust
    Ihre Aussagen verbinde ich
    bei neuen Wahrnehmungen
    Begegnungen und Berührungen
    mit gegenwärtigen Klängen, Farben und Düften
    Das Ergebnis teile ich meiner Umwelt
    bedacht  in der Hoffnung mit
    dass Betrachtungen und Behandlungen allgemein
    umsichtiger, zärtlicher
    und barmherziger werden

    ֎֎֎

  • Mütter wollen den Frieden

     (1950)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    (für meinen Sohn Bijan)

    Du, verführerisches, schönes Kind,
    du, Frucht meines Lebens,
    dein Gesicht ist wie ein heller Spiegel
    meiner Kindheit und meiner Jugend.
    Ich betrachte in deinem Gesicht
    mein geliebtes vergangenes Leben
    und erblicke aus den Fenstern deiner Augen
    eine glückliche Zukunft.
    Deine Augen sind zwei große Sterne,
    leuchtend wie der Stern deines Glücks.
    Der Duft deines wohlriechenden Atems
    beruhigt das Herz und erleichtert das Leben.
    Wenn deine beiden kleinen Hände
    sich wie eine Schlinge um meinen Hals werfen,
    ist es so, als würde ich die Welt umarmen,
    deine Liebe bringt meinen Körper zum Beben.
    Die Mutter ist ein seltsames, selbstloses Wesen,
    sie opfert sich für ihr Kind.
    Die Mutter opfert das Herz und die Seele des Lebens
    liebevoll für ihr Kind.
    Du, geliebtes, schönes Kind,
    du, die neue Blume meines Lebens,
    auch wenn ich sterben muss,
    werde ich dich nicht einen Moment
    dem Feind überlassen.
    Wenn sich eine Mücke auf dein Gesicht setzt,
    springe ich von der Stelle und bin entrüstet,
    wie soll ich es dann aushalten,
    dass du inmitten Feuers und Blutes fällst.
    Wenn man mein Auge ausreißt,
    wenn man mein Herz zerreißt,
    werde ich es nicht zulassen,
    dass die Flamme des Krieges
    deine Wiege verbrennt.
    So wie ich,
    verabscheuen und hassen alle Mütter der Welt
    den Krieg.
    Der Fluch der Mütter der Welt gilt jedem,
    der das Feuer des Krieges entfacht.

    ֎֎֎

  • Teheran und der Krieg

     (Winter 1981)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die schwarzen, furchtbaren Flügel des Kriegsdämons
    liegen bedrückend auf den Teheraner Nächten.
    Das einzige brennende Licht der Stadt
    ist der Mond,
    der bernsteinfarbene Mond,
    der auf dem unsichtbaren Dach Teherans leuchtet.
    Teheran ist dunkel,
    Teheran ist still,
    Teheran ist eine schwarz bekleidete Schönheit … 

    Wenn die morgendliche Sonne das Elburs-Gebirge beleuchtet,
    all den goldenen Schnee,
    und das Herz sich nicht verrückt in Teheran verliebt,
    ist es kein Herz,
    sondern ein Stein. 

    Doch welchen Platz haben jetzt Liebkosungen mit der Natur?
    Heute ist Krieg.
    Vom Schicksal der Heimat und der Menschen sich fern zu halten,
    ist eine Schande.
    Es ist eine Schande.
    Uns ist der Iran übrig geblieben,
    ein Meer des Zorns, des Blutes und des Sturmes.
    Es ist schmachvoll,
    ein Stein am ruhigen Ufer zu sein
    angesichts all der selbstlosen Handlungen der Aufständischen,
    die ihr Leben riskieren.
    Es ist eine Schande,
    nur sich selbst und die eigenen Interessen im Blick zu haben. 

    Wer kann nachts zuhause beruhigt schlafen,
    wenn tausende Landsleute obdachlos sind,
    vertrieben durch den Krieg,
    den erbarmungslosen Krieg. 

    Du,
    Geschichte schreibendes Teheran,
    stolzes Teheran,
    es sei,
    dass ich deine Nächte voller Licht sehe,
    dass ich erblicke,
    wie der ganze Iran des Sieges wegen
    mit Lichterketten beschmückt ist.

    ֎֎֎

  • Du kehrst zurück

    (1975)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Eines Tages kehrst du zurück.
    Du kommst zurück
    mit dem morgendlichen Wind der Berge,
    mit den Wellen der Meere,
    mit dem Frühling.
    Und ich warte sehnsüchtig. 

    Du bist ein Bote aus warmen Ländern und weißt,
    wie verzweifelt und traurig der Mensch durch die Kälte wird.
    Ich rede nicht von der Kälte des Wetters,
    ich meine die Kälte der Herzen.
    Du weißt, wie sehr ich,
    selbst voller Glut,
    verabscheue
    die Kälte der Reden,
    die im Ohr rauschen,
    den Frost der Herzen,
    deren Licht der Liebe erloschen ist. 

    In meinem Herzen
    sagt ein stiller Schrei immer und immer wieder,
    dass du wie ein leuchtender Funke,
    wie ein Stern aus der Ferne,
    umarmt von mitternächtlichen Kometen
    zurückkommst.
    Ich bin voller Hoffnung,
    dein Gesicht zu erblicken.

    ֎֎֎

  • Farbenfrohe Momente

    (1971)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Ich brauche die Farben des Frühlings,
    die Farbe der Blumen,
    dieser reinen Geschenke des Paradieses,
    die Farbe der blauen Hyazinthe,
    die Farbe der gelben Narzisse,
    die rote Farbe der Anemone,
    die auf dem Feld gewachsen ist.
    die goldenen Tulpen,
    die violetten Jasminpflanzen,
    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,
    die Farbe jener zärtlichen,
    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,
    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.
    Ich brauche sogar jene Steinblume,
    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.
    Ich brauche den Farbkasten der Natur,
    die magische Farbe der Liebe,
    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,
    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,
    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,
    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

    ֎֎֎

  • Wolke und Sonne

    (1978)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Der Gang der Zeit
    nimmt jeden Moment eine neue Farbe an …
    Gestern war der Himmel bewölkt und weinerlich.
    Ich war traurig wegen der Tränen des Regens.
    Eine Weile später als ich aus dem Flugzeug sah,
    dass unter meinen Füßen die Wolke weinte
    und über meinem Kopf die Sonne lachte,
    fragte ich mich,
    weshalb ich kurzsichtig gewesen bin?
    Ich war betrübt.

    Wo habe ich eine ewig bleibende Wolke erblickt?
    Wenn wir den Kopf hoch halten,
    wenn wir den weiter entfernten Himmel betrachten,
    sind hinter der Dunkelheit der fliehenden Wolke
    die helle Sonne und das unendliche Universum.

    ֎֎֎