Autor: Dietrich Weller

  • Dieser Text zeigt, wie das Beispiel funktioniert.

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. –
    Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen, Verlag Weinmann, Filderstadt.
    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. – Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen,
       Verlag Weinmann, Filderstadt.

    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Viele Menschen versuchen, ihr eigenes mangelndes Selbstwertgefühl zu verbessern, indem sie ihre Mitmenschen hetzen, demütigen, beleidigen, als minderwertig darstellen oder in irgendeiner anderen Weise herabsetzen. Es ist ja sehr einfach, am Anderen Fehler zu entdecken und zu kritisieren. Dass wir diese nur entdecken können, weil wir sie in der Anlage selbst auch besitzen, wird meist großzügig übersehen. Die Logik dahinter ist einfach: Wenn der Andere meiner Meinung nach weniger wert ist als ich, bin ich „sozial mehr wert“. Der scheinbare Vorteil dieser Verhaltensweise besteht darin, dass ich nicht an mir arbeiten muss, um meinen gesellschaftlichen Wert und mein soziales Ansehen zu verbessern. Der Andere muss etwas tun und besser werden! Und wenn er etwas verbessert, werde ich ihn kleinhalten und weiter niedermachen, um den Abstand zwischen uns nicht kleiner werden zu lassen. Deshalb werden Friedensaktivisten auch so oft Opfer von hoch aggressiven Mitmenschen.

    Die gegensätzliche Sichtweise besteht darin, an sich selbst zu arbeiten und sich zu verbessern. Dann kann ich den Anderen als Hilfe sehen, in dessen Spiegel ich meine Unzulänglichkeiten sehe. Das ist eine therapeutische Begegnung, die mir helfen kann, meine eigene Entwicklung zu verbessern.

    Die erste Lebenseinstellung ist die einfachere und vordergründig und besonders in der Menschenmasse wirkungsvoller. Sie beflügelt die Populisten und sichert ihnen ein zahlreiches Publikum und Wahlvolk, das jemanden gefunden hat, der so ist wie sie selbst (sein wollen) und „es den Andern mal richtig zeigt“![1]

    Die zweite Lebenseinstellung ist schwieriger, bringt aber zuverlässig charakterliches Wachstum und echtes Ansehen in der Gemeinschaft.

    Wenn wir die politische Landschaft von der Familienebene bis zur Weltpolitik überschauen, finden wir überall Beispiele für beide Lebensweisen. Die Abwertung, Verfolgung, Bestrafung, Ablehnung Andersdenkender zählt zum täglichen Geschäft der Populisten, die dem breiten Volk das Blaue vom Himmel herunter versprechen und die einfachsten menschlichen Instinkte bedienen, um unterstützt und wiedergewählt zu werden. Angeblich wollen sie dem Volk dienen, in Wirklichkeit dienen sie ihrem eigenen Ego und Geldbeutel. Dazu sind ihnen (fast?) alle Mittel erlaubt, die sie selbstverständlich dem Gegner mit Macht verwehren und bei ihm anprangern, wenn er sie auch nützt.

    Ein besonders fieses und nicht sofort im Detail durchschaubares Beispiel dieses scheinbar seriösen politischen Denkens habe ich neulich kennengelernt.

    Ich wurde auf dieses Video aufmerksam gemacht:

    https://www.youtube.com/watch?v=8eO_HNs_BwQ&feature=share

    Hier hält Stefan Magnet einen kurzen Vortrag darüber, dass ein italienisches Gericht einem Mörder mit dem sogenannten Killergen geringere Strafen auferlegt hat als Mördern, die dieses Gen nicht in sich tragen. Magnet bringt einige drastische Beispiele von grausamen Verbrechen und vergleichsweise abgemilderten Strafen, weil bei den Tätern dieses Killergen nachgewiesen werden konnte. 2009 zum Beispiel erhielt ein verurteilter Mörder im Berufungsverfahren eine um ein Jahr reduzierte Haftstrafe, weil bei ihm die weniger aktive Variante dieses Killergens nachgewiesen wurde.

    Der Zuhörer wird automatisch emotional aufgeladen, und die Forderung „Gleiche Strafen für gleiche Taten!“ springt sofort im Zuschauer an. Magnet spielt virtuos und beredt mit diesem Gefühl, das –wenn der kritische Kopf nicht eingeschaltet wird-, genauso rasch harte Strafen für die gengeschädigten Menschen fordert wie für einen „normalen“ Mörder. Die Darstellung von Magnet legt nahe, dass die Träger dieses Gens gemeingefährlich sind. Wie das Wort sagt, scheinen alle Träger dieses veränderten Gens Mörder zu sein oder zu werden.

    Aber: War da nicht mal etwas in der deutschen Vergangenheit mit sogenanntem lebensunwertem Leben? Mit Menschen, die Erbkrankheiten hatten, vermindert intelligent oder missgebildet waren oder gar zu einer fremden Religion gehörten? Was hat der größte Populist aller Zeiten und Führer der „Herrenrasse“ mit diesen gemacht? – Ersparen Sie mir Details. Jetzt merken Sie, worauf ich raus will.

    Deshalb habe ich über dieses Killergen recherchiert. Dabei war meine erste Entdeckung, dass es in der wissenschaftlichen Literatur Warrior-Gen, also Kriegergenheißt. Aber Killergen klingt schlimmer, absolut verdammenswert und ist deshalb in einer Rede mit Magnets Ziel viel wirkungsvoller! Populisten bedienen sich typischerweise einer einfachen und suggestiven Sprache!

    Tatsächlich gibt es ein Enzym, das Monoaminooyxidase A (abgekürzt MAOA) heißt und den Abbau der wichtigen Botenstoffe Dopamin und Serotonin im Nervensystem steuert.[2] Das Gen, das die Bildung von MAOA kodiert, ist auf dem kurzen Arm des X-Chromosoms lokalisiert. Wenn der Körper eine weniger aktive Variante des Gens hat, kann die gesteigerte Menge von Dopamin die Aktivität einiger Hirnareale und damit auch Aggression fördern. Dies geschieht aber nicht zwangsläufig, sondern nur, wenn Umweltfaktoren wie Traumatisierung, Frustration oder Provokation die Verhaltensveränderung begünstigen.[3] Missbrauch im Kindesalter, eine der schwersten Traumatisierungen, ist in den meisten Fällen von MAOA-Mangel mit kriminellem oder besonders aggressivem Verhalten nachgewiesen worden und wird als stark begünstigender Faktor für spätere Agressionen gesehen.

    Auch in Ruhe konnte bei Menschen mit inaktiver MAOA-Genvariante in MRT-Serienuntersuchungen eine geringere Aktivität in verschiedenen Arealen nachgewiesen werden, die für kognitive Kontrolle, Aufmerksamkeit und Steuerungsfunktionen wie Planen, Denken und Problemlösen verantwortlich sind. Das zeigt, dass die Wirkung des geschädigten Gens schon in Ruhe und ohne äußere Einflüsse nachweisbar ist. Ob daraus eine spezifische Therapie der Betroffenen abgeleitet und entwickelt werden kann, ist zurzeit noch Gegenstand der Forschung.

    Magnet sagt, dass nur 0,1-0,5 % der Deutschen die verminderte Genvariante von MAOA tragen, die Araber aber mit 15,6 % der Bevölkerung betroffen sind. Was schließt der unkritische deutsche Zuhörer daraus?  Er denkt: „Wir sind die Guten, und die Araber sind die Bösen!“ Ist das nicht eine Steilvorlage für einen angeblich wissenschaftlich begründeten Ausländerhass und eine fremdenfeindliche Politik? Und schon steht an der nächsten Wand eines Migrantenwohnheims: „Ausländer raus!“

    Wenn man aber die wissenschaftlichen Zahlen liest, sieht es ganz anders aus: Dr. Benjamin Clemens von der Universitätsklinik für Psychiatrie in Aachen schreibt[4], dass etwa 40 %(!) der westeuropäischen Bevölkerung diese vermindert aktive MAOA-Genvariante in sich tragen. Jetzt möchte ich Herrn Magnet fragen, ob wir mit diesem Wissen und seiner Logik die Araber und Türken, die zu uns kommen wollen, vor den Europäern warnen(!) müssen, weil nach Magnets Darstellung (fast) alle Träger dieses Gens aggressiv und potenzielle Mörder sind oder werden.

    Der niederländische Genetiker Han Brunner von der Universität Nijmwegen entdeckte 1993 eine besonders schwerwiegende Variante des MAOA-Gens bei einer Familie, deren männliche Mitglieder alle durch ihr aggressives Verhalten und ihren Hang zur Kriminalität auffielen. Es wurde von ihnen kein MAOA mehr produziert. Diese Erbkrankheit heißt heute Brunner-Syndrom. Die Betroffenen sind alle Männer, zeigen oft verminderte Intelligenz und einen starken Hang zur Impulsivität, gesteigertes sexuelles Verlangen, extreme Stimmungsschwankungen und den Hang zu Gewalttätigkeit. Es gibt aber auch noch weitere Mutationsformen dieses Gens, die weniger eindeutige Auswirkungen haben.

    Nehmen wir drei einfache Beispiele aus dem Alltag zur Anschaulichkeit: Ein Schizophrenie-Kranker denkt in einem psychotischen Schub mit Verfolgungswahn, dass sein Arzt ihn umbringen will und ersticht ihn „in Notwehr!“ –  Ein anderer Mann hat einen Hass auf den Liebhaber seiner Frau, plant minutiös dessen Mord und tötet ihn kaltblütig. – Der nächste Täter hat das Brunner-Syndrom und rastet aus, als ein Stammtischbruder ihm widerspricht und ermordet diesen im Affekt. – Nach Magnets Logik verdienen alle die gleich hohe Strafe!

    Mal zynisch weitergedacht: Tot ist tot, egal wie der Mensch zu Tode kam. Dann brauchen wir auch keine Unterschiede zu machen zwischen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung mit Todesfolge, kaltblütig kalkuliertem und verübtem Mord oder Tötung durch einen geisteskranken oder gengeschädigten Menschen. Dann erhalten alle Täter dieselbe Strafe, weil alle „über einen Kamm geschoren“ werden. Das wäre eine radikale Vereinfachung unserer Justiz und würde viel Geld sparen.

    Ich denke, sie verdienen individuelle Gerichtsprozesse mit Überprüfung der jeweiligen Sachlagen, Motivationen, Hintergründe und Schuldfähigkeit und ein individuelles Urteil im Rahmen unserer Strafgesetzgebung. Das ist mühsam, zeitaufwändig, teuer und oft eine schwere Belastung für alle Beteiligten. Aber es ist ein Versuch, jedem Menschen, der straffällig geworden ist, gerecht zu werden.

    Was sollen wir mit Menschen machen, die gen-verändert sind und vielleicht gefährlich werden? Die populistische Antwort ist einfach: „Gen-veränderte Menschen, die gemeingefährlich sind, müssen aus dem Verkehr gezogen werden.“ Dieses wörtliche Zitat bekam ich als Antwort, als ich den Entwurf dieses Artikels einer Bekannten geschickt hatte!

    Wenn wir aber wissen, dass etwa 40% der Europäer, also fast die Hälfte!!, das vermindert aktive MAOA-Gen haben und vielleicht gefährlich werden, was sollen wir dann mit unserer Bevölkerung machen? Und wir wissen aus der täglichen Erfahrung,. Dass bei Weitem nicht 40% der europäischen Bevölkerung aggressiv und gewalttätig sind.

    Sollen wir etwa eine Pflicht einführen, dass jeder Mensch auf die Aktivität seines MAOA-Gens untersucht wird, damit wir ihn dann –wie auch immer – „aus dem Verkehr ziehen“ können, wenn es eine zu geringe Aktivität ausweist? – Ich hoffe, Sie spüren meine tiefe Ablehnung hinter dieser absurden und zynischen Frage! – Als ich diesen Satz über das „Aus-dem-Verkehr-Ziehen“ gelesen habe, erschienen die Bilder von Gaskammern, Konzentrationslagern und Massenerschießungen vor meinem inneren Auge.

    Ich will dieser Bekannten wirklich nicht unterschieben, sie plane diese Form des „Aus-dem-Verkehr-Ziehens“, aber wie sollen wir denn die potenziell Gemeingefährlichen entdecken, und wie sollen sie konkret behandelt werden? Gefängnis allein, „Wegsperren“ ist keine taugliche Antwort. Aber ein Verhalten, das eine zivilisierte und kultivierte Bevölkerung auszeichnet, sollten wir schon anstreben bzw. weiterentwickeln. Die therapeutischen Möglichkeiten müssen weiter entwickelt werden. Sicherheitsverwahrung ist nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Und eine pauschale Verurteilung von irgendwelchen „verdächtigen Genträgern“ lehne ich rundweg ab.

    Noch etwas als Nachwort:

    Ich habe mal geschaut, wer Herr Stefan Magnet ist.[5] Er ist Werbetexter und war Führungskader der bis 2007 in Österreich aktiven Neonazigruppe „Bund freier Jugend“. Dort war Stefan Haider einer seiner Stellvertreter. Von Stefan Magnet gibt es Videos über seine politische Meinung auf Youtube, die ich nicht angeschaut habe, weil mir das oben besprochene schon gereicht hat. Ich möchte, wenn möglich, gern ausgewogene Informationen haben, auch mit dem „Risiko“, dass ich sorgfältiger darüber nachdenken muss.


    [1] Meine Prognose: Aus genau diesem Grund wird Donald Trump eine zweite Amtsperiode erhalten!

    [2] Dopamin, Serotonin, Noradrenalin, Oxytocin und Phenethylamin (PEA) und Endorphin gehören zu den sogenannten Glückshormonen.

    [3] Zusammenfassung von MAOA-Gen und Aggression sichtbar gemacht, siehe https://www.medmix.at/welchen-einfluss-haben-aggression-gene-wirklich/

    [4] https://www.medmix.at/welchen-einfluss-haben-aggression-gene-wirklich/

    [5] https://rfjwatch.wordpress.com/2013/05/27/ehemaliger-neonazi-kader-als-werbefachmann-haimbuchners/

  • Es ist hilfreich, einen Kompass zu nutzen, wenn wir unseren Weg suchen. Das setzt voraus, dass wir unser Ziel kennen und den Kompass richtig benützen. Dies gilt im übertragenen Sinn auch für die Orientierung in geistiger und sozialer Richtung.

    Meine Geschichte zeigt, was geschieht, wenn jemand einen defekten Kompass nutzt und ihn für voll funktionsfähig hält.

    Schon gleich zu Beginn der Abendsprechstunde um 18 h in der Notfallpraxis lag eine Anforderung von der DRK-Leitstelle vor, einen Hausbesuch zu machen bei einem Mann, der einen suprapubischen Blasenkatheter und Fieber habe. Der Patient war uns bekannt, weil er schon einmal mit Urosepsis stationär eingewiesen werden musste. Da ich der einzige Arzt in der Sprechstunde war, musste ich diese bis 22 Uhr abhalten. Deshalb hat ich den Praxishelfer, bei dem Patienten anzurufen, die Situation zu klären und unseren Besuch für kurz nach 22 Uhr zuzusagen. Die Ehefrau des Patienten klang alkoholisiert und machte den Besuch dringend, ihr Mann habe keine Schmerzen, und es gehe ihm gut, Fieber habe sie nicht gemessen, aber er habe wahrscheinlich Fieber, und wir sollten gleich kommen, sie könne nicht warten.  Wir vertrösteten sie, auch nachdem sie in den folgenden Stunden mehrfach sehr ungeduldig und verärgert den Besuch anmahnte. Aber da es ihrem Mann angeblich gut ging, sah ich keinen Grund, einen Notarztwagen zu ihm zu schicken.
    Als ich kurz nach 22 Uhr in die Wohnung des Patienten kam, lag der Mann im Bett und begrüßte mich freundlich, während im Nebenzimmer die alkoholisierte Ehefrau meine Fahrerin anschimpfte, weil wir so lange nicht gekommen seien. Sie müsse schließlich morgen früh wieder arbeiten und könne nicht so lange auf uns warten.
    Der Patient sagte, er habe seit morgens Fieber gehabt, aber nicht gemessen, weil er kein Thermometer habe. Er machte auf mich keinen kranken Eindruck. Mein Fieberthermo-meter zeigte jetzt bei ihm 37,5°C. Aus dem Blasenkatheter floss klarer Urin. Der Urin-teststreifen ergab keine Zeichen für einen Harnwegsinfekt. Herz und Lunge waren normal. Der Tastbefund des Bauches war unauffällig. Der Patient klagte keine Beschwerden.
    Ich sah keinen Grund für eine akute Therapie und fragte: „Haben Sie Ibuprofen da, falls Sie tatsächlich Fieber bekommen? Haben Sie ein Antibiotikum da?“ –
    „Nein, ich habe gar keine Medikamente da!“, meinte der Patient.
    Bei einem Blick auf ein Regal entdeckte ich Medikamentenschachteln, ging darauf zu und sagte: „Aber da haben Sie doch Ibuprofen!“
    Ich nahm die Schachtel, sah, dass sie fast voll war, da riss mir die Ehefrau die Schachtel aus der Hand und keifte: „Das sind meine Tabletten!“
    „Das ist prima,“, meinte ich, „da können Sie Ihrem Mann eine Tablette schenken, wenn er heute Nacht Fieber bekommt, und ich schreibe ihm jetzt ein Rezept, dann können Sie morgen für ihn die Tabletten holen.“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht! Die brauche ich manchmal!“
    Ihre Stimme wurde schärfer und lauter.
    Ich versuchte freundlich, sie umzustimmen:
    „Mir geht es doch nur darum, dass Sie in Ihrem Zustand jetzt nicht mehr Auto fahren sollten, um in der Nachtapotheke für Ihren Mann Tabletten zu holen!“
    „Nein, der bekommt meine Tabletten nicht!“ –
    Ich setzte mich hin und schrieb ein Rezept über Ibuprofen für den Mann und einen kurzen Informationsbrief für den Hausarzt.
    Eine weitere Diskussion erschien mir bei der angespannten Lage und dem nicht bedrohlichen Gesundheitszustand des Ehemannes nicht angebracht.
    Ich wandte mich zu ihm und sagte: „Also, da läuft gerade eine völlig bescheuerte Situation ab. Es wäre so einfach, Ihnen bei Bedarf heute Nacht die Tabletten zu geben, aber das sollten Sie besser allein mit Ihrer Frau abmachen. In dem Zustand kann sie jedenfalls nicht in die Apotheke nach M. fahren.“
    Ich verabschiedete mich freundlich bei dem Patienten und knapp bei der Frau und verließ das Haus.

    Im Auto dachte ich an meinen Vater, der einmal ein Ehepaar mit dem schwäbischen Satz beschrieben hat: „Er wär´ ja scho´ recht, aber sie isch a Aufgab´!“

  • Die Geschichte begann, als die Uhr stehen blieb. Allerdings ist es keine gewöhnliche Uhr. Nein, meine liebe Frau Birgit hat sie vor vielen Jahren geschenkt bekommen, und deshalb ist die kleine rechteckige Golduhr mit schlichter Eleganz ein wertvolles Erinnerungsstück. Auf dem schwarzen Zifferblatt steht der Name einer weltberühmten Modefirma.
    „Die Uhr braucht sicherlich eine neue Batterie“, meinte Birgit und brachte das Schmuckstück beim nächsten Bummel in Stuttgart zu einem namhaften Uhrenhändler.
    „So einfach ist das nicht!“, gab der Händler zu bedenken. „Diese Firma macht die Batteriewechsel selbst, wir bekommen keine Ersatzteile. Dafür müssen wir die Uhr einschicken. Und hier sehe ich noch einen kleinen Kratzer im Glas. – Ich lasse Ihnen einen Kostenvoranschlag machen. Dann melden wir uns in ein paar Tagen bei Ihnen.“
    „Was kostet denn so eine Batterie? Letztes Mal war die sehr teuer.“
    „Also mit etwa 200 Euro sollten Sie rechnen. Und dann müssen wir sehen, was die Firma noch alles reparieren will.“
    „Aber ich brauche doch nur eine neue Batterie!“
    Der Verkäufer beschwichtigte und vertröstete sie auf den Kostenvoranschlag. Als dieser per E-Mail bei uns eintraf, war ich zuerst einmal sprachlos.
    Da stand „Kompletter Service 305 €, Ersatz des Zifferblattes 219 €, Ersatz des Glases 58 €, zusammen 582 €.“ Optional wurde noch Ersatz des Zeigersets für 44 € und Ersatz der Krone für 35 € in Aussicht gestellt. Alles zusammen für schlappe 661 €. – Und von Batteriewechsel stand da nichts. Immerhin wurden wir informiert, dass die Reparatur etwa 40 Werktage in Anspruch nehmen würde. Der Verkäufer bestätigte uns, dass die Firma die Batterie nur wechselt, wenn die erwähnten Reparaturen auch beauftragt werden.
    „Das lasse ich nicht machen, das ist doch viel zu teuer!“, war Birgit entsetzt.
    Ich pflichtete ihr bei, meinte aber: „Wenn du die Uhr nicht reparieren lässt, liegt sie im Schrank, und dann hast du gar nichts davon, und eine Uhr, die nicht läuft, nur als Schmuckstück anzuziehen, ist auch doof.“
    Nach einigen Wochen Bedenkzeit versuchten wir es noch einmal beim selben Händler, allerdings bediente uns ein anderer Verkäufer.
    Birgit machte ihn auf die etwas lockere Schließe im Lederarmband aufmerksam.
    „Die Schließe funktioniert prima, aber kann man sie etwas straffer einstellen? Und was kostet die Batterie, die in dem Kostenvoranschlag gar nicht aufgeführt ist, obwohl wir gerade deshalb kamen?“
    Der Verkäufer antwortete routiniert: „Ich muss die Uhr einschicken und einen Kostenvoranschlag anfordern. Wir benachrichtigen Sie!“
    Ein paar Tage später kam der neue Kostenvoranschlag.
    Jetzt standen außer den bereits bekannten Reparaturen noch folgende Kosten auf dem Plan: „Ersatz der Faltschließe 350 €, Ersatz des Armbandes 200 €.“ Zusammen waren das 1.214 €, und der Batteriewechsel wurde wieder nicht erwähnt. Aber die angekündigte Reparaturzeit schrumpfte auf 10 Werktage. Die Verdoppelung des Rechnungsbetrags verkürzte die Bearbeitungszeit auf ein Viertel.
    Na, man gönnt sich ja sonst nichts! Ich überlegte mir, dass ich Birgit von diesem Geld locker für jeden Wochentag eine neue Extrauhr kaufen könnte.
    Ich schrieb eine E-Mail zurück: „Da Ihre Firma nicht bereit ist, den Reparaturauftrag ohne Ersetzen der Schließe zu erledigen, möchten wir keine Reparatur und schließen daraus, dass es Ihrer Firma in erster Linie um Erschließung der Geldquellen geht und nicht um die Erfüllung der Kundenwünsche.“
    Prompt kam die Nachricht, die Uhr liege zur Abholung bereit. Als Birgit die Uhr entgegennehmen wollte, beklagte sie sich bei dem Verkäufer über das kundenfeindliche Verhalten der Firma.  Er lächelte etwas gequält, zuckte mit der Schulter und sagte bedauernd: „Ich kann Sie gut verstehen, aber das ist in dieser Firma üblich, wir kennen die Beschwerden schon lang und können nichts dagegen machen. – Sie sehen hier einen kleinen Spalt am Uhrglas , durch den Feuchtigkeit eingedrungen ist. Sie dürfen diese Uhren nie im Badezimmer liegen lassen! Deshalb will die Firma auch das Zifferblatt ersetzen. Die Schließe, die Krone und das Zeigerset muss man nicht ersetzen.“
    „Aber offensichtlich funktioniert die Geschäftsidee mit den angeblich notwendigen Zwangsreparaturen sehr gut, die Leute zahlen das. Sonst würde die Firma das nicht so machen!“, entgegnete ich. „Außerdem wissen wir jetzt genau, von welcher Firma wir in Zukunft keine Produkte mehr kaufen.“
    Als wir den Laden verlassen hatten, begegneten wir einem Bekannten, der uns ein Uhrengeschäft ganz in der Nähe empfahl: „Die wechseln die Batterie!“
    In dem sehr gepflegt wirkenden Geschäft wurden wir freundlich empfangen. Birgit legte die Uhr auf den Tisch und sagte: „Ich glaube, die Uhr läuft nicht mehr, weil die Batterie leer ist. Können Sie das prüfen und eventuell eine neue Batterie einsetzen?“
    Die Verkäuferin schaute die Uhr mit einem prüfenden Blick an und griff zum Telefonhörer: „Wir brauchen jetzt einen Batteriewechsel!“, und dann zu uns gewandt: „Haben Sie ein bisschen Zeit? Wir machen das gleich.“
    „Das trifft sich gut“, sagte ich, „wir gehen jetzt zum Mittagessen und kommen anschließend wieder vorbei.“
    Die Geschichte endet jetzt, weil die Uhr wieder zuverlässig läuft. Nach einem Batteriewechsel für 20 Euro.

  • An alle BDSÄ-Mitglieder

    Liebe Mitglieder des BDSÄ,

    es zeichnete sich ab, und ich will es kurz zusammenfassen:

    Der Vorstand hat beschlossen:

    1. Wir sagen hiermit den Kongress im Mai 2020 in Stralsund wegen der Corona-Krise ab.
    2. Der Kongress 2021 findet von 12. -16. Mai in Stralsund statt.
    3. Der Kongress 2022 findet in Bad Urach statt.

    Zur Begründung:

    Zu 1.      Die überwältigende Mehrheit der von mir letzte Woche angeschriebenen Teilnehmer des diesjährigen Kongresses hat sich für eine Absage des Kongresses ausgesprochen. Jürgen Rogge plädierte für eine Verlegung in den Oktober 2020.

    Eberhard Grundmann hat jetzt den Kongress und alle Zimmer der BDSÄ-Mitglieder kostenfrei storniert. Die Hoteldirektion bittet darum, dass jetzt keine Einzelabmeldungen mehr kommen. Sollte trotzdem jemand sein Zimmer behalten wollen, möge sich derjenige / diejenige binnen einer Woche im Hotel melden.

    Zu 2. Einige Teilnehmer haben den Wunsch geäußert, dass der Kongress 2021 in Stralsund stattfindet. Erstens können wir uns dann doch noch an Eberhards sehr intensiver Vorarbeit erfreuen, zweitens war die Mitgliederversammlung 2019 dafür, dass ein Kongress in Stralsund abgehalten wird. Ich schlage vor, die Themen für die Lesungen zu belassen, wie sie für dieses Jahr vereinbart sind.

    Zu 3. Ich habe mit dem Evangelischen Stift in Bad Urach vereinbaren können, dass wir die Räume auch im Jahr 2022 erhalten, allerdings in den Tagen unmittelbar vor Christi Himmelfahrt (Samstag, 21. Mai bis Mittwoch, 25. Mai). Ab Donnerstag, 26. Mai (Himmelfahrt) ist das Haus schon belegt.

    Um ein bisschen Zucker in die bittere Corona-Suppe zu streuen, möchte ich einen Vorschlag von Uta Hoeß weitergeben: Was halten Sie davon, dass jeder / jede sich für die Zeit der geplanten Kongresstage in diesem Jahr eine Schreibaufgabe vornimmt – Thema nach freier Wahl – oder mein Tipp: „Corona und ich“. Den Text könnte ich in unserer Homepage veröffentlichen  oder im internen Bereich zum Lesen anbieten.

    Alle weiteren Details zum nächsten Kongress erhalten Sie wie gewohnt im Weihnachtsbrief.

    Mit den besten Wünschen für stabile Gesundheit und situationsangepasstes Wohlbefinden grüße ich Sie im Namen des Vorstandes herzlich

    Dietrich Weller

  • Klicken Sie auf den folgenden Link, dann öffnet sich der Artikel.

  • BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb,

    Mein Beitrag zur Lesung Nach 50 Jahren,

    1. Juni 2019, Moderator Klaus Kayser

     

    Vor 50 Jahren

    … im Sommersemester 1969 war ich nach bestandenem Physikum mit meinen drei Freunden aus unserer Prüfungsgruppe in Wien. Das hatten wir uns vorgenommen als Belohnung für den Erfolg. Natürlich immatrikulierten wir uns zum Medizinstudium und nützen die günstigen Bedingungen aus: In vielen Instituten und Kliniken musste man sogar zweimal erscheinen: das erste Mal zum Einschreiben in einen Kurs und das zweite Mal zum Abholen des Scheins, der unsere erfolgreiche Teilnahme bestätigte. Auf diese Weise habe ich neun Scheine erworben. Ich war sogar in einigen Vorlesungen, wenn es in der Nacht vorher nicht zu spät geworden war.

    Dabei sind mir ein paar beeindruckende Stunden mit dem berühmten Prof. Asperger in Erinnerung, diesem weltberühmten Kinderarzt, der besonders den Insel-Begabungen unter den Kindern seinen Namen gegeben hat: das Asperger-Syndrom. Ein großer, sehr schlanker Mann, dessen äußere Erscheinung sofort an ein Marfan-Syndrom erinnert. Seine feine Art, mit Kindern umzugehen, und seine eindringliche Vortragsweise sind mir immer noch gegenwärtig.

    Ich weiß auch noch, wie der Gerichtsmediziner detaillierte Fotos eines geschlachteten Kindes zeigte – ja, geschlachtet! Das ist kein Wortfehler! Ein Metzgergeselle hatte ein Kind getötet und dann sorgfältig alle Glieder in den Gelenken voneinander getrennt. Zynischer Kommentar des Dozenten: „Also das muss man ihm lassen: Sein Handwerk hat er verstanden!“

    Mein eigentliches Studienziel habe ich erst in Wien richtig erkannt, nachdem mir klar wurde, dass in diesem Sommersemester 1969 die Wiener Festwochen und 100-jähriges Ballettjubiläum gefeiert wurden. Ich beschloss, den ganz großen Konzert- und Opern-Schein zu machen. Da war ich sehr fleißig und konsequent. Mein Tagebuch zeigte mir am Semesterende, dass ich jeden Abend in einem anderen Konzert oder einer anderen Opernvorstellung war, manchmal auch im Theater. Oft auf den Stehplätzen. Aber ich war dabei.

    Von fast allen Mozart-Opern, die ich hörte, blieb mir die eine Szene in lebhafter Erinnerung: Cesare Siepi als Don Giovanni schmetterte eine laszive und von Testosteron strotzende Champagner-Arie.

    Ich erlebte alle Strauß-Opern. Besonderer Moment: Die Elektra von Birgit Nilsson mit ihrer voluminösen und dramatischen Stimme! Sie riss das Publikum so in ihren Bann, dass sogar die feinen High-Society-Damen nach der Vorstellung so frenetisch im Takt klatschten und „Nilsson, Nilsson!“ schrien und ihnen dabei die Nerzstolen (im Hochsommer!) von den Schultern fielen!

    Bei einem vollständigen Zyklus aller 32 Beethoven-Klaviersonaten an acht Abenden, gespielt von Friedrich Gulda, der in diesem Sommer den Beethoven–Ring bekommen sollte und ihn ablehnte, war ich fasziniert von der feingliedrigen und doch zupackenden Virtuosität und Vielseitigkeit des Spiels. Ich hatte mir die Noten als Taschenpartitur gekauft und las über lange Strecken mit. Gulda kombinierte an jedem Abend frühe, mittlere und späte Sonaten. Das machte die Entwicklung der Werke deutlich. Bei den Dreingaben teilte sich manchmal das Publikum in die Konservativen und die Progressiven. Denn Gulda wagte es, als Dreingaben auch Jazz zu spielen. So auch an einem Abend, als nach der letzten späten, geradezu heiligen Sonate noch einen seiner Boogie-Woogies in den Flügel hämmerte. Das war der fetzigste und mitreißendste Boogie-Woogie, den ich bis heute gehört habe. Das Publikum reagierte gespalten. Die eine Gruppe, zu der ich gehörte, jubelte und applaudierte, und das umso lauter, je mehr die anderen Zuhörern buhten, weil sie diesen Stilbruch als unentschuldbaren Affront empfanden. Auch die Presse am nächsten Tag war geteilter Meinung.

    Eines der größten Erlebnisse war für mich, am Ostermontag in einer Matinee im Wiener Musikvereinssaal die Missa solemnis von Beethoven zu hören. Leonard Bernstein dirigierte die Wiener Philharmoniker, das Gesangsquartett bestand aus Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Walter Berry und Waldemar Kmentt. Die Wucht der Musik, die grandiose Interpretation und Bernsteins elastisch-begeisterten Sprünge auf dem Podium waren mitreißend und werden mir für immer wie ein Film im Gedächtnis bleiben.

    Die Namen, die ich mit diesem Wien-Aufenthalt verbinde, lesen sich wie ein Lexikon der Musikgrößen: Horst Stein, der neue Generalmusikdirektor des Hauses, und Josef Krips dirigierten in der Oper. Karl Böhm eröffnete mir die Gurre-Lieder und Verklärte Nacht von Arnold Schönberg. Otto Klemperer versank in seinem Dirigentenstuhl und gab nur spärliche Gesten an das Orchester. Obwohl er teilweise gelähmt war von einer früheren Hirnoperation und beeinträchtigt von den Verbrennungen, die er sich zugezogen hatte, weil er im Bett rauchend eingeschlafen war, entwickelten die Wiener Philharmoniker aus den minimalen Zeichen eine wunderbare Musik, tief empfunden, besinnlich.

    Unbedingt erzählen muss ich, dass wir meist nach der Oper im Café Hawelka saßen, dem berühmten Künstlercafé hinter der Oper. Das war der Treffpunkt der Begeisterten, die inmitten der vielen vergilbten Fotos von weltbekannten Musikern und verrauchten Polstersesseln noch einen kleinen Platz an den Tischen suchten, um dort die köstlichsten Buchteln in ganz Wien zu genießen, die jeden Abend immer wieder frisch gebacken wurden. Wir mussten sie vorbestellen, damit wenigstens ein paar davon unseren Tisch erreichten.

    Eine Alternative nach der Oper waren die guten und gemütlichen Keller, in denen wir für ein paar Schilling genügend Veltliner und Gorgonzola mit Butter und Brot bekamen, um satt und bettschwer zu werden.

    Eines Abends waren wir zu viert unterwegs und etwas ziellos, da wir nicht wussten, was wir heute Abend hören und sehen könnten. Da kamen wir am Theater der Josefstadt vorbei, wo ein Plakat unsere Aufmerksamkeit anzog. Michael las es zuerst: „Das ist ja heute!“, rief er, „Beginnt in ein paar Minuten! Da müssen wir sofort rein!“ Wir bekamen zu unserer Verblüffung tatsächlich noch Karten für diese Ein-Mann-Vorstellung und erlebten einen tief beeindruckenden Schauspieler mit sonorer Stimme, imponierender körperlicher Größe und überwältigender Schauspielkraft und Bühnenpräsenz, der als Richter sich Gedanken über sein eigenes Leben und eine Gerichtsverhandlung macht, die er am nächsten Tag leiten muss. Ein Schreibtisch mit Lampe, ein Stuhl – das war das ganze Bühnenbild. Und Curd Jürgens allein auf der Bühne – ein Kleinod in meiner Schatzkiste der herausragenden Kunsterlebnisse!

    Während des Semesters hatte mein Vater 50. Geburtstag. Er wollte mit Mutter und meiner Oma den verpflichtenden Einladungen zuhause entfliehen und ein paar Tage bei mir in Wien verbringen. Ich reservierte Hotelzimmer und bereitete ein vielseitiges Programm vor, aus dem die Eltern auswählen konnten. Im Nationalmuseum hatte ich vorher zweimal eine Führung in den Räumen der alten Niederländer besucht, um meinen Eltern die Kunstwerke präsentieren zu können, denn das ganze Museum ist ja nicht zu schaffen bei solch einem kurzen Aufenthalt. Wir waren beim Heurigen in Grinzing, machten einen Besuch in der staatlichen Grafiksammlung, erlebten am Geburtstagsabend Monteverdis Krönung der Poppea in der Oper, und die Eltern luden mich anschließend zum Essen ins Hotel Imperial ein. Die Hofreitschule mit einer festlichen Vorführung der Lippizaner war Pflicht, und Schloss Schönbrunn zeigte sich bei herrlichem Wetter. Nach dem Besuch im Stefansdom zelebrierten wir im Café des Hotel Sacher Café Creme und Sacher-Torte.

    Von so vielen „Kunstverpflichtungen“ mussten wir Studenten uns natürlich erholen. Deshalb beschlossen wir, eine Woche an den Neusiedlersee und an den Plattensee zu fahren. Wir genossen das prächtige Wetter, ein paar heitere Segelstunden, mehrere Weinproben in Rust und in einem kleinen Gartenlokal inmitten eines Weinbergs am Plattensee in der warmen Abendsonne den weltbesten Zander in Paprikasauce.

    Die nächsten beiden Semester studierte ich in Mannheim, weil ich die in Wien ohne Lernen eingeheimsten Scheine noch einmal richtig erarbeiten wollte. Außerdem schrieb ich dort meine Doktorarbeit und machte nebenbei Nachtschichten in der damals größten Spezialabteilung für Schwerverbrannte in der BG-Klinik Ludwigshafen. Ich erlebte erschütternde Schicksale und glückliche Heilungen. Seither bekomme ich sofort Herzklopfen und schweißnasse Hände, wenn ich jemand mit Feuer zündeln sehe.

    Beglückend war für mich, dass wir vier Freunde uns nach diesen zwei Semestern wieder in Tübingen trafen, gemeinsam auf das Staatsexamen lernten und es wie beim Physikum als Prüfungsgruppe Nr. 13 auch sehr gut bestanden.

  • Beitrag zu der Lesung „Eine Reise zu den Sternen“
    BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb 2019

     

    Kubrick, Nixon und der Mann im Mond

    Bei oberflächlicher Betrachtung gilt Donald Trump als Erfinder der Fake-News und seine PR-Managerin Kellyanne Conway als Erfinderin der alternativen Fakten. Eine kurze Überlegung macht aber klar, dass Lug und Trug, Tarnen und Täuschen, Hinterlist und Skrupellosigkeit schon immer das geistige und charakterliche Handwerkszeug der Menschen waren und in allen Bereichen zum Alltag gehörten, in denen es um Geld, Ansehen, Gewinn und Macht geht.

    Die folgende Geschichte zeigt dies beispielhaft, allerdings mit einer besonderen Variante.

    Juri Gagarin, der russische Kosmonaut, war der erste Mann im Weltall gewesen, und das forderte die US-Regierung heraus, unbedingt den nächsten Schritt in der Raumfahrt zu gewinnen, nämlich tatsächlich Menschen auf den Mond zu schicken, die dort Fußabdrücke hinterlassen. John F. Kennedy hatte die Losung ausgegeben, die NASA solle das Mondlandungsprogramm umsetzen, und innerhalb von wenigen Jahren gelang es tatsächlich, mit Apollo 11 die erste Mannschaft auf den Mond zu schicken. Es war eine vorrangige Frage des Prestiges und eine Materialschlacht dazu.

     

    Darüber berichtet der ARTE-Film Kubrick, Nixon und der Mann im Mond.

    Nixon, ein als Lügner und Krimineller überführter Präsident, hatte Angst, dass die Mondlandung nicht gelingen würde oder dass die Bilder vom Mond nicht gut genug sein könnten für den erfolgreichen Gebrauch als Propagandamaterial. Er beauftragte deshalb seine PR-Abteilung, im Studio einen Film zu drehen, der die Mondlandung vom 20. Juli 1969 zeigt. Diesen Film wollte man im Fernsehen zeigen, wenn die Originalbilder vom Mond nicht gut genug sein sollten, um einen gigantischen Propagandaerfolg auszulösen.

    Auf der Suche nach einem exzellenten Regisseur und einem diskreten Filmstudio fand man den berühmten Stanley Kubrick, der zu dieser Zeit in London den Film 2001 Odyssee im Weltraum drehte und eine passende Mondlandschaft im Studio zur Verfügung hatte. Über ein Wochenende entstanden mit Kubricks Hilfe und unter strengster Geheimhaltung die entscheidenden Mond-Szenen im hermetisch abgeriegelten Studio. Alle Beteiligten wurden anschließend mit neuen Identitäten ausgestattet und verschwanden in der Geheimhaltung.

    Der Film zeigt viele persönliche Interviews mit engen Nixon-Mitarbeitern wie Henry Kissinger, Alexander Haig, Lawrence Eagleburger, Donald Rumsfeld und dem Astronauten Buzz Aldrin und seiner Frau. Auch die Witwe von Stanley Kubrick wurde interviewt. Der Film zeigt, wie die Mitarbeiter Nixons von dem Betrug abgeraten haben. Noch schlimmer: Als der Film dann doch gedreht war und die Originalaufnahmen vom Mond nicht zu gebrauchen waren, bekam Nixon Angst vor der Entdeckung seiner Fälschung und verfügte, alle Beteiligten an der Verfilmung zu liquidieren. Ein CIA-Agent nahm sich der Sache an, tauchte ab, spürte die Zeugen in den verborgensten Winkeln der Erde auf und liquidierte sie. Nur Stanley Kubrick blieb aus Angst vor Verfolgung in seinem Anwesen und drehte nur noch dort. Er starb schließlich eines natürlichen Todes. –

    Der Kommentar und die Kritik in diesem Film machen an vielen Beispielen sehr deutlich, wie gewissen- und rücksichtslos Nixon vorging und wie viele Drehfehler in dem rasch zusammengestückelten Studiofilm enthalten waren.

    Die Abdruckspuren der Astronautenstiefel im „Mondsand“ waren viel zu tief, denn auch die schwere Schutzkleidung mit den Atemgeräten würde auf dem Mond wegen der auf ein Sechstel reduzierten Mondanziehung wesentlich flachere Stiefelprofile hinterlassen.

    Dummerweise hatte man zwei Studiolampen so aufgestellt, dass sie Schatten der Astronauten in zwei verschiedene Richtungen warfen.

    Und zufällig lag auf der Mondoberfläche auch noch ein kleiner Prospekt mit dem Portrait von Stanley Kubrick.

    Der Eindruck, den der unkritische Betrachter des Films gewinnt, ist eindeutig. Auch ich muss zugeben, dass ich entsetzt war! Mein Vorurteil über die gewissenlosen Politiker war voll bestätigt.

    Soweit – so schrecklich – so ungeheuerlich: dieser Betrug, diese Skrupellosigkeit, diese Hinterlist!

    Aber dann machte mich ein Freund, dem ich mein Entsetzen geschildert und den Link zu dem Film gegeben hatte, aufmerksam auf einen ausführlichen Artikel in Wikipedia. Hier wird erklärt, dass es sich bei dem Film um ein sogenanntes Mockumentary[1] handelt, also eine vorgetäuschte, absichtlich gefälschte Dokumentation, für die der Autor des Films, William Karel, sogar 2003 mit dem Adolf-Grimme-Preis für Buch und Regie im Bereich Information und Kultur ausgezeichnet wurde.

    Das Besondere des Films besteht darin, dass die bewusste und trickreiche Fälschung als eine prämierenswerte künstlerische Leistung dargestellt und belohnt wurde. Ich empfinde das als eine Einladung zur Fälschung. Außerdem wird die Bevölkerung dadurch erst recht in die Irre geführt, und man macht sich auch noch lustig über ihre Täuschbarkeit. Offensichtlich freut sich der Fernsehzuschauer darüber wie bei Verstehen Sie Spaß auch, wo ahnungslose Menschen zum Narren gehalten werden und noch darüber lachen sollen.

    Die angeblichen Zeitzeugen sind „zum Beispiel David Bowman (Astronaut in 2001: Odyssee im Weltraum), Jack Torrance (Rollenname des Hauptdarstellers in The Shining) und Dimitri Muffley (eine Kombination der Namen des sowjetischen Generalsekretärs und dem des US-Präsidenten in Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben).

    Weitere angebliche Zeitzeugen tragen Namen aus Filmen von Alfred Hitchcock: Eve Kendall (weibliche Hauptfigur in Der unsichtbare Dritte) und Ambrose Chapel (ein wichtiger Ort in Der Mann, der zu viel wusste (1956)).

    Als angeblich Beteiligter wird ein CIA-Agent namens George Kaplan genannt (ein fiktiver CIA-Agent in Der unsichtbare Dritte). Ein weiterer angeblicher Zeitzeuge ist ein New Yorker Rabbiner namens W. A. Konigsberg, eine Anspielung auf Allan Stewart Konigsberg, den bürgerlichen Namen von Woody Allen.“ (Wikipedia)

     

    Wenn man unter diesen Gesichtspunkten den Film anschaut und noch ein paar Fakten dazu liest, entdeckt man, dass die Interviews mit den Politikern kurze Videoschnipsel sind, die überall hinpassen und keinen direkten Bezug zum Problem haben. Sie sind sehr geschickt in den Film und seine geplante Falschaussage hineinkopiert. Auf das erste Hinschauen erscheinen sie glaubwürdig. Und deshalb sind wir als meistens autoritätshörige Menschen auch überzeugt vom Wahrheitsgehalt des ganzen Films.

    Wer ein bisschen sprachgewandt ist, entdeckt auch, dass die Untertitel der Interviews oft nicht mit den tatsächlichen Aussagen überstimmen.

    Soweit – so schrecklich. so ungeheuerlich: unsere leichte Beeinflussbarkeit, unsere Leichtgläubigkeit, unsere fehlende Unterscheidungsmöglichkeit von Fakten und alternativen Fakten.

     

     

    Quellen am 25.01.2019: 

    https://www.arte.tv/de/videos/025816-000-A/kubrick-nixon-und-der-mann-im-mond/

    https://de.wikipedia.org/wiki/Kubrick%2C_Nixon_und_der_Mann_im_Mond

    https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf-Grimme-Preis_2003

    https://web.archive.org/web/20060429151052/http://www.grimme-institut.de/scripts/preis/agp_2003/scripts/beitr_kubrick.html

    [1] Engl. mock: vorgetäuscht, pseudo-, unecht