Autor: Amir Mortasawi Dr. med.

  • Und eine Botschaft unterwegs

    Sohrab Sepehri ( 1928-1980 )

     

    Eines Tages
    werde ich kommen und eine Botschaft mitbringen.
    Das Licht werde ich in die Adern gießen.
    Und werde ausrufen: „Ihr mit Körben voller Träume!
    Ich habe Äpfel gebracht, den roten Apfel der Sonne!“
    Ich werde kommen, dem Bettler werde ich einen Jasminzweig geben.
    Der schönen leprakranken Frau
    werde ich einen weiteren Ohrring schenken.
    Dem Blinden werde ich erzählen, wie sehenswürdig der Garten ist.
    Ich werde ein fliegender Händler sein,
    werde durch die Gassen gehen,
    werde ausrufen: „Tau, Tau, Tau“.
    Ein Passant wird sagen:
    „Der Aufrichtigkeit halber, es ist eine dunkle Nacht“,
    ihm werde ich die Milchstraße geben.
    Auf der Brücke ist ein Mädchen ohne Bein,
    ihr werde ich den Großen Bären am Himmelzelt um den Hals hängen.
    Sämtliche Beschimpfungen werde ich auf den Lippen beseitigen.
    Sämtliche Mauern werde ich abreißen.
    Den Räubern werde ich sagen:
    Eine Karawane kam, beladen mit Lächeln!
    Die Wolke werde ich zerreißen.
    Ich werde zusammenknoten
    die Augen mit der Sonne,
    die Herzen mit der Liebe,
    die Schatten mit dem Wasser,
    die Äste mit dem Wind.
    Und ich werde miteinander verbinden
    den Traum des Kindes mit dem Summen der Grillen.
    Drachen werde ich in die Luft steigen lassen.
    Blumentöpfe werde ich gießen.
    Ich werde kommen,
    den Pferden, den Rindernwerde ich das grüne Gras der Zärtlichkeit hinlegen.
    Einer durstigen Stute
    werde ich den Eimer mit Tauwasser hinstellen.
    Einem alten Esel unterwegs
    werde ich die Fliegen wegschlagen.
    Ich werde kommen und auf jede Mauer
    eine Nelke pflanzen. 

    Unter jedem Fenster werde ich ein Gedicht singen.
    Jeder Krähe werde ich eine Tanne geben.
    Der Schlange werde ich sagen,
    welche Pracht der Frosch hat.
    Ich werde versöhnen.
    Ich werde bekannt machen.
    Ich werde schreiten.
    Das Licht werde ich aufnehmen.
    Ich werde lieben.

  • Farbenfrohe Momente

    Jaleh Esfahani ( 1921-2007 )

     

    Ich brauche die Farben des Frühlings,
    die Farbe der Blumen,
    dieser reinen Geschenke des Paradieses,
    die Farbe der blauen Hyazinthe,
    die Farbe der gelben Narzisse,
    die rote Farbe der Anemone,
    die auf dem Feld gewachsen ist.
    die goldenen Tulpen,
    die violetten Jasminpflanzen,
    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,
    die Farbe jener zärtlichen,
    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,
    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.
    Ich brauche sogar jene Steinblume,
    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.
    Ich brauche den Farbkasten der Natur,
    die magische Farbe der Liebe,
    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,
    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,
    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,
    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

  • Wesensart

    (25.8.2019)

     

    Tausend Sonnen trägst du in dir
    So verhalte dich wie die Sonne
    Sie fragt nicht
    wann oder wo sie scheinen soll
    Sie fragt nicht
    wen oder was sie wärmen soll
    Tausend Sonnen trägst du in dir
    So verhalte dich wie die Sonne

    ֎֎֎

     

  • West-östlicher Divan

    (18.8.2019)

     

    Suche die Seele des West-östlichen Divans
    nicht in verstaubten Bücherregalen
    oder in glänzend aufgetakelten Aufführungen
    Suche sie in den Herzen der Menschen
    Möchtest du den West-östlichen Divan
    wahrhaftig ehren
    so lasse es nicht zu
    dass blendende Banditen
    in deinem Namen
    und mit deinen Steuergeldern
    seine Geburtsstätten verwüsten
    und seine Lebensgeschichten vernichten

    ֎֎֎

  • Selbstgespräch

     (17.8.2019)

     

    Sicher! Ich werde stets wiederkehren!
    Das versprach mir
    ein Teil meines Wesens
    mitten in alltäglichen aufrechten Anstrengungen
    für eine großherzige Lebensweise
    Immer wieder
    werde ich bei dir sein
    wie der wiederkehrende Frühling
    mit einem Korb duftender Gedankenblumen
    mit einer Glasschale glänzender Traumperlen
    Und dir werde ich schenken
    meines Herzens Augen
    zur gütigen Betrachtung der Gegebenheiten
    meines Verstandes Beine
    zum bedacht-bescheidenen Beschreiten des Lebensweges

    ֎֎֎

  • Neglect und Hemianopsie

    (25.7.2019)

     

    Bei manchen Gehirnerkrankungen
    ist die Wahrnehmung der Umgebung einseitig eingeschränkt
    oder das Gesichtsfeld ist bedeutend beeinträchtigt
    Für eine Störung der Sinne in unserer Gesellschaft
    sorgt ein Heer von Wissenschaftlern
    Psychologen, Politikern, Philosophen
    Künstlern, Journalisten
    und Geistlichen unterschiedlicher Schattierungen
    So kann der der Kapitalismus fortwähren

    ֎֎֎

  • Lehrer und Unterstützer

    (25.7.2019)

     

    Im alltäglichen Kampf gegen den Kapitalismus
    als eine Lebensweise im weitesten Sinne
    mit einer erbärmlichen Betrachtung des Daseins
    und einer verkümmerten Bedeutung der Liebe
    habe ich besondere Lehrer und Unterstützer:
    Das Storchenpaar auf der anderen Seite der Fulda
    in seinem Nest auf dem hohen Gestell
    die grauen Jungschwäne am Breitenbacher See
    die Fischreiher auf den Fuldawiesen
    die Obstbäume am Rande der Fahrradwege
    die Wiesen mit ihrer Blütenpracht
    die Kornfelder und Kleingärten
    Menschen, die ich therapeutisch begleite
    und Kinder mit ihren blühenden Phantasien

  • Der aufrecht Gehende

    (1.7.2019)

     

    Im Hain meiner Träume tauchen tausend Leuchtkäfer auf
    wenn über dich ehrfürchtig gesprochen wird
    Der Garten meiner Gedichte gedeiht glanzvoll
    wenn über dich sehnsüchtig nachgedacht wird
    Dann werden die Straßen meiner lebendigen Stadt
    mit den schönsten Blumen der Zuversicht geschmückt
    Und die Menschen verhalten sich so
    als wäre es der erste Frühlingstag voller betörender Düfte
    Im Himmel ihrer Herzen funkeln frohlockende Sterne
    Ihre Worte schmecken nach frischem Quellwasser
    Wenn du erscheinst, fliegen die Vögel verzaubert
    die schönsten Gesänge im Sinn
    Und die mit trächtigen Träumen bewässerten Bäume
    zaubern ein Meer ihrer besten Früchte hervor
    Dort, wo du wirkst, lodert das Lebensfeuer

  • Törichte Teilhabe

    (3.5.2019)

     

    Nun, Machthaber der Zeit!
    Für mich ist es nicht entscheidend
    wie euer Reichtum zustande kommt
    Hauptsache ich bin daran beteiligt
    auch wenn im Sinne von Brosamen 

     So denken im trügerischen Paradies
    erhobenen Hauptes und guten Gewissens
    nicht wenige Menschen
    die angeblich für eine bessere Welt eintreten
     dabei geduldet-gefördert
    festgelegte Fragen aufwerfen
    sich in zugewiesenen Gewässern bewegen
    und täuschend Teilaspekte eines Systems angehen
    das auf Verelendung gebaut ist  

  • Maskerade

    (30.6.2019)

     

    Friede, Freude, Eierkuchen
    Den Kapitalismus keinesfalls gefährden
    Geräuschvoll nach Nebenschauplätzen suchen
    Über Klimawandel vollmundig  reden
    Dabei Kriege und Rüstung gefügig verschweigen
    Geschäftig nach dröhnenden Nebelkerzen suchen
    Sich über Trump und Konsorten aufregen
     Zum dahinter stehenden System beharrlich schweigen
    Stets nach Ungefährlichem suchen

    ֎֎֎