Autor: Gerhard Langenberger Dr. med.

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    Thilo griff nach dem schwarzen Handy, das zweite von links, und klickte die Nummer an. Thilo Altstädt hatte eine Reihe von drei unterschiedlichen Handys, die entsprechend unterschiedliche Farben hatten und akkurat in einer Reihe lagen. Mit dem schwarzen Handy führte er mehr inoffizielle Gespräche. Jedenfalls war dieses Handy nicht auf seinen Namen angemeldet.

    „Thilo hier! Entschuldige, ich konnte vorhin nicht sprechen. Was hast du für mich?“

    Thilo hörte aufmerksam zu.

    „Das große Grundstück neben dem Alten Kloster auf dem Klosterrücken?“

    Wieder sprach sein Gesprächspartner.

    „Der Erbe wohnt in Montreal?“

    Thilo hatte sich in seinem Sessel aufgesetzt. Das war ein Zeichen höchster Aufmerksamkeit. Sein Blick ging irgendwohin durch die Wände seines Büros. Im Inneren seines Kopfes sah er den Bergrücken mit dem herrlichen Panoramablick über den Verlauf der Fulda und des gegenüber liegenden Uferstreifens. Sofort hatte er die Möglichkeiten, die solch ein Grundstück bot, erkannt.

    „Gut, und du glaubst, wir bekommen das durch den Bauausschuss und den Stadtrat? Das ist Naturschutzgebiet.“

    Nach einigen intensiven Mmmms sagte er abschließend, „lass mir die Daten auf dem üblichen Weg zukommen. Seh ich dich heute Abend bei der Versammlung?“

    Jetzt hatte sein Interesse an dem Gespräch deutlich nachgelassen.

    „Schön, dann bis heute Abend. Ich werde später kommen, aber ich werde kommen. Grüß Claudia. Tschau.“

    Thilo drückte die Gesprächsendetaste und legte das Handy wieder an seinen Platz in der Reihe, ganz links außen.

    Thilo Altstädt war Bauunternehmer und Investor im Immobiliengeschäft und jederzeit an neuen Projekten interessiert.

     

     

     

    „Eins, zwei, drei“, zählte Kurt. Kurz vor Drei gab es einen kurzen, trockenen Knall, der kaum von der Waldfront widerhallte. Der Rabe auf dem First des Schuppens neben dem alten Haus war verschwunden. Er war nicht weggeflogen, sondern weg gerissen, zerrissen. Nur ein paar schwarze Federn flogen umher und sanken tanzend zu Boden.

    „Guter Schuss“, sagte Kurt, „das sind fast 800 Meter.“

    „Jetzt du!“

    Bernharda hob ihr Gewehr von der Verandabrüstung und stellte es zur Seite.

    Kurt ergriff sein Gewehr und legte es auf. Sie warteten, bis ein weiterer Rabe auf das Dach geflogen kam und den First entlang hüpfte.

    „Eins, zwei, drei“, zählte Bernharda, und sie zählte nicht langsam.

    Wieder gab es diesen trocken, nicht sehr lauten Knall. Auch dieser Rabe würde keine Nachkommen mehr haben.

    „Auch ganz gut“, lobte Bernharda.

    Beide gingen zum gedeckten Frühstückstisch. Kurt drehte am Deckel der Thermoskanne und schenkte Kaffee ein.

    „Danke.“

    Kurt neigte zur Erwiderung des Dankes den Kopf.

    Bernharda griff ein Brötchen und schnitt es mit dem Brotmesser auf. Sie reichte Kurt die Unterseite.

    „Danke.“

    Diesmal neigte Bernharda ihren Kopf, und beide lachten. Dies war ein altes Frühstücksritual, über das sie sich selbst gern amüsierten.

    Schweigend aßen sie ihre Brötchenhälften.

    „Hast du auch bemerkt, dass Molly lahmt. Nicht stark, aber ich glaubte, es zu bemerken?“ fragte Kurt.

    Kurt und Bernharda wohnten außerhalb des Ortes in einem alten Bauernhaus mit riesigem Grundstück, Feldern, die waren verpachtet, Wiesen und einem größeren Stück Wald. Beide waren leidenschaftliche Jäger, außerdem ritten sie für ihr Leben gern und hatten auch zwei Pferde im alten Stall stehen.

    „Ja, das habe auch ich bemerkt“, antwortete Bernharda.

    „Ich war mir nicht sicher. Letzten Donnerstag ist sie nach einem Sprung hart aufgekommen und hat sich den linken Vorderlauf gestaucht.“

    Da Bernharda das Lahmen bestätigt hatte, war sich Kurt auch sicher.

    „Soll der Arzt kommen?“, fragte Bernharda.

    „Nein, das ist sicher nicht notwendig. Wir lassen Molly ein paar Tage auf der Koppel, dann wird das wieder gut sein. Wenn nicht, ist dann immer noch Zeit, Dr. Rauber zu rufen.“

    „Wenn nicht, haben wir eine Woche verloren.“ Bernharda ließ nicht locker.

    „Bernharda? Diesen Ton kenne ich doch. Du hast schon beim Doktor angerufen, und er kommt heute Mittag. Stimmt´s?“

    „Kurt, meiner Liebster, wie gut du mich doch kennst“, lachte sie.

     

    Bernharda und Kurt liebten einander innig und fest. Beide hatten großen Respekt vor der Persönlichkeit des anderen; was sie nicht davon abhielt, sich häufiger gegenseitig auf den Arm zu nehmen.

    Bernharda blickte zum dem alten, windschiefen Haus hinunter, das fast einen Kilometer unterhalb ihres Hause lag. Früher einmal gehörte das alte Haus zum Gehöft und wurde als Altenteil genutzt. Nachdem Frau Fuhrmann ins Pflegeheim gekommen war, stand es leer und verkam noch mehr. Etliche Raben zankten sich kreischend auf dem Dach und vollführten einen unvorstellbares Gezeter.

    „Was soll nun aus dem alten Haus von Frau Fuhrmann werden? Sie ist jetzt schon über ein Jahr tot“, fragte Bernharda. Ihr Blick war vom Lärm der Krähen angezogen.

    „Ich weiß es auch nicht“, antwortete Kurt, „es war mal im Gespräch, dass ihr Sohn es als Ferienhaus für seine Familie ausbaut. Ich habe aber schon lange nichts mehr darüber gehört. Außerdem wohnt Herr Fuhrmann schon seit Jahrzehnten in Kanada. Dort hat man bezüglich Landschaft und Ferienhäuser ganz andere Möglichkeiten. Und einfach so fliegt man ja auch nicht mal über den Teich.“

    Hoffentlich wird es nicht verkauft, und der neue Besitzer reißt es ab und baut ein großes Hotel dorthin“, fuhr Bernharda nachdenklich fort.

    „Hier ist Landschaftsschutzgebiet und deshalb ist eine bauliche Veränderung unmöglich. Der Vergrößerung unseres Stalles wurde deswegen auch nicht stattgegeben werden.“

    Kurt war sich sicher.

    „Hoffentlich hast du recht“, zweifelte Bernharda.

    „Ja, hoffentlich.“

    Kurt griff nach einem weiteren Brötchen und halbierte es. Auch er blickte zweifelnd. Offenbar war er sich seiner bestimmten Aussagen auch nicht so ganz sicher. Er wechselte das Thema.

    „Wahrscheinlich hast du mit Dr. Rauber recht. Wir lassen Molly und Lisa zusammen auf die Südkoppel. Das wird den beiden sicher gefallen und warten ab, was Dr. Rauber sagt.“

    Nachdem sie noch eine kleine Weile am Frühstückstisch gesessen hatten und ihre zweite Tasse Kaffee geleert hatten, sagte Bernharda: „Los! Noch eine Runde!“

    Mit dem Kopfe zeigte sie auf die Krachmacher auf dem Dach der alten Kate.

    „Eins, zwei, drei“, zählte Kurt, diesmal noch schneller.

    Bernharda hatte sich Gewehr auf der Brüstung aufgelegt. Sie blickte durch das Zielfernrohr. Gleichzeitig suchte sie den Druckpunkt des Abzuges. Ihr Zeigefinger nahm den Druck auf. Ihr Körper spannte sich, und sie hielt den Atem an. Es ertönte ein kurzer, fast unterdrückter Knall. Die Federn der Elster stoben auf und schwebten langsam zur Erde. Von der Elster war nicht mehr zu sehen.

    „Gut?“, fragte Bernharda und blickte Kurt triumphierend an, „genau zwischen die Augen.“

    „Guter Schuss, zweifelsohne. Du hast die Elster einfach in Fetzen zerlegt. Ob zwischen die Augen? Ich weiß nicht recht? Ich glaube, der Treffer lag dafür etwas zu weit rechts.“

    Kurt lachte, konnte aber seine Bewunderung nicht verbergen.

     

    In diesem Augenblick trat Benny auf die Terrasse. Hinter ihm und neben ihm kam Daimler freundlich wedelnd mit auf die Terrasse. Daimler kannte Benny gut, und da Benny Hunde mochte, obwohl er Post austrug, mochte ihn auch Daimler.

    Bernd Lüderweiß war Postbote in Holdenheim. Er war so etwas wie die örtliche Nachrichtenzentrale des Ortes. Fast alle Nachrichten und Gerüchte liefen über Benny. Sollte eine Nachricht unter die Leute gebracht werden, so musste man die Nachricht nur Benny -natürlich unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit- anvertrauen, und man konnte sicher sein, dass jeder sie erfuhr.

    Mit großen Augen blickte er auf das Gewehr in Bernharda´s Hand. Bernharda sagte, „Hallo Benny. Guten Morgen“, dann drehte sie sich um und verschwand im Haus. Beiläufig hat sie noch die Waffe Kurts, die an der Wand lehnte, mitgenommen. Benny war überall zu Hause. Er legte einen kleinen Stapel Brief, schön der Größe nach geordnet, die großen ganz zu unten, auf den Tisch und setzte sich zu Kurt. Daimler legte sich zu seinen Füßen, damit er einige Streicheleinheiten abbekam.

    „Dürft ihr denn ein Gewehr haben? Ich dachte, das sei verboten“, fragte er in seiner direkten Art.

    „Natürlich dürfen wir. Wir haben die dafür notwendige Waffenbesitzkarte. Wir sind Jäger, und für unsere Jagd drüben brauchen wir Gewehre.“

    Kurt erklärte diesen Tatbestand in aller Ruhe und gelassen. Bis zwölf Uhr wusste jeder im Ort, dass die Unkers mit Gewehren auf Vögel ballerten.

    „Dürft ihr auch auf Vögel schießen?“

    Das hier war jetzt sehr interessant, und das wollte er genau wissen. Wissen macht interessant, und Benny wollte immer im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stehen, und wenn er Neuigkeiten zu berichten hatte, dann hörten ihm die Leute endlich einmal zu.

    „Als Jäger vielleicht schon, aber so eigentlich nicht. Aber die Elstern räubern häufig die Singvögelnester, und die Raben vermehren sich unkontrolliert.“

    Kurt seufzte. Das waren höchst fadenscheinige Argumente. Er wusste das, und er wusste, dass es auch Benny wusste, und damit auch die ganze Stadt.

    Aber was soll`s?, fragte er sich.

    Eigentlich ging es ja niemanden an, dachte er, wider besseres Wissen, denn die Leute ging immer alles an, auch wenn es sie nichts anging.

    Bernharda kehrte zurück. Sie hatte Ihre vorher zu einem Pferdeschwanz gebändigten Haare geöffnet und trug jetzt eine langärmelige Bluse und Halstuch dazu. Sie trug in der Öffentlichkeit ausschließlich ein Halstuch, ihre Haare offen und langärmelige Blusen. Die lange Nummer, die in ihren rechten Unterarm eintätowiert war sollte niemand zu Gesicht bekommen. Vielleicht war es weibliche Eitelkeit, oder sie wollte einfach die heimlichen, starren Blicke der Leute darauf vermeiden. Kurt dagegen, der eine ähnliche Tätowierung auf seinem rechten Unterarm trug, 1525 AD 0879, kümmerte sich um die neugierigen und fragenden Blicke nicht. Irgendwann wurde er von einer neugierigen Seele danach gefragt, „Schmuck“, hatte er geantwortet. Dann hatte er laut gelacht und sich dabei nach links und rechts umschauend vorgebeugt.

    „Frau Seidel, das war meine Kenn-Nummer, als ich im Konzentrationslager eingesperrt war“, flüsterte er verschwörerisch. Frau Seidel wusste bis heute nicht, was jetzt ernst gemeint war. Sie hatte sich entschlossen, nicht darüber zu sprechen.

    Bernharda stellte zwei Gläser und eine Flasche Apfelbrand auf den Tisch. Sie wusste, dass Benny gern ein Gläschen trank, auch zwei oder drei, abends häufiger auch viele.

    „Benny, schau mal! Siehst du den großen Baum schräg gegenüber oberhalb des Rains?

    Benny bejahte die Frage, obwohl er nicht sicher war, ob der Baum, den er meinte auch der Baum war den Bernharda meinte.

    „Dieser Baum gebar die Äpfel, die zu dieser Labsal veredelt wurden“, sagte sie, nicht ohne Stolz.

    „Wir sammeln jedes Jahr die Äpfel und bringen sie zur Brennerei. Dort werden sie nach unseren Wünschen in flüssiges Gold verwandelt.“

    Sie füllte die beiden Gläser, ihres halb und Bennys randvoll.

    „Zum Wohlsein, Benny“, sagte sie leicht erhobener Stimme. Auch Benny hob sein Glas mit drei Fingern.

    Routiniert, mit einer zackigen Bewegung schüttete er die Flüssigkeit über die Zunge.

    „Mmmhh, guut“, japste er nach Luft schnappend.

    Kurt trank niemals Alkohol. Er amüsierte sich, wie Benny nach Atem rang. Bernharda dagegen schien Wasser oder ein ähnlich mildes Getränk getrunken zu haben.

    „Ah“, gab Benny ein Geräusch des Wohlbehagens von sich. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte seine Beine, „das hier ist wie im Paradies.“

    Fasziniert wanderte sein Blick immer wieder auf den verkrüppelten Narbenrest, der einmal eine rechte Ohrmuschel war. Sie fehlte jeweils bei Bernharda und bei Kurt. Die Verletzung bei Bernharda war besser verheilt. Das heißt, bei ihr war die gesamte Ohrmuschel abgetrennt, während bei Kurt verkrüppelte und vernarbte Reste übrig waren. Bernharda versuchte die Blicke fern zu halten, indem sie ihr üppiges, lockiges Haar offen trug.

    „Habt ihr keine Angst, so allein und einsam zu wohnen?“ fragte Benny. Dabei schob er auffällig sein Glas in Richtung der Flasche hin.

    Bernhard schenkte sofort sein Glas voll.

    „Nein, warum auch?“, fragte sie zurück.

    „Wir würden uns zu verteidigen wissen“, fuhr sie fort. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Dabei wurde nicht klar, ob sie über den Gedanken angegriffen zu werden lächelte oder ob sie lächelte, weil Benny leicht blau anlief.

    „Sagen Sie, Benny, Sie sind immer gut unterrichtet. Was wird mit dem alten Haus dort unten?“

    Kurt zeigte auf das alte Gebäude unterhalb.

    Sofort setzte sich Benny auf und nahm aufrechte Haltung an. Er griff nach dem Stapel Brief, den er auf den Tisch gelegt hatte und zog einen Brief heraus.

    „Vom Bauamt“, sagte er wichtig, „da steht alles drin.“

    Sein Ton verriet, dass er genau wusste, was in dem Brief stand.

    Mit gespielt gespannten Gesicht sah er zu, wie Kurt den Brief öffnete und las.

    Kurts und Bernhardas Blicke trafen sich.

    „Dort unten sollen drei Apartmenthäuser, mit jeweils acht  Wohneinheiten und Tiefgarage gebaut werden. Wir werden davon in Kenntnis gesetzt und können Einsicht in die Pläne nehmen und werden um Stellungnahme gebeten.“

    Benny hatte geduldig gewartet.

    „Das werden Luxusapartments. Bei der Lage und der Aussicht gehen die weg wie warme Semmeln und zu jedem Preis“, erklärte er.

    „Aber das hier ist doch Landschaftsschutzgebiet“, sagte Kurt, langsam seine Fassungslosigkeit überwindend. Er konnte nur mit Mühe seine Wut unterdrücken.

    „Als wir damals den Stall vergrößern wollten, durften wir das aus eben diesen Gründen nicht.“

    „Der Stadtrat hat eine Ausnahmegenehmigung des Paragraphen 18 des Landespflegegesetzes erteilt. Das hat Thilo Altstädt beantragt, nachdem er dem Erben das Grundstück abgekauft hatte. Man munkelt von zwei Millionen Euro“.

    Benny war jetzt ganz in seinem Element. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, ohne den Blick von seinem leeren Glas zu wenden. Als Bernharda nicht darauf einging, schob er sein Glas zu ihr hin.

    „Nein, Benny, zwei reichen! Sie müssen noch fahren“, sagte Bernharda energisch. Sie räumte Flasche und Gläser in die Kühe.

    „Was werden Sie tun, Herr Unker?“, fragte er gerade heraus.

    „Wir werden die Pläne einsehen und mit Herrn Brandl vom Baurechtsamt sprechen“, antwortete Kurt nachdenklich.

    „Und was noch?“, Benny war wirklich neugierig.

    „Nichts weiter! Zunächst jedenfalls.“

    Kurt schaute auf das alte Haus und auf den Dachfirst, von dem sie noch vor wenigen Minuten die Raben geschossen hatten. Sie werden sich dann wohl ein anderes Ziel suchen müssen, wenn es überhaupt noch möglich ist zu schießen.

    Als Benny merkte, dass es keine weiteren Neuigkeiten zu erhaschen gab, erhob er sich, seine Runde fortzusetzen. Daimler begleitete ihn zu seinem Auto. Es warteten noch mehr Leute auf ihre Briefe und natürlich auf Bennys Geschichten, zum Beispiel über die Schießkünste von Bernharda und Kurt Unker.

    „Und?“, fragte Bernharda, als Benny mit seinem Postauto davon fuhr.

    Kurt las noch einmal das amtliche Schreiben.

    „Wir gehen auf das Bauamt und sprechen dort vor.“

     

    „Dort, auf der anderen Straßenseite ist ein Parkplatz“, rief Kurt und zeigte auf die leere Parkbucht. Bernharda zog den Rover mit quietschenden Reifen über die andere Fahrbahn in den Parkplatz. Auf das wütende Hupen des geschnittenen Audis antwortete sie mit einem Lächeln und einem Luftkuss. Der andere Fahrer reagierte mit einem unflätigen Fluch. Richtig wütend wurde er, als Kurt und Bernharda noch vor ihm über die Straße rannten, nachdem der den abgewürgten Motor gerade wieder in Gang gebracht hatte. Hinter ihm hupte jetzt ein weiterer Wagen, was den Fahrer des roten Audis noch wütender machte und er seinen Wagen noch einmal abwürgte. Nichts geht mehr an die Ehre eines deutschen Autofahrers, als wenn er seinen Motor beim Anfahren abwürgt. Aber zweimal hintereinander und dann noch Hupen der Fahrerin des hinteren Autos sind zu viel. Er schrie seine neben ihm sitzende Frau an und fuhr mit durchdrehenden, quietschenden Reifen davon.

    Herr Brandl stand sofort auf, als Bernharda und Kurt in sein Zimmer traten. Er bat sie, Platz zu nehmen. Nach einigen freundlichen einleitenden Worten sprach er lang und ausführlich. Er erklärte die Pläne und den Ablauf der Genehmigung. Die Dimensionen der Häuser waren wuchtiger als von Kurt befürchtet. Kurt meldete deswegen Bedenken an.

    Herr Brandl schüttelte mit dem Kopf.

    „Die Zustimmung im Bauausschuss und im Stadtrat sind rechtmäßig zustande gekommen. Die übergeordnete Behörde hat ebenfalls zugestimmt. Ich fürchte, da ist nichts zu machen. Natürlich können sie Rechtsmittel dagegen einlegen. Aber das ist ohne Aussicht. Die Rechtssicherheit ist bereits geprüft.“

    Mit beruhigenden, beschwichtigenden Worten geleitete er Herr und Frau Unker zur Tür und schloss sie hinter ihnen.

     

    „Sie waren gerade bei mir“, sagte Klaus Brandl in sein Handy.

    Sobald er Tür geschlossen hatte, war er zu seinem Schreibtisch geeilt und hatte seinen Freund Thilo Altstädt angerufen.

    „Sie werden natürlich Widerspruch einlegen, aber mach dir keine Sorgen, es ist alles rechtmäßig gelaufen. Und“, fügte er hinzu, „der Widerspruch geht über meinen Schreibtisch.

    „Ich mache mir keine Sorgen. Es war deine Aufgabe, das Projekt zum Laufen zu bringen. Vergiss nicht, ich habe ein kleines Apartment in Göttingen. Dein Sohn Robert will doch dort studieren, soviel ich weiß?“

    Thilo Altstädt sprach ruhig und geschäftsmäßig.

    „Freunde müssen zusammen halten, nicht wahr, mein Freund.“

    Dabei betonte er das Wort Freund besonderer Art und unmissverständlicher Weise.

    „Natürlich“, beeilte sich Klaus Brandl zu versichern.

     

    Nach dem Telefonat mit Brandl ging Thilo Altstädt zur Tür.

    „Herr Fichter? Haben sie einen Moment Zeit?“

    Nach mehreren unschönen Episoden mit seinen Sekretärinnen, die glaubten, ihre Position durch den Einsatz erotischer Köder verbessern zu können und einem höchst peinlichen Zwischenfall mit seiner letzten Sekretärin, die nach Feierabend splitternackt auf seinem Schreibtisch lag und die er ebenso splitternackt aus seinem Büro geworfen hatte, genau in dem Moment, in dem die Putzkolonne vorbei kam, hatte er sich für einen Sekretär entschieden.

    Herr Fichter hatte sich auf Anhieb als Glücksfall herausgestellt. Als Mann hatte er ähnliche Denkmuster, er wusste sofort auf welche Details Thilo Wert legte. Herr Fichter genoss das vollste Vertrauen seines Chefs. Thilo war sich durchaus bewusst, dass es unter Männern zu Konkurrenzsituationen kommen kann. Aber die Hierarchie im Betrieb war eindeutig und unantastbar. Sie wurde auch genauso respektiert. Ansonsten achteten sie einander. Privat wusste Thilo von Herrn Fichter nur, dass er geschieden war und zwei Kinder hatte, die er abgöttisch liebte, und dass er mit einer Partnerin zusammen lebte. Mehr interessierte ihn auch nicht. Mehr wurde auch nicht mitgeteilt. Beide hassten diese kumpelhaften Männergespräche.

    „Herr Fichter! Prüfen sie bitte, wann der nächste Mietvertrag eines unserer Apartments in Göttingen ausläuft und kündigen sie fristgerecht. In der Sache Fuldablick rufen sie Herrn Reitmaier an, und bitten sie ihn, ein weiteres Gebäude zum Wald hin zu planen und als Bauvorhabenänderung dem Bauamt in Holdenheim zur Genehmigung vorzulegen.“

    „In Ordnung, Herr Altstädt“.

    Thilo wusste, das läuft.

     

    Vor Jahren, als Thilo in erster Linie Sohn aus wohlhabendem Haus war, genoss er bei der Damenwelt höchstes Wohlwollen und Aufmerksamkeit. Dabei war ihm alles Denkbare, was zwischen Mann und Frau zum beidseitigen und manchmal einseitigen Genuss beiträgt, angeboten, und er hatte fast alle dieser Angebote angenommen und ausgelebt. Auf dem Gebiet des zwischengeschlechtlichen, erotischen Austauschs war ihm nichts fremd, und ihn konnte ihn nichts mehr überraschen. Er genoss dieses Leben, wie sein Vater ihm immer wieder vorwarf, das Lotterleben in vollen Zügen, bis, ja bis er Michelle begegnete. Thilo liebte Paris, und er liebte es am frühen Abend durch die einzelnen Quartiere zu schlendern und sich einfach treiben zu lassen. Häufig wurde ihm zugenickt, und stets grüßte er zurück. Manchmal sprach er ein paar Worte mit den Menschen dort. Einmal, es war August, und Paris war voller Touristen, schlenderte er im Boraugh Butte Montmarte. Dies ist ein Viertel, das vorwiegend von Farbigen und Zuzüglern bewohnt wird.

    Als er durch die Rue Paul Albert schlenderte, begegnete ihm eine groß gewachsene Dunkelhäutige. Wie angewurzelt blieb er stehen und drehte sich um. Es war nicht seine Art, sich nach Frauen umzudrehen und ihnen hinterher zu gaffen. Schon gar nicht ihnen hinterher zu gehen. Diesmal tat er es. Nach wenigen Metern blieb die Frau stehen und drehte sich ebenfalls um. Ihre Blicke trafen sich. Thilo ging einfach auf sie zu. Berührungsängste kannte er nicht. Er fragte sich freundlich, ob sie ihn nicht auf den Sacre Coeur begleiten wolle. Ihre großen, weißen Augen wurden noch größer. Bis heute ist Thilo der Meinung, dass sie gegen ihren eigentlichen Willen nickte. Jedenfalls gingen sie zusammen die unendlichen Treppen zur Basilika hinauf.

    Oben angekommen setzten sie sich auf eine der Stufen, zwischen die vielen anderen Menschen, die dort schon saßen. Von hier hat man einen herrlichen Blick über die Dächer von Paris. Es dämmerte, und es wurde Nacht. Jetzt war Paris eine unglaubliche Lichterarena. Es wurde später und später. Die Lichter der Stadt wurden weniger, die Menschen auf den Treppen verliefen sich, Paris ging schlafen. Irgendwann saßen nur noch zwei Menschen auf der Treppe ziemlich weit oben. Ob die beiden etwas von dem Blick über Paris und der Veränderung des Anblick im Laufe der Nacht mitbekommen haben, können sie nicht mehr sagen. Als es wieder heller wurde, so gegen halb vier Uhr, saßen sie noch immer dicht nebeneinander und redeten und sprachen und erzählten. Bevor die Sonne aufging, standen sich auf und verabschiedeten sich. Jeder hatte zu Hause noch etwas zu erledigen. Genau eine Woche später wollten sie sich hier auf der Treppe wieder treffen.

     

    Eine Woche später stieg Thilo aufgeregt zum Treffpunkt empor. Er war gute zwei Stunden zu früh, aber als er oben ankam, saß Michelle schon da und wartete. Ohne Worte setzte er sich rechts neben sie. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest, und hat sie bis heute nicht mehr los gelassen.

    Seither war Thilo der glücklichste Mensch. Nur die Sorge um seine Familie drückte ihn ab und zu schmerzlich.

    Durch seine Familie ist Konstanz in sein Leben getreten. Nach der verantwortlichen Übernahme des Baugeschäfts hatte sich viele geändert. Einerseits war der familiäre Charakter des Unternehmens, es gab Mitarbeiter, die in dritter Generation hier arbeiteten, geblieben, und Thilo legte größten Wert darauf, dass es so blieb. Er hatte für die Nöte, Sorgen und Probleme, auch privater Natur, seiner Mitarbeiter immer ein offenes Ohr und versuchte zu helfen, wenn es in seiner Macht lag. Andererseits bediente sich Thilo sehr zum Unwillen seines Vaters moderner Geschäftsmethoden, die die Wirtschaft in Deutschland schlagkräftig und erfolgreich gemacht hatten: Korruption, Bestechung, nur in Deutschland sind Bestechungsgelder steuerlich absetzbar, Hand-in-Hand-Geschäfte, Erpressung, Bedrohung hinlänglich und ließ nichts aus, wenn es seinem geschäftlichen Vorteil diente. Irgendwie fühlte er sich wie ein Patriarch einer großen Familie, für die er verantwortlich war und für die er etwas tat und von der er viel für sich erwartete.

    Er kannte zwei Damen, eine aus Kassel und eine aus Frankfurt, deren Dienste sich einige der Holdenheimer Honoratioren oder Beamte gern und regelmäßig bedienten, obwohl sie Frau und Kinder hatten, die von diesen Vorlieben nichts wussten. Das blieb unter Männern, genau wie Entscheidungsfindungen in den entsprechenden Gremien und im Stadtrat zu Gunsten von Thilo oder der Altstädter Baugilde.

    Selbstverständlich war Thilo Mitglied in diversen Vereinen, die er auch häufig finanziell unterstützte, und natürlich in der freiwilligen Feuerwehr, der heiligen, aber wichtigsten Instanz einer Stadt. Kurzum Thilo Altstädt war ein gern gesehener, beliebter Mann der Gemeinde.

    Würde man ihn dagegen fragen, ob er an die große Liebe glaube, so hätte er ohne nachzudenken laut und deutlich mit Ja geantwortet. Genauso wie er auf die Frage nach der Liebe auf den ersten Blick geantwortet hätte. Er hätte ein riesiges Zustimmungsgebrüll veranstaltet.

     

    Natürlich hatten Unkers Widerspruch gegen den Baubescheid eingelegt, fristgerecht am letzten Tag. Einen Tag später schon brachte Benny die Antwort, überraschend schnell für eine deutsche Behörde.

    Bernharda war bei den Pferden und Daimler mit ihr, und so musste Benny mit Kurt vorlieb nehmen, der ihn an den Tisch bat und ihm einen Kaffee anbot. Benny hatte auf Höherprozentiges gehofft.

    „Heute nur ein Brief“, sagte er, „sicher die Ablehnung Ihres Widerspruchs“.

    Benny war gut informiert.

    Kurt legte den Brief zur Seite. Er überlegte es sich aber und öffnete ihn.

    Wohlformuliert und unter Berücksichtigung und Würdigung aller Aspekte wurde der Widerspruch abgelehnt.

    Benny schaute immer wieder durch das Fenster zu den Pferden. Aber Bernharda, die er in Wirklichkeit auf dem Weg zum Haus hoffte, konnte er nicht erblicken.

    „Werden Sie wegen der Ablehnung zu einem Anwalt gehen? Manchmal lohnt es sich schon. Bei Familie Willem hat das Gericht eine Ablehnung gekippt. Die durften danach ihre Videothek erweitern, obwohl der Anbau abgelehnt worden war.“

    Benny war im Sammeln von Informationen und im Herausleiern derselben ein Profi.

    Kurt hab nichts sagend die Hände und Schultern, „Mal sehen.“

    Nach einer kurzen schweigsamen Minute fragte er Benny: „Nicht doch einen Kaffee? Die Kanne ist noch halb voll.“

    Wieder blickte Benny durch das Fenster zur Pferdekoppel. Bernharda´s Brand war allemal besser als ein Kaffee.

    Langsam sagte er, „Nein, lieber nicht. Ich habe schon Kaffee getrunken. Der Magen, wissen sie. Er verträgt kein zu viel an Kaffee.“

    Benny schindete Zeit. Langsam sah er ein, dass er heute keinen Schnaps bekommen würde.

    „Ich muss jetzt wieder gehen und mich beeilen.“

    Im Hinausgehen meinte er entschuldigend, „Ich habe heute eine große Runde.“

    Kurt setzte sich an den Tisch. Er las das amtliche Schreiben erneut. Er wusste genau den Inhalt oder besser die Aussage. Entschlossen stand er vom Tisch auf und ging zum Kühlschrank, ein riesiges, rotes Monstrum von Bosch. Die Tür des Kühlschrankes diente zusätzlich als Pinboard. Kurt hob einen Magneten, zog den Zettel weg und ließ den Magneten mit einem lauten Klacken zurück fliegen. Er hob das Telefon und wählte die Nummer, die auf dem Zettel vermerkt war.

    „Unker hier! Guten Tag. Ich brauche einen Termin für eine Rechtsauskunft. Ihre Sozietät ist uns empfohlen worden. Bitte verbinden sie mich mit Dr. Ziegelroth. Unker ist mein Name.“

    Kurt wartete geduldig, bis sich Dr. Ziegelroth meldete.

    „Herr Dr. Ziegelroth, ich rufe Sie auf Grund eine Empfehlung an und möchte Sie um eine Rechtsauskunft über ein genehmigtes Bauvorhaben im Landschaftsschutzgebiet bitten. Ich brauch nur die Auskunft. Es wird kein Folgemandat geben.“

    Kurt sprach bestimmt.

    Dr. Ziegelroth schien empört und konstatiert.

    Unbeeindruckt fuhr Kurt fort, „Berechnen sie uns den Höchstsatz. Abgemacht?“

    Das war weniger eine Frage.

    „Gut“, sagte der Anwalt jetzt.

    Herr Dr. Ziegelroth hatte sich wieder beruhigt.

    „Schicken Sie mir die entsprechende Vereinbarung.“

    Kurt schien solche Situationen zu kennen.

    „Mit der unterschriebenen Vereinbarung erhalten Sie auch die entsprechenden Unterlagen.“

    Sie sprachen noch kurz über den Fall, dann sagte Kurt: „Ich denke, dass Sie die Unterlagen in 14 Tagen prüfen können. Der Angelegenheit ist sicher nicht sehr kompliziert.“

    Herr Ziegelroth sprach noch einige Minuten, und Kurt hörte geduldig zu.

    „Gut, dann nennen Sie mir gleich einen Termin.“

    Wieder übte sich Kurt in Geduld. Dr. Ziegelroth musste schließlich noch in seinen Terminkalender sehen und bei seiner Sekretärin nachfragen.

    „Mittwoch, also heute in 14 Tagen um 9 Uhr.“

    „Ja, das passt mir“, antwortete Kurt und beendete das Gespräch.

    Nach Beendigung des Telefonats holte er die Unterlagen. Zusätzlich schrieb er eine kleine Stellungnahme und machte die Unterlagen fertig. Wenn die Vereinbarung eintraf, sollte alles fertig sein. Kurt hatte mit einer Ablehnung des Widerspruchs gerechnet. Aber nicht so schnell, ja überschnell. Da hatte es jemand sehr eilig und hatte die Ablehnung schon vorbereitet, sie musste nur noch zur Post.

     

    Pünktlich stiegen Bernharda und Kurt den hellen Absatz zum Portal des gläsernen Geschäftshauses hinauf. Zum Glas war viel Chrom und Marmor verbaut. Die Mieter mussten großen Wert auf Äußerlichkeit legen, die ausgezeichnete Geschäfte, gute Verdienste und vor allem Kompetenz suggerieren. Ein Glasaufzug an der Außenseite des Gebäudes geklebt, brachte sie in den fünfzehnten Stock.

    Die Sekretärin oder besser das Model zum Empfang der Klienten begrüßte sie freundlich, fast wie Bekannte. Sie war offensichtlich gut geschult. Es war wie so häufig im Leben: man sollte nicht von der Äußerlichkeit auf die Intelligenz schließen. Die Dame war blond, naturblond, schien ihrer Aufgabe durchaus gewachsen. Wie sich später herausstellte, war sie die Sekretärin im engeren Sinn, also die Vertrauensperson, die alles im Griff und den Überblick hatte und die nicht hoch genug dotiert sein kann, wenn man das Glück hat, eine solche eine Person zu beschäftigen. Dr. Ziegelroth war noch nicht anwesend. Die Blonde, Frau Huber, fragte nach den Namen. Dann erhob sie sich von ihrem Nussbaumschreibtisch und führte Bernharda und Kurt in einen kleinen, heimeligen Warteraum, mit traumhaftem Blick über die Stadt. Kurt warf einen wohlwollenden Blick auf die blonde Frau, die vor ihnen her ging. Zum ersten Mal sah er eine Frau in einem mittelblauen Hosenanzug, der elegant und perfekt kleidete und nicht aussah wie eine mehrfach gebrauchte Empfangsuniform, die bei den Besuchern regelmäßig Übelkeit erzeugte.

    Frau Huber fragte natürlich nach, ob Kaffee, Tee oder Wasser und dazu vielleicht ein Croissant gewünscht würde. Sie fragte auch nach, ob sie schon Vorbereitungen für die Gespräch erledigen könne.

    Jetzt öffnete Herr Dr. Ziegelroth die Tür zu seinem Zimmer. Er musste über einen separaten Eingang die Kanzlei betreten haben. Herr Dr. Ziegelroth war ein schlanker, groß gewachsener Mann in den Enddreißigern. Die blonden Haare streng geschnitten, mit einer längeren Strähne, die ihm immer wieder ins Gesicht fiel. Der hellgraue Anzug aus englischen Tuch, wahrscheinlich auch in London, Oxford Street, maßgeschneidert, ließ ihn wie einen englischen Sportsman aussehen: Eine Vertrauensperson und eine Respektsperson. Einen Schlips oder eine sogenannte Krawatte trug Herr Ziegelroth nicht, solche einen Schlaffphallus hatte er nicht notwendig.

    Als er zuerst Bernhard begrüßte, blickte er ihr lange in die Augen. Es war kein Anmaßen, es war ein prüfender, freundlicher Blick, eine Einschätzung. Der Mann glaubte an seine Menschenkenntnis. Für Kurt hatte er ebenfalls einen längeren Händedruck, verbunden mit diesem Prüfblick, nur der Druck war deutlich fester. Ein Männerhändedruck. Nach ein paar einleitenden Worten, wie die Fahrt gewesen sei und ob sie das Haus gleich gefunden hätten, bat er sie in sein Zimmer. Frau Huber schloss hinter ihnen die Tür, von draußen. Nachdem sich jeder gesetzt hatte, blickte er erneut auf seine Klienten, diesmal war der Blick ein anderer. Es war ein Blick, der auf seine Ausführungen hinleiten sollte. Dieser Mann beherrschte die nonverbale Kommunikation. Diesen Menschen mochte man vor Gericht nicht zum Gegner haben. Die eigenen Interessen zu vertreten, war er der richtige Mann.

    Leise sprechend begann er.

    „Ich will nicht viel herum reden. Der Beschluss ist rechtskräftig und auch rechtmäßig zustande gekommen. Einen Formfehler konnte ich auch nicht finden. Die Sache ist höchst sonderbar und ungewöhnlich. Aber, wie bereits gesagt, unantastbar. Ich habe den Eindruck, sie war bestens eingefädelt. Da griff ein Rädchen in das andere. Das wurde so nicht zum ersten Mal gemacht. Das war richtig professionell durchgeführt. Ich sehe keine Möglichkeit, die Bebauung zu verhindern. Verzögern vielleicht, aber dafür zahlen Sie einen hohen Preis.“

    Wieder schaute er von Bernharda zu Kurt und zurück. Diesmal war sein Blick mitleidsvoll, fast entschuldigend. Er wäre sicher gern zu einem anderen Ergebnis gekommen.

    Er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum, Kurt und Bernharda zu verabschieden. Es sollte nicht unnötig seine Zeit beansprucht werden. Während er sie zur Tür begleitete, Blondinchen öffnete ihnen die Tür zum Treppenhaus, sagte er abschließend: „Wenn sie keine Eigentumsansprüche geltend machen können“, er ließ den Satz offen stehen.

    Kurt blieb stocksteif stehen. Abrupt drehte er sich um, strahlend ergriff er die Hand des verdutzt dreinschauenden Anwalts und schüttelte sie kräftig.

    „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass Sie der Richtige sind. Danke, Sie haben uns sehr geholfen“.

    Herr Dr. Ziegelroth verstand nicht ein Wort. Verständnislos schüttelte er den blonden Schopf, hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Nun gut, was soll´s, dachte er und ging zurück.

    Kurt legte seinen Arm um Bernhardas Schultern und schob sie zum Glasaufzug hin.

    „Die Südwestspitze! Verstehst du?“ fragte er.

    „Natürlich, die Spitze zum Alten Kloster hin gehört uns.“

    Bernhard hatte sofort begriffen.

     

    Auf der Straße trennten sie sich. Jeder wollte in Frankfurt etwas bummeln. Für zwölf Uhr hatten sie sich in der Brasseri ici verabredet. Dort, das war die unumstößliche Meinung Bernhardas, gab es das authentischste französische Essen in ganz Deutschland.

     

    Knapp acht Wochen später zog eine Karawane von Baufahrzeugen über die Bergkuppe entlang des Grundstücks und entlang der Friedhofsmauer vom Alten Kloster.

    Als Kurt den Tross bemerkte, zog er sich schnell an und fuhr mit dem Rover quer über die Wiese hinunter zum Alten Kloster. Hier an dieser Stelle lief das Grundstück spitz aus. Gegenüber, entlang des Weges lief die Friedhofsmauer und ging in einem ebenso spitzen Winkel in die Kirchenruine des Klosters über. Jetzt, nachdem das Kloster über einhundertfünfzig Jahre aufgegeben war, standen nur noch die Außenmauern. Alles war eine Ruine, aber eine Ruine, die unter Denkmalschutz stand. Selbst ein normaler Pkw hatte Mühe, um diese Spitze herum zu kurven. In den letzten Jahren ist deshalb jeder quer über die Eck des Unkerschen Grundstücks gefahren, und es hatte sich dort im Laufe der Zeit eine Fahrrinne gebildet, die jeder benutzte, wenn er zum alten Haus wollte wie Benny in den letzten Jahren regelmäßig und der Pflegedienst Heiland, zweimal täglich.

    Das alte Haus sollte jetzt zu Gunsten von Luxusappartements mit Blick über die Fulda und weit ins Tal hinein fallen.

    Kurt fuhr genau in diesen Spitz. Er zog sein Regencape über und setzte sich auf die nasse Motorhaube. Der Regen goss Wassermassen über die Landschaft und hatte alles aufgeweicht.

    Das erste Baufahrzeug hielt direkt am Range Rover vor der Kurve. Der Rest der Fahrzeuge stockte ebenfalls. Tobias Czuszius, ein grobschlächtiger Kerl, stieg fluchend aus seinem Laster.

    „Hey“, rief er, „was soll das. Mach den Weg frei!“

    Dabei stapfte er auf Kurt zu.

    „Los! Aus dem Weg, sonst helfe ich nach, und es gib was auf die Mütze“.

    Drohend stand er vor Kurt.

    Kurt blieb ruhig und machte keine Anstalten auf zustehen und den Weg frei zu geben.

    „Hey Mann, verpiss dich“, dabei hob Tobias drohend die Faust. Er hob sie, als würde er häufiger damit seine Argumente bekräftigen. Er war für seine Schlagkräftigkeit bekannt und gefürchtet.

    Langsam und umständlich stieg Kurt von seinem Wagen.

    „Dies ist hier unser Grundstück. Sehen sie den Holzpflock dort“, er zeigte auf einen rot angemalten Holzpflock, der ganz an der Spitze des Grundstück eingeschlagen war, „genau bis dorthin geht das Grundstück. Ohne meine Erlaubnis fährt hier niemand darüber.“

    Tobias` Blick folgte dem zeigenden Finger. Jetzt bemerkte er den Pflock und wurde unsicher.

    „Wirklich?“, fragte er hilflos.

    Er war ein guter Arbeiter, aber Denken war nicht seine Stärke.

    „Wirklich, mein Junge“, antwortete Kurt ruhig.

    Tobias wurde durch die respektlose Anrede wütend, aber er war der Situation nicht gewachsen. Einen Fluch ausstoßend ging er zum Fahrerhaus zurück und wählte mit dem Handy die Nummer seines Chefs. Er erklärte kurz die Situation und fragte, was zu tun sei.

    „Habe ich das richtig verstanden? Er sagt, das sei sein Grundstück an der Ecke? Das ist gelogen. Ich war häufiger auf dem Grundstück. Die Straße verläuft dort entlang und macht eine Kurve um die Ecke, die schon immer so benutzt wurde. Reden Sie noch einmal mit ihm“, antwortete Thilo.

    Tobias stieg wieder aus seinem Fahrerhaus in den Regen. Im Morast rutsche er fast aus. Wieder ein Grund für einen kräftigen Fluch. Das Handy hielt er in der linken Hand.

    „Mein Chef, Herr Altstädt, den kennen Sie sicher, sagt Sie sollen endlich den Weg frei machen, oder er ruft die Polizei.“

    Tobias hatte bei der Erwähnung des Namens seines Chefs wieder an Selbstsicherheit gewonnen.

    „Nein“, antwortete Kurt ruhig und bestimmt.

    „Jetzt machen Sie den Weg frei, es hat doch keinen Sinn. Mit einem einzigen Schlag ist Ruhe im Karton. Also!“

    Tobias kam drohend näher und hob seine geballte Faust.

    Kurt ging ebenfalls einen Schritt auf Tobias zu. Ziemlich durchnässt standen sich die Männer gegenüber. Einer vor schlecht beherrschter Wut zitternd, der andere kalt und ruhig. Beiden maßen einander. Ganz langsam zog Kurt seine rechte Hand unter dem Regenponcho hervor. Ungläubigkeit und Angst zeichneten das Gesicht von Tobias. Normalerweise ließ sich Tobias von einem Messer nicht beeindrucken, schon gar nicht von so einem kleinen Messer. Trotzdem ging er angstvoll Schritt für Schritt zurück. Es war nicht das kleine Messer, das im Angst einjagte, es war dieser ruhig und gelassen wirkende Mann, der, obwohl fast einen Kopf kleiner, ihm weit überlegen schien, und wie er das kleine Messer in seiner Hand hielt und wie es auf seine Niere zeigte. Insgesamt war das kleine, gemeine und hinterhältig aussehende Messer, mit der leicht gebogenen, doppelseitig geschliffenen Spitze, eine fürchterliche Waffe, glaubte er. Beim letzten Schritt rutsche er aus und saß mit dem Popo im Matsch. Seine Augen weiteten sich, und blasse Angst ergriff ihn. Kam jetzt der Angriff? Langsam kam Kurt näher. Auf allen Vieren krabbelte Tobias zurück. Er rappelte sich auf und sprang in sein Führerhaus.

    „Er gibt nicht nach und hat mich mit einem Messer bedroht. Chef, was soll ich tun?“

    „Sind Sie ein Mann oder was? Schieben Sie ihn mit ihrem Laster zur Seite! Das ist ein Befehl, Menschenskind.“ Thilo war am Telefon immer lauter geworden.

    „Ich versuch´s Chef“, stammelte Tobias.

    Nach wenigen Minuten klingelte das Telefon erneut.“

    „Was zum Teufel ist jetzt wieder los“, schrie Thilo ins Telefon.

    „Der Mann hat die Reifen aufgeschlitzt.“

    „Was hat der gemacht?“ schrie Thilo ungläubig.

    „Er hat beide Vorderreifen seitlich aufgeschlitzt“, wieder holte Tobias.

    „Scheiße, Scheiße“, brüllte Thilo.

    „Chef, was soll ich machen? Die anderen stehen nur herum und tun nichts.“

    „Nichts, tun Sie nichts. Verdammt noch mal. Ich komme sofort“.

    Thilo rannte sofort los.

    Nach nicht einmal einer halben Stunde brauste ein Mercedes MG 350 in halsbrecherischem Tempo neben der Kolonne herunter. Thilo schlüpfte schnell in seine Gummistiefel und zog seine derbe Regenjacke über. Auf einen Schirm verzichtete er. Seine Haare klebten sofort an der Stirn fest. Er kümmerte sich nicht darum.

    Sofort ging er entschlossen auf Kurt zu.

    „Was ist hier los“, schrie er schon, bevor er vor Kurt stand. Lässig und ruhig, die rechte Hand hinter seinem Rücken verborgen, kam Kurt ihm entgegen.

    „Das hier“, Kurt deutete auf das Grundstück und die Spitze, dabei zeigte er auf den Holzpflock, „bis dort ist unser Grundstück“.

    Kurt machte eine kleine Pause.

    „Sie verstehen? Sicher verstehen Sie!“

    Thilo blickte weiter zu dem roten Holzpflock. Dann ging er zu dem Pflock und stellte sich daneben. Er schaute sich die Gegebenheit genau an. Ihm war sofort klar, das vielleicht ein PKW mit Rangieren hier um die Kurve kam, aber unter keinen Umständen eine Baumaschine oder ein großer Lastwagen. Ohne das Grundstück zu befahren ging hier nichts. Das war ihm sofort klar.

    „Der Weg macht hier eine Kurve. Das war schon immer so. Ich sehe nicht ein, warum das jetzt plötzlich nicht mehr gelten soll.“

    Thilo war von seinen eigenen Worten nicht überzeugt.

    „Ohne unsere Erlaubnis darf hier niemand über unser Grundstück fahren“.

    Kurt wies Thilo sachlich auf die Tatsachen hin.

    Thilo kickte den Pfahl meterweit in die Wiese. Fast wäre er dabei ausgerutscht. Er konnte gerade noch sein Gleichgewicht halten.

    „Sie! Wissen Sie was sie mich können? Sie können mich gern haben. Ich muss auf das Grundstück, und ich werde auf das Grundstück kommen.“

    Kurt stellte ich ganz dicht vor Thilo und blickte ihn fest an.

    „Bisher wurden nur Reifen aufgeschlitzt. Es könnten auch einmal Bäuche sein; Ihrer zum Beispiel. Wer unser Grundstück betritt ohne unsere Erlaubnis, begibt sich in Gefahr. Übrigen dürfen Sie und Ihre Baumaschinen das Grundstück nicht einmal berühren. Haben Sie verstanden?“

    Jetzt war der Ton drohend und entschlossen.

    Thilo hatte die Änderung wohl bemerkt.

    „Gut, gut“, beschwichtigte er, „ich werde das prüfen. Aber eins müssen Sie sich klar machen. Ich bekomme immer, was ich will. Machen Sie mich nicht zu ihrem Gegner.

    „Damit machen Sie mir keine Angst, Herr Altstädt. Aber Sie sollten mich genauso wenig zum Feind zu machen. Meine Gegnerschaft ist zum Spielen schon gefährlich genug, aber meine Feindschaft kann tödlich sein.“

    Kurt hatte diese Drohung ruhig und gelassen ausgesprochen, als bemerke er, dass die Sonne täglich aufgeht.

    Thilo war irgendwie beeindruckt und schluckte trocken.

    „Und jetzt trollen Sie sich!“

    Kurt schubste Thilo so, dass er wieder nach seinem Gleichgewicht suchte. Wütend und innerlich aufgewühlt ging Thilo zu seinem Wagen. Er schlüpfte aus den Gummistiefeln. Mit drehenden Reifen fuhr er los, die Gummistiefel ließ er im Morast stehen.

     

    Direkt vor der Aufgangstreppe zum Gebäude, in dem das Bauamt untergebracht war, hielt Thilo mit quietschenden Reifen. Ohne abzuschließen rannte er in den ersten Stock, und ohne anzuklopfen polterte er in das Zimmer seines Freundes Klaus Brandl.

    „Sag bloß, dass das stimmt, dass das Grundstück in der Kehre beim Alten Kloster ist nicht befahrbar, sondern gehört zum Grundstück der Unkers.“

    Thilo schnarrte grußlos los.

    Klaus Brandl war überrascht und ahnungslos.

    „Von was, bitte schön, redest du? Jetzt setzt sich erst einmal.“

    Klaus Brandl stand auf uns schloss seine Bürotür.

    „Ich will mich aber nicht setzten“, brüllte Thilo.

    „Ich will wissen, ob es stimmt, dass ich die Ecke nicht befahren kann.“

    „So beruhige dich doch! Erzähl in aller Ruhe, was ist los. Ich verstehe kein Wort.“

    Thilo setzte sich.

    „Ich kann beim Alten Kloster nicht um die Kurve fahren. Mit meinen Fahrzeugen schon gar nicht. Der Unker behaupt, dass diese Ecke ihm gehört.“

    Thilo wurde wieder wütend.

    „Kann ich mir nicht vorstellen. Der Weg machte schon immer dort eine Kurve. Jeder fuhr so, wenn er zur Alten wollte.“

    Klaus Brandl lehnte sich beruhigen zurück.

    „Los, schau im Grundbuch nach. Ich will es wissen. Ich muss es wissen. Sofort!“

    Thilo war wieder laut geworden.

    Klaus Brandl suchte das entsprechende Register im Computer. Plötzlich wurde er blass.

    „Tatsächlich! Es stimmt“, sagte er merklich kleinlaut.

    „Das Grundstück geht dort fast bis zu den Mauern des alten Klosters. Nur ein enger Streifen von 165 cm ist öffentlich als Zufahrtsweg eingezeichnet.“

    Thilo war aufgesprungen und hatte den Monitor herumgerissen.

    „Für was bezahle ich dich eigentlich, wenn dir solche Sachen entgehen? Du Stümper! Wie komme ich jetzt auf das Grundstück? Hey, ich frage dich etwas: wie komme ich mit meinen Maschinen auf das Grundstück? Jetzt hat es dir die Sprache verschlagen. Können wir die Friedhofsmauer einreißen. Vorübergehend wenigsten?“

    „Nein, das geht nicht. Es geht vieles, aber das geht absolut nicht. Die ganz Anlage steht unter Denkmalschutz.“

    Klaus Brandl zog sich schützend hinter der sachlichen Erklärung zurück.

    „Was sollen wir jetzt tun?“

    Thilo hatte seinen Oberkörper weit über den Schreibtisch gebeugt. Er sah aus wie ein angriffslustiger Kampfhund.

    „Es gibt nur eine Möglichkeit.“

    Thilo hatte sich aufgerichtet.

    „Ich bin gespannt“, sagte er um Ruhe in seiner Stimme bemüht.

    „Du musst dich mit dem Eigentümer des Grundstückes einigen. Entweder du kaufst die Ecke oder du bezahlst einen Obolus für die Überfahrt deiner Fahrzeuge.“

    Brandl atmete auf, er hatte die Lösung gefunden.

    „Klaus, mein Freund, du meinst, es gibt keine andere Möglichkeit?“ fragte er skeptisch. „Doch, mit dem Hubschrauber, aber dafür bekommst du auch keine Genehmigung. Nein, es gibt keine andere Möglichkeit.“

    Thilo drehte sich um: „Niete.“

    Frau Hauser, die Politesse hob gerade den Scheibenwischer, um ein Strafmandat dahinter zu klemmen.

    Das war genau das, was Thilo jetzt gebrauchen konnte. Er riss den Überweisungsträger in Fetzen und warf sie vor die Füße von Frau Hauser.

    Ohne auf die anderen Verkehrsteilnehmer zu achten, fuhr er auf die Straße. Während des Fahrens rief er in der Firma an.

    „Herr Fichter, habe ich heute noch wichtige Termine?“

    „Nein? Dann fahre ich für heute nach Hause.“

    Zu Hause stapfte er sofort in das Badezimmer hinter der Garage. Hier zog er sich aus, um keinen Schmutz ins Haus zu tragen. Michelle sah sofort, dass sich Thilo geärgert hatte.

    „Gehst du laufen?“ fragte sie.

    „Ja“, antwortete Thilo kurz angebunden.

    Immer wenn er sich geärgert hatte, joggte er eine große Runde. Das reinigt die Gedanken, sagte er immer. Nicht zufällig führte in sein Weg diesmal über den Hohen Rücken zum Grundstück und zum Alten Kloster. Das Grundstück war nur über diesen einen Zufahrtsweg zu erschließen. Auf der linken Seite lag der Wald mit dem Taleinschnitt. Südlich fiel der Rücken steil ab, und westlich stand das Alte Kloster. Nördlich lag das ehemalige Anwesen, das ursprünglich einmal dem Kloster gehört hatte. Vor über hundert Jahren wurde das Kloster aufgelöst. Heute gehörte alles den Unkers. Thilo rannte weiter. Die Situation war wirklich so, dass er über das Grundstück musste. Gut, dachte er, dann kaufe ich ihnen das Stück ab.

    Nach zwei Stunden kam er zurück nach Hause. Er duschte und zog sich für die Familie um. Erst jetzt bekamen Lisa, Lena und Leon den Begrüßungskuss.

    Später, als die Kinder im Bett lagen, ihren Gute-Nacht-Kuss erhalten hatten und schliefen, fragte Michelle, „Probleme?“

    „Probleme gibt es immer wieder. Man muss sie nur zu lösen wissen.“

    Thilo war wieder ruhig und gelassen. Er liebkoste seine Frau. Die Situation war geklärt, Vorerst wenigstens. Er musste mit den Unkers verhandeln.

    „Machst du dir Sorgen?“

    Michelle ließ nicht locker.

    „Ich mache mir keine Sorgen, und du solltest dir auch keine mache. Es sind keine Probleme, die man nicht lösen könnte. Ich werde sie jedenfalls lösen. Um jeden Preis“, fügte er noch an.

    Schon am nächsten Morgen würde er zum Herrenhaus fahren und die Sache zu einem Abschluss bringen. Michelle kuschelte sich an ihren Mann, der sie fest an sich drückte.

     

    Am nächsten Morgen, nach dem zweiten Frühstück, das Michelle und er stets noch genossen, nachdem die Kinder in der Schule waren, fuhr Thilo zum Herrenhaus. Er bog von der Straße und fuhr den Weg hinunter. Schon von weitem sah er Bernharda und Kurt über die Wiesen reiten. Eigentlich war es kein Reiten, sondern Galoppieren. Die Pferde waren schweißnass und ihre Reiter ebenso. Daimler, der das Wettrennen mit den Pferden liebte und jedes Mal verlor, war genauso schweißig wie die anderen. Thilo kletterte auf das Dach seines Mercedes. Nach wenigen Minuten, als die beiden Reiter zurück rasten, hüpfte er und winkte. Bernharda und Kurt änderten die Richtung und kamen angeritten. Thilo setzte sich auf seine Motorhaube. Genau wie Kurt gestern auf seiner Motorhaube saß. Kurt merkte die Anspielung genau.

    „Guter Morgen“, sagte er freundlich, „nach dem Regen gestern.“

    Daimler blieb stehen und gab vernehmlich Laut. Einmal sogar bellte er.

    „Guten Morgen“, antwortete Thilo ebenso freundlich, „für die Natur war der Regen ein Segen.“

    Das waren die Friedensangebote, und sie wurden angenommen.

    „Ich versorge die Pferde“, sagte Bernharda, „komm Daimler“.

    Der Wachhund zögerte. Aufmerksam und bereit stand er und ließ Thilo nicht aus den Augen.

    „Daimler komm mit“, rief Bernharda noch einmal.

    Nach einem abschließenden Knurren drehte er sich um und jagte Bernharda hinterher. Kurt stieg vom Pferd.

    „Ich muss kurz duschen. Kommen Sie doch auf die Terrasse.“

    Nach wenigen Minuten kam Kurt geduscht und umgezogen zurück.

    „Ihr Hund, was ist das für eine Rasse?“

    „Das ist ein Rhodesian Ridgeback, sicher der intelligenteste Hund, ausgezeichneter Wächter, ein guter Jäger. Der in Afrika zur Löwenjagd benutzt wird. Wir haben ihn mitgebracht.“

    Kurt war sichtlich stolz auf den Hund.

    „Darf ich Sie zum Frühstück einladen? Darf ich Ihnen etwas anbieten?“

    „Nein, Danke, ich habe gerade gefrühstückt.“

    Unaufgefordert setzte sich Thilo an den Tisch.

    „Aber eine Tasse Kaffee dürfen Sie nicht ablehnen.“

    „Nein, Danke, auch Kaffee hatte ich gerade.“

    „Ich mache Ihnen auch gern Tee?“

    „Nein, Danke, auch keinen Tee.“

    „Ein Schluck Wasser vielleicht?“

    „Nur ein Schluck Wasser vielleicht“, gab er sich geschlagen.

    Kurt kam mit einer Flasche klarer Flüssigkeit und einem Glas wieder. Er schenkte drei Viertel voll.

    „Ein Schluck Wasser, bitte schön, Zwetschgenwasser!“ Kurt grinste breit.

    „Das können Sie nicht ablehnen.“

    „Prost“, sagte Thilo, sich seiner erneuten Niederlage bewusst.

    „Prost.“

    „Brr, was für ein Teufelsgebräu ist das?“

    Tränen liefen ihm über die Backen. Der ganze Kopf war gerötet, und Thilo hustete.

    Kurt beobachtete grinsend das Schauspiel.

    „Noch einen Schluck, Ähh, Wasser?“ fragte Kurt.

    „Nein, nein, auf keinen Fall“, antwortete Thilo, jetzt wieder bei Atem. Er wurde langsam unruhig und wollte zur Sache kommen.

    Kurt stand auf, er räumte die Flasche und das Glas ins Haus. Stattdessen kam er mit einer Kanne Kaffee und zwei Tassen zurück.

    „Danke, ich trinke wirklich keinen Kaffee“, sagte Thilo.

    „Die Tasse“, Kurt deutete auf die zweite Tasse, „ist auch für Bernharda.“

    Thilo merkte, dass Unker mit ihm spielte.

    Endlich fragte Kurt: „Nun, Herr Altstädt, was können wir für Sie tun?“

    Thilo räusperte sich und beugte sich vor.

    „Herr Unker, ich hab das Grundstück dort“, er deutete auf das große Grundstück, mit der alten Hütte, „von Herrn Hagenköter, dem Erben, gekauft. Der lebt drüben in Montreal und hatte keine Verwendung für das alte Haus. Er hat es mir verkauft samt Grundstück. Ich habe jetzt die Baugenehmigung für ein paar Apartments erhalten, die sich harmonisch in das Landschaftsgefüge einpassen. Wir alle sind irrtümlich davon ausgegangen, dass der Abkürzungsweg, der unten über ihr Grundstück führt, öffentlicher Weg sei. Das ist aber nicht so. Der Zwickel, über den der Weg führt, gehört Ihnen, obwohl es wegen der jahrelangen Duldung so etwas wie ein Gewohnheitsrecht gibt. Ich möchte Ihnen das Stückchen Grundstück abkaufen.“

    Bei den letzten Worten trat Bernharda mit einem Brötchenkorb an den Tisch und setzte sich. Sie hatte die letzten Worte mitgekommen. Thilo schaute nacheinander beide an.

    „Ich mache Ihnen einen guten Preis“, zog Thilo nach.

    Kurt, der sich alles in aller Ruhe angehört hatte, blickte kurz zu Bernharda.

    „Ich fürchte…“, Bernharda antwortete an Stelle von Kurt.

    Thilo, der eine Antwort von Kurt erwartete, blickt unsicher hin und her.

    Kurt nahm sich ungerührt ein Brötchen, schnitt es in zwei Hälften und legte die obere Hälfte auf Bernharda´s Teller.

    „Danke, Schatz“, Bernharda blickte zu Kurt. Zu Herrn Altstädt gewandt meinte sie, „haben Sie schon gefrühstückt?“

    „Ja, danke, ich habe es ihrem Mann schon gesagt. Ich habe schon mit meiner Frau gefrühstückt“.

    Thilo wurde ungeduldig und ärgerlich. Hier wurden Spielchen mit ihm getrieben.

    „Also, ich biete ihnen zwanzigtausend Euro für die 120 Quadratmeter.“

    Thilo wollte zum Ende kommen.

    Kurt nahm die Summe zur Kenntnis, während er seine Brötchenhälften mit Erdbeermarelade bestrich.

    „Walderdbeermarmelde, vom mir gesucht und von Bernharda eingekocht. Ein Genuss! Sie sollten sie probieren.“

    Kurt biss herzhaft zu. Jetzt hatte er einen roten Rand über der Oberlippe. Ruhig nahm er seine Serviette und putzte den Mund. Der Bissen wurde ausführlich gekaut und geschluckt.

    „Wir sind an einem Verkauf nicht interessiert.“

    Das klang endgültig.

    „Bernharda, wie ist deine Meinung?“ fragte Kurt.

    „Keine Verkauf!“

    Bernhardas Ton war noch entschiedener und nicht minder endgültig.

    „Hören Sie, sind Sie vernünftig. Ich brauche das Stückchen Land: fünfzigtausend Euro! Das ist sehr viel Geld.“

    Nur noch mühsam konnte Thilo seine Wut zügeln.

    Daimler kam jetzt auf die Terrasse und setzte sich vor Thilo. Ein leises, fernes Knurren war vernehmbar. Thilo rutschte mit seinem Stuhl etwas weiter weg. Jetzt fühlte er sich gänzlich unwohl in dieser Situation.

    „Die Antwort heißt Nein! Wir wollen nicht, dass dort unten gebaut wird“, sagte Bernharda ruhig und stopfte den Rest ihres Brötchens in den Mund.

    Erregt sprang Thilo auf. Er achtete nicht auf das laute Knurren des großen Hundes.

    „Ich habe bisher mehr als zwei Millionen Euro investiert. Ich muss dort bauen, und ich werde dort bauen“, schrie er und seine Stimme überschlug sich fast.

    Kart hatte seinen Arm fest um den Hals des Hundes gelegt und hielt ihn fest.

    „Ruhig, Daimler, ganz ruhig. Keine Probleme“, sagte er ruhig und leise. Mit der anderen Hand drückte er Daimler wieder in Sitzstellung.

    Thilo hatte seinen Kopf vorgeschoben. Entschlossen die Lippen zusammengepresst mit vorgeschobenem Kinn schrie er weiter, „Sie werden mich noch kennen lernen. Ich bekomme immer, was ich will. Ich betone: immer. Am Schluss werden Sie mir das Grundstück schenken. Wollen wir wetten?“

    „Angenommen“, sagte Bernharda ruhig.

    Thilo warf seinen Stuhl zur Seite und stapfte zu seinem Wagen. Daimler bellte laut und angriffslustig. Kurt umarmte Daimler und tätschelte ihn am Hals.

    „Waren wir gut?“ fragte Bernharda.

    „Wir waren ganz gut“, bestätigte Kurt.

    „Was werden wir tun?“

    „Das was wir am besten können: kämpfen“, sagte Kurt und füllte seine Tasse mit Kaffee nach.

     

     

    Thilo fuhr betont langsam Das tat er immer, wenn er erregt war. Ein Unfall verschlimmerte die ganze Situation und war höchst ärgerlich. Er musste nachdenken. Im Büro angekommen setzte er sich an seinen Schreibtisch. Nach kurzem Nachdenken griff er nach dem schwarzen Handy.

    „Hier spricht Thilo. Ich bitte Rückruf auf dieser Nummer.“

    Das Handy war nicht registriert.

    Nachdem er den Rückruf erhalten hatte und die Situation erklärt hatte, rief er Herrn Fichter, um das Tagesgeschäft zu beginnen. Gerade heute konnte er viel später anfangen, obwohl er heute früher nach Hause musste. Er hatte Lena versprochen, mit ihr zum Baden zu gehen.

     

    Am nächsten Morgen trat Bernharda durch die Nebentür aus der Küche hinaus in den Garten. Mit einem Blick erkannte sie, was geschehen war. Sie sah die dicht über dem Boden abgeschnittenen Zuchtrosen, ein Hobby von Kurt. Und sie sah Daimler liegen. Ihre Narbe, die quer über ihre linke Halsseite verlief, lief rot an. Immer ein Zeichen von Erregung. Die Narbe war schlecht versorgt und zog durch den Narbenzug die gesamte linke Gesichtshälfte nach unten.

    Laut rief sie nach Kurt. In wenigen Augenblicken stand er neben ihr. Sofort ging er zu Daimler. Er sah die toten Augen, und er sah das Kabel fest um seinen Hals geschnürt. Kurt kniete neben Daimler und streichelte seinen Hals. Er löste traurig das Kabel und warf es voller Wut hinter sich. Das war also das unterdrückte Geräusch gewesen, das er heute Nacht gehört hatte. Er glaubte sich verhört zu haben, besonders als er beim Nachsehen alles ruhig fand und glaubte, Daimler sei irgendwo auf der Grundstück unterwegs. Jetzt erst wurde ihm auch das Geschreibsel auf der Garagenwand bewusst: wir töten auch euch.

    „Der Kampf hat begonnen“, sagte Bernharda. Ihr Ton war unaufgeregt, ja fast mit etwas Spannung auf das was noch kommen könnte.

    „Ich rufe die Polizei“.

    Mit diesen Worten griff Kurt nach seinem Handy. Danach holte er einen Spaten und begann am Kastanienbaum eine Grube auszuhaben.

    Nach etwa zweieinhalb Stunden kamen zwei Polizisten angefahren. Lustlos blickten sie auf die abgeschnittenen Rosen und auf die Drohung und auf den toten Hund.

    „Das da“, er deutete auf Daimler, „äh, den Hund dürfen sie nicht begraben. Der muss zur Abdeckerei gebracht werden. Zeigen Sie mir morgen auf dem Revier die Einlieferungsbescheinigung.“

    Der Polizist hatte die frische Grube gesehen.

    „Wollen Sie Anzeige erstatten. Das waren Randalierer oder Vandalen, die kriegen wir nie.“

    Schulterzucken wollten sich die Polizisten schon zum Auto begeben.

    „Natürlich erstatten wir Anzeige“, sagte Kurt.

    „Dann müssen Se zu uns auf das Revier kommen.“

    Das war resigniert gesprochen, jetzt gab es noch mehr Arbeit.

    „Wir kommen später vorbei“, sagte Bernharda.

    Als das Polizeiauto verschwunden war, legten sie Daimler in die Grube. Jeder legte noch eine Rose dazu. Bernharda und Kurt hielten sich kurz an den Händen. Sie weinten. Nach wenigen Minuten war das Grab geschlossen. Sie zogen sich um und fuhren in die Stadt auf das Polizeirevier.

     

    Eine Woche später, in der Nacht zum Mittwoch, erwachte Michelle. Auch Thilo war wach, aber nicht so richtig. Er murmelte etwas Unverständliches und schlief weiter. Michelle war dagegen hellwach. Ein krachendes Geräusch hinter dem Haus hatte sie erschreckt. Sie hatte das Gefühl, dass das krachende Geräusch das ganze Haus erschüttert hätte. Schnell schlüpfte sie in ihren Morgenmantel, um nachzusehen. Vorsichtig und leise ging sie durch das Haus. Alles war wie immer. Michelle war eine mutige Frau, und sie wollte auch draußen im Garten und um das Haus nachsehen. Als sie durch die Verandatür auf die Veranda treten wollte, traf sie fast der Schlag.

    „Thilo, Thilo“, schrie sie zitternd, „Thilo komm bitte schnell. Bitte ganz schnell.“

    Sie schrie hysterisch so laut, dass auch die Kinder aufwachten und aus ihren Zimmern kamen. Alle zusammen blickten auf das Chaos. Die gesamte Veranda war in die darunter liegende Garage gestürzt. Die Außenwand und Teile der Rückwand waren vollständig eingedrückt, so dass die gesamte Garage eingestürzt war. Dieses Krachen hatte Michelle und auch Thilo geweckt. Alle Autos, auch die beiden Oldtimer, ein Volvo P1800 und Thilos ganzer Stolz ein Austin Martin Le Mans aus dem Jahre 1932 lagen vollständig unter Schutt, Mörtel, Steinen und Balken verborgen. Jetzt sahen sie auch die große Baumaschine, die durch das Chaos halb verdeckt quer in der Garage stand. Eigentlich hätte sie ihnen sofort auffallen müssen, denn nahezu unbeschädigt stand sie da. Über den flachen Austin Martin, der direkt an der Außenwand stand, ist das riesige Fahrzeug einfach hinweg gerollt. Jetzt stand er mit demr Vorderrad genau auf dem zerstörten Volvo, der neben dem Austin stand. Thilo erkannte sofort seinen grün lackierten CAT-740. Es war eines seiner eigenen Großfahrzeuge. Wie ein Henker stand dieses Fahrzeug inmitten des ganzen Schutts.

    Thilo konnte das ganze Elend nicht mehr sehen. Er ging zurück ins Haus.

    Am Esstisch sitzend sagte er, „Michelle, bitte ruf Ulmer an und bring die Kinder wieder ins Bett.“

    „Ich soll jetzt um diese Uhrzeit, es ist kurz nach vier und mitten in der Nacht, Ulmer anrufen?“ fragte sie verständnislos.

    „Dann ruf wenigstens auf dem Polizeirevier an“, sagte Thilo tonlos.

    „Nein“, verbesserte er sich. Thilo hatte schnell seine Fassung wieder, „ich rufe Ulmer an.“

     

    Beim zweiten Frühstück schwiegen Thilo und Michelle lange. Überall roch es nach Mörtel und Staub. Die Zähne knirschten.

    „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Michelle. Ihre Furcht war greifbar.

    „Thilo, hast du Feinde?“

    „Sieht fast so aus“, meinte Thilo sarkastisch.

    „Ich weiß, du bist nicht zimperlich mit deinen Methoden, wenn es sich um das Geschäft dreht. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht. Aber jetzt beginne ich darüber nachzudenken. Was ist, wenn derjenige unser Haus in die Luft sprengt. Denk auch an die Kinder. Sind sie noch sicher. Du weißt, was ich meine?“

    Michelle hatte wirklich Angst.

    „Jetzt mal ganz ruhig“, sagte Thilo beschwichtigend. Aber es kam gereizter als er wollte. Auch er war ziemlich bestürzt und erschrocken. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber nicht mit so einer Reaktion.

    „Michelle, sei ruhig. Euch kann nichts passieren. Ich habe alles im Griff“, beruhigte Thilo.

    „Das sehe ich. Das sehe ich ganz genau“, antwortete Michelle leise und stand auf.

     

    Es war wenige Minuten nach acht Uhr morgens, als wiederholt die Glocke betätigt und sofort danach gegen die Tür gebollert wurde. Nach nur einer kurzen Pause wurde erneut geklingelt und gegen die Holztür geschlagen, als sollte sie eingetreten werden.

    Bernharda ging hinunter und öffnete die Tür.

    Die beiden Polizisten, die letzte Woche auch schon hier waren, standen vor der Tür.

    „Dürfen wir herein kommen?“

    Mit dieser Frage trat der Große wie selbstverständlich auf Bernharda zu.

    „Nein“, sagte Bernhard kurz, aber so klar, dass ihr Nein wirklich nein bedeutet. Sie bewegte sich nicht, um den Weg frei zu machen.

    „Nein?“, war die verständnislose Frage des größeren Polizisten, der auch so etwas wie der Wortführer war.

    „Nein!“, antwortete Bernharda noch einmal.

    Der große Polizist baute sich vor Bernharda auf.

    Die eher kleine Frau wich keinen Zentimeter zurück.

    „Was gibt es?“

    „Heute Nacht wurde ein Anschlag auf den Bauunternehmer Altstädt verübt.“

    Der Polizist schien sich in seiner Wichtigkeit zu sonnen.

    „Irgendein Verbrecher hat einen Baulaster, so ein riesiges Ding, vom Werkhof der Bauunternehmung gestohlen und ist damit direkt in die Garage von Herrn Altstädt Privathaus gerast und hat die ganze Garage zum Einsturz gebracht. Alle Autos sind kaputt. Die gesamte Garage ist zerstört. Sogar das Lieblingsauto von Herrn Altstädt ist völlig zerstört, unreparierbar.“

    „Und warum kommen Sie da zu uns“, fragte Bernharda.

    Ein verstecktes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

    „Ja, wegen der Sache mit ihrem Garten und dem Hund. Da könnte doch ein…, ähh“, er stockte, „ein Zusammenhang bestehen“, beendete er den Satz.

    „Aber Sie selbst sagten doch, dass das Rowdies und Vandalen waren, die man niemals erwischen wird“, erwiderte Bernharda, „und warum kommen Sie damit zu uns?“

    „Ja, ähmm“, der Beamte verlor seine Sicherheit. Warum war diese kleine Frau nicht von seiner männlichen Größe von 1,95 Meter und seiner körperlichen Masse, 116 Kilogramm, beeindruckt? Er holte tief Luft.

    „Weil Sie Probleme mit Herrn Altstädt haben.“

    „Wir haben keine Probleme mit Herrn Altstädt. Herr Altstädt hat Probleme mit uns.“

    Bernharda streckte sich auf die Zehenspitzen und hob drohend ihr Gesicht empor, „warum kommen Sie zu uns?“

    Ihr Ton war jetzt drohend.

    Der Polizist machte beeindruckt einen Schritt zurück und stellte sich neben seinen Kollegen.

    „Wir befragen alle Leute hier“, sagte der kleinere Polizist.

    Der größere Mann atmete erleichtert auf. Sofort drängte er sich wieder in den Vordergrund.

    „Wo waren Sie heute Nacht?“ fragte er barsch.

    „Hier und im Bett. Wie es sich für ein Ehepaar gehört. Zusammen im Bett!“

    Ihr Augen blitzten vor Belustigung.

    „Kann das jemand bezeugen? Ich meine außer ihrem Mann?“

    Jetzt wurde die Situation richtig lächerlich.

    „Sie meinen, ob außer meinem Mann noch jemand in unserem Schlafzimmer war?“

    Bernharda konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen.

    Der Große schnaubte vor Wut. Die Situation glitt ihm aus der Hand.

    „Oder meinen Sie vielleicht, ob wir Besuch im Haus, also im Gästezimmer, hatten?“ fuhr Bernhard amüsiert fort. „Wir haben tatsächlich Besuch. Kurts Patenkind, die in Berlin studiert, besucht uns gerade. Sie hätte bestimmt bemerkt, wenn jemand in der Nacht das Haus verlassen hätte.“

    Die Polizisten bemerkten den Hohn in ihrer Stimme.

    „Die Schwarze?“

    Der große Polizist sprach das Wort aus, als sei es eine Bezeichnung für Pest und Schwefel. So einer kann man nicht ernsthaft glauben.

    „Können wir sie sprechen?“ fragte der Kleine um auch mal was zu sagen.

    „Sie schläft noch“, antwortete Bernharda. Sie stand immer noch wie ein Fels in der Tür.

    „Können Sie sie wecken?“

    „Nein!“

    „Dann muss sie zu uns auf das Revier kommen“, sagte der Größere Beamte bestimmt.

    „Nein, Sie müssen wieder kommen“, antwortete Bernharda genauso bestimmt und schloss die Tür.

    Betroffen standen die beiden Polizisten vor der verschlossen Tür und wussten nicht, wie sie reagieren sollten.

     

    Michelle war am Abend recht einsilbig. Auch die Kinder merkten die Spannung der Eltern. Sie verabschiedeten sich früh und gingen ohne den täglichen Protest zu Bett.

    „Thilo, bitte, rede mit mir. Das ist kein Spiel, das ist bitterer Ernst. Du bringst uns alle in Gefahr. Worauf hast du dich eingelassen? Wer sind deine Gegner. Ich liebe dich und die Kinder von ganzem Herzen, und ich möchte nicht, dass dir oder den Kindern etwas passiert.“

    Thilo fühlte sich unbehaglich.

    „Michelle, mach dir keine Sorgen. Ich regle das. Deshalb muss ich noch einmal weg.“

    Mehr brachte er nicht über seine Lippen. Er stand auf und ging zum Geländewagen, dem einzigen Wagen der der Zerstörung entkommen war, weil er auf dem Bauhof stand, als die Garage zum Einsturz gebracht wurde. Er musste noch einmal mit den Unkers sprechen.

    Unterwegs ging ihm einiges durch den Kopf. Michelle machte sich große Sorgen. Sie war eine intelligente Frau, man musste ihre Ängste ernstnehmen. Auch er selbst hatte Zweifel. Er war von der Wucht der Ereignisse völlig überrascht. Immer wieder kamen Zweifel. Den Verlust von zwei Millionen Euro konnte er verschmerzen, klar das tat weh. Er würde sie über die Firma abschreiben. Daran würde auch die Firma keinen Schaden nehmen. Aber dazu müsste er klein beigeben. Nein! Klein beigeben wäre eine Niederlage. Aufgabe ist das Eingeständnis seiner Niederlage. Das konnte er nicht zulassen. Er, Thilo, würde kämpfen und siegen. Er würde wie immer der Sieger und der Gewinner sein. Thilo hasste Niederlagen. Das war schon im Sportunterricht so oder im Verein oder bei Wettkämpfen.

    Mittlerweile stand er auf dem Hof der Unkers. Thilo stieg aus und klingelte. Musik klang in sein Ohr. Thilo ging leise um das Haus. Er horchte. Jetzt hörte er die Stimme von Kurt Unker, der zur Musik sang. Dieser hatte eine raue Stimme. Als jetzt ihre Stimme dazu klang, änderte sich die Atmosphäre. Bernharda Stimme war hell, fast schrill, aber in ihr schwang Melancholie und Sehnsucht. Jetzt fiel wieder Kurts Stimme ein. Woher kenne ich diese Melodie, fragte sich Thilo. Natürlich, die Unkers haben früher immer auf dem Herbstmesse gespielt. Die Leute mochten die zwei, und das Zelt war immer gut gefüllt. In den letzten Jahren haben sie nicht mehr gespielt. Warum eigentlich nicht mehr, fragte er sich, auf die Musik lauschend. Jetzt fiel ihm auch der mögliche Grund ein: die unschöne Sache auf dem Wochenmarkt. Ja, das war damals sicher der Grund gewesen.

    Bernharda kaufte auf dem Samstagswochenmarkt Gemüse ein. Das tat sie damals jeden Samstag. Oft wurde sie von ihrem Mann begleitet. Damals aber war sie allein. Gerade als sie an die Reihe kam, drängte sich Frau Schulze vor. Wir alle keinen doch die olle Schulze. Bernharda sagte einige freundliche Worte dazu. Frau Schulze dagegen muss mit unflätigen Worten geantwortet haben. Sie hatte dabei Bernharda einfach zur Seite geschubst. Sofort wurde Frau Schulzes Kopf an ihren Haaren nach hinten gerissen, und ein kleines Messer ritzte die Haut über ihrer Kehle. Zuerst war Frau Schulze zu keiner Bewegung fähig, dann rannte sie laut schreien davon. Thilo erinnerte sich nicht, wie die Sache damals ausging. Man hatte einfach nichts mehr davon gehört, obwohl Frau Schulze Anzeige erstattet hatte. Ja, seit damals kauften die Unkers nicht mehr auf dem Markt ein, und sie traten auch nicht mehr beim Herbstfest auf.

    Thilo fand das jetzt schade. Er gab sich einen Ruck und klopfte gegen das Fenster. Kurt öffnete, seine Geige noch in der Hand.

    „Guten Abend Herr Altstädt. Kommen Sie doch bitte herein“ sagte Kurt freundlich. Er öffnete die Tür einladend.

    Bernharda ging schnell nach oben, sich umziehen.

    „Nehmen Sie Platz.“

    Kurt bot ihm einen Stuhl am Esstisch an.

    „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ fragte er, als freue ihn der später Besuch, „einen Tee oder ein Glas Rotwein. Bernharda hat gerade eine Flasche geöffnet, Oder ein Glas Wasser?“.

    Kurt ging in die Küche und holte ein Glas, das er halb mit Rotwein füllte und vor Thilo stellte.

    Bernharda kam auch gerade wieder herunter und setzte sich hinter ihr Weinglas. Sie hob das Glas und wünsche Herrn Altstädt: „Zum Wohle.“

    „Nachdem auch Thilo einen kleinen Schluck getrunken hatte, sagte er, „Ich wollte noch einmal mit Ihnen sprechen.“

    Thilo stotterte.

    „Mir gehört das Grundstück dort südlich von Ihrem Grundstück. Ich habe eine Baugenehmigung für dieses Grundstück. Die Bebauung können Sie nicht verhindern, höchstens verzögern. Warum einigen Sie sich nicht gleich mit mir? Fünfzigtausend Euro sind viel Geld, insbesondere für so ein kleines Stückchen Wiese. Was könnten Sie alles mit dem Geld anfangen? Wünsche hat doch jeder. Zum Beispiel könnten sie Ihren Stall ausbauen und vergrößern, neue Pferde kaufen, ihre Rosenzucht professionalisieren.“

    Thilo machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte abzuwarten. Erwartungsvoll blickte er zu Bernharda und dann zu Kurt.

    Bernharda war es, die antwortete.

    „Herr Altstädt, das Geld spielt keine Rolle. Es ist eine Frage des Prinzips. Bieten Sie uns eine Million Euro, und wir werden trotzdem ablehnen. Ohne unsere Zustimmung können Sie nicht bauen und unsere Antwort heißt: nein!“

    Thilos Herz begann zu rasen, die langsam aufsteigende Wut trieb den Blutdruck.

    „Wir könnten vorübergehend die Friedhofsmauer abtragen und später im Originalzustand wieder aufbauen, dann haben Sie nichts und nichts gewonnen.“

    Innerlich zitterte Thilo. Er wollte sich das alles nicht mehr nehmen lassen.

    „Nein, Herr Altstädt, das können Sie nicht und Sie wissen das ganz genau. Die ganze Anlage des Alten Klosters ist vor zwei Jahren komplett renoviert worden. Das Denkmalschutzprogramm hat nicht unwesentlich Geld dafür bereitgestellt. Niemals bekommen sie die Erlaubnis zum Abriss der Mauer oder irgendetwas anderem. Ohne unser Grundstück können Sie nicht bauen. Also vergessen Sie die Pläne und verschmerzen Sie ihre Niederlage.“

    Jetzt zitterte Thilo auch äußerlich.

    „Das werden Sie noch bereuen. Sie sollten meine Möglichkeiten nicht unterschätzen“, keifte er. Die Gesichtszüge waren vor Wut verzerrt.

    „Das Gleiche gilt auch für Sie. Unterschätzen Sie uns nicht. Also hören Sie gut zu“, sagte Kurt in seine ruhigen Art.

    „Ich habe schon ganze Familien, Alte, Junge, Kinder, Mütter mit Babys auf den Armen von Maschinengewehrsalven zerfetzt gesehen. So was macht mir keine Angst. Aber sie sollten an Ihre Frau, übrigens, eine ganz entzückende Persönlichkeit, und an Iihre Kinder, die uns sehr gefallen, denken. Sie können Ihre Familie nicht schützen. Noch einmal, denken sie an Ihre Familie. Geben Sie das Bauvorhaben auf. Vor allem geben Sie auf, sich mit uns anzulegen.“

    Kurt hatte eindringlich auf Thilo eingeredet.

    „Niemals gebe ich auf. Wie sagten Sie? Es ist eine Prinzipienfrage“.

    Thilo war außer sich, fast ohne Selbstkontrolle. Er hatte beide Fäuste geballt und bewegte sie drohend auf und ab, als sollte sie seinen Entschluss verstärken.

    Kurt war aufgestanden, „Herr Altstädt, Selbstüberschätzung und Eitelkeit verstellen häufig den Blick auf die Tatsächlichkeit. Manchmal endet so eine Fehleinschätzung auch tödlich.“

    Mit diesen Worten, fast freundlich und kameradschaftlich gesprochen reichte Kurt Thilo die Hand zum Abschied. „Darf ich Sie noch zur Tür begleiten?“

    Thilo schlug nach der Hand und schrie: „Du bist ein Bastard! Ihr werdet des Lebens nicht mehr froh. Ich mache euch so was von fertig.“

    Er rannte zur Tür und verschwand.

    Kurt ging zu Bernhard zurück. Er griff nach seiner Geige, „eins, zwei drei“, zählte er leise, und dann erklang wieder Musik: Lieder aus fernen Landen, teilweise schaurig, teilweise schön.

     

    Im Laufe des späten Vormittags unterrichtete Herr Ulmer, der Polizeichef, seinen Parteifreund Altstädt über die wenig erfolgreichen Ermittlungen. So ließ er nicht mit sich umgehen, dacht Thilo. Er würde entsprechend reagieren, es musste eine schnelle Entscheidung her. Jede Verzögerung kostete Geld. Entschlossen steckte Thilo sein schwarzes Handy ein und fuhr zur Fulda hinunter. Während er am Fluss entlang ging, telefonierte er lange. Nach dem Gespräch öffnete er das Handy und entfernte die SIM-Karte. Thilo knickte sie und warf sie in die Fulda. Die Batterie warf er hinterher. Auf dem Rückweg zur Firma hielt er und warf das Handy in eine graue Tonne, die zum Entleeren am Straßenrand stand.

     

     

    Michelle war wie ausgewechselt. Thilo kümmerte sich rührend um die Familie. Er machte früher Feierabend und unternahm häufiger Ausflüge mit der Familie. Die Kinder fanden diesen Zustand herrlich. Nur Michelle blieb unbeeindruckt. Ihre großen Augen blickten gehetzt und ängstlich, als vermutete sie hinter jedem Baum, hinter jeder Eck einen Angriff. Nachts schlief sie schlecht.

    „Thilo, ich spüre Gefahr. Gefahr für uns alle. Tu endlich was dagegen“, sagte sie mehrfach. Thilo konnte es schon bald nicht mehr hören und reagierte entsprechend heftig. Das tat ihm dann sofort wieder leid. Auch seine Nerven waren angespannt.

    Nach einer erneuten Auseinandersetzung mit Michelle machte er ihr den Vorschlag, mal wieder zusammen essen zu gehen.

    „Ohne Kinder nur wir beide.“

    „Ich lasse die Kinder nicht allein“, rief sie und rannte weg.

    Thilo rannte hinter ihr her. Er hielt sie fest und drückte sie fest an sich, ihren Kopf an seine Brust drückend. So standen sie lange dicht bei einander. Als sie sich von ihm löste, nahm er ihren Kopf in seine beiden Hände und blickte in ihre Augen.

    „Schatz beruhige dich. Es ist alles dafür getan, dass die Angelegenheit geklärt wird.“

    Michelle drückte ihn brüsk weg von sich.

    „Wenn du uns so liebst, wie du immer sagst, dann beende die Angelegenheit, wie du die Sache nennst. Beende sie sofort. Nimm dein Telefon und beende, was uns bedroht. Thilo, ich fühle die Bedrohung und die Gefahr. Ich spüre, wenn das nicht sofort beendet wird, geht es schlimm aus. Glaube mir.“

    Michelle war verzweifelt.

    „Nein, ganz sicher nicht.“

    Thilo versuchte zu beruhigen.

    „Es ist alles geregelt, dass es geregelt wird. Nur noch ein paar Tage.“

    Thilo hatte voller Fürsorge und Überzeugung gesprochen. Michelle fühlte ganz genau, dass er nicht ganz so sicher war, wie er tat. Sie schüttelte ihren Kopf und lief weg.

     

     

    Wie so häufig ritt Kurt seine Runde im Galopp über die Felder. Wenn er sich dem Waldrand näherte, verlangsamte er das Tempo. Auch heute verlangsamte er stark und ritt im Schritt auf den Wald zu. Dann zögerte er.

    „Brrr“, sagte er leise und stieg ab. Langsam ging er auf den Waldrand zu. Sein Pferd hielt er hinter sich am Zaum. Jetzt sah er das Seil quer über den Weg gespannt. Bei der Höhe von 50 Zentimeter wäre das Pferd mit Sicherheit gestrauchelt und er vom Pferd gestürzt. Vielleicht hätte er sich sogar den Hals gebrochen. Er drehte sich langsam und gab seinem Pferd mit der flachen Hand einen festen Hieb auf die Hinterhand.

    „Los lauf“, rief er.

    Mona erschrak und galoppiert los. Sie würde den schnellsten Weg zum Stall finden. Kurt blieb aufmerksam stehen. Plötzlich knackte es, und vier Männer traten aus dem Dickicht. Der erste, der Anführer, schlug immer wieder mit einem Baseballschläger in seine geöffnete linke Hand. Der zweite, der mit der geöffneten schwarzen Lederjacke und dem weißen T-Shirt schwang eine kurze Kette. Die anderen beiden gingen etwas versetzt. Der linke hatte ein große Messer in der Hand, und der rechte, mit dem Dreitagesbart trug über jeder Faust einen Schlagring.

    „So mein Kleiner, jetzt geht es dir schlecht.“

    Der Große mit dem Schläger trat vor.

    „Na, hast du Angst?“, höhnte der zweite und ließ seine Kette surren. Er machte ebenfalls einen Schritt auf Kurt zu. Der Anführer hob seinen Schläger. Die anderen traten seitlich vor, um den Schläger nicht zu stören. Jetzt machte der erste Mann einen schnellen Schritt auf Kurt zu. Genau in diesem Moment sprang Kurt noch vorne. Mit seiner linken Hand griff er nach dem Baseballschläger und hielt ihn fest. Gleichzeitig gab es ein reißendes, flatschendes Geräusch, als das kleine Messer durch das Hemd seitlich in den Bauch fuhr. Todesschreiend ließ der Mann seinen Schläger los und sank verkrümmt zu Boden. Sofort wich Kurt dem Schlag der Kette aus, die ihn nur quer über dem Rücken traf. Den Baseballschläger in der linke Hand rammte er dem zweiten Mann den Griff mitten ins Gesicht. Blut, Zähne, als sich der gesplitterte Oberkiefer vom Schädel löste, und Knochensplitter von Nasenbein und Jochbein spritzen herum. Ohne auf das grässlich gurgelnde Geheul zu achten, sprang Kurt auf den Mann mit dem Messer zu. Das kleine Messer zischte dicht an der Kehle vorbei und traf den Oberarm. Das große Messer fiel zu Boden. Einen Moment standen sie sich gegenüber, dann warf sich der Mann auf sein am Boden liegendes Messer. Genau, als er es fest am Griff gepackt hatte, traf diese Hand der schwere Absatz von Kurts Reitstiefel. Deutlich hörbar brachen alle Mittelhandknochen wie dürre Zweige. Die vierte, noch fast ein Junge, konnte das alles nicht fassen. Schnell drehte er sich um und rannte weg. Mit wenigen Sätzen war Kurt hinter ihm und stellte ihm ein Bein. Aus vollem Lauf stürzte er zu Boden und schlug hart auf. Wimmernd wollte er sich aufraffen, als ihm Kurt fest ins Genick trat. Flach blieb er auf dem Boden liegen.

    „Eine Bewegung, nur eine Bewegung, und ich breche dir das Genick. Atme nicht einmal“.

    Kurt verstärke den Druck und drückte dabei das Gesicht fest in die Erde.

    „Wenn du nur tief einatmest, war das dein letzter Atemzug“, sagte Kurt noch einmal nachdrücklich. Die anderen lagen kampfunfähig auf dem Boden und brüllten und heulten. Kurt griff nach seinem Handy. Er wählte 110.

    „Kommen Sie schnell zum Waldeingang, fünfzig Meter unterhalb der Hauptstraße auf dem Weg zum Alten Kloster. Ich bin von vier Männern überfallen worden. Bringen Sie auch Notärzte und Krankenwagen mit. Es gab Verletzte und einer, der ist am Verbluten.“

    Ruhig, mit einem Fuß auf dem Nacken von Felix, -Felix Zcech, so hatte er geantwortet, als Kurt ihn nach seinem Namen fragte-, wartete er auf die Polizei und den Krankenwagen. Ab und zu verstärkte er den Druck seines Stiefels. Sofort hielt Felix seinen Atem an.

    Bald hörte er das Martinshorn näher kommen. Gerade kam auch Bernharda angeritten, der er ebenfalls Bescheid gesagt hatte.

    Mit ihren Pistolen in der Hand stiegen die Polizisten aus.

    „Gehen Sie zur Seite, aber schnell“, rief der Kurt nun schon hinlänglich bekannte wichtigtuerische Polizist und fuchtelte mit seiner Pistole.

    Kurt ging langsam zwei Meter zur Seite und hob die Hände.

    „Wo bleibt der Notarzt?“ fragte Kurt.

    „Wir wollten erstmal nach dem Rechten sehen. Wo kommen wir hin, wenn wir bei jeden Anruf gleich einen Notarzt anfordern.“

    Von oben herab betrachtete der Polizist die Lage.

    „Ihre Verantwortung“, sagte Kurt, „der Mann hier verblutet nur. Beeilen Sie sich, sonst sind Sie der unterlassenden Hilfeleistung schuldig. Los beeilen Sie sich.“

    Die letzten Worte hatte Kurt laut gerufen. Der Polizist warf einen Blick auf den leise wimmernden Mann, der langsam immer bleicher wurde. Schnell rief er nach einem Notarzt und dem Rettungshubschrauber.

     

    Es wurde alles fotografiert und bezeichnet. Eine rot-weiße Bahn wurde zur Abgrenzung über den Weg gezogen. Fast gleichzeitig mit dem Hubschrauber kamen auch zwei Krankenwagen. Die Verletzten wurden versorgt und in die umliegenden Krankenhäuser zur Aufnahme gebracht.

    Felix Zcech stand zitternd bei den Polizisten. Von dem großen feuchten Fleck zwischen den Beinen stieg Uringeruch auf. Er war nicht fähig, nur ein Wort zu sagen. Kurt ging zu ihm und legte seinen Arm um die zitternden Schultern.

    „Glück gehabt, mein Junge. Vorsicht ist immer besser als falsche Forschheit“, sagte er väterlich zu ihm. Auch Bernharda ging auf Felix zu. Kurt und Bernharda wechselten einen kurzen Blick, dann nahm sie Felix in ihren Arm und sprach leise und beruhigen mit ihm. Minutenlang konnte sich der junge Mann nicht beruhigen.

    Kurt fuhr mit dem Polizeiauto zum Revier, und es wurde ein ausführliches Protokoll angefertigt. Als der Polizist das Messer sehen und konfiszieren wollte, bemerkte Kurt zu seinem Bedauern, dass er es wohl im Kampf verloren haben musste. Sofort wurde ein Wagen zum Tatort zurück geschickt, um es zu suchen. Als er sein Protokoll nach mehrfacher Korrektur unterschrieben hatte, durfte er Bernharda anrufen, um sich abholen zu lassen.

     

    Am nächsten Morgen packte Bernharda ihren kleinen Koffer.

    „Wann wirst du in Paris landen?“ fragte Kurt.

    „Gegen 16 Uhr auf dem Flughafen Charles de Gaulle. Ich werde mich morgen mit Ferdinand treffen.“

    Ferdinand war ein alter Freund Bernhardas aus früheren Zeiten im Untergrund. Sie waren auch kurze Zeit ein Paar gewesen; bis Kurt kam. Ferdinand betrieb einen Antiquitätenladen in der Rue Saint-Jaques. Hier kamen die Touristenströme vorbei, die zu Notre Dame wollten. Auf dem Rückweg waren sie von der gewaltigen Kirche so beeindruckt, dass sie gern eine echte Antiquität mit nach Hause nehmen wollten.

    Antiquites Prestige stand auf Ferdinands Ladenschild. Er verkaufte Fälschungen und Imitationen für sehr teures Geld. Der hohe Preis deutete Seriosität des Verkäufers und Echtheit der Einzelstücke an. Natürlich konnte Ferdinand zu jedem einzelnen Stück eine entsprechende Expertise liefern. Wenn die Touristen den Schwindel bemerkten, die meisten bemerkten ihn nicht oder wollten ihn nicht bemerken, waren sie schon lange wieder zu Hause, weit von Paris. Viele wollten dann nicht öffentlich zugeben, dass sie so wenig Kunstverstand hatten und auf eine Fälschung hereingefallen waren. Das war Ferdinands Geschäftsprinzip.

    Bernharda war mit ihm um 10 Uhr 30 im Geschäft verabredet. Am Ankunftsabend traf sie sich mit einer Reihe von alten Freunden.

     

    Nach einem typischen französischen Frühstück, Kaffee und ein Croissant, die Nacht war, wie erwartet, eine lange gewesen, machte sie sich auf den Weg. Es war kurz nach zehn Uhr dreißig. Ferdinand öffnete niemals vor dieser Zeit. Als sie ankam, telefonierte Ferdinand. Er sah sie und beendete sofort das Gespräch mit einem „Pardon“. Sie umarmten sich herzlich und küssten einander links und rechts auf die Wangen. Es waren richtige Küsse, mit Haut-Lippen-Kontakt. Keine dieser sterilen Pseudoküsse, einfach neben die Wangen in die Luft geschmatzt. Ferdinand entschuldigte sich und führte das unterbrochene Telefongespräch weiter. Bernharda schlenderte durch den Laden. Einige Stücke fanden ihre ehrliche Bewunderung. Ihre Finger strichen gerade über die glatte, fast makellose Oberfläche eines Schrankes aus dem 16. Jahrhundert.

    „Ein Geschenk Heinrich II. an seine Favoritin Diane de Poitien. Ursprünglich hat er auf Schloß Chenonceau gestanden“, erklärte Ferdinand der dicht hinter Bernharda getreten war.

    „Eine wunderbare Arbeit, findest du nicht auch?“, fragte er.

    „Ja, wunderschön. Der Schrank hat irgendwie eine Aura“, antwortete Bernharda.

    „Ist der für einen Preis von 133 000 Euro überhaupt verkäuflich?“

    „Bei guten Antiquitäten ist es wie mit guten Immobilen, der Preis macht das Geschäft, nicht umgekehrt. Gerade wegen des Preises steht der keine sechs Monate hier.“

    Bernharda war beeindruckt.

    „Was tust du, wenn es ein Kunde bemerkt?“

    „Oh, kein Problem. Die meisten merken es nicht, der Rest will es nicht merken oder will nicht, dass man, also Freunde und Bekannte, es merken“, antwortete Ferdinand unbekümmert.

    „Aber wenn doch einer reklamiert, oder kommt das nicht vor?“

    „Doch, doch, das kommt gelegentlich vor. Ich nehme das Stück ohne Protest zurück und lasse es sogar abholen. Bei einer Gewinnspanne von 1000% gar kein Problem. Ich berechne dafür 10 % vom Verkaufspreis als Auslagen, und jeder ist zufrieden. Am interessantesten sind die Deutschen, die reklamieren. Sie bestehen immer auf Rückzahlung des Gesamtpreises. Ich nehme die Stücke zurück, zahle auch 100 % des Preises zurück und überreiche gleichzeitig einen Gutschein mit dem Recht auf 50 % Preisnachlass auf den nächsten Einkauf. Glaub mir, innerhalb eines Monats stehen sie hier bei mir im Laden und suchen sich das teuerste Stück aus. Ich freue mich über das gute Geschäft, und die Kunden freuen sich über das Schnäppchen. Besonders die Schwaben lassen sich so eine Gelegenheit nicht entgehen.“

    Bernharda war wirklich von dem Schrank beeindruckt.

    Ist der Schrank echt?“, fragte sie zweifelnd.

    „Siehst du, mein Liebling? Natürlich ist der echt, genauso echt wie alles andere hier im Laden. Komm mit, ich zeige dir ein wunderbares Gemälde von Charles Gleyre, der Lehrer von Renoir oder eines von Berthe Moriset, der Ehefrau des Bruders von Monet. Ich habe auch einen exzellenten Pissarro. Allesamt Meisterwerke, deshalb haben sie alle ihren Preis. Unter 50 tausend Euro sind die nicht zu haben.“

    Bernharda schaute sich die Bilder der Reihe nach an. Die Gemälde schienen alt und nachgedunkelt, teilweise mit kleinen Beschädigungen.

    „Sind das alles Fälschungen?“

    „Nein, nicht direkt. Sagen wir, sie sind aus dem Geiste der Künstler heraus erstanden. Fast so, wie viele Originale aus dem Geist der Genies entstanden sind und durch eine Vielzahl ihrer Schüler ausgeführt wurden. Nur jetzt halt viele Jahre später. Von daher betrachtet, keine direkte Fälschung, eher ein Original. Dazu exzellent ausgeführt. Daher ist der Preis gerechtfertigt. Ich kenne da einen Maler, einen wahrer Künstler, auf dem Monte Martre, wo sonst?, der ist von diesem Geist beseelt. Die entsprechenden Maltechniken hat er im Schlaf drauf. Wie viele andere hier auch.“

    Ferdinand lachte breit. Glaubte er, was er Bernharda da erzählte? Sicher, sonst wäre er in seinem Geschäft nicht so erfolgreich.

    Er nahm Bernharda an ihrer Schulter und zog sie zum Ausgang.

    „Machen wir einen kleinen Bummel an der Seine entlang. Du willst etwas mit mir besprechen?“

    Ferdinand schloss die Ladentür sorgfältig ab und zog auch das Metallgitter vor den Schaufenstern und der Eingangstür herunter.

    „Wir Antiquitätenhändler sind so etwas wie Künstler. Man sieht uns das Nichteinhalten der Geschäftszeiten nach, besonders hier in Frankreich und speziell in Paris. Wir Franzosen sind alle irgendwie Künstler.“

    Nach dem Spaziergang gingen sie noch in ein kleines Bistro essen.

    Darf ich dich heute Abend zum Essen einladen. Ich werde für dich kochen“, fragte Ferdinand auf der Straße stehend.

    „Nein, danke, diesmal muss ich dich enttäuschen. Ich fliege um 18 Uhr 10 zurück. Aber das nächste Mal, wenn ich hier bin, nehme ich dein Angebot an. Versprochen!“

    „Und Bernharda, versprich mir, wenn du wieder nach Paris kommst, wohnst du natürlich bei mir.“

    „Ferdinand!“

    Bernharda tat empört und drohte schelmenhaft mit dem Zeigefinger, „Du gibst wohl niemals auf. Aber, mein Lieber, es muss dir einfach reichen, wenn ich dir versichere, dass du auf meiner Warteliste ganz oben stehst. Auf Platz eins, sozusagen.“

    Bernharda lachte.

    „Registriert und wird nicht vergessen. Wie geht es Kurt sonst?“

    „Gut! Er wäre gern mit gekommen, aber er kann ja nicht nach Frankreich reisen. Er ist viel ruhiger geworden. Er lässt dich grüßen.“

    „Danke, Grüße zurück“.

    Ferdinand brachte sie noch zur nächsten Metro.

    „Adieu, mein Lieber.“

    „Adieu, Bernharda.“

     

    In der Rue Beaubourg kannte Bernharda einige nette Geschäfte, die sie nie versäumte zu besuchen, wenn sie in Paris war. Vor allem ging sie zu Clodette Miroux. Das war ein kleiner Laden, nein, man muss sagen, es ist ein kleines Atelier. Clodette war Künstlerin, Designerin und Verkäuferin, aber mehr von erstem und zweitem als vom drittem. Sie stellt Parfum selbst her. In ganz Frankreich und wahrscheinlich in der ganzen Welt gibt es nirgends femininere Düfte als bei Clodette Miroux. Bernharda war vernarrt in diese Düfte und naturgemäß auch Kurt.

     

    Der Überfall auf Kurt machte natürlich in der Stadt und in der ganzen Gegend seine Runde. Nach einer Woche wurde es ruhiger. Andere Themen wurden wichtiger. Nur Michelle im Hause Altstädt war weiterhin unter Spannung. Thilo tat zwar alles, um wieder Normalität einziehen zu lassen, aber Michelle verfolgte ihn mit ihren Blicken. Es stand immer die unausgesprochene Frage in ihren Augen: Hast du mit dieser Sache zu tun?

    Thilo konnte die Frage in ihren Augen lesen, aber er konnte keine zufrieden stellende Antwort darauf geben. So blieb jeder Versuch der Annäherung und der Beschwichtigung nur ein Versuch.

    „Denkst du denn gar nicht an die Kinder?“, immer wieder diese Frage und die damit unausgesprochene Anschuldigung.

     

    Drei Tage später, wieder hatte es am Abend heftigen Streit gegeben, fuhr Michelle zur Schule, um Leon abzuholen. Seit dieser Sache holte Michelle die Kinder immer persönlich von der Schule ab. Heute wollten sie in die Stadt fahren, eine Kleinigkeit essen und dann direkt zur Musikschule.

    Jetzt wartete sie schon eine Viertel Stunde vor der Schule. Langsam wurde sie unruhig. Die Schulkameraden waren schon alle heraus gekommen. Nach weiteren fünf Minuten Wartezeit stieg sie aus ihrem Wagen und ging in die Schule zum Sekretariat. Dort wurde sie mit großen Augen empfangen.

    „Leon ist schon vor zwei Stunden vom Unterricht abgeholt worden.“

    Michelle wurde trotz ihrer dunklen Hautfarbe blass. Sie stützte sich auf den Tressen des Sekretariats. Mit zittriger Stimme fragte sie:

    „Schon abgeholt worden? Von wem?“

    Die Sekretärin wurde jetzt ebenfalls ganz aufgeregt, „Stimmt etwas nicht?“

    „Wer hat meinen Leon abgeholt?“

    Michelle war schwindelig. Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen.

    „Vor zwei Stunden hat eine Frau mit französischem Akzent angerufen und sagte, wegen eine dringenden Familienangelegenheit müsse Leon früher aus der Schule abgeholt werden. Ihr Bruder würde kommen und ihn holen. Kurze Zeit später kam ein dunkelhäutiger Mann und nahm Leon mit.“

    „Mein Bruder ist tot. Schon lange tot“, jetzt war Michelle hysterisch. Sie schrie und weinte.

    Die Tür zum Lehrerzimmer öffnete sich, und Frau Zimmermann-Lehenweiler kam heraus. Als sie gehört hatte, was geschehen war, rief sie mit zitternden Knie und unsicherer Stimme sofort den Direktor, die Polizei und Herrn Altstädt. Michelle war auf dem Besucherstuhl gesunken und weinte hemmungslos.

    Thilo war noch vor dem Direktor und der Polizei in der Schule. Beruhigend wollte er Michelle in den Arm nehmen. Sie stieß ihn aber von sich.

    „Du bist an allem schuld, du bist an allem schuld. Gib mir meinen Leon wieder“, schleuderte sie ihm entgegen und rannte aus dem Zimmer. Als die Polizei kam, saß sie zusammen gesunken an der Wand im Treppenhaus der Schule.

    „Gib mir meinen Leon wieder, mein Kind, mein armes Kind“, wiederholte sie unablässig.

     

    Innerhalb von zwei Stunden war ein Sonderkommando der Polizei in der Stadt. Mit Lautsprecherdurchsagen wurde die Bevölkerung um Mithilfe gebeten. Ein Hubschrauber kreiste unablässig über der Stadt.

    Thilo und Michelle saßen auf dem Polizeipräsidium einem fremden Polizeibeamten gegenüber. Ruhig und bestimmt sagte er, „Herr Altstädt, lassen Sie ihr Telefon immer in Rufweite und Ihr Handy angeschaltet. Erfahrungsgemäß kommt nach wenigen Stunden der erste Anruf wegen Lösegeldforderungen. Dann haben wir einen Anhaltspunkt.“

    „Es kommt keine Lösegeldforderung, das hat andere Gründe“, flüsterte Michelle. Der Polizist blickte fragend zu Herrn Altstädt und Thilo blickte zurück, als wollte er sagen, nichts dran.

    „Herr Altstädt, gibt es etwas, das wir wissen müssen?“

     

    In diesem Moment traten zwei Polizisten den Raum.“

    Wir sind sofort zu den Verdächtigen gefahren. Es hat aber nur eine dunkelhäutige Frau geöffnet. Die behauptete, dass Herr und Frau Unker nach Hannover auf den Pferdemarkt gefahren sind, schon gestern Abend. Außerdem wollten sie nach einem Wachhund schauen. Die Worte klangen, als könnte man ihr glauben. Wir haben das sofort überprüft: Ss stimmt. Es wurde uns mehrfach bestätigt. Die Verdächtigen sind wirklich dort.

     

    Nach fürchterlichen Stunden klingelte Thilos Handy. Jetzt wurde es mucksmäuschen still im Zimmer.

    Thilo fummelte das Handy aus der Jackentasche. Fast wäre es im noch heruntergefallen, und vor Aufregung fand er nicht sofort die grüne Annahmetaste. Aber das Handy dudelte unerträglich Für Elise. Er drückte die Lauttaste damit alle mithören konnten.

    „Hallo.“

    „Hallo, Herr Altstädt?“, meldete sich eine Stimme, „hier im Auto sitzt ein junger Mann, er sagte mir, er heiße Leon.“

    Der Mann am Telefon sprach ein exzellentes Hochdeutsch. Der französische Akzent war trotzdem deutlich.

    „Der kleine Mann hier, übrigens ein sehr intelligenter Junge, ist ganz interessiert an dem Hubschrauber, der so tief hier herum fliegt.“

    Michelle konnte sich nicht mehr beherrschen, sie riss Thilo das Handy aus der Hand.

    „Wo ist mein Junge. Geben Se mir meinen Jungen wieder“, schrie sie ungehemmt ins Telefon.

    „Hallo, Frau Altstädt, Sie sind die treusorgende Mutter? Da kann ich Ihnen aber einen Vorwurf nicht ersparen: passen sie besser auf Ihre Kinder auf.“

    Thilo griff energisch nach seinem Handy und nahm es wieder an sich.

    „Wo ist mein Sohn? Geht es ihm gut?“

    Er zitterte und musste sich setzten.

    „Antwort auf ihre zweite Frage: Es geht ihm gut, Antwort auf ihre erste Frage: Hier im Wagen.“

    Dem Mann am Telefon schien das Spiel zu gefallen, „Und der Wagen steht auf Ihrem Hof.“

    Mit diesem Satz wurde die Leitung unterbrochen.

    „Er ist bei uns zu Hause“, schrie Thilo unnötigerweise. Er packte Michelle an der Hand und rannte sie hinter sich herziehend zum Wagen. Der Polizist nahm Funkkontakt zum Hubschrauber auf und rannte dann ebenfalls zum Wagen.

     

    Später saßen alle im Wohnzimmer. Der Mann war nicht gefunden worden. Michelle hatte Leon auf ihrem Schoß und hielt in fest umschlungen. Diese Wichtigkeit gefiel Leon.

    „Frau Zwirner hat mich aus der Klasse geholt. Dann ist ein Mann gekommen und hat mich mitgenommen. Er hat gesagt, dass ich einen Preis gewonnen habe und ich mich auf den Erlebnispark Steinau freuen soll. Weißt du Mamma, dort waren wir schon im letzten Jahr, und ich dürfte alles fahren und machen. Der Mann hat alles mitgemacht, was ich wollte, und dann haben wir dort gegessen, einen großen Hamburger mit viel Ketchup und Pommes, und ich durfte Cola trinken.“

    Er warf seiner Mutter einen triumphierenden Blick zu.

    „Dann sind wir hierher gefahren. Der Mann sagte, ich solle solange im Auto bleiben, bis noch eine Überraschung käme. Dann sind ihr und die Polizei gekommen.“

    „Wie sah der Mann aus?“ fragte der Beamte.

    „Ein Mann halt, sehr nett. Mehr weiß ich nicht“, antwortete Leon.

    Weitere Informationen waren nicht zu bekommen.

    Teilweise erleichtert zog die Polizei ab.

    Leon fühlte sich wie ein Held.

     

    Später, als Michelle den schlafenden Leon in sein Bett gebracht hatte, sagte Michelle, „Bring diese Angelegenheit in Ordnung. Du regelst das. Sonst verlasse ich dich und nehme die Kinder mit. Michelle Augen funkelten vor Zorn und Entschlossenheit. Thilo liebte dieses Temperament an ihr. Jetzt fürchtete er ihre Entschlossenheit und Konsequenz.

    „Michelle, hab doch Vertrauen, ich habe alles im Griff.“

    Eigentlich glaubte er seinen eigenen Worten nicht. Jetzt konnte er keinen Entschluss fassen, er brauchte Zeit.

    Sie antwortete nicht einmal, sondern stand auf.

    „Eine Woche gebe ich dir. Eine Woche! Solange schlafe ich im Gästezimmer“.

     

    Thilo saß am nächsten Morgen kaum am Schreibtisch, da griff er zum roten Handy.

    „Guten Morgen, Wolfgang!“

    „Guten Morgen Thilo, ich berichte kurz: Wir konnten sehr schnell das Handy orten. Wir haben es auch gefunden. Es lag auf einer Parkbank im Stadtgarten, gegenüber vom Bahnhof. Es war ein schwarzes Handy, ohne Kennung. Keine Fingerabdrücke. Während wir alle zu dir gerast sind, hat sich der Mann in aller Ruhe unbemerkt aus dem Staub gemacht.“

    „Die Überwachungskameras vom Bahnhofsvorplatz?“ fragte Thilo, obwohl er die Antwort genau wusste.

    „Nichts, die Kameras reichen nicht bis zu dieser Bank. Wir haben also nichts. Absolut nichts.“

    Kommissar Ulmer wollte seinen Freund nicht verärgern, aber es gab nichts Entscheidendes zu berichten.

    „Wolfgang, ich brauche alle Informationen über diesen Kurt Unker und seiner Frau. Ich will alles wissen. Mach von mir aus eine Anfrage im Zentralcomputer. Übrigens ich habe Benny reden gehört, dass die Unkers mit Gewehren mit Zielfernrohr geschossen haben. Überprüfe, ob die eine Waffenbesitzkarte haben.“

    „Haben wir schon überprüft. Du erinnerst dich an den mysteriösen Toten auf dem Motorboot, das ist etwa drei Jahre her? Fragte Ulmer.

    „Ja, so ungefähr. Damals war auf einem Boot ein unbekannter Mann erschossen aufgefunden worden“, antwortet Thilo.

    „Ja, Wiesbaden hat die Angelegenheit untersucht. Es ist ein Mann auf einem gemieteten Boot erschossen aufgefunden. Der Schuss traf ihn mitten in das rechte Auge. Das Boot trieb ab, so dass man nicht genau ermitteln konnte, wo genau der Mann zu Tode gekommen ist. Der tödliche Schuss hätte hier in unserer Gegend abgeben worden sein. Man hatte damals auf dem Boot ein Präzisionsgewehr bei ihm gefunden. Der Mann war auf der Stelle tot. Im Rahmen dieser Ermittlungen wurden auch die Unkers befragt. Sie haben beide ein Gewehr und die dazugehörige Besitzkarte. Die beiden sind Jäger. Außerdem wurde der tödliche Schuss mit einem ganz anderen Kaliber: .50 BMG abgegeben. Die Sache verlief später im Sand und wurde ungeklärt zu den Akten gelegt.“

    „Wurde damals eine Hausdurchsuchung bei Unkers durchgeführt?“

    „Nein, es gab keinen Grund dafür.“

    „Welche Kaliber haben die Waffen der Unkers?“

    „Ich habe mich damals gewundert, dass solche Scharfschützengewehre zur Jagd verwendet werden. Das waren zwei identische Gewehre: Steyr SSG 69 mit Kaliber 7,62 mm. Waffen, die in erster Linie von Scharfschützen auf weite Entfernungen benutzt werden. Bei der Jagd wird in der Regel nur bis 300 Meter geschossen.“

    „Scheiße“, murmelte Thilo, „dann also die Abfrage!“

    „Das geht nicht“, sagte Ulmer.

    „Was heißt, es gibt keinen ermittlungsrelevanten Grund für eine Abfrage? Mach einfach die Abfrage, da wird schon keiner nachfragen.“

    Thilo hörte nochmals kurz zu, dann sagte er, „Übrigens, ich interessiere mich für einige Grundstücke auf Mallorca und habe keine Zeit, sie mir anzusehen. Könntest du nicht mit deiner Frau zusammen das für mich erledigen.“

    Er hörte noch einmal kurz zu. Na also, geht doch, dachte er, als er das Gespräch beendete.

    Wolfgang Ulmer bekam die Häufung von Ereignissen, die sich um Kurt und Bernharda Unker häuften durchaus mit. Deshalb interessierte auch er sich auf für Herrn und Frau Unker. Wer waren sie? Woher kamen sie?

    Zwei Stunden später kam die Antwort auf seine Anfrage: Kurt Unker, geboren 10. Okt. 1954 in Kempten, Bayern. Abitur mit Note 1.3 mit Auszeichnung. Freiwillige Meldung zur Bundeswehr, dort Ausbildung zum Kampfschwimmer und Präzisionsschützen. Unehrenhafte Entlassung, nachdem er einen vorgesetzten Ausbilder angegriffen hatte und schwer verletzt hatte. Danach Eintritt in die Fremdenlegion.

    Spitzname: Couteau dangereux. Rückkehr 2004 nach Deutschland. Verheiratet mit Bernharda, Geburtsname unbekannt. Alter: unbekannt, Geburtsort unbekannt. Keine Vorstrafen.

    Sofort nachdem er das Dossier gelesen hatte, rief er Thilo an und berichtete.

    „Danke“, sagte Thilo nachdenklich. Gibt nichts her, dachte er. Oder doch? Er ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen.

    „Herr Fichter, kümmern Sie sich bitte um die Flüge nach Mallorca und Hotelzimmer. Dann lassen Sie die Unterlagen für die Grundstücke zusammen stellen und machen Termine mit den Maklern.“

    Thilo saß in seinen Bürosessel tief versunken und schaute aus dem Fenster über den Werkhof in die Ferne. Er dachte und dachte, kam aber zu keinem Ergebnis.

     

    Zur gleichen Zeit betrat Kurt das Polizeirevier.

    „Ich möchte Herrn Kommissar Ulmer sprechen, sofort.“

    Der Beamte, noch recht jung und eifrig, antwortete, „So einfach geht das nicht. Da muss ich beim Chef nachfragen und einen Termin vereinbaren.“

    Geduld gehörte nicht zu Kurts Tugenden, aber er nahm sich zusammen und blieb ruhig.

    „Bitte kommen Sie später wieder“, sagte der Beamte und drehte sich zu seinen Akten.

    Mit einem Sprung war Kurt über den Tresen gesprungen. Mit der linken Hand hielt er den rechten Arm des Beamten fest, der nach der Pistole tasten wollte. Die rechte Hand packte in den Kragen und zog den Mann nach vorn.

    „Wir gehen jetzt zusammen zu Herrn Ulmer!“, bellte Kurt. In Herrn Ulmers Zimmer ließ Kurt den Beamten los. Sofort zog der Polizist seine Pistole.

    „Hände hoch, sofort“, rief er einen Schritt zurücktretend.

    Kurt trat zu ihm und legte seinen Finger auf die Mündung.

    „Sie wirken glaubwürdiger, wenn Sie das Ding in Ihrer Hand entsichern.“

    Mit einer leichten Drehung hatte er die Pistole in seiner Hand.

    „Lassen Sie es gut sein“, sagte Kommissar Ulmer.

    „Ich muss Sie sprechen, allein“, sagte Kurt und schubste den verdatterten Beamten zur Tür hinaus.

    „Herr Ulmer, ich will es kurz machen. Sie haben heute Morgen in meiner Vorgeschichte geforscht?“

    „Nein, wie kommen Sie darauf?“ fragte Ulmer unschuldig.

    „Ich weiß, dass es so ist, das muss Ihnen genügen. Also, warum?“ Kurts Ton wurde eine Spur drohender.

    „Ich weiß nicht, worüber Sie sprechen. Jetzt verlassen Sie mein Büro.“

    Er stand auf, um das Gespräch zu beenden.

    „Können Sie bei dieser Meinung bleiben, wenn es zu einer Untersuchung kommt?“ fragte er, ohne Anstalten aufzustehen.

    „Sie haben ohne Grund eine Abfrage über mich im Zentralcomputer gemacht, Das kann Sie Ihren Job kosten. Verstanden? Also, warum?“

    Wolfgang Ulmer ließ sich auf seinen Stuhl fallen.

    „Nein, das würde ich niemals machen“.

    „Herr Ulmer, ich weiß, dass Sie eine Abfrage gemacht haben, das genügt, um sie um Ihre Pension zu bringen. Ist es das wert?“ fragte Kurt ungeduldig.

    „Mensch! Mann! Denken sie nach!“, rief er ärgerlich, „Ihre Altersversorgung liegt in meiner Hand. So reden Sie doch, Sie schweigen sich um Kopf und Kragen.“

    Wolfgang Ulmer war blass, dann schüttelte er den Kopf.

    Kurt hob bedauernd die Schultern.

    „Dann die Untersuchung“, sagte Kurt und ging.

    Die Sache stinkt. Die Sache stinkt ganz gewaltig, dachte Ulmer, ich muss jetzt ruhig bleiben.

    Schnell rief er Thilo an. Aber der reagierte nur ärgerlich.

    „Pech gehabt, Berufsrisiko. Jetzt sollten Sie natürlich nicht nach Mallorca fliegen.“

     

    „Sollen wir ihm noch eine Chance geben?“, fragte Bernharda auf einem geschälten Apfelschnitz kauend.

    „Eine Chance, die letzte, soll er noch haben. Er hat so eine nette Frau und tolle Kinder“, antwortete Kurt und griff ebenfalls zum Apfelschnitz.

    „Morgen Früh hole ich ihn“, sagte Kurt kauend.

     

    Nach dem Frühstück bestieg Kurt den Rover und fuhr zu Altstädt. Er hielt den Wagen direkt vor der Treppe des Bürogebäudes. Schnell ging er zum Empfang.

    „Wo ist das Büro von Thilo Altstädt?“

    Die blondierte Dame hinter dem Tresen blickte unsicher.

    „Herr Altstädt ist in einer Besprechung und will nicht gestört werden. Er kann Sie nicht empfangen.“

    Kurt griff über den Tresen, fasste sie durch ihre Bluse zwischen den Brüsten am BH und zog sie hoch und zu sich hin.

    „Ich hab nicht gefragt, ob er jemanden empfängt. Ich habe gefragt, wo sein Zimmer ist.“

    Sie zappelte, weil sie kaum Luft bekam.

    „Zweiter Stock, direkt gegenüber der Treppe“, ächzte sie.

    Kurt ließ sie fallen und rannte die Treppe hinauf.

    Ohne anzuklopfen ging er in den Raum. Herr Fichter telefonierte gerade. Wahrscheinlich hatte die Dame vom Empfang angerufen.

    „Halt, was erlauben Sie sich“, rief er laut und kam um seinen Schreibtisch herum auf Kurt zu.

    „Ist er da drin?“ fragte er und ging auf die geschlossene Tür zu.

    „Halt, Herr Altstädt ist in einer Besprechung und kann nicht gestört werden.“

    Kurt ging trotzdem weiter. Herr Fichter trat Kurt in den Weg. Es gab ein kurzes Gerangel und ein Gurgeln. Kurt hatte Herrn Fichter fest im Schwitzkasten seines linken Armes. Mit der rechten Hand öffnete die Tür und stieß sie weit auf. Mit Herrn Fichter unter dem Arm nach sich ziehend trat Kurt in das Zimmer.

    Alle standen ruckartig auf. Kurt ging bis zur Mitte des Raumes. Herr Fichter strampelte und versuchte sich zu befreien. Als Kurt den Druck erhöhte, blieb er ruhig und schlaff. Zu den beiden Besuchern und Gesprächspartnern von Thilo gerichtet, sagte Kurt, „Die Besprechung ist beendet. Verschwinden Sie.“

    Der dickliche Ältere machte große Augen und sah zu Herrn Altstädt.

    „Soll ich die Polizei rufen?“

    Der jüngere, noch schlanke Mann ging wild entschlossen, mit geballter Faust auf Kurt zu. Ohne Herrn Fichter loszulassen griff Kurt nach der Seidenkrawatte, natürlich quer-längsgestreift, als Zeichen geschmackvoller Unterordnung. Er drehte sie zweimal um seine Hand und zog zu und stellte ihn die Luft ab.

    „Jetzt aber raus hier, aber dalli.“

    Irgendwie musste er lachen: Hampelmänner und Wichtigtuer, aber keinen Mumm. Mit Herrn Fichter unter dem linken Arm und an der rechten Hand den anderen hängend, wandte er sich zu Thilo Altstädt. Gleichzeitig ließ er beide los und beide sackten jämmerlich zu Boden.

    „Ich will mit Ihnen reden, sofort. Kommen Sie mit!“

    Thilo war hinter seinem Schreibtisch stehen geblieben. Ihre Blicke trafen sich.

    „Gut, ich komme mit Ihnen. Aber ich brauche noch ein paar Minuten, um mich frisch zu machen. Warten sie unten auf mich“, sagte er ruhig und bestimmt.

    Kurt stieg über die beiden Männer und wartete in seinem Wagen.

    „Sie sind noch oben, kümmern Sie sich“, rief er im Vorbeigehen der blonden Dame zu.

     

    Zusammen mit Herrn Fichter kam Thilo herunter und stieg zu Kurt in den Wagen.

    „Wohin fahren wir?“, fragte er.

    „Zu uns nach Hause. Dort lässt es sich in aller Ruhe sprechen. Bernharda hat Apfelkuchen gebacken, den müssen Sie probieren.“

    Kurt führte Thilo auf die Veranda.

    „Es ist noch etwas frisch hier draußen, es wird langsam Herbst. Bitte legen Sie trotzdem Ihre Jacke ab und schalten Sie ihre Handy aus, alle. Es soll ja niemand mithören, oder?“

    Thilo zog seine Jacke aus und stellte das Handy aus.

    „Auch das andere in ihrer Hosentasche, bitte“, sagte Kurt, „und das dritte im Strumpf auch noch.“

    Schade dachte Thilo, das wäre die Möglichkeit gewesen.

    Bernharda brachte Tee und Kuchen.

    Kurt nippte am Tee und nahm eine Gabel vom Kuchen. Kauend meinte er zu Thilo:

    „Dieses Gespräch ist Ihre letzte Chance, nutzen Sie sie, um Ihrer Familie willen.“

    „Was schlagen Sie vor?“ fragte Thilo abwartend.

    „Tragen wir es wie Männer aus. Jeder bekommt ein Gewehr, und wir gehen auf eine Distanz, von sagen wir 200 Meter, und dann schießen wir. Ganz einfach. Wer trifft, hat gewonnen. Was meinen Sie dazu. Wir sind doch Männer.“

    Kurt hatte noch eine Gabel in den Mund geschoben.

    „Bernharda, der Kuchen ist vorzüglich“, sagte er zu Bernharda gewandt.

    Thilos Herz schlug fester, er spürte ein leises Kribbeln unter der Kopfhaut. ‚Er war seit Jahren im Sportschützenverein von Fulda. Gerade vor zwei Monaten wurde er wieder Vereinsmeister. Er war mehrfacher hessischer Meister und dritter deutscher Meister vor einem Jahr. Ja, er hatte beste Chancen. Er wollte gerade das Angebot annehmen, als sein Blick in die Augen Kurts fiel. Er sah die Ruhe und Gelassenheit in diesem Blick, und er sah auch die Sicherheit in das eigene Können. Dieser Mann würde zwischen seine Augen zielen, und er würde schießen, und er würde treffen. Er schüttelte unbewusst den Kopf.

    „Gute Wahl“, hörte er Kurt sagen.

    „Welches Ziel“, fragte Kurt den überraschten Thilo und deutete auf zwei Flaschen, in einer Entfernung von mehr als fünfhundert Metern, „und wer soll zuerst schießen?“

    „Linke, grüne Flasche“, sagte Thilo, „und Sie schießen zuerst.“

    Kurt griff nach einem der Gewehre.

    „Zählen Sie bis fünf“, befahl er.

    Bei zwei schoss er, und die Flasche zerbarst.

    „Jetzt Sie!“, sagte er und reichte Thilo das Gewehr. Thilos Hände waren doch feucht schweißig. Was soll´s, es ist nur ein Messen, dachte er.

    „Eins, zwei, drei, vier“, Kurt zählte betont langsam. Bei vier schoss Thilo, aber die Flasche bewegte sich nicht einen Millimeter, auch nicht vom Geschosswind. Thilo war doch beeindruckt.

    „Sehen Sie, wie gut ihre Wahl war“, sagte Kurt und räumte die Gewehre zur Seite.

    „Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen.“

    Kurt goss sich seine Tasse voll. Thilo hatte nur einen kleinen Schluck genommen.

    „Ich war vor Jahren irgendwo in Afrika, das Land spielt keine Rolle, der persönliche Bodygard von Orlanda, der Lieblingstochter eines Stammesfürsten. Orlanda war ein liebes, aufgewecktes Mädchen von 6 Jahren. Ich liebte sie fast wie meine eigene Tochter. Den ganzen Tag musste ich ihre Fragen beantworten. Sie wich nicht von meiner Seite und ich natürlich auch nicht von ihrer. Ich schlief im Zimmer vor ihrem Zimmer und jeder, der in ihr Zimmer wollte musste durch mein Zimmer kommen. Durch eine Intrige wurde meine Integrität angezweifelt. In Afrika werden solche Probleme sofort und endgültig beseitigt. Ich wurde durch eine Sekretärin gewarnt und konnte mich gerade noch in Orlandas Zimmer retten. Ein persönlicher Mitarbeiter Abebes, dem Vater von Orlanda, trat die Zimmertür ein. Er fand mich auf einem Stuhl sitzend, Orlanda auf meinem Schoß sitzend, mit meinem Messer an ihrer Kehle. Thomas, der Spezialmitarbeiter ließ seine Pistole sinken. Er war unsicher und rief nach Abebe. Dieser kam sofort ins Kinderzimmer. Er blieb an der Tür stehen, und wir blickten uns in die Augen. Langsam kam er auf uns zu. Schritt für Schritt. Er strich Orlanda über ihre Locken und ihre Schleife, die sie immer im Haar trug. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er drehte sich um und verließ das Zimmer. Als er durch die Tür ging, sagte er: „Kill him“. Ich machte eine ruckartige Bewegung und diese Bewegung rettete mein Leben. Die Kugel verfehlte ihr Ziel. Sie trat etwas oberhalb meines Herzens ein und prallte an eine Rippe ab, und sie trat seitlich unter der Achsel wieder aus.“

    Bei diesen Worten riss er sich das T-Shirt hoch, und Thilo konnte die tiefe Narbe sehen, die das Projektil hinterlassen hatte. Thilo konnte genau die Einschussstelle und die Austrittsstelle sehen. Beide waren schlecht vernarbt.

    „Jetzt mein Vorschlag: Sie verzichten auf Ihre Apartments und bauen stattdessen eine Behandlungsstätte für traumarisierte Kinder. Akzeptieren Sie unseren Vorschlag, dürfen sie auch mit ihren Baufahrzeugen über unser Grundstück fahren. Denken Sie, dass Sie der große Wohltäter sind und damit der eigentliche Gewinner. Lehnen Sie ab, geht der Krieg weiter, und Sie verlieren alles. Morgen um neun Uhr erwarte ich Sie an diesem Tisch.“

    Thilo war ganz benommen und ging grußlos. Er hatte vergessen, dass er ohne Auto hier war, und er vergaß auch seine Jacke mit den Handys.

     

    Sobald Thilo verschwunden war, kam Bernharda auf die Terrasse.

    „Du alter Fuchs, du hast nichts verlernt, aber auch garnichts“, sagte sie liebevoll bewundernd.

    „Der alte Trick mit dem abgefeiltem Projektil und der doppelten Wahl. Er hatte keine Chance.“

    Sie küsste ihn hingebungsvoll. Dann holte sie die Gewehre. Das erste war leer, das zweite hatte zwei Kugeln im Magazin. Diese ließ sie in ihre Hand fallen.

    „Aha“, sagte sie und streckte eine Kugel in die Höhe.

    „So wie du diese abgefeilt hast, musste sie im Flug zerplatzen. Beim ersten Gewehr war die zweite Kugel abgefeilt, nicht wahr?“

    Kurt grinste zufrieden. Bernharda warf die Projektile ins Gras und küsste ihn voller Liebe fest auf den Mund. Sie küssten sich solange bis ihre Lippen bluteten. Beide leckten sie das Blut und den süßen Geschmack ab.

     

    Am nächsten Morgen erschien Thilo pünktlich.

    „Tee oder Kaffee?“, fragte Bernharda.

    „Tee! Danke.“

    Thilo war freundlich und aufgeräumt, fast beschwingt.

    „Und?“, fragte Kurt. Er schien nicht angespannt, sondern nur gespannt. Er wollte einfach die Entscheidung Thilos wissen.

    „Einverstanden“, sagte dieser nur, „Ich weiß, wann es genug ist.“

    „Das Kinderdorf?“ fragte Bernharda nach.

    „Ja!“

    „Gute Entscheidung. Sie wahren ihr Gesicht, und alle werden sie als Wohltäter feiern.“

    Bernharda stand auf und holte ihren Apfelbrand und zwei Gläser.

    „Auf Ihre kluge Entscheidung.“

    Bernharda hab ihr Glas.

    „Auf das Kinderdorf und darauf, dass ich dafür mit meinen Baufahrzeugen über ihr Grundstück fahren darf.“

    Auch Thilo hob sein Glas. Er trank aber nicht, auch kein kleines Nippen. Aus Erfahrung wird man klug. Er lehnte sich zufrieden auf seinem Stuhl zurück und erhob erneut sein Glas.

    „Bitte, Herr Unker, beantworten Sie mir eine Frage?“

    „Gern“, schmunzelte Kurt. Er wusste, welche Frage Thilo umtrieb.

    „Sie wollen wissen, wie die Sache mit Orlanda und Abebe weiterging?“

    Thilo nickte.

    „Nun, Herr Abebe ist ein kluger, ja Intelligenter Mann. Er wusste, dass ich ein toter Mann war, und er wusste, dass ich es wusste. Es hätte sich nichts an meinem Tod geändert, wenn ich Orlanda getötet hätte. Er wusste also, dass ich es nicht tun würde. Die ruckartige Bewegung, die mir letztlich das Leben rettete, war, als ich Orlanda von meinem Schoß schleuderte und mein Messer warf. Aber eine Pistolenkugel fliegt schneller als ein Messer. Sie wollen sicher auch wissen, was aus Orlanda und Herrn Abebe geworden ist. Nun, Herr Abebe hat politisch Karriere gemacht. Er ist heute zweiter Botschafter seines Landes in Schweden. Für Orlanda habe ich die Patenschaft übernommen. Sie studiert zurzeit in Berlin Germanistik und internationale Diplomatie. Sie haben Sie schon häufiger gesehen, wenn ein schwarzer Wirbelwind über die Felder fegt. Sie reitet wie der Leibhaftige.“

    Kurts Augen leuchteten vor väterlichem Glück.

    „Herr Abebe kommt auch manchmal zu uns, aber leider hat er viel zu tun.“

    Thilo schüttelte den Kopf.

    „Hassen Sie den Mann denn nicht, der Sie töten lassen wollte?“ fragte er ungläubig.

    „Nein, warum auch? Das damals war ja nichts Persönliches. In dieser Situation ist das wie im Krieg: Sie erschießen einen Soldaten, ohne ihn zu kennen. Vielleicht ist er ja ein ganz netter Kerl.“

    Thilo stand auf.

    „Also abgemacht, ich darf über Ihr Grundstück fahren?“

    „Abgemacht“, sagte Bernharda.

    „Abgemacht“, sagte auch Kurt.

    Alle gaben einander die Hand.

    Kurt begleitete Thilo zum Wagen.

    „Übrigens“, sagte er leise, „ganz im Vertrauen gesagt, wenn Sie uns linken, sind sie tot.“

     

    Bernharda und Kurt setzten ihr Frühstück fort.

    „Glaubst du, er betrügt uns?“ fragte Bernharda.

    „Ich weiß es nicht, aber wir werden aufmerksam sein“, antwortete Kurt.

    „Wir zwei sind richtig gut, unüberwindlich, wie ein steiler Berg.“

    Bernharda beugte sich zu Kurt, und wieder küssten sie sie lang, diesmal voller Zärtlichkeit. Lange blickten sie einander in ihre Augen. Ihr Blick sagte, wir lieben uns, wir gehören zusammen, nichts kann uns trennen, nur der Tod, und der war bisher unser Freund.

    Wenige Stunden später begannen die Baufahrzeuge mit dem Abriss des Altenteils des Gutes.

     

     

    Epilog

     

    Knapp fünf Monate später saßen Bernharda und Kurt zusammen am Esstisch.

    „Hast du gelesen? Thilo Altstädt ist tot.“

    „Der muss richtige Feinde gehabt haben!“

    „Erschossen! Erschossen auf der Veranda sitzend. Seine Frau war gerade die Kinder in die Kirche fahren.“

    „Perfekter Zeitpunkt.“

    „Kaliber ,50 BMG.“

    „Hochwertiges Material“, sagte Kurt anerkennend.

    „Die Polizei sagt, der Schuss wurde aus über 1000 Meter abgeben und traf genau zwischen die Augen.“

    „Erstklassiger Schütze“, kommentierte Kurt voller Bewunderung.

    „Ja, es ist immer gut, richtige Freunde zu haben“, sagte Bernharda kauend.

    „Ja, und es ist tödlich, richtige Feinde zu haben.“

    Kurt griff zur Erdbeermarmelade.

    „Selbstüberschätzung und Eitelkeit sind häufig die schlimmsten Gegner und manchmal sogar tödlich.“

     

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

  •   Ich war ein Teufel
    bis ein Engel kam
                                       und mich verführte,
                                        nun sind wir beides:
                                         viel Teufel und wenig Engelein

    Energisch schob ich die Bettdecke zur Seite und setzte mich mit einem Ruck auf. Warum konnte ich nicht schlafen? Eigentlich kann ich immer und überall schlafen, warum jetzt nicht?

    Ich stand auf, öffnete das Fenster und zog den Rollladen höher. Leise legte ich mich wieder ins Bett, ich wollte Judith nicht stören.

    „Kevin! Gib endlich Ruhe!“

    Judith war wach.

    „Schlaf endlich, was ist mit dir?“

    Sie war ziemlich ärgerlich. So ärgerlich, wie man mitten in der Nacht ist, schlafen will und der Partner nicht schlafen kann. Und wenn Judith ärgerlich ist, dann ist sie besonders ärgerlich.

    „Liebling! Ich weiß auch nicht. Ich bin einfach nicht müde. Das heißt, ich bin einfach wach“, antwortete ich beschwichtigend.

    „Warum bist du nicht müde, und warum bist du wach?“ Judith wollte nicht beschwichtigt werden.

    „Liebling!“

    „Hör auf mit Liebling. Das ist immer verdächtig.“

    „Judith! Ich habe einfach das Gefühl, dass irgendetwas passiert.“

    Ich verstand meinen Zustand selbst nicht und sollte ihn Judith erklären.

    Ich drehte mich auf meine rechte Seite, auf meine Einschlafseite.

    „Gute Nacht.“

    „Gute Nacht“, auch Judith drehte sich um.

    Fest entschlossen einzuschlafen zog ich meine Decke um die Schultern. Während ich auf den Schlaf wartete, merkte ich, dass Judith steif und fest in ihrem Bett lag und auch darauf wartete, dass ich einschlief. Nach wenigen Minuten versuchte ich es auf meiner zweiten Einschlafseite. Judith bewegte sich nicht. Aber ich spürte ihre Wachheit körperlich. Nachdem ich mich auf meine erste Einschlafseite zurückgedreht hatte, setzte sich Judith ärgerlich auf, sehr ärgerlich. Sie knipste ihre Nachtischlampe an. Mit ihrer typischen Bewegung strich sie sich ihre Haarsträhne auf dem Gesicht und beugte sich zu mir.

    „Kevin! Willst du mir etwas sagen?“

    „Nein“ Was sollte ich dir sagen wollen?“

    „Seit Stunden wälzt du dich von einer Seite zur anderen. Was ist los mit dir?“

    Ihre Stimme war tranchiermesserscharf.

    „Ich weiß nicht, was mit mir los ist?“

    Ich merkte, dass meine Stimme schuldbewusst klang, obwohl ich gerade das verhindern wollte.

    „Liebst du mich nicht mehr?“

    Diese Frage klang schon wie eine Tatsache.

    „Quatsch, ich liebe dich fest wie immer.“

    „Gibt es eine andere Frau? Gib zu, es gibt eine andere Frau!“

    Jetzt setzte ich mich auf. Wir saßen nebeneinander und sahen einander an.

    „Blödsinn, Du bist meine Traumfrau. Ich liebe dich.“

    „Das ist schnell gesagt. Vielleicht bist du aber nur zu feige, es mir zu sagen“, bohrte sie weiter.

    Keine Frau dieser Welt weiß, wann sie aufhören sollte, insbesondere Judith nicht. Ich jedenfalls wurde auch ärgerlich.

    „Ich bin nicht feige.“

    „Wenn du nicht feige bist, warum sagst du es mir nicht?“

    Jetzt war ich rechtschaffend und ehrlich böse.

    „Es gibt nichts zu sagen!“ schrie ich.

    „Ich liebe dich, und es gibt keine andere Frau“, fauchte ich sie an.

    Mir nicht glaubend, sagte sie: „Gut, ich glaube dir. Dann hast du ein anderes Problem“.

    „Nein! Nein! Abermals nein, ich habe kein anderes Problem“, ich wurde wieder laut.

    „Mir scheint, dass du doch ein Problem hast“.

    Ich kochte vor Wut.

    „Das einzige Problem, das ich habe bis du!“

    „Also doch! Ich bin dein Problem. Stehe ich dir im Weg? Los, sag, dass ich dir im Weg bin.“

    Dann schwieg sie, und wenn Judith schwieg, schwieg sie anklagend. Welcher Mann kann in dieser Situation irgendetwas richtig machen? Versöhnlich sagte ich nach einer kleinen Ewigkeit:

    „Judith, ich liebe dich. Es gibt kein Problem. Es gibt vor allem keine andere Frau.“

    Um es ganz richtig zu machen, fügte ich noch hinzu, „Du bist meine Erfüllung.“

    Judith schwieg, was schlimmer war, als wenn sie anklagte.

    „Judith? Liebst du mich?“

    „Ob ich dich liebe? Das steht doch überhaupt nicht zur Debatte.“

    „Nein, aber du könntest mir doch diese Frage beantworten.“

    „Warum sollte ich? Davon sprechen wir doch nicht. Du willst nur ablenken.“

    Genau in diesem Moment steht man als Mann auf sehr brüchigem Eis. Demonstrativ legte ich mich wieder auf meine erste Einschlafseite.

    „Du weichst mir aus!“

    Judith war noch nicht fertig.

    „Nein, ich weiche dir nicht aus. Ich bin müde.“

    „Jetzt plötzlich bis du müde. Du willst dich drücken, über deine Probleme zu reden.“

    „Gute Nacht!“, sagte ich nachdrücklich.

    „Gute Nacht! Kevin!“

    Dieses „Gute Nacht“ klang eher nach einer Drohung oder einer Kriegserklärung. Auch Judith legte sich auf ihre Einschlafseite und löschte das Licht.

    Wie soll man in solch einer Situation, in solch einer Anspannung einschlafen können?

    „Judith, hast du etwas gesagt?“

    „Nein!!“

    „Aber ich habe es ganz deutlich gehört“, sagte ich.

    Judith schwieg.

    Es vergingen einige Minuten.

    „Judith, wach auf! Es spricht jemand mit mir.“

    „Hier spricht niemand, außer dir. Schlaf endlich, oder ich zieh aus.“

    Ich lag da und lauschte.

    „Kevin! Steh auf und komm!“

    Ruckartig setzte ich mich auf. Ich lehnte mit dem Rücken an das Kopfteil.

    Jetzt hörte ich es wieder: „Kevin, auf was wartest du, komm mit“.

    „Judith, Judith!“ langsam wurde ich panisch, hörst du es nicht?“

    „Bitte, bitte, schlaf endlich. Ich hör nur dich sprechen. Hier ist niemand.“

    Judiths Stimme klang beruhigend, wie man zu einem Kind spricht.

    „Judith, ich höre es ganz deutlich“, schrie ich.

    „Judith, ich soll mitkommen.“

    Resigniert antwortete sie: „Schlaf jetzt. Ich höre nichts. Hier gibt es keine Stimmen. Ich bin wirklich müde.“

    Minuten blieb ich mit angezogenen Knien sitzen. Ich lauschte und horchte auf jedes Geräusch.

    „Kevin! Wir haben nicht ewig Zeit. Zieh dich an und komm.“

    Die Stimme war bestimmt und fordernd.

    Ich stand auf und zog mich an. Mich schauderte, trotz Kleidung. Gerade zog ich die Haustür hinter mir ins Schloss, als die Stimme tadelte: „Kevin, willst du dich nicht von deiner Frau verabschieden? Wir haben eine lange Reise vor uns.“

    „Ja? Natürlich!“, stammelte ich. Obwohl ich keinen Schlüssel eingesteckt hatte, war die Tür offen. Schnell ging ich ins Schlafzimmer zurück und beugte mich zu Judith. Was sollte ich sagen? Ich setzte mich auf ihre Bettkante und tastete nach ihrer Hand.

    „Nein, Nein, Kevin, nicht jetzt, ich will schlafen. Gib doch endlich Ruhe.“

    „Judith, das ist es nicht. Ich muss gehen!“

    „Ja, Ja“, erklang es müde.

    „Tschüss, Judith, ich gehe jetzt.“

    „Ja, Ja, ist schon gut. Geh! Geh mit Gott, aber lass mich schlafen“, antwortete sie schläfrig.

    Ich beugte mich zu ihr. Nachdem ich ihr Haar gestreichelte hatte, hauchte ich ihr zaghaft einen Kuss auf die Backe. Sie schlief schon fest und bemerkte es nicht. Oder doch? Sie lächelte leicht. Ich schüttelte den Kopf. War ich doch im Begriff, eine weite, eine sehr weite Reise anzutreten, von der ich weder das Ziel noch die Wiederkehr wusste, und Judith schläft und lächelt im Schlaf. Woher kam die rote Rose in meiner Hand? Ich legte sie auf ihren Nachttisch.

    „Eine kleine Prophetin, deine Judith“, spöttelte die Stimme.

    „Warum?“

    „Die gehst nicht nur mit Gott, du gehst auch zu Gott.“

    Bevor ich mich richtig wundern konnte, befahl die Stimme: „Los!“

    Ich fühlte mich um die Schultern ergriffen und gehoben, dabei fühlte ich keine Furcht, nein, ich fühlte mich sogar in dieser Situation wohl. Leicht und beschwingt, wie in einem schönen Traum, in dem man fliegen kann.

    „Du liebst Judith?“, wurde ich gefragt.

    Wie selbstverständlich antwortete ich.

    „Ja, sehr.“

    „Sie dich auch“, sagte die Stimme.

    „Bist du sicher?“, fragte ich in die Nacht. Ich unterhielt mich und war doch allein.

    „Wer bist du?“, fragte ich. Dabei merkte ich, dass ich neugierig war.

    „Ich bin ein Engel und habe den Auftrag, dich zu holen und zu begleiten“, antwortete die Stimme.

    Jetzt begann ich, mir Gedanken über meine Situation zu machen. Sie war wirklich! Ohne Frage: Wirklichkeit und Realität, und sie war selbstverständlich.

    „Zu holen und zu begleiten? Wohin?“

    „Zu holen, zu begleiten, zu führen und zu beschützen, das ist mein Auftrag.“

    „Wohin?“ Ich wurde wieder neugierig.

    „Weit, weit, sehr weit“, antwortete der unsichtbare Engel.

    Ich spürte einen leichten Schups. Mit einem vorsichtigen Schritt ging ich los. Schritt für Schritt ging ich leichtfüßig weiter. Immer schneller kamen wir voran. Ich sah den Schwarzwald und den Bodensee unter mir weggleiten.

    „Spring!“, befahl die Stimme.

    Wir überquerten die Alpen und das Mittelmeer. Sogar Zypern konnte ich zweifelsfrei erkennen. Weiter und weiter ging es, Schritt für Schritt, Zeit für Zeit.

    Plötzlich wurde ich an der Hand ergriffen.

    „Stopp!“

    Ich schaute mich um. Um mich? Uns? Ringsherum nichts als Wüste. Ich? Wir? Standen auf einen kleinen Plateau auf einem Hügel und hatten einen guten Überblick. Immer noch wurde ich an meiner Hand festgehalten. Ich empfand keine Angst, nur unendliche Neugierde.

    Wo war ich? Zu sehen war nur Wüste und unbekanntes Land.

    „Wer bist du?“, fragte ich.

    „Zeig dich!“

    Plötzlich war ich nicht mehr allein. Hand in Hand standen wir nebeneinander. Als ich Ihr? Ihm? ansichtig wurde, verschlug es mir den Atem: lange, schwarze Haare, bis auf die Hüfte reichend, strukturierte Übergänge, ein Mund, ein Mund, die Sinnlichkeit personifiziert, er allein schon jeder Sehnsucht wert, Brüste, Beine, Schoß, nicht von dieser Welt. Ein unendliches Begehren kam über mich.

    „Da fällt dir nichts mehr ein! Nicht wahr. Glaub mir, mein Freund Kevin, wir Engel sind keine Engel, wie ihr es glaubt. Wir Engel genießen alle Freuden deiner Welt und aller anderen Welten, jeden Tag und jede Nacht.“

    Nachdem ich meinen Engel mit aller Sehnsucht bedacht hatte, kehrte ich langsam zu meinem Bewusstsein zurück.

    „Wie heißt du, Engelchen?“ fragte ich.

    „Ich bin Lulu. Aber, Kevin, hör mit dem Flirten auf, dafür wurdest du nicht hierher gebracht“, antwortete sie tadelnd.

    Ich war weiterhin keines weiteren Wortes fähig und starrte nur Lulu an.

    „Kevin! Kevin! Komm zu dir!“, lachte sich fröhlich, „ich bin ein Wesen aus dem Paradies.“

    Sie wiederholte das letzte Wort: „Paradies, nicht von dieser Welt. Ich genieße jede Wonne.“

    Gefangen in meiner Welt und plötzlich doch darüber. Jedenfalls stand sie neben mir. Nicht wie ein Geist, sondern real. Für mich jedenfalls. Ich hielt doch ihre Hand und sie die meine. Ich stand an einer Schwelle, die ich nicht begriff, nicht begreifen konnte. Lulu sah mich an. Sie begriff meine eingeschränkte Erkenntnisfähigkeit. Sie legte ihren Arm um meine Schultern, dabei drückte sie ihre Brust fest gegen meinen Oberarm. Fest und elastisch spürte ich ihre Brüste. Ich blickte in ihre Augen. Dabei sah ich Ungeduld, unerfüllte Erwartung und ungezügelte Erotik.

    „Kevin! Du erblickst nur das, was du sehen willst. In deinen Augen bin ich die schiere Erfüllung. Das ist aber nicht so, sondern existiert nur in den Gedanken, in deinen Gedanken und Gefühlen als Mann. Ich bin das alles nicht. Vielleicht ein ganz winziges Stückchen. Du denkst in eindimensionaler Kategorie: in begehrenswert und in nicht begehrenswert. Es gibt auch kein eindimensionales Gut oder Böse. Das eine, was du vielleicht als böse, sehr böse beurteilen würdest, kann höherdimensional durchaus gut oder absolut notwendig sein. Löse dich von jeder eindimensionaler Betrachtungsweise, deinem Denken in Kategorien. Meine Welt, Gottes Welt ist nicht eindimensional, oder zwei- oder dreidimensional, sie ist nur mit dem Maßstab der Unendlichkeit fassbar.“

    Lulu war ernst, oberlehrerhaft und amüsiert.

    Ich löste meinen Blick von ihr, auch wenn es mir schwer fiel. Mein Blick fiel wieder auf die öde, karge Landschaft.

    „Was willst du, oder was wollt ihr von mir?“

    „Mein lieber Freund“, sagte Lulu, „du bist ausgewählt. Du sollst Zeuge sein. Du sollst Zeugnis geben. Zeugnis an alle Welt, dass die Welt und alle Menschen Klarheit haben und wissen, was Sache ist.“

    Ich starrte verständnislos. Ich verstand nichts. Nichts von allem: wie ich hierhergekommen war, was hier vor sich ging und vor allem, was ich dabei sollte.

    „Jetzt! Pass gut auf!“, flüsterte sie und schüttelte mich. Alle menschlichen Attribute waren von ihr gewichen. Hier neben mir stand ein Wesen, völlig verklärt von höheren Kräften. Sie oder er oder es, jedenfalls der Engel schob mich einige Schritte bis zum Abgrund vor. Jetzt konnte ich das ganze Geschehen, das ganze Tal, alles, das Alles überblicken. Entsetzten ergriff mich. Geräusche hatte ich schon die ganze Zeit vernommen. Jetzt formten sie sich mit meinem Gesehenen zu einem Bild. Tausend und abertausende Menschen gingen, nein wurden vorangetrieben. Gebeugt, Schritt für Schritt schleppten sie sich in einer langen Prozession. Staub von ihrem Schritt wirbelte auf. Ich hörte diese schweren Schritte. Ich hörte ihr Jammern und Seufzen. Ich hörte auch ihren Aufschrei, wenn die Peitschen ihren Rücken trafen. Immer weiter wurden sie getrieben. Gebeugt und geschunden schleppten sie sich weiter. Die Menschen, jung und alt, Männer und Frauen, auch Kinder wurden von Teufeln, die ihre Peitschen auf die Rücken klatschen ließen, vorangepeitscht. Dort, wo das Tal eng wurde, machte es einen Knick nach links. Dort verschwanden die Massen von Menschen in lodernden Rot. Immer wieder hörte ich das Knallen und das Platzen der Haut auf dem Rücken. Fast spürte ich ihren Schmerz. Ich spürte jeden Schritt dieser geschundenen Kreaturen.

    Entsetzt, fassungslos blickte ich zu Lulu. Emotionslos blickte sie zurück, fast spöttisch, ob meines Entsetzens. Dann zeigte sie auf eine Anhöhe gegenüber der Abknickung des Tales.

    „Kevin!“, sie rüttelte an mir.

    „Pass auf! Achte nur auf den Berg.“

    Aber ich konnte meinen Blick nicht von den armen Verdammten, von den geschundenen Leibern lösen. Und dann: immer wieder das Knallen der Peitschen.

    „Achte nicht auf sie, das sind Einzelschicksale“, beschwor mich Lulu.

    „Einzelschicksale?“, schrie ich auf.

    „Ja. Kevin, Einzelschicksale, sonst nichts! Sie sind bedeutungslos. Sie haben nur Bedeutung für sich selbst und ihr eigenes Leben, nicht für den Ablauf des Ganzen.“

    Bewegungsunfähig stand ich und starrte auf die Ödnis. Auf die Wüste, die sich immer mehr verengte und im Höllenschlund endete.

    Lulu Hand griff nach meiner Hand und drückte fest.

    „Achtung!“, hörte ich sie wispern und deutete auf den Hügel.

    Ein schwarzes, gewaltiges Wesen, muskulösen Körper, voller archaischer Kraft und furchtbarer Potenz, erklomm den Hügel. Schritt für Schritt, ein schrecklicher Titan. Von der anderen Seite tänzelte, ich weiß nicht woher, eine weiße Figur. Mit seinen kleinen, weißen Flügelchen flatterte er auf den Riesen zu.

    Ich machte einen Schritt auf das Schauspiel zu, aber Lulu hielt mich zurück.

    „Nicht weiter“, sagte sie drohend. Dabei hob sie einen flammenden Stab.

    „Das ist doch nicht etwa das Flammenschwert, von dem in der Bibel berichtet wird?“

    „Ja“, antwortete sie mit Stolz in der Stimme.

    „Das Feuerschwert von Michael, dem Erzengel“.

    Der Stab, leuchtend und funkelnd, von unbestimmter Farbe, faszinierte mich.

    „Nein, das ist mein Schwert“, Lulu schien fast beleidigt.

    Darf ich es anfassen?“

    Ich griff nach dem Griff und wollte es ihr aus der Hand nehmen.

    „Nein! Das geht nicht. Es würde dich verbrennen.“

    Meine Hand zuckte auch schon schmerzhaft zurück. Sofort bildete sich in der Handinnenfläche eine Brandblase.

    „Hat jeder Engel, oder was du auch immer bist, so ein Schwert?“

    „Natürlich“, antwortete Lulu, „das gehört zu unserer Grundausrüstung. Genau wie meine Flügel, übrigens.“ Sie flatterte leicht mit ihrem linken Flügel, dann mit dem rechten Flügel.

    „Ihr Männer seid alle gleich. Für mein Schwert als Waffe und meine Brüste als Ziel eurer Sehnsucht habe ihr Augen. Gib zu, deine Gedanken waren nicht die, die man einem Engel entgegenbringt. Für das Wunder meiner Flügel, das Wunder des Fliegens, du hast es selbst erlebt, interessiert ihr Männer euch nicht.“

    Wieder flatterte sie, und wir wurden leicht angehoben. Bei unserer Wanderung über Berge und Meere hat sie da mit ihren Flügel geschlagen?

    Plötzlich wurde es still, gänzlich still um uns herum. Ich verspürte eine besondere Ergriffenheit. Auch die kesse Art war von Lulu gewichen. Mit feuchten Augen und gefalteten Händen stand sie still und blickte zu dem Schauspiel auf dem gegenüberliegenden Hügel.

    Der schwarze Riese mit dem finsteren Blick, muskelbepackt und mit dunkler Rüstung bewehrt, schritt auf den weißen, tuntigen Tänzer zu. Der Weiße war es, der das erste Wort ergriff. Er sah zu dem Schwarzen auf. Seine hohe Fistelstimme klang dünn zu uns herüber.

    „Ich grüße dich, Jehove. Gibt es einen bestimmten Grund, lieber Bruder? Und was soll dieser Verkleidung? Hast du das wirklich nötig?“

    Laut und wuchtig dröhnte er.

    „Auch ich grüße dich: Mein lieber Bruder Luzifer.“

    Er reichte dem Tänzer seine riesige Pranke zum Gruße und schüttelte sie heftig.

    „Setzten wir uns, Luzi. Ich möchte mit dir reden und habe dir einen Vorschlag zu machen.“

    Der Finstere trat beängstigen nah auf seinen Bruder zu.

    „Gut, reden ist immer gut. Aber, mein Lieber, lassen wir doch die Show.“

    Luzifer zeigte nicht die Spur von Ängstlichkeit.

    „Du hast deine Vektoren versammelt, wie ich sehe.“

    Mit einer weit ausladenden Geste zeigte er auf den Hügel, wo wir standen. Erst jetzt bemerkte ich, dass noch weitere Menschen, neben jedem stand ein Engel, auf dem Hügel versammelt waren. Mit dem anderen Arm deutete er auf einen weiteren Hügel.

    „Auch meine Botschafter sind versammelt.“

    Jetzt sah ich dort ebenfalls Menschen. Neben jedem dieser Menschen stand ein Teufel. Einige der Menschen schienen mir bekannt zu sein, aber richtig erkennen konnte ich es nicht. Von denen, die ich zu erkennen glaubte, wusste ich, dass sie schon tot waren. Einer könnte Mussolini sein, aber das konnte nicht sein. Oder doch? Und war dort nicht Papst Pius XII.? Das war doch wirklich unmöglich!

    Auf dem Hügel gegenüber stand ein Tisch mit zwei Stühlen.

    „In Ordnung, Luzi“, sagte Jehove.

    Beiden gingen zum Tisch und setzten sich.

    Jetzt saßen sich zwei Männer gegenüber: Zwillinge, so ähnelten sie einander.

    „Geht doch!“, lachten sie, als haben sie einen Witz gemacht.

    Mehrmals zupfte ich Lulu am Flügel.

    „Was geht hier vor?“, fragte ich.

    „Pssst.“

    „Ich dachte, Luzifer sei ein von Gott verstoßener Engel?“

    „Ach, ihr Menschenkinder glaubt aber auch jedes Märchen, das man euch erzählt. Nein, Jehove und Luzifer sind Brüder, Zwillinge, wie du siehst. Vor einiger Zeit schlossen die beiden Brüder eine Wette. Sie wetteten, wer in einer bestimmten Zeitspanne mehr Menschenseelen einfängt. Und wie es in den letzten Jahren aussieht, wird Luzifer seine Wette gewinnen.“

    Lulus Erklärung klang ganz sachlich.

    „Was passiert, wenn Luzifer die Wette gewinnt?“

    „Jeder der vier Geschwister hat eine bestimmte Fähigkeit, die die anderen drei nicht haben. Der Gewinner kann diese Fähigkeit für eine kurze Zeit beanspruchen.“

    Erstaunt fragte ich: „Vier Geschwister?“

    „Ja“, antwortete meine Engelin, „es gibt vier Geschwister. Außer den beiden Brüdern dort noch zwei Schwestern, also Vierlinge.“

    „Ich habe noch nie von Schwestern von Gott gehört.“

    Langsam fragte ich mich, was das für ein Traum sei. Aber so oft und so fest ich mich kniff, ich wachte nicht auf.

    „Lass das!“ sagte Lulu, ohne hinzusehen, „das macht nur blaue Flecken, und wie willst du die dann Judith erklären?“

    „Ich glaube, ich habe schon genug Problem, das hier alles Judith oder irgendeinem anderen Menschen, zu erklären, da kommt es auf ein paar blaue Flecken auf Oberschenkel und Bauch nicht an.“

    Ich war sarkastisch, in dieser Situation war ich sarkastisch.

    „Du kannst auch nichts von den Schwestern gehört haben. Sie interessieren sich für andere Sachen des Seins, nicht für ein paar Menschen auf einem kleinen Himmelskörper, abgelegen im Universum.“

    Für Lulu waren das Selbstverständlichkeiten.

    „Welche Fähigkeiten haben Jehove und Luzifer?“

    Wären Sie, lieber Leser, nicht auch neugierig, trotz dieser Situation?

    Jehove, mein Chef, bestimmt über die Zeit und Luzifer über den Raum.“

    „Und welche Fähigkeiten haben die Schwestern?“

    Lulu sah mich an und schüttelte ihren Kopf, so dass ihre schwarzen Haare in Wellen ihren Rücken hinab liefen.

    „Frag nicht, du würdest es nicht verstehen. Die Vierlinge zusammen und nur zusammen sind Alles.“

    Luzifer und Jehove unterhielten sich am Tisch sitzend. Insbesondere Luzifer äußerte sich erfreut über den Verlauf seiner Wette.

    „Da gebe ich dir recht. Meine Vorkehrungen sind ins Stocken geraten“, sagte Jehove.

    „Ich bin gut aufgestellt und für die Zukunft vorbereitet. Ich erwarte noch weitere Verbesserungen der Entwicklung“, antwortete sein Bruder.

    „Schau!“ Er wies auf die lange Menschenschlange, die ins Tal getrieben wurde.

    Jetzt konnte ich auch wieder das vielstimmige Jammern und Klagen, das Heulen und Stöhnen hören. Ebenso die Tritte des schleppenden Gleichschritts. Auch das Knallen der Peitschen und kurz darauf der jammervolle Aufschrei. Jedes Klatschen erzeugte ein Ächzen einer Seele.

    „Ich bin es müde. Mir macht es keinen Spaß mehr“, sagte Jehove, in dreihundertzweiundzwanzig Jahren gibt es keine Menschen mehr.“

    „Gibt es keine Menschen mehr?“, fragte Luzifer interessiert. „Warum?“

    „Die Menschen sind gerade dabei, sich selbst zu vernichten. Dein Werk, Luzi!“

    „Gute Arbeit, nicht?“

    Luzifer war sichtlich stolz. Er grinste breit.

    „Was willst du also?“, fragte er wieder.

    „Ich will die Menschheit retten. Deshalb schenke ich dir den Sieg unserer Wette.“

    „Warum willst du die paar Milliarden Menschen retten?“, erstaunte sich Luzifer.

    Jehove zog seine Brauen in die Stirn.

    „Du weißt doch, ich bin der Gute. Ich bin Gott!“

    „Was ist mit den verbleibenden Menschenseelen auf der Erde, jetzt und in Zukunft?“, fragte Luzifer misstrauisch, als wittere er eine Falle.

    „Die Menschen sollen eine Chance bekommen, aber dann schenke ich sie dir alle. Jetzt und sofort.“

    Jehove gab sich großzügig.

    „Daher weht der Wind.“

    Luzifer tat empört.

    „Jehove, mein Bruder, du bist ein verschlagener, alter Teufel. Der listenreiche Odysseus ist ein Anfänger dagegen. Du weißt genau, dann macht mir das Ganze keinen Spaß mehr.“

    Luzifer lehnte sich gedankenvoll zurück. Prüfend wanderte sein Blick zu seinem Bruder. Jehove erwiderte offen seinen Blick. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund. Er kannte seinen Bruder.

    „Du kennst mich ganz genau, Briderchen!“

    Luzifer gab seiner Stimme einen russischen Akzent und lachte schnarrend.

    „Abgemacht!“, rief er.

    Sie griffen nach zwei gefüllten Gläsern und ließen sie klingen.

    Als sich Luzifer gerade erheben wollte, hielt ihn Jehove zurück.

    „Noch eine Frage, Kamerad: was wirst du mit meiner Fähigkeit anfangen?“

    „Ich weiß es noch nicht“, antwortete Weiße.

    „Ehrlich?“, fragte der schwarze Zyklop.

    „Ehrlich!“, antwortete Luzifer nachdrücklich.

    Die Brüder umarmten sich. Jehove konnte es nicht unterlassen und boxte seinem Bruder auf den linken Oberarm. Jeder glaubte, dass die weißen Federn davon geschleudert würde, aber getäuscht. Luzifer sprang hoch und boxte zurück. Dann lachten sie beide schäppernd.

    „Du schickst deine Vektoren los und lässt unsere Abmachung verkünden. Vor allem sollen alle Menschen wissen, sie haben nur noch eine kleine Chance. Dass sie schließlich alle mir gehören, brauchen sie ja nicht zu wissen.“

    „Und du schickst deine Botschafter in gleicher Mission los, um diese Prophezeiung zu verbreiten.“

    „Howji, das werden sie, aber es wird auf meine persönliche Art und Weise geschehen.“

     

    Ich war gebannt. Ich konnte das alles nicht glauben. Lulu reagierte kaum, als ich es ihr sagte. Sie hatte nur Augen für einen kleinen, dicken Teufel, der heftig zu ihr winkte.

    „Das dort ist Belcilas, ein wunderbares Teufelchen, und ein teuflisch guter Liebhaber.“

    „Sag bloß, wie macht ihr das?“, ragte ich ungläubig.

    Sie war amüsiert.

    „Wir materialisieren uns ein wenig und durchdringen einander. Das ist viel intensiver“, klärte sie mich fachengelhaften Ton auf.

    „Aber, aber“, stotterte ich, „seid ihr nicht unversöhnliche Feinde“?

    „Nein, natürlich nicht“, sie lachte über so viel Dummheit, „wir sind beide Lichtwesen. Wir haben nur unterschiedliche Arbeitgeber und unterschiedliche Aufgaben. Ich soll gut sein und Seelen fangen, und die da drüben sollen böse sein und Seelen fangen. Das hier ist nur unsere Arbeitskleidung. Menschen ertragen unseren realen Anblick nicht.“

    Wieder legte sie ihren Arm um mich und schob mich.

    „Jetzt komm, du hast große Aufgaben vor dir.“

    Sie war ernst und eindringlich.

    „Was soll ich tun? Was wird erwartet?“

    „Du bist nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, der Menschheit klar zu machen, wie es um sie steht und dass sie nur eine kleine Chance zur Umkehr hat. Die Quintessenz soll sein: Umkehr oder Untergang“, erklärte sie.

    Ich schwieg betroffen.

    „Das kann ich nicht.“

    „Denk an deine Kinder und an deine Enkel“.

    Lulu wurde böse.

    Sie gab mir einen Schubs.

    Plötzlich stand ich wieder in meinem Schlafzimmer neben Judiths Bett. Lulu tätschelte aufmunternd meinen Popo.

    „Wo warst du gewesen?“, fragte mich eine schneidende Stimme. Der Ton des Jüngsten Gerichts kann nicht schlimmer sein.

    „Mir war übel“, antwortete ich.

    Da hörte ich Lulus Stimme: „Männer! Alles Feiglinge.“

     

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

     

     

     

     

     

  •  

    Die letzten Töne der Jagdhörner waren verklungen und die Bläser, im grünen Jägerzeug, in zackigem, betont aufrechten Gang mit wippendem Federstutz durch die große Doppeltür verschwunden, als Klaus Roessler aufstand. Er warf zuerst einen liebevollen Blick auf seine Silvia und schaute dann durch den alten Rittersaal des Jagdschlößchens. Er achtete nicht auf die wertvolle Holztäfelung und auch nicht auf die ausgemalte Stuckdecke. Klaus blickte über die Gäste. Ohne schreckliches Anschlagen der Gläser, und ohne „Psst“ –  „Psssst“ wurde es schnell ruhig. Jeder blickte auf Klaus, der groß und aufrecht stand, und jeder blickte natürlich auf Silvia, die strahlende Schönheit, die neben ihm saß. Klaus Roessler sprach leise und in einem Ton, der zeigte, hier spricht ein Mann, der es gewohnt war, vor vielen Menschen zu sprechen und der es gewohnt war, dass alle ihm ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkten.

    »Meine verehrte und geliebte Silvia. Heute ist dein Tag, und alle, und ich betone, alle, die du eingeladen hast, sind gekommen. Es hat keine Absagen gegeben. Ich erwähne diese Tatsache nur, um dir zu demonstrieren, wie wichtig du uns allen bist. Vor allem aber bist du der Familie das Wichtigste. Alles was es über dich oder zu dir zu sagen gibt, ist heute gesagt worden, deshalb sage ich hier und jetzt, und das besonders gerne, dass dem Reden immer Taten folgen müssen. Ich habe mit dem Küchenchef dieses heimeligen Jagdhotels, Herrn Hermann Halder, gesprochen, und er will seinen Reden und Versprechungen Taten folgen lassen. Er hat, wie ich mir sicher bin, ein exquisites Mahl gezaubert.«

    Klaus ging um den Tisch herum zum Buffet, holte einen Teller und überreichte ihn Silvia.

    »Ich bitte dich, nun das Bufett zu eröffnen. Wir alle, glaube ich, haben Hunger und wollen nicht länger mit diesen herrlichen Düften in der Nasen warten. Sollte irgendjemand glauben noch etwas sagen zu wollen, so muss er jetzt trotzdem schweigen und sich gedulden, bis es eine andere Gelegenheit dazu gibt.«

    Mit den Worten, »Bediene dich, meine Liebe, das ganze Buffet gehört dir ganz allein,« bot er Silvia seinen Arm.

    Er führte Silvia an der Kapelle vorbei quer durch den Saal. Auf halben Weg blieb er stehen. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Jede Königin oder Prinzessin, die ich kenne, ist ein tumber Trampel, im Vergleich zu Silvias Anmut und natürlicher Eleganz.

    Erst als sie sich ihren Teller am Buffet gefüllt hatte und zu ihrem Tisch zurück ging, erhoben sie die anderen Gäste, um sich ebenfalls am Buffet zu bedienen.

    Bei zunehmender Stille wurde das reichhaltige Buffet immer mehr von den Silbertabletts auf die Teller und von dort in die Mägen befördert. Der Küchenchef, Herr Halder, hatte keine leeren Versprechungen gemacht, sondern seine Taten übertrafen seine Worte bei Weitem. Jeder genoss das vorzügliche Mahl. Die aufmerksamen Damen des Service schenkten reichlich Wein oder Champagner nach. Bald wich die genussvolle Stille im Saal wieder einer ausgelassenen Stimmung.

     

    Achim war bald aufgestanden, um der Inbeschlagnahme seiner Cousine Amelie zu entkommen und hatte den Saal verlassen. Da alle großen Festlichkeiten der Familie hier im Jagdschlößchen stattfanden, war er mit den Örtlichkeiten gut vertraut. Er nahm einem der Mädchen eine angebrochene Flasche „Dom Perignon Vintage 1996″ aus der Hand und ging so versorgt in den Park.

    Ganz links und ruhig gelegen befand sich ein kleiner Pavillon. Er war genau an den steilen Abbruch gebaut. Hier stürzte der Felsen 60 Meter steil bis zum Flussufer ab. Hier hatte man einen atemberaubenden Blick über das ganze Tal des „Großen Brunnenbach“. Gegenüber des „Hohen Zeigen“, auf dem das kleine Jagdschlößchen gebaut war, öffnete sich eine breiter werdenden, fruchtbare Ebene, bevor die Landschaft wieder bergig anstieg.

    Achim liebte diesen Ort der Ruhe. Hier konnte er dem ganzen Trubel entfliehen und seine Gedanken sammeln. Verzückt lehnte er auf dem schmiedeeisernen Geländer und ließ seinen Blick über die helle, mondbeschienen Landschaft streifen. Seine Gedanken kreisten noch um seine Eltern und um dieses große Familienfest. Achim dachte auch an Amelie, die sich ihn als ihren zukünftigen Ehemann in den Kopf gesetzt hatte und dieses Ziel, wann immer sie Gelegenheit dazu hatte, konsequent vorantrieb. Auch seine Eltern würden diese Verbindung wohlwollend begleiten.

    Er war tief in seinen Gedanken versunken, deshalb hörte er nicht, wie sich, vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, eine Gestalt näherte. Auf Zehenspitzen schlich sie hinter Achim. Sie hob langsam die rechte Hand und legte sie zart auf Achims Schulter. Achim erschrak und drehte sich schnell um. Sofort sprang die Gestalt Achim um den Hals und liebkoste ihn herzlich. Achim umfasste die Gestalt um die schmalen Hüften, hob sie hoch und wedelte sie zweimal um sich herum. Vorsichtig stellte sie es wieder auf den Boden. Er küsste sich ausgiebig auf Stirn, Wangen und Hals.

    »Liebste Isabelle, hast du endlich auch hierher gefunden? Hast du schon Mutter und Vater begrüßt? Du hast ein hervorragendes Mahl verpasst. Hattest du kleinen Hunger? Wie hast du mich hier gefunden?«

    »Achim, halt doch mal die Luft an«, lachte sie, »und lass mich antworten. Also: ich hatte keine Lust auf die ganze Lobhudelei und die ganzen Reden. Ich bin deshalb lieber mit Lothe beim Italiener Essen gegangen. Natürlich habe ich Mutter und Vater als erstes begrüßt und Mutter zu ihrem 50. Geburtstag gratuliert. Nachdem ich eine große Anzahl der Gäste begrüßt und dich nicht gesehen hatte, habe ich mir diese Flasche gegriffen.«

    Sie hielt eine volle Flasche Champagner und zwei Gläser in die Höhe, »ich wusste, wenn ich dich nicht in Gesellschaft von Amelie treffe, werde ich dich hier finden und habe mich zielgerichtet auf die Suche nach meinem Lieblingsbruder gemacht.«

    Sie stellte die Flasche und die Gläser auf die Holzbank, »komm, lass uns auf Mutter anstoßen.«

    »Ich hatte gehofft, dass du kommst.

    Er deutete auf seine Flasche und seinen beiden Gläsern, die seitlich neben der Holzbank standen.

    »Auf das Wohl unserer lieben Mutter, möge Gott ihr noch viele gesunde Jahre schenken«, sagte Achim, nachdem er zwei Gläser gefüllt und Isabelle eines gereicht hatte. Sie hoben ihre Gläser und ließen sie leise klingen.

    »Ja, ich wünsche, dass sie uns noch viele Jahre erhalten bleibt und dabei immer gesund und munter bleibt.«, sagte auch Isabelle warmherzig.

    Beide nahmen einen großen Schluck und schwiegen nebeneinander stehend und genossen die Aussicht.

    Nach einer ganzen Weile sagte Achim: »Wolltest du nicht endlich Lothe den Eltern vorstellen?«

    »Nein, ich glaube das wäre nicht gut.«

    »Weil du glaubst, kein Mann ist in den Augen von Mutter gut genug für ihren Schwiegersohn?«

    »Weil ich weiß, dass Mutter, Lothe, mit seiner Art zu leben und vor allem mit seinem Aussehen, niemals akzeptieren und ihn nach dem ersten Blick keines weiteren mehr würdigen würde.«

    »Aber Lotin, wie sich Lothe als Musiker nennt, ist ausgesprochen gut, er spielt vier Instrumente perfekt und ist ein gefragter Studiomusiker. Darüber hinaus hat er unendliche Ideen, er weiß wie man Photographie inszeniert.«

    »Eben, er ist Künstler und Chaot, durch und durch, und er trägt Rastalocken bis zum Gürtel.«

    »Ja, du hast Recht. Das würde sich sehr schwierig gestalten.«

    »Stell dir die Situation einmal vor. Bevor ich ihn gesellschaftspflichtig vorstellen könnte, wäre er schon auf Mutter zu gegangen und hätte ihr mit heller, lauter Stimme ein „Moin, Moin“ zu gerufen, während er ihr die Hand fest schüttelt. Kein angedeuteter Handkuss, kein zurückhaltendes Ich freue mich, ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.«

    Beide lachten laut bei diesem Gedanken.

    »Und wie würde Mutter reagieren?  Sie würde in ihrer unnachahmlichen Art ihren Kopf schräg nach hinten legen und von oben herab, mit einen distanzierenden Ton, sagen: Ich glaube, das ist ein Irrtum, junger Mann.«

    »Fortan wäre Lothe nicht mehr existent für sie. Denk daran, wie es dem armen Christian erging. Seit drei Jahren ist er nicht mehr existent, obwohl er ihr Schwiegersohn ist. Und was ist der Grund? Er war mit seinen Geschäften nicht so erfolgreich wie erhofft und musste Marithes Erbe vorab in Anspruch nehmen.«

    »Isabelle, du hast ja so Recht. Ich kann mir diese Situation lebhaft vorstellen. Es wäre aussichtslos. Lass uns von etwas anderem sprechen.«

    Achim füllte die beiden Gläser erneut, und sie tranken einen Schluck.

    Dicht nebeneinander stehend versanken sie in Gedanken. Die Wärme des anderen zu spüren, hatte für sie etwas Vertrauensvolles und gab ihnen das Gefühl von Geborgenheit und Zusammengehörigkeit. Achim hob sein Glas und ließ das helle Mondlicht durchscheinen.

    »Schau, wie der Perlen nach oben zur Flüssigkeitsoberfläche streben. Die Blasen entstehen fast alle direkt über dem Glasfuß und steigen schnell nach oben. Obwohl sie wie bei einem guten Champagner als kleine Perlchen entstehen, stoßen sie oft aneinander und werden dadurch schnell zu großen Perlen. Sie interagieren miteinander, und die löslichen Aromastoffe werden schnell mit nach oben gerissen und entweichen. Die gesamte Flüssigkeit im Glas ist in Bewegung, und der Champagner wird schnell geschmacklos. Diese Gläser haben einen künstlichen Moussierpunkt, der mittels eines Laserstrahlen genau über dem Fuß erzeugt wird. Ohne diesen künstlichen Moussierpunkt entstehen die Bläschen an kleinsten Unebenheiten des Glases. Sie bleiben klein und schwimmen nur langsam nach oben, die Flüssigkeit wird nicht durchwirbelt, und der Geschmack bleibt länger erhalten.«

    Als er ihren amüsierten Blick bemerkte, hielt er schnell in seinem Vortrag inne.

    »Ja, ja, ich höre ja schon auf, aber ich bin Wissenschaftsjounalist, und die wissenschaftlichen Phänomene des Alltäglichen faszinieren mich.«

    Ihre Köpfe dicht beieinander, Wange an Wange, standen sie und betrachteten die Perlen in Achims Glas.

    »Komm, nehmen wir noch einen Schluck, bevor das ganze Aroma zum Mond entweicht.«

    Sie tranken beide ihr Glas leer. Achim umfasste wärmend die Schultern seine Schwester.

    »Du fröstelst, komm, wir gehen wieder hinein.«

    Langsam schritten sie nebeneinander zum hell erleuchteten Jagdschlößchen zurück. Als sie die große gläserne Verandatüre öffneten, klang ihnen laute Musik entgegen.

    »Der Tanz ist eröffnet«, sagte Isabelle, »du tanzt mindestens einmal mit mir, versprochen?«

    »Natürlich tanze ich mit dir. Sofort, wenn du willst, sonst kommt Amelie und fordert mich zum Tanz und wird mich den Rest des Abends in Beschlag nehmen. Um mindestens einen Tanz mit ihr werde ich mich dennoch nicht drücken können«

    Achim und Isabelle hatten zusammen Tanzunterricht gehabt, und beide konnten gut tanzen. Sie hatten immer viel Spaß dabei. Sie schritten durch den großen Saal auf die freie Fläche vor der Kapelle. Silvia und Klaus schweben zusammen über die Tanzfläche und begrüßten die beiden mit einem Lächeln und tanzen vorüber. Isabelle hatte nicht die elegante Erscheinung ihrer Mutter geerbt. Auf der Tanzfläche, mit Achim als Tanzpartner, schwebte sie aber ebenso leicht wie ihre Mutter über das Parket.

    Amelie hatte Achim sofort zurückkommen sehen und stellte sich gut sichtbar neben die Tanzfläche. Sie hoffte, von Achim zum Tanz aufgefordert zu werden. Er tat ihr bald den Gefallen, weil er wusste, es wurde einfach von ihm erwartet. Als er mit ihr an seinen Eltern vorbeitanzte, nickte Silvia ihm wohlwollend und ermutigend zu.

    Nur kurze Zeit später verabschiedete er sich von seinen Eltern und den anderen Gästen. Ohne auf das Schmollen von Amelie zu achten, ging er noch schnell bei Isabelle vorbei, die in der Bar stand.

    »Ich bin etwas müde und fahre nach Hause. Ich sehe, dass du noch nicht an dein Bett denkst. Sehen wir uns noch beim Frühstück, oder bist du mit Lothe verabredet?«

    »Nein, ich bleibe noch bis Sonntag. Aber warum gehst du so früh, es ist erst zwei Uhr, ich kenne dich gar nicht wieder?«

    »Entschuldige, aber ich bin einfach müde. Ich suche noch Marithe und Christian, um mich auch von ihnen zu verabschieden.«

    »Vater sagte mir, dass die beiden gleich nach dem Essen gegangen sind.«

    Er machte ein säuerliches Gesicht und schüttelte bedauernd den Kopf.

    Dann lächelte er ihr zu.

    »Tschau Baby! Bis morgen früh. Mutter wird uns zum Frühstück wecken.«

    Achim ließ sich zur Villa Roessler fahren und ging gleich zu Bett. Sein altes Kinderzimmer stand immer für ihn bereit. Das Bett war immer frisch bezogen. Ebenso war Isabelles Zimmer immer sauber und bezugsbereit.

    Am nächsten Morgen, pünktlich um 8,30 Uhr saßen sie alle zusammen am Frühstückstisch. Silvia und Klaus sahen noch etwas müde aus, sie waren gegen vier Uhr früh zu Bett gegangen. Isabelle war noch später in ihr Bett gekommen, trotzdem schien sie die frischeste am Tisch zu sein. Während Achim einen Toast aus dem weißen Damasttuch wickelte und mit frischer Butter bestrich, fragte er, »wo sind Marithe und Christian?«

    Silvia antwortete: » sie frühstücken im Gästehaus. Achim, du bist gestern ungewöhnlich früh gegangen, gibt es einen besonderen Grund dafür?«

    »Nein,« antwortete Achim, »ich war einfach nur müde.«

    Alle schwiegen und aßen weiter. Gerade während Achim seinen dritten Toast mit Erdbeermarmelade bestrich, holte er Luft, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Sofort blickten Klaus und Isabelle ihn fest und intensiv an, so dass er doch lieber schwieg. Silvia schien die Situation bemerkt zu haben und sagte im gleichen Augenblick, »Ihr glaubt gar nicht, wie ich diese Momente mit der ganzen Familie hier am Frühstückstisch genieße.«

    Trotz weiterer warnender Blicke sagte Achim, »ja, ich eigentlich auch. Aber ich vermissen Marithe und ihre Familie.«

    Schnell sprach Silvia weiter, »Marithe wollte mit ihrer Familie schon früh zurückfahren.«

    Dabei klang es, als sie „ihre Familie“ sagte, als spräche sie von einer abscheulichen Krankheit. Alle warnenden Blicke waren jetzt wieder intensiv auf Achim gerichtet. Schnell wechselte er deshalb das Thema. Er bat Isolde nochmals um eine weitere Tasse Tee und sprach über die Treibjagd, die am kommenden Wochenende geplant war.

    Nach dem Frühstück trat Achim zu seiner Mutter, die im Garten Blumen schnitt.

    »Es war ein wirklich schönes Fest gestern.«

    »Ja, es hat alles ganz gut geklappt.«

    »Du hast wie immer alles perfekt geplant und arrangiert.«

    »Du weißt, wenn ich das nicht in die Hand nehme, dann wird das nichts. Dein Vater hat für solche Sachen überhaupt kein Talent und keine Zeit,« fügte sie hinzu, »schön, dass es dir gefallen hat. Es war schade, Isabelle konnte erst sehr spät kommen. Sie hat das hervorragende Essen verpasst.«

    Achim schaute von seiner Mutter weg, als er sagte, »Ihre Werbeagentur erfordert zur Zeit ihr ganze Aufmerksamkeit. Ich glaube, sie arbeitet an einem großen Auftrag.«

    Er schlenderte weiter durch den großen Park. Alles war ordentlich und aufgeräumt. Die Blumenrabatten waren sorgfältig gepflegt. Der Rasen dicht und auf Länge gemäht und das Laub sorgsam zusammen gerecht, wirkte der Park wie zur Schaustellung hergerichtet.

    Isabelle kam hinter Achim her gerannt, und beide gingen über den Rasen hinunter zum See. Isabelle und Achim hatten sich immer etwas zu erzählen und sie sprachen auch über alles Persönliche. Sie waren immer an der aktuelle Lebenssituation des anderen beteiligt. Ab und zu klang ein lautes Lachen vom Ufer in den Park. Jetzt erzählten sie sich Anekdoten aus ihrer Kindheit und schüttelten sich dabei vor Lachen.

    »Eigentlich bin ich immer noch hier zu Hause, obwohl ich in Düsseldorf lebe und arbeite,« sagte Achim, »unsere Kindheit war zwar streng behütet, aber wir waren doch sehr glücklich.«

    »Ja, Mutter war sehr liebevoll, aber sie führte ein strenges Regiment.

    Alles war auf das Genaueste geregelt und musste genau eingehalten werden. Mittagessen stand um 12,30 Uhr auf dem Tisch. Abendessen gab es um 18,30 Uhr. Für ein Zuspätkommen gab es keine Entschuldigung,« ergänzte Isabelle.

    »Wie häufig musste ich deswegen nach dem Essen noch zusätzlich zwanzig französische Vokabeln pauken. Und sie hat nie vergessen, sie später auch abzufragen.«

    »Wenn wir alle gemeinsam zu spät kamen, mussten wir das darauf folgende Wochenende auf unseren Zimmern verbringen,« fuhr Isabelle fort. Sie hatte dabei jedoch bei diesen Erinnerungen einen glücklichen Gesichtsausdruck.

    »Wir sind dann immer in eines der Zimmer geschlichen, und wir drei haben dann ganz leise zusammen Monopoly gespielt,« erzählte Achim weiter. Beide hatte ein Gefühl des Glücks und der Geborgenheit und innerer Wärme. Trotzdem verstummten sie, denn sie wurden an die Situation von Marithe innerhalb der Familie erinnert.

    Sehr spät verabschiedeten sie sich von Silvia und Klaus, riefen Isolde ein paar freundliche Abschiedsworten zu und fuhren zurück, Achim nach Düsseldorf und Isabelle nach Hamburg.

     

    Sofort als Achim in seine Wohnung kam, packte er seinen Koffer aus, füllte seine schmutzige Wäsche in die Waschmaschine und stellte sie an. Als Nächstes versorgte er die Wäsche aus dem Trockner in den Schrank, legte Hosen, T-Shirts und Hemden in den Bügelwäschekorb. Nachdem er sein Bett frisch überzogen hatte, duschte er und machte sich nun endlich seinen Tee. Achim liebte seine Wohnung und die Ruhe und Geborgenheit, die sie im schenkte. Es setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, einen alten Ohrensessel, den er mit rehbraunem Wildleder hatte beziehen lassen. Sein Sessel war so vor das große Panoramafenster gerückt, dass Achim, wenn er etwas nach links schaute, bequem seinen Blick über die Dächer von Unterrath bis hin zum Nordfriedhof schweifen lassen konnte. Blickte er etwas mehr nach recht konnte er bequem fernsehen. Allerdings schaute Achim sehr selten fern.

    Die Teetasse auf die Armlehne gestellt, ließ er das vergangene Wochenende Revue passieren. Jetzt, im Nachhinein bekam er ein schlechtes Gewissen, weil er sich so wenig um seine Patenkinder, Paula und Petra, gekümmert hatte. Dadurch, dass Silvia die Familie von Marithe so weit wie möglich von ihrer Familie fern hielt, war diesmal keine enger Kontakt zu Maria-Theresia und ihrem Mann Christian und ihren Kindern entstanden.

    Als sich Achim darüber bewusst wurde, griff er sofort zum Telefon und wählte die Nummer von Marithe. Als die Verbindung hergestellt war, hörte er zunächst lautes Kinderlachen und -kreischen. Er konnte fast kein Wort verstehen, bis Marithe in ein anderes Zimmer gegangen war und die Türen geschlossen hatte. Während sie in der Villa leise und zurückhaltend sprach, klang ihre Stimme zuhause immer unbeschwert und fröhlich. Ja, so kannte er seine Schwester. Gleichzeitig wurde es ihm wieder bewusst, wie verfahren und schwierig die Situation für sie in der Familie war. Sie sprachen ein paar Minuten miteinander.

    »Wir hatten bei Silvias Fest keine Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Ich lade euch alle für kommenden Sonntag in die „Alte Mühle“ ein. Wir treffen uns um 12,00 Uhr direkt dort, einverstanden?«

    »Ja, wir kommen gerne,« sagte sie, nachdem sie kurz mit Christian gesprochen hatte.

    Die „Alte Mühle“ war mehr als nur ein Ausflugslokal. Hier konnten die Kinder auf alten Traktoren herumklettern oder mit Tieren aus dem Streichelzoo spielen. Niemand musste Angst haben, dass Kindern etwas passiert.

    Achim, der Entscheidungen meist schnell und intuitiv fällte, fühlte sich nach diesem Telefongespräch mit seiner Schwester erleichtert. Er nahm sich vor, sich wieder mehr um seine beiden Patenkinder zu kümmern. Er braute sich eine zweite Tasse Tee, ging mit ihr in sein Arbeitszimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Während er seinen Tee trank, plante er die kommende Woche. Er machte sich Notizen in seinen Kalender und prüfte wichtige Termin, die nicht vergessen werden durften. Erst jetzt schaltete er seinen Computer ein, um seine neue Post zu lesen.

    Sein Freund Piet war ganz anders. Als erstes, wenn er seine Wohnung betrat, ging er an seine Musikanlage und stellte laute Musik an. Als zweites ging er immer zum Computer um seine, wie er sagte, E-Mails zu checken. Achim machte sich darüber immer lustig, weil checken korrekt überprüfen oder kontrollieren heißt, aber Piet las ja nur die neue Post. Piet lachte darüber und meinte lakonisch, er sei nicht auf der Höhe der Zeit, er lese seine Post nicht nur, sondern prüfe auch die Wichtigkeit. Piet war wie Achim Journalist. Sie hatten gemeinsam studiert, und während Achim als freier Journalist arbeitete, war Piet im Wirtschaftsressort einer großen Tageszeitung beschäftigt.

    Achim war mit dem Lesen seiner E-Briefe immer recht schnell zu Ende. Post, deren Absender er nicht kannte oder identifizieren konnte, wurde sofort ungelesen gelöscht, ebenso Nachrichten, die Achim für nicht beantwortungswürdig erachtete. Er antwortete selten sofort, denn Montagnachmittag wurde die gesamte Post der vergangenen Woche bearbeitet.

    In seiner Post fand er zwei Mitteilungen, dass seine Artikel ohne nennenswerte Kürzungen angenommen waren. Achim blies laut die Luft durch seine geschürzten Lippen. Er freute sich darüber, denn dadurch wurden seine finanziellen Möglichkeiten deutlich erweitert. Die dritte Mitteilung war vom Verlag Ackermann, der mehrere wissenschaftliche Zeitschriften mit hohem Anspruch herausgab. In der Mitteilung bat Dr. Meier lediglich um Rückruf. Achim hatte schon mehrfach im Verlag Ackermann Artikel veröffentlicht. Die Arbeit war immer sehr aufwändig und zeitintensiv gewesen. Im Vergleich zum Aufwand war das Zeilenhonorar nicht gerade üppig. Die Reputation des Autors stieg jedoch in den entsprechenden Fachkreisen. Achim machte sich eine Notiz auf einen kleinen roten Zettel und klebte ihn mitten auf den Monitor. Gegen 22,30 Uhr stand er auf, stellte sich Musik von Bo Ramsay laut und baute das Bügelbrett auf. Er bügelte seine Wäsche und ging danach zufrieden ins Bett.

    Montagfrüh stand er wie gewöhnlich um 6.30 Uhr auf und lief seine übliche Joggingrunde, bevor er duschte und frühstückte. Nach dem Frühstück las er die Zeitung. Achim las niemals während einer Mahlzeit. Er las auch nicht, wie die meisten Männer, auf der Toilette, obwohl er sich dort Zeit ließ. Um 10,30 Uhr verließ er seine Wohnung. Er hatte einen Termin bei Dipl.-Ing. Dr. Siener vom TÜV Nordrhein-Westfalen. Achim arbeitete gerade an einem Überblick von Sicherheitsstandards im Bau von Automobilen.

    Später, als er wieder zu Hause mit seiner obligatorischen Tasse Tee am Schreibtisch saß, wählte er die Telefonnummer von Dr. Meier.

    Der Verlag Ackermann plante eine populärwissenschaftliche Sonderausgabe seiner Zeitschrift, „Psychologie und Soziologie – heute“, und Dr. Meier wollte ein persönliches Gespräch darüber mit Achim führen. Sie verabredeten sie für 17 Uhr am kommenden Dienstag im Büro von Dr. Meier. Nach dem Gespräch suchte Achim eine Bahnverbindung nach Hamburg. Er fuhr oft mit der Bahn, denn er liebte es, Zug zu fahren. Schnell rief er bei Isabelle an und fragte, ob er sie am Dienstag besuchen und auch bei ihr übernachten könnte. Isabelle sagte sofort freudig zu.

    Nach der Besprechung mit Dr. Siener verfügte Achim über eine Fülle technischen Daten und Material über moderne Autoproduktion. Er würde mindestens eine Woche brauchen, um alles Material zu sichten, zu ordnen und auf Brauchbarkeit zu prüfen. Danach begann eine ausführliche Internetrecherche. Er freute sich auf die Arbeit, die ihn persönlich interessierte. Auf wissenschaftlicher Basis sollten eine Zusammenfassung und ein Überblick über Automobilsicherheit allgemein und im Vergleich der verschiedenen Autotypen erstellt werden.

    Auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof hatte sich Achim zwei Autozeitschriften gekauft. Diese wollte er während seiner Bahnfahrt nach Hamburg studieren. Eigentlich las er keine Autozeitschriften, aber jetzt erhoffte er sich Ansatzpunkte für seine Arbeit.

    Nach dem Gespräch bei Dr. Meier fuhr Achim mit dem Taxi zu Isabelle. Die Besprechung hatte deutlich länger gedauert, als Achim angenommen hatte. Er war deshalb sehr verspätet und wollte seine Schwester nicht noch länger warten lassen. Schnell rannte er die Treppen bis in den 5. Stock. Isabelle hatte die Wohnungstür geöffnet und wartete auf ihn.

    »Entschuldige, aber das Gespräch hat länger gedauert.«

    »Mach dir keine Gedanken. Wenn du nicht pünktlich bist, dann gibt es einen guten Grund dafür.«

    Sie begrüßten einander, und Achim trat in ihr Wohnzimmer.

    »Donnerwetter,«  sagte er, »gibt es etwas zu feiern?«

    Achim blickte interessiert auf den festlich gedeckten Tisch, der direkt an das große Fenster gerückt war. Ein großer, fünfarmiger Kerzenständer, der über und über mit geschliffenen Glasdiamanten behängt war, leuchtete mitten auf dem Tisch und warf funkelnde Blitze in den ganzen Raum. Hinter jedem der großen flachen Teller standen ein Wasserglas und ein großbauchiges Weinglas. Auch in den Gläsern reflektierten sie die Lichtblitze.

    »Ich schiebe nur schnell die Pizza in den Ofen. Hier steht eine Flasche Rotwein und atmet schon seit mehr als einer Stunde. Bitte hole die Flasche und fülle unsere Gläser.«

    Mittlerweile hatte Isabelle gegenüber von Achim Platz genommen. Sie schauten sich in die Augen und hoben ihre Gläser.

    »Auf dein Wohl, liebes Schwesterherz. Die besten Vergrößerungsgläser für die Freuden dieser Welt, sind jene, aus denen man edlen Wein trinkt.«

    »Darf ich raten? – Goethe?«

    »Falsch, dieses Zitat ist von Joachim Ringelnatz.«

    Isabelle hob erneut ihr Glas.

    »“So glühe fröhlich heute,
    sei recht von Herzen eins!
    Auf, trink mit großer Freude
    dies Glas des echten Weins!“«

    Sie sah ihn fragend an. Achim sagte ihr:

    »Das kann nur Goethe sein!«

    »Natürlich«, lachte sie, »ich habe mich extra für dich vorbereitet. Kenne ich doch deine Vorliebe für den Dichterfürsten.«

    Sofort war eine entspannte, vertraute Stimmung zwischen ihnen. Sie sprachen von ihrem Deutschlehrer, der beide durch das Gymnasium gequält hatte. Jeder wusste Geschichten von ihm und über ihn. Sie stellten dabei fest, obwohl Deutsch damals eine Qual war, dass Herr Nöcker doch ein sehr guter Lehrer gewesen sein muss. Ja, sie verspürten sogar Dankbarkeit ihm gegenüber.

    Langsam breitete sich der herrliche Duft von überbackenem Mozzarella im Zimmer aus. Als die Herduhr piepste, ging Isabelle schnell in die Küche und kam mit dem großen Backblech voller köstlicher Pizza und einer gerade geöffneten Flasche Wein zurück.

    »Damit er noch etwas Luft schnappen kann.«

    Sie aßen mit großem Appetit, und Achim lobte kauend die Kochkünste seiner Schwester.

    »Was hat dich nach Hamburg geführt. Privat ist es nicht, sonst hättest du nicht bei mir übernachten wollen,» fragte Isabelle, als der ersten Hunger gestillt war und sie jedem ein zweites Stück auf die Teller gelegt hatte. Achim schnitt ein üppig belegtes Stück seiner Pizza ab und steckte es in den Mund. Genüsslich kaute er. Nachdem er lange und ausgiebig gekaut und den Bissen heruntergeschluckt hatte, griff er langsam nach seinem Glas und trank betont genießerisch. Dann sah er seine Schwester mit betont nichtssagendem Gesicht an.

    Isabelle, die ihren Bruder gut kannte, schaute sich sein Schauspiel abwartend an und sagte kein Wort. Endlich bequemte sich Achim zu einer Antwort:

    »Ich hatte ein ausführliches Gespräch beim Verlag Ackermann. Im Sommer des nächsten Jahres soll eine Sonderedition von „Psychologie und Soziologie – heute“ veröffentlicht werden. Dabei hat Dr. Meier mir einen großen Artikel angeboten. Das Thema liegt nicht in meinem direkten Interessengebiet, aber die Aufgabe ist sehr reizvoll: „Sozialisation und Sozialisationsmechnismen“, soll der Arbeitstitel sein.«

    »Wie wird die Bezahlung sein?«

    Isabelle stand wirklich mitten im Leben und dachte sofort an die Honorierung.

    »Wie bei Ackermann üblich, es stehen Aufwand und Ertrag in umgekehrt proportionalem Verhältnis.«

    Achims Zusage war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus gewesen.

    »Ich hatte sofort eine Idee, wie ich das Thema bearbeiten könnte, und so habe ich zugesagt.«

    »Solche Entscheidungen sind meist die richtigen,« bestätigte Isabelle.

    Achim erzählte ihr auch von seinen gerade laufenden Arbeiten.

    »Aber, Isabelle, was für ein Projekt bewegt dich gerade? Mutter hat mir erzählt, dass du so beschäftigt wärest, sie könne dich kaum noch erreichen.«

    Isabelle wiegte ihren Kopf hin und her: »Ja, das stimmt; so in etwa wenigstens. Manchmal will ich aber auch nicht erreicht werden. Zu meinem Projekt: Ich werde die nächste Präsentation von „Honau – Jagd- und Reitbekleidung“ machen. Alles in meiner Hand. Die Klamotten von „Honau“ sind für eine, sagen wir, traditionell-qualitätsbewusstes Klientel bestimmt. Auf den Reithöfen findet man nicht nur die Mütter, sondern auch deren Kinder. Diese Kinder soll als Zielgruppe erschlossen werden. Für sie wird es eine spezielle Linie geben. Ich verhandle mit mehreren Produzenten, weil „Honau“ das nicht selbst machen kann. Für die erste Zielgruppe habe ich eine große Halle in Karlsruhe bei der „Eurocheval“ gemietet. Es wird persönliche Einladungen geben und eine persönliche Betreuung, bei entsprechendem Catering, geben. Die Models sollen auf Pferden sitzen, absteigen und über einen Laufsteg die Halle wieder verlassen.«

    Achim unterbrach hier den Redeschwall seiner Schwester und fragte dazwischen, »Glaubst du, du findest Models, die nicht zu jung und nicht zu alt sind und auch noch reiten können?«

    »Dafür habe ich schon mit mehreren Agenturen gesprochen, die mir alle versicherten, das sei kein Problem.«

    Ihre Idee fortführend sprach sie weiter.

    »In einem Nebenraum wird eine große Party stattfinden. Mit heißer Livemusik. Die Models werden sich tanzend unter die Jugendlichen mischen und über eine Bühne für alle gut sichtbar wieder nach draußen gehen.«

    Fragend schaute sie ihren Bruder an. Achim machte ein skeptisches Gesicht und sagte zuerst nur ein Wort: »Größenwahn« und dann nach einer kleinen Pause fragte er, »wie soll das alles finanziert werden?«

    Überzeugt von der Durchführbarkeit und dem Erfolg ihrer Ideen antwortete Isabelle:

    »Kein Problem, ich habe ein großzügiges Budget, zweihunderttausend Euro. Darin ist mein Festhonorar nicht mit einberechnet.«

    Achim traute der ganzen Sache noch nicht so ganz, aber er wusste, seine Schwester war Realistin. Wenn sie von etwas überzeugt war, dann würde sie es auch erfolgreich durchführen.

    »Achim, ich weiß nicht, wie ich zu diesem Auftrag gekommen bin. Natürlich habe ich schon mehrere solcher Projekte durchgeführt. Teilweise sehr erfolgreich abgeschlossen, aber nicht in dieser Größenordnung. Ich habe den Verdacht, dass Mutter mich protegiert hat. Mutter kennt die Familie Honau seit Jahren. Sie treffen sich häufiger auf so genannten „Reitgesellschaften“.«

    »Da kann ich mir gut vorstellen, dass Mutter ihr Finger im Spiel hatte,« sagte Achim, »das ist gang und gäbe, aber glaub mir, wenn dein Ruf in der Branche nicht gut wäre, hättest du trotz Mutters Einsatz den Auftrag nicht bekommen. Also denk nicht darüber nach, sondern mach deine Sache einfach gut.«

    Mittlerweile hatte Isabelle die zweite Flasche geholt und die Gläser wieder gefüllt. Beide saßen längere Zeit schweigsam vor ihren leeren Tellern und blickten gedankenversunken in die Flammen der Kerzen.

    Achim begann, mit seinem Fingernagel kleine Kanäle in das Kerzenwachs zu graben und beobachtete, wie sich das flüssige Wachs durch diese Kanäle auf den Kerzenständer ergoss. Mit dem erhärteten Wachs popelte er kleine Kügelchen, mit denen er seine Kanäle wieder zu mauerte.

    »Isabelle, als ich den festlichen Tisch sah, hatte ich das bestimmte Gefühl, es gibt einen besonderen Anlass. Später legte sich dieses Gefühl. Jetzt frage ich dich direkt: Gib es einen bestimmten Anlass?«

    »Nein  –  oder?  –  nein, eigentlich nicht. Doch vielleicht ein bisschen schon.«

    Achims Gesicht bekam einen fragenden Ausdruck.

    »Also, erstens habe ich mich auf diesen Abend mit dir sehr gefreut und wollte ihn einfach schön gestalten.«

    Achim zog seine Augenbrauen in die Stirn. Er beugte sich leicht nach vorne und ergriff sein halbgefülltes Weinglas und hielt es schräg. Durch das Weinglas hindurch sah er Isabelle provozierend an, »und – zweitens?«

    »Also gut! Vor einiger Zeit hast du begonnen, unsere Familiengeschichte zu recherchieren, um sie später aufzuschreiben. Du hast mit vielen Leuten aus unserer Familie gesprochen. Du bist sogar zu Klaus Studienfreund nach New York geflogen, und sogar mit Mutters Schwester in Spanien hast du gesprochen. Du hast die Nachforschungen ersthaft und zielstrebig, so wie es für dich typisch ist, vorangetrieben. Und plötzlich? Nichts mehr! Ich habe den Eindruck, dass du die Geschichte aufgegeben hast. Warum?« Isabelle hatte sich in Erregung geredet.

    »Sag jetzt nicht: keine Zeit, oder so etwas in dieser Richtung. Sag mir ganz einfach den Grund. Warum hast du aufgegeben?«

    Achim trank einen Schluck Wein und danach noch einen Schluck. Beide Schlucke ließ er lange im Mund kreisen, als wollte er das Bukett genießen. Er schmeckte jedoch überhaupt nicht, was er für eine Flüssigkeit im Mund hatte. Er stellte sein leeres Glas neben seinen Teller und lehnte sich auf seinem Stuhl ganz nach hinter. Mit vor der Brust verschränkten Armen saß er und ließ seinen Blick zwischen Glas und Isabelle hin und her gleiten. Plötzlich richtete er sich auf und griff über den Tisch hinweg die Hand von Isabelle.

    »Kurz gesagt, ich wollte nicht tiefer in die Geschichte der Familie eindringen. Bist du sicher, dass du es erfahren möchtest?«

    »Ja!«

    »Ganz sicher?« fragte Achim noch einmal.

    »Ja, ganz sicher.«

    »Vorausschicken muss ich: Vater und Mutter lieben sich bestimmt nicht leidenschaftlich, aber in einer sehr respektvollen Liebe und in einer von hohen gegenseitigen Achtung tiefen Liebe. Gibst du mir da recht?«

    »Ja, sicher, aber so genau habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht.«

    »Seit dem Studium war Silvia mit Arndt von Schloßhüter befreundet, sehr eng befreundet. Die Familie von Silvia war damals in großen finanziellen Schwierigkeiten, und die Familie von Schloßhüter hatte zwar die richtige gesellschaftliche Reputation, war aber leider nicht sehr vermögend, und Vermögen war damals für Mutters Familie dringend von Nöten. Offenbar stand der Familie das Wasser bis zu Hals. Also schien Klaus Roessler mit seiner vermögenden Familie der geeignetere Schwiegersohn. Mir wurde erzählt, dass Mutter von ihrer Familie stark unter Druck gesetzt wurde. Für sie musste es damals fürchterlich gewesen, sich der Familienpflicht zu stellen. Dabei gab es noch eine Reihe von Problemen: Arndt von Schloßhüter war Klaus Roesslers bester Freund. Arndt von Schloßhüter hatte Silvia und Klaus bei einem Fest auf dem Verbindungshaus einander vorgestellt, und der Ehrenkodex der Verbindung verbietet es, sich gegenseitig die Freundin auszuspannen. Trotzdem konnte sie sich wohl nicht entscheiden. Wohl wegen ihrer Unfähigkeit, sich zu entscheiden, hat sich Arndt von Schloßhüter von ihr getrennt. Aber damit war der Weg für Mutters Familie nicht frei. Sie litt unter der Trennung und wurde zur Erholung nach Frankreich geschickt.

    Als sie nach Monaten zurückkam, befreundete sie sich mit Walther zu Cloppenthal. Auch Walther zu Cloppenthal war wieder nicht der geeignete Schwiegersohn. Als Silvia sich der Familiensanierung nicht opfern wollte, wurde Walther zu Cloppenthal ein Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte. Ihm wurde eine gute Stelle bei einer internationalen Bank in New York angeboten. Er musste sich aber sofort entscheiden und am nächsten Morgen abreisen. Als weitere flankierende Maßnahme wurde ihm die Nachricht zugespielt, dass sich Silvia mit Klaus verlobt habe.

    Ohne Silvia noch einmal gesehen zu haben, flog Carl mit gebrochenem Herzen in eine wohlhabende Zukunft. Dazu muss erwähnt werden, dass Silvias Schwester kurze Zeit vorher nach Amerika abgehauen war. Als ich ihn in New York besucht habe, hat er es strikt abgelehnt, über diese Sache zu sprechen. Übrigens hat er nie geheiratet. Silvia hat dann Vater geheiratet.«

    Jetzt unterbrach Isabelle ihren Bruder.

    »Das mag ja vielleicht alles so gewesen sein. Ich sage vielleicht, es kann aber auch ganz anders gewesen sein.«

    »Oder war es vielleicht doch richtige Liebe gewesen?«

    Achim nahm seinen Faden wieder auf.

    »Jetzt sage ich vielleicht, aber wirklich nur vielleicht. Unsere Eltern beendeten ihr Studium, Vaters beruflicher Weg war von Anfang an vorgezeichnet. Mutter machte ein Auslandspraktikum in Washington bei „Finch, Finch und Gooble“, eine Assoziation, die auf internationale Finanztransaktionen spezialisiert war. Plötzlich, nach nur zwei Monaten, gab sie diese glänzende Stelle auf und kehrte nach Deutschland zurück. Sieben Monate später wurde Marithe geboren. Offiziell als Siebenmonatsfrühgeburt.«

    »Wieso offiziell, wir wissen alle, dass sie ein Frühchen war,« sagte Isabelle überrascht.

    »Hast du dir einmal ihre Geburtsurkunde angesehen? Nein! Ich schon. Geburtsgewicht: 2936 Gramm. Eigentlich relativ viel für ein Siebenmonatskind. Stell dir mal vor, wie schwer sie gewesen wären, wenn sie zu normalen Geburtstermin gekommen wäre.«

    Aufgebracht rief Isabelle: »Stop, willst du damit wirklich andeuten, dass unsere Marithe die Frucht eines geheimen Treffens von Mutter und Walther zu Cloppenthal in Amerika ist?«

    Energisch ergriff Achim wieder das Wort.

    »Ich will gar nichts andeuten. Das ist das Ergebnis meiner Recherchen.«

    »Marithe ist demnach nur unsere Halbschwester«, sinnierte Isabelle.

    Laut und energisch schrie Achim: »Denk es nicht einmal! Marithe ist und bleibt unsere Schwester, unsere Vollschwester.«

    »Ja, ja, du hast ja recht,« sagte Isabelle ganz in Gedanken versunken. Ihr Blick ging irgendwohin ins Leere.

    »Marithe ist nicht unsere richtige Schwester,« fuhr sie leicht kopfschüttelnd fort. Achim stand abrupt auf. Sein Stuhl fiel hart nach hinten und schlug auf den Parkettboden auf. Er ging rasch um den Tisch herum. Er ergriff hart Isabelles Oberarm und zog seine Schwester von ihrem Stuhl. Mit festem, schmerzhaftem Griff drehte er sie zu sich. Er blickte Isabelle fest in die Augen.

    »Bitte verzeih meine heftige Reaktion, aber wir wissen nichts, aber auch gar nichts Genaues. Marithe bleibt immer unserer Schwester, unsere richtige Schwester. Verstehst du? Sei mit einer schnellen Meinungsbildung vorsichtig. Vielleicht ist alles nur Schein oder Irrtum. Vielleicht ist alles nur Gerede und Gerüchte von damals. Wir wissen nicht, ob Mutter vor ihrer Abreise nach Amerika mit Vater zusammen war und deshalb schwanger wurde. Wir wissen auch nicht, ob sie sich in Amerika mit Walther getroffen hat.«

    Achim sah Isabelle wütend an. Isabelle war völlig verwirrt und zu keiner Antwort fähig. Achim sagte eindringlich: »Wir wissen nichts darüber. Alles nur Aussagen, Gerüchte und vielleicht auch Phantasie. Wir waren damals nicht dabei. Bitte vergiss das alles wieder. Marithe hat es in der Familie schwer genug.«

    »Ja, aber ist das nicht auch ein Beweis, dass du recht hast,« fuhr Isabelle heftig fort.

    »Jetzt mal ganz vorsichtig. Amtlich und sonst irgendwie, menschlich und moralisch ist und bleibt Marithe unsere liebe Schwester. Niemand, auch du nicht, darfst daran zweifeln, auch wenn der Schein jetzt etwas anderes andeutet. Die Probleme, die Marithe und Christian mit Mutter und Vater haben, sind ganz anders begründet. Diese Gründe kennst du ganz genau. Noch etwas anderes solltest du bedenken! Weißt du sicher, dass du unseres Vaters leibliche Tochter bist? Kannst du das mit Sicherheit wissen oder sogar beweisen?«

    Atemlos, mit zusammengepressten Lippen wartete Achim auf eine Antwort. Isabelle war sprachlos. Nach einer Pause wiederholte Achim seine Frage.

    »Können wir wirklich in diesem Moment beschwören, dass wir beide Vaters leibliche Kinder sind?«

    Noch immer brachte Isabelle keine Antwort über ihre Lippen. Achim ließ sie los und sie sank auf ihren Stuhl zurück.

    »Ich will dir meine Antwort geben, und es wird auch deine Antwort sein. Wir alle drei, Marithe, du und ich sind die Kinder unserer Eltern, Punkt!«, sagte Achim, und es klang wie ein Schlusswort.

    Isabelle ergriff zitternd ihr Weinglas und trank es mit einem großen Schluck leer. Achim ging um den Tisch herum zurück zu seinem Platz. Mit einer entschuldigenden Geste stellte er seinen Stuhl wieder auf und setzte sich ebenfalls. Auch Achim griff nach seinem Glas und trank es aus. Seine Hand zitterte ebenfalls. Isabelle biss sich auf ihre Unterlippe, danach halte sie tief Luft und sagte,

    »Bitte entschuldige, Achim, du hast absolut Recht, das wissen wir alles nicht, und das ist auch gut so.«

    Sie stand auf und ging in die Küche. Achim hörte, wie die Kühlschranktür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Isabelle kehrte mit zwei gefüllten Sektgläsern zurück. Während sie ein Glas Achim reichte, stellte sie die Sektflasche auf den Tisch. Sie hob ihr Glas prostend zu Achim hinüber.

    »Lieber Achim«, sagte sie voller Liebe und Bewunderung, »ich bin sehr stolz einen solchen Bruder wie dich zu haben. Wir sind alle Kinder unserer Eltern. Diese Eltern lieben uns über alles, und wir lieben sie. Lass uns alles, was heute gesprochen wurde, vergessen und nie wieder ein Wort darüber verlieren.«

    Achim hob erleichtert sein Glas.

    »Weißt du nun, warum ich die Geschichte unserer Familie aufgegeben habe?»

    Isabelle antwortete einfach: »Ja«

    Nach einer langen stummen Zeit standen sie auf und räumten das Geschirr ab. Nachdem die Geschirrmaschine lief und alles aufgeräumt war, wünschten sie sich eine gute Nacht.

    Achim lag auf dem ausgezogenen Gästebett und starrte an die Decke. Er hörte Isabelle noch eine Weile im Badezimmer. Er sah durch den Türschlitz, wie das Licht gelöscht wurde und Isabelle ihre Schlafzimmertüre schloss. Achim konnte trotzdem nicht einschlafen. Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. War es richtig, mit Isabelle darüber zu sprechen, oder hätte er es nicht besser verschwiegen, fragte er sich. Nach einiger Zeit klopfte es an der Tür, und Isabelle streckte ihren Kopf herein.

    »Du bist sicher auch noch wach. Ich kann nicht schlafen, bevor ich dir nicht gesagt habe, wie stolz es mich macht, dass du mir vertraut hast und mich ins Vertrauen gezogen hast.«

    Mit diesen Worten umarmte sie ihren Bruder fest, küsste ihn lange auf die linke Backe.

    »Ich habe mich schrecklich benommen. Verzeihst du mir?«

    Zärtlich strich Achim über ihre Haare und sagte.

    »Ich war dir nicht böse, und es gibt nicht zu verzeihen. Er zog sich an sich und gab ihr ebenfalls einen Kuss auf ihre Backe.

    »Gute Nacht, schlaf gut.«

    »Gute Nacht, schlaf auch gut.«, antwortete sie froh über seine Reaktion. Leise verließ sie das Zimmer. Achim drehte sich auf die Seite und schlief sofort ein.

    Am nächsten Morgen weckte Achim der feine Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Schnell stand er auf und zog das Gästebett ab. Er steckte die Wäsche in die Waschmaschine im Badezimmer, stellte den Programmknopf auf „leicht verschmutze Wäsche“ und drückte den Startknopf. Nachdem er geduscht und sich angezogen hatte, betrat er gut gelaunt, sein Lieblingslied summend, die Küche. Isabelle erwartete ihn am gedeckten Tisch. Es duftete nach Kaffee und frischen Brötchen. Ihren Bruder gut kennend hatte sie für ihn seinen ostfriesischen Tee bereitet, den er immer morgens trank, wenn er sein Frühstück genießen wollte. Es war immer wieder faszinierend für sie, ihren Bruder bei seinem Teeritual zu beobachten. Achim warf seiner Schwester einen kurzen fragenden Blick zu.

    »Natürlich, wie „es“ gemacht werden muss: Der Tee zog genau vier Minuten in der angewärmten, halb gefüllten Teekanne. Dann mit heißen Wasser aufgefüllt und die Teeblätter entfernt.«

    Sie sah, wie Achim zwei große braune Kluntjes auf den Grund der feinen Teetasse legte und den Tee langsam nachgoss. Dann tropfte er Sahne in den Sahnelöffel und ließ sie vorsichtig am Tassenrand in die Flüssigkeit fließen, so dass eine Sahnewolke entstand. Achim rührte seinen „Friesentee“ niemals um. Nachdem er der Wölkchenbildung zugesehen und dem Knistern des Zuckers zugehört hatte, griff er nach einem Brötchen. Während er es aufschnitt, fragte er:

    »Gut geschlafen, liebes Schwesterlein?«

    »Ja, liebes Brüderlein»

    »Ich habe gar nicht gehört, dass du Brötchen holen gegangen bist.«

    »Dann hast du fest geschlafen. Aber ich war auch sehr leise und bin auf Zehenspitzen gegangen.«

    Entspannt frühstückten sie.

     

    Später als Achim im Zug zurück nach Düsseldorf saß, dachte er an den gestrigen Abend zurück. Er schaute aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen, was an seinem Fenster vorbei flog. War es wirklich richtig gewesen, Isabelle alles zu erzählen?, fragte er sich erneut. Er selbst hatte mehrere Wochen gebraucht, um das Resultat seiner Recherche zu verarbeiten, bevor es sich entschloss, keine weiteren Nachforschungen mehr anzustellen. Er war sich ganz sicher, dass sich sein Verhältnis und seine Vertrautheit zu seinen Eltern nicht verändert hatten. Aber wie würde Isabelle reagieren? Heute Morgen hatte sie sich nichts anmerken lassen. Oder machte sie sich weniger Gedanken?

    Achim tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie ein Anrecht auf die Wahrheit hätte. Sofort fragte er sich jedoch: Was ist die Wahrheit? Er stellte sich weitere Fragen: Was ändert sich jetzt, da sie die Geschichte kennt?  –  Nichts!  –  Oder doch. Vielleicht zog sie die falschen Schlüsse.

    Ich hätte doch nichts sagen sollen. Seine Gedanken drehen sich im Kreis. Unbewusst nickte er, es war absolut richtig, Isabelle alles zu erzählen. Sie hatte ja auch explizit danach gefragt. Möglicherweise hatte sie schon etwas geahnt.

    Achim nickte erneut und drehte der Kopf vom Fenster weg und sah auf die Frau, die im gegenüber saß. Er erschrak, als er sich der Frau bewusst wurde.

    »Guten Tag. Entschuldigung, ich habe nicht bemerkt, wie sie das Abteil betreten haben. Ich war in Gedanken.«

    Feixend sagte die junge Frau: »Guten Tag und willkommen in der Gegenwart.«

    Es folgte eine kurze Unterhaltung, bei der aber kein Funke übersprang. Bald nahm die junge Frau ein Buch zu Hand und las darin, um zu zeigen, dass sie an keiner weiteren Unterhaltung interessiert war. Achim war es auch recht. Er holte sich aus dem Koffer seinen Arbeitsblock und begann mit einer Stichwortsammlung. Aus diesen Stichworten entwickelte er ein Organigramm als Arbeitsplan. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er das „Wiedersehen“ der Frau nicht bemerkte, als sie am nächsten Bahnhof ausstieg. Wie üblich, wenn er ein neues Projekt begann, formulierte er einen Arbeitstitel. „Sozialisation durch Separation und Abgrenzung“. Dann begann er sich Gedanken über den Einstieg, also der Einleitung zu machen. Da ihm jedoch kein geeigneter Anfang einfiel, packte er seine Unterlagen wieder in den Koffer und entspannte sich.

    Die restlichen Minuten bis zum Erreichen des Düsseldorfer Hauptbahnhofs schaute er aus dem Fenster. Als der Zug den Bahnhof erreichte, stand Achim auf, stellte seinen Aktenkoffer und seine kleine Lederreisetasche griffbereit auf den Sitz. Er warf einen Blick in den Abteilspiegel und korrigiere des Sitz seiner Krawatte. Als der Zug stand, zog er seinen grünen Staubmantel über und griff nach seinem Gepäck.

    Ohne Eile ging er zur Rolltreppe und fuhr in die große Bahnhofshalle. Wie immer um diese Zeit war sie stark bevölkert. Gerade kam eine größere Menge laut skandierender und singender Fans der DEG durch die Halle auf ihn zu. Um nicht durch die Meute gehen zu müssen, wich er zum Rand aus. Hier wurde er nicht von den angetrunkenen Fans angerempelt und angelallt.

    Während er hier über die üblichen Dauerbewohner des Bahnhofs stieg, schaute er der lautstarken, blauweißen Prozession zu. Ein biertrinkender Jugendlicher ließ ihn über das ausgestreckte Bein stolpern. Ohne sich um das dröhnende Gelächter der Gruppe zu kümmern, ging Achim weiter. Um nicht erneut über ausgestreckte Beine steigen zu müssen, blieb er jetzt stehen und wartete, bis der Zug Eishockey-Fans verschwunden war. Dabei überlegte er sich, ob er zu seinem „Türken“, gegenüber der Bahnhofshalle gehen sollte, um einen Döner zu essen. Bei seinem Lieblingstürken konnte er sich nach dem Döner noch einen der vorzüglichen Baklava gönnen.

    Als er weiter ging, machte er einen Bogen um die schwarz gekleidete, blass geschminkte Gruppe, die hier ebenfalls auf dem Boden saß. Plötzlich blieb Achim nachdenklich stehen. Dann drehte er sich langsam um und betrachtet die sitzende Gruppe. Die vier jungen Männer und die drei jungen Frauen musterten ihn jetzt ebenfalls interessiert und feindselig. Einer Idee folgend ging er jetzt auf die Gruppe zu. Achim stellte seine Tasche und seinen Bürokoffer neben sich auf den Boden. Er zog seine Hose an der Bügelfalte oberhalb der Knie nach oben und ging vor der Gruppe in die Hocke.

    »Entschuldigung, dass ich Sie anspreche, das ist normalerweise nicht meine Art.«

    Sofort antwortete der zweite Mann von links.

    »Hey, Schnicky, dann lass es doch gleich wieder und mach die Aussicht frei.«

    Der Jüngere neben ihm fuhr in gleichem Atemzug fort.

    »Also, was ist? Verpiss dich, Arschgesicht.«

    Die Frau ganz links, offenbar die jüngste der Gruppe, schrie: »Los, hau ab, oder wir machen dir Beine und zeigen dir, wie du schneller rennen kannst.«

    Während dieser Worte schaute sie Anerkennung heischend nach rechts zu den Anderen, dabei kicherte sie kindisch. Der Erste erhob sich jetzt betont langsam. Während er vor Achim in die Höhe wuchs, sagte er drohend.

    »Du Gockel, ich zerknittere dich und dein Hemd und deine Hose.«

    »Schneid ihm den Schlips ab,« rief die Junge erneut, um sich wieder in Erinnerung zu bringen. Die ganze Gruppe war nun aufgestanden und stand im Halbkreis drohend vor Achim, der aus der Hocke auch aufgestanden war. Der große, schlaksige Mann, der als erster aufgestanden war, so etwas wie der Wortführer der Gruppe, stand direkt vor Achim und schaute trotz Achims Größe von 1,81 Meter auf ihn herunter. Die hautenge schwarze Leggings und das eng geschnittene schwarze Rüschchenhemd unter dem langen, offen getragenen schwarzen Ledermantel ließen ihn noch schlaksiger wirken.

    Achim blickte zu ihm auf und sagte freundlich.

    »Entschuldigung, noch einmal, ich habe Sie freundlich und vor allem friedlich angesprochen, und deshalb kann ich erwarten, dass Sie entsprechend friedlich auf mich reagieren. Sie wollen auch freundlich behandelt werden, wenn Sie selbst freundlich auftreten.«

    Jetzt schwieg der Lange. Auch die anderen der Gruppe sagten kein Wort. Die blass geschminkten Gesichter irritierten Achim. Durch den dunklen Kajal wirkten die Augen sehr tief in den Höhlen liegend. Besonders die Frisur des Großen war auffällig und zog Achims Blick immer wieder an. Auf der linken Kopfseite waren die Haare bis auf die Kopfhaut rasiert. Die Haare der rechten Seite waren mittels Haargel zu einer messerscharfen Bürste aufgetürmt.

    Achim sprach erneut weiter, »Mein Name ist Roessler. Ich bin Wissenschaftsjournalist und hoffe, dass sie mir bei einem Projekt helfen könnten.«

    Der große Blasse rief erneut, »Wir wollen nichts mit solchen Kegels, wie du einer bist, zu schaffen haben. Verpopel dich.«

    Achim ließ sich nicht einschüchtern und lächelte freundlich in die feindselige Runde.

    »Vielleicht kann mir doch jemand aus ihrer Gruppe helfen.«

    Er griff in seine rechte Innentasche und überreichte jedem seine Visitenkarte.

    »Einen guten Abend und auf Wiedersehen.«

    Achim griff nach seiner Reisetasche und seinem Koffer. Langsamen Schrittes ging er in Richtung Ausgang.

    »Wenn du darauf warten willst, musst du warten, bis du in der Hölle brennst.«, wurde hinter ihm her gegrölt. Die anderen der Gruppe wollten sie auch beweisen. Plötzlich wurde Achim von hinter an der Schulter herum gezogen. Es stellten sie seine Nackenhaare. Er spannte die Muskel seines rechten Armes, der den Koffer hielt, um sich jederzeit damit zu verteidigen, wenn er angegriffen würde. Innerlich zitternd trat er einen Schritt zurück. Vor ihm stand der Schlaksige, der ihn um mehr als einen halben Kopf überragte, und schaute in von oben herab an. Neben ihn stand die größte der Frauen. Sie stand wie eine schwarze Walküre vor ihm. Sie war nur unwesentlich kleiner als der Schlaksige, aber deutlich wuchtiger.

    »Noch auf ein Wort«, sagte der Schwarze nicht mehr so feindlich, der durch seine Kleidung, durch seine weiße Gesichtsfarbe und die hohe Haartracht wie ein hoher Turm vor im stand.

    »Um was handelt sich genau und springt etwas für uns heraus.«

    Er machte eine hohle Hand und tat, als sei sie mit Münzen gefüllt, die er klimpernd schüttelte. Achim entspannte sich und sagte.

    »Ich arbeite am Thema zur „Sozialisation durch Abgrenzung“.«

    Die Frau, die bisher schweigsam seine Visitenkarte zwischen Zeigefinger und Daumen haltend und mit dem Mittelfinger der anderen Hand, die drehbare kleine Scheibe schnell rotieren ließ, so dass immer wieder eine bunte Kugel entstand, meldete sich jetzt interessiert.

    »Welches Sozialiationsmodel meinen Sie: „Gesellschaftstheoretisches Model nach Habermas“ oder den „Struktur-Funktionalen-Ansatz Parsons“ oder das „Handlungs- und Rollenmodel von Herbert Mead“. Über den „Freud´schen Ansatz“ kann man wohl nicht ernsthaft sprechen, oder?«

    Achim blies überrascht die Backen auf und ließ die Luft durch die geschürzten Lippen mit leisen Pfeifen entweichen. Seine Augen waren ungläubig aufgerissen. Er fühlte sich völlig auf dem linken Bein ertappt. Die ebenfalls blass geschminkte Frau, die seine Überraschung bemerkte oder sogar bewusst herbei geführte hatte, verzog ihren schwarzen Mund zu einem spöttischen Lächeln. Nachdem sich Achim von seiner Überraschung erholt hatte, antwortete er stockend.

    »Ich erarbeite eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung über Sozalisationsmodele. Dazu möchte ich als Einleitung klar definierte Abgrenzungsgruppen in unserer Gesellschaft beispielhaft darstellen.«

    Aggressiv wurde Achim von dem schlanken Turm unterbrochen.

    »Wir sollen dabei als abschreckendes Beispiel dienen. Sie speisen uns mit ein paar Talerchen ab und verdienen sich einen dicken Beutel. Rechnung fehlerhaft! Ohne uns! Komm, Priska, nicht unsere Welt.«

    Er drehte sich um, zupfte dabei an der schwarzen Bluse der wuchtigen Frau und ging zu den anderen zurück. Die Frau schaute unschlüssig und nachdenklich, vielleicht doch interessiert in Achims Augen. Der Schlaks hatte Achims Visitenkarte, ein Entwurf von Isabelle, in kleine Schnipsel zerrissen, in die Luft geworfen und sich darunter gestellt. Dabei drehte sich zu seiner Begleiterin um.

    »Priska, los komm schon. Wir haben Schluss gemacht.«

    Einer Eingebung folgend, flüsterte Achim: »Rufen Sie mich an«.

    Dabei schob er ihr heimlich eine weitere Visitenkarte in die Hand. Sie nickte fast unmerklich und während sie sich zur Gruppe umdrehte, ließ sie die Visitenkarte in ihrer Tasche verschwinden. Die andere Visitenkarte schnippte sie nach rechts in hohem Boden zur Seite. Achim schaute der schwarzen Frau nach und nahm sie dabei zu ersten Mal bewusst wahr. Über den hoch ausrasierten Nacken fiel ein sorgsam nach hinten gekämmter Schwanz bis zwischen ihre Schultern.  Über den schwarzen Pants trug sie eine schwarz glänzende Bluse, Ihre stämmigen Beine steckten in löchrigen schwarzen Leggings. Ihre schwarzen Stiefelletten klapperten laut.  An der Spitze und am Absatz der Schuhe waren Eisen befestigt. Zwischen dem Klappern der Eisen klingelten kleine, am Fußgelenk befestigte Glöckchen.

     

    Achim ging weiter zum Ausgang, um mit der Straßenbahn nach Hause zu fahren. Immer noch konnte er sich keinen Reim auf das eben Erlebte machen. Die schwarz gekleidete und weiß geschminkte Frau beherrschte seine Gedanken. Irgendwie konnte er sie nicht einschätzen. Etwas Unnahbares umgab sie. Ob sie wirklich anruft? Achim war gespannt. Eigentlich war sich sicher, dass sie sich melden wird, obwohl er diese Sicherheit immer wieder in Frage stellte. Warum sollte sie sich melden? Sie war ihm auf dem Gebiet der Soziologie haushoch überlegen. Also warum? Oder vielleicht gerade deswegen?

     

    Montagmorgen rief er im Institut für Soziologie der Universität Münster an und bekam einen Termin bei Prof. Birgit Stander-Raumann für kommenden Donnerstag um 14 Uhr. Danach überlegte er, wie er sich auf dieses Gespräch vorbereiten könnte.

    Gerade als er sich zum Jogging umzog, läutete sein Telefon. Auf einem Bein hüpfte er, die Sportleggings halb angezogen hinter sich her ziehend, zum Bett, auf dem das Telefon klingelte.

    »Achim Roessler am Apparat«, meldete er sich, auf dem Bett sitzend mit einer Hand telefonierend und mit der anderen Hand die Hose entwirrend.

    »Priska hier, um was genau geht es bei Ihrem Projekt, und wie soll ich Ihnen dabei helfen?«

    Achim musste erstmal Luft holen. Donnerwetter, dieser Frau hält sich nicht lange mit Vorreden auf, sondern kommt sofort zur Sache. Vielleicht war ihre Direktheit auch nur Ausdruck ihres Zwiespaltes, einerseits mit ihm nichts zu tun haben zu wollen, wie es der schlanke Mann im Bahnhof bestimmt hatte, und andererseits die Neugier, um was für eine Sache es sich hier handelte; zusätzlich das Gefühl der Schwäche, ihrer Neugier nachgegeben zu haben.

    Achims Blick wanderte durch sein Schlafzimmer und blieb auf seinem Lieblingsbild, Egon Schiele: „Die Umarmung“, hängen. Eigentlich wollte er weiter ausholen und ihr sein Projekt ausführlich erklären. Er hörte sich aber sagen: »Das kann am Telefon nicht hinreichend erklärt werden. Können wir uns treffen?«

    Am anderen Ende der Leitung wurde kurz nachgedacht.

    »Kommenden Mittwoch um 20 Uhr habe ich Zeit.«

    Achim antwortete sofort: »Ja, das passt mir gut«, obwohl er um diese Zeit immer mit seinem Freund beim Squashspielen verabredet war und er diesen Termin bisher immer kompromisslos eingehalten hatte. Irgendetwas faszinierte ihn an dieser Situation.

    »Kennen Sie das „Leck mich“ in der Vincenziusstraße?«, fragte sie jetzt.

    »Nein, aber ich werde es finden,« antwortete Achim.

    »Kann man sich dort gut unterhalten?«

    »Nein, dort ist es immer recht laut. Schlagen Sie einen Treffpunkt vor.»

    »In der Immermannstraße gibt es vom Bahnhof kommend auf der rechten Straßenseite das „Totii“, eine Lounge-Bar. Dort ist es um diese Zeit immer sehr ruhig. Treffen wir uns dort. Johann, der Barkeeper, mixt sehr gute Cocktails.«

    »Gut!«, hörte er sie sagen, und dann war das Gespräch beendet. Auch Achim drückte auf seinem Telefon die Auflegetaste. Das Telefon in der linken Hand auf dem linken Oberschenkel liegend, saß er noch einige Minuten sinnierend da. Als er aufstand, fiel er fast, weil er mit seinem linken Bein, halb in der Legging, halb auf dem umgestülpten rechten Leggingbein stand. Hüpfend suchte er sein Gleichgewicht. Schnell zog er sich vollständig an und verließ seine Wohnung. Die Laufgewicht an die Handgelenke geschnallt, lief er seine üblicher Runde, und er lief sie gleich noch einmal. Innerlich schüttelte er immer den Kopf über sich selbst. Warum habe ich für Mittwoch zugesagt, gegen meinen Willen?, überlegte er immer wieder. Trotzdem war er mit seiner Spontanentscheidung zufrieden.

    Verschwitzt kehrte er in seine Wohnung zurück. Nachdem er sein Gesicht und seine Hände gewaschen hatte, zog er schnell sein Bett ab. Seine verschwitzte Kleidung, seine Unterhosen der letzten Woche und die Bettwäsche stopfte er in die Waschmaschine. Er stellte den Programm auf Energiesparwaschgang, 60 Grad und ließ die Maschine laufen. Jeden Montag wechselte Achim seine Bettwäsche. Bezüglich seiner Pflichten im Haushalt hielt er sich strikt an seinen Plan. Erst jetzt stellte er sich unter die Dusche. Er duschte laut singend und lang.

     

    Achim liebte Pünktlichkeit. Deshalb machte er sich am Mittwoch gegen 19 Uhr auf den Weg. Er erreichte den Hauptbahnhof um 19,40 Uhr. Gemütlich schlenderte er die Immermannstraße in Richtung Königsallee. Innerlich war er leicht angespannt. „Warum eigentlich?“

    Kurz vor 20 Uhr betrat er die Bar. Auf einen Blick sah er, dass sich, außer Johann, dem Barkeeper, und einer ihm unbekannte Bedienung, niemand im Lokal aufhielt. Er trat zurück auf die Straße bis zum Straßenrand und sah nach links und rechts die Straße hinunter. Aus einem schlecht beleuchteten Hauseingang im Nebenhaus trat eine dunkle Gestalt und ging energisch auf Achim zu.

    »Da hinein gehe ich nicht«, sagte die dunkle Frau, das „ich“ stark betonend.

    »Das ist etwas für Ihresgleichen.«

    »Schönen, guten Abend, schön dass Sie gekommen sind. Aber was heißt meinesgleichen? Dies ist ein normales Lokal, in das jeder zu Gast sein kann. Es ist jedem völlig gleichgültig, wer hier verkehrt. Für Ordnung sorgt Johann, das können Sie mir ruhig glauben«, sagte Achim.

    »Schicky-Micky-Scheiß«, bekam er zur Antwort.

    »Ich gehe da nicht rein«, sagte sie betont langsam.

    »Nochmals, guten Abend! In einer sozialen Gesellschaft gelten bestimmte Grundregeln, die das gegenseitige Zusammenleben deutlich erleichtern.« Sagte Achim ungerührt.

    Widerwillig sagte sie nun: »Ja natürlich, ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend. Entschuldigung, aber Lounge-Bars sind nicht meine Welt.«

    »Muss es ja auch nicht, aber ich möchte mich mit Ihnen unterhalten, und das geht nun einmal an einem Tisch sitzend mit einem Getränk darauf besser. Kommen Sie!« antwortete Achim und schob sie mit leichtem Druck in die Bar.

    »Hallo, Johann, Guten Abend«, grüßte Achim laut und sah dabei seine schwarz gekleidete Begleiterin provozierend an.

    »Guten Abend», sagte auch sie.

    Achim führte sie an einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen dicht am Fenster. Sie setzte sich auf die Vorderkante des Stuhles, er setzte sich bequem auf das ganze Polster. Sofort kam die Bedienung mit einer großen hellblauen Karte zum Tisch.

    »Was kann ich Ihnen servieren?«

    Bei diesen Worten verdrehte Achims Begleiterin ihre Augen. Achim schaute sie fragend an.

    »Möchten Sie einen Cocktail, die sind hier, wie ich bereits sagte, recht gut gemixt? Aber ich bin sicher, dass man hier auch Bier oder Cola bekommen kann.«

    »Pils?«, fragte die Bedienung.

    Achim sah seine Begleiterin fragend an, und als diese nickte, bestellte er zwei Pils in der Tulpe. Während sie auf ihr Pils warteten, hatte Achim zu ersten Mal an diesem Abend Gelegenheit, sein Gegenüber zu betrachten. Wieder war ihr Gesicht ganz vollständig weiß geschminkt. Der Nacken war hoch bis zur Schädeldecke ausrasiert. Ihre lange, schwarze Strähne fiel links über das Ohr bis zum Oberarm. Der schwarze Lidschatten war von den schwarz ausgezogenen Augenbrauen und bis zu den Schläfen gezogen. Ebenso waren die Unterlider schwarz auslaufend zu den Schläfen hin gezogen. Das dunkle Rouge und die schwarz geschminkten Lippen ließen sie unnahbar erscheinen. Sie hatte eine schwarze, bis obenhin geschlossene Bluse an. Über ihrer Brust hing ein blutrotes Druidenkreuz. In seine Betrachtung hinein fragte sie spöttisch: »Genug gesehen?«

    Achim lächelte sie ertappt an. Beide schwiegen nun, bis die Tulpen auf dem Tisch standen. Froh, in dieses Schweigen etwas tun zu können, hob Achim sein Glas und prostete seiner Begleitung zu. Sie hob ebenfalls ihr Glas, nickte und trank es mit einem Schluck aus. Mit dem rechten Unterarm wischte sie sich den Schaum von der Oberlippe.

    »In diesem Glas ist nur eine Pfütze, es reicht nicht für einen ordentlichen Schluck.«

    Achim, der an seinem Glas nur genippt hatte, nahm jetzt auch einen größeren Schluck und winkte der Bedienung. Als diese die neuen Gläser auf die Bierdeckel stellte, bestellte Achims Gast gleich noch ein weiteres Glas. Beiden nahmen wieder einen Schluck, Achim einen kleinen, sie einen großen.

    »Würden Sie mir ihren Namen verraten? Ich habe mich ja bereits vorgestellt,« fragte Achim, um einen Einstieg in das Gespräch zu finden.

    »Ich auch! Am Telefon!« sagte sie, sich über seine Unsicherheit amüsierend.

    «Nennen Sie mich Priska,« klang es jetzt versöhnlicher.

    »Sie heißen Achim Roessler und sind Wissenschaftsjournalist, was wollten Sie von mir?«

    Achim war froh, endlich zur Sache kommen zu können.

    »Ich arbeite an einem Projekt zur „Sozialisation durch Abgrenzung“.

    Als ich ihre Gruppe sah, dachte ich, dass ich die Gothics als exemplarisches Beispiel anführen könnte. Ich kann mir aber über die Gothics nichts Richtiges vorstellen, deshalb habe ich Sie angesprochen.«

    »Ist ihre Arbeit wissenschaftlicher Art, populär-wissenschaftlich oder pseudo-wissenschaftlich«, fragte Priska. Ihre distanzierte Haltung veränderte sich in Interesse. Sie schob ihre leeren Gläser zur Seite, beugte sich auf das Tischchen vor und stützte ihre Ellenbogen.

    »Die Adressaten sind an wissenschaftlichen Themen interessierte Menschen, nicht unbedingt studierte Soziologen. Es soll ein Versuch werden, wissenschaftliche Themen, verständlich zusammengefasst, aber nicht auf populärwissenschaftlichen Niveau, darzustellen.«

    »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie eine Sozialisationsgruppe als Einleitung darstellen. Ich glaube, dass das nicht der geeignete Einstieg in dieses komplexe Thema ist. Erstens ist die Gruppe der Gothics nicht sehr bekannt, und nur sehr wenige können sich darunter etwas vorstellen. Zweitens sollten Sie nicht einen Teil des Hauptteils in der Einleitung vorweg nehmen. Drittens machen Sie sich keine Gedanken über die Einleitung, bevor Sie nicht den Hauptteil und die Quintessenz abgeschlossen haben. Die Einleitung ergibt sich dann wie von selbst.«

    Während dieser Erklärungen tippte sie mit gestrecktem Mittelfinger auf die Tischplatte. Achim war platt vor Überraschung, aber er fing sich schnell wieder und fragte.

    »Sie scheinen sich ja gut in dieser Materie auszukennen. Wie würden Sie vorgehen?«

    Selbstsicher und überlegen antwortete sie: »Vorher muss jedoch erst der Wert«, bei diesen Worten hob und senkte sie die hohle Hand auf und ab, »geklärt werden.»

    Überrascht wich Achim etwas zurück und fragte, »Was würden Sie vorschlagen?«

    »Drei Grüne!«

    Sie sah den fragenden Gesichtsausdruck ihres Gegenüber und präzisierte: «Dreihundert  –  europäische Währung  –  Euros.«

    Achim antwortete sofort ohne zu überlegen, »akzeptiert, wenn Sie mit mir essen gehen.«

    „Was war das nun wieder gewesen?“

    Er wollte doch gar nicht mit dieser Frau essen gehen. Oder doch?, fragte er sich. Über den Tisch hinweg wurde der Handel per Handschlag besiegelt.

    »Zu Beginn benötigen wir eine Begriffsdefinition von Sozialisation. Damit wir genau wissen, worüber wir nachdenken müssen. Auch der Leser muss ja wissen, was wir damit meinen. Wir müssen in diesem speziellen Fall einen weit gefassten Begriff der Sozialisation wählen, als einen stufenweisen oder kontinuierlichen Prozess der Eingliederung in die Gesamtheit der in einer sozialen Gesellschaft lebenden Individuen. Also die Suche und das Besetzen einer eigenen Position in der vertikalen und horizontalen Hierarchie. Damit wird Sozialisation dreidimensional. Danach muss das meiner Meinung größte Problem in der Soziologie gelöst werden. Die meisten Soziologen beschäftigen sich hauptsächlich mit der Sozialisation im Kindesalter und im Jugendalter und in sogenannten Peer-Groups. Sie tun dabei so, als sei die Sozialisation mit Eintritt ins Erwachsenenalter abgeschlossen. Das ist natürlich hanebüchener Unsinn. Aber verständlich, weil mit Schulkindern oder Peer-Groups leicht Studien durchzuführen sind, die auch leicht, entsprechend der eigenen Zielsetzung der Studien, beeinflussbar sind. Sozialisation findet vom Moment der Geburt bis zum Tod statt. Sie ist niemals abgeschlossen. Beispielhaft sind dabei Beruf, die Berufskollegen und die Vorgesetzten sowie die Untergebenen, der Sportverein, Golfclub, der eine starke Sozialisationskomponente aufweist, bis hin ins Altersheim, genannt. Ebenso muss Partnerwahl, ebenso wie eigene Familie, also endogene Faktoren, berücksichtigt werden. Immer finden Abgrenzung und gleichzeitig Konformität statt. Äußerlichkeiten, wie Frisur oder Aussehen, Kleidung, auch Verhalten, Ansichten, Geschmack, z.B. Musikgeschmack und das Vertreten von Werten grenzen ab und Andere aus. Alles sind Sozialisationsprozesse. Sozialisation bedeutet auch Kampf und Durchsetzung der eigenen Position, in streng darwinschen Sinne. Sie ist immer mindestens dreipolig. Das Individuum wird durch die entsprechenden Subgroups beeinflusst und umgekehrt. Das Individuum wird aber auch von den anderen Mitgliedern der Gesellschaft beeinflusst, und das Individuum wiederum beeinflusst die Gesellschaft und ihre Mitglieder. Der dritte Pol ist der Zeitfaktor, eigene Vergangenheit, oder Ergebnisse vorangegangener Sozialisationsprozesse, verknüpft mit Lebensplanung, das heißt Ziele und Zielplanung.»

    Priska führte ihren Monolog fort und redete über Sozialationsprozesse erster, zweiter und dritter Ordnung. Nebenher bestellte sie ein weiteres Pils. Nach einem riesigen Schluck und Reinigung ihrer Oberlippe bat sie um Papier und Schreibzeug. Nachdem sie fast eine Minute geschrieben hatte, schob sie das Blatt Papier zu Achim hinüber.

    »Das ist alles Gesagte in eine Kurzform zusammen gefasst.«

    Achim hatte die ganze Zeit geschwiegen und aufmerksam zugehört, jetzt warf er Priska über das Blatt hinweg einen hilflosen Blick zu und sagte bestimmt: »Stopp, jetzt reicht es fürs Erste, ich kann Ihnen bald nicht mehr folgen.«

    Von den beiden unbemerkt hatte sich die Bar gefüllt, und der Geräuschpegel war kontinuierlich gestiegen. Erstaunt blickte sich Priska auf und bemerkte jetzt ebenfalls die gut gefüllte Lounge-Bar. Nachdem sie sich mehrfach umgesehen und die Blicke bemerkt hatte, die auf sie gerichtet waren.

    »Sehen Sie, wie die ganzen Leute mich anstarren?«

    Achim antwortet spöttisch, »Ja, das bemerke ich. Sie werden genau so angestarrt, wie Sie die anderen Leute anstarren. Diese lassen sich allerdings durch Ihr Starren nicht beeinflussen.«

    »Egal, Sie sind nicht meine Wellenlänge. Ich möchte jetzt gehen!«

    Achim  winkte der Bedienung und verlangte die Rechnung.

    »Meine Getränke bezahle ich selbst«, widersprach die schwarze Frau, als Achim die ganze Rechnung bezahlen wollte.

    »Ich würde Sie gerne einladen, weil Sie mir, glaub ich, sehr geholfen haben. Außerdem kann ich die Rechnung von der Steuer absetzen.«

    »Nein, ich bezahle immer meine Rechnungen selbst.«

    »Sie wollen wohl keine Abhängigkeiten«, sagte nun Achim.

    »Nein, auf gar keinen Fall«.

    Während sie auf die beiden Rechnungen warteten, betrachtete Achim Priskas Gesicht.

    »Keine persönlichen Fragen«, schien sie seine Gedanken zu erraten.

    »Wir sind nicht ganz zu Ende gekommen. Für Ihr Geld sollen Sie auch eine entsprechende Gegenleistung erhalten. Haben Sie nächsten Mittwoch um dieselbe Zeit wieder Zeit?«

    Als Achim nickte, fuhr sie fort, »also dann nächste Woche um die gleiche Zeit, welcher Ort?«

    »Hier die Straße runter ist eine gute Trattoria, ich möchte daraus ein Arbeitsessen machen, und ich bezahle«.

    »Kommt überhaupt nicht in Frage. Sie bezahlen zwar mein Wissen, aber die Bedingungen bestimme ich, und diese Bedingung heißt in diesem Falle, nein, die Rechnung werde ich selbst bezahlen. Italienisches Essen ist in Ordnung. Wir treffen uns aber hier vor dieser Bar.«

    Zum Abschied streckte Achim ihr seine Hand hin, die sie nach kurzem Zögern nahm und schüttelte. Dann gingen beide los. In die gleiche Richtung. Lächelnd blieben sie beide stehen.

    »Ich muss zum Bahnhof. Sie auch?«, fragte Achim.

    »Ja!  Ich auch. Ich dachte eigentlich, dass sie mit ihrem BMW oder einem anderen Sportwagen hier seien.«

    »Sehe ich etwa so aus?« Fragte Achim erstaunt.

    »Ja, so ein Auto würde zu Ihnen passen«, antwortete sie.

    »Also, was für einen Wagen fahren Sie?«

    Jetzt grinste Achim, und er musste innerlich laut lachen, »soweit zum Thema: keine persönlichen Fragen!«

    Ehe sie ihre Frage zurückziehen konnte, fuhr Achim fort: »Ich fahre einen schwarzen Smart Cabrio.«

    Erstaunt blickte sie auf Achim.

    »Das glaube ich nicht.«

    »Doch ich habe einen Smart für die Stadt. Sie scheinen doch eine gute Beurteilungsfähigkeit zu haben, dennn ich habe noch einen BMW Z 4 Cabrio.«

    »Proletenkarre, wusste ich es doch. Das passt zu Ihnen.«

    Als sie weiter ging, folgte ihr Achim schnell.

    »Bitte, beantworten Sie mir eine Frage. Woher wissen Sie so gut in Soziologie Bescheid,« fragte Achim.

    »In der Schule war ich in einer Arbeitsgemeinschaft.  Mich hat das Thema so sehr interessiert, so dass ich Sozialwissenschaften studieren wollte,« antwortete Priska.

    »Haben Sie denn nicht?«

    »Nein!« Priskas Stimme war bestimmt und klang ärgerlich.

    »Was machen Sie stattdessen?« fragte Achim weiter.

    »Ich repariere, frisiere und tune Autos«, antwortete sie, wieder mit normaler Stimme. Dabei sah sie Achim über ihre rechte Schulter triumphierend an, als wolle sie sagen: „Damit haben Sie nicht gerechnet.“

    Vor dem Hauptbahnhof angekommen gaben sie sich noch einmal zum Abschied die Hand, und Achim stieg in seine Straßenbahn. Priska verschwand im Bahnhofsgebäude.

     

    Zu Hause angekommen setzte sich Achim sofort mit einem Glas Tee an seinen Schreibtisch. Er machte sich Notizen auf einem bunten Block. Anschließend erstellte er ein Gedächtnisprotokoll mit Priskas Ausführungen. Später setzte er sich mit einem zweiten Glas Tee in seinem Sessel und ließ den Abend Revue passieren. Mehrfach schüttete er seinen Kopf, als er an diese Frau dachte. Sie war von einer Intensität, die er jetzt noch spürte. Da war so sehr in Gedanken versunkenen, dass er seinen Tee kalt werden ließ. Achim hasste kalten Tee. Er leerte das Glas in den Ausguss und ging zu Bett.

    Die restliche Woche war ausgefüllten mit Arbeiten, die notwendig waren, um seinen letzten Artikel druckreif zu machen. Am Donnerstag fuhr er nach Münster, um sich mit Professorin Birgit Stander-Raumann zu besprechen.

     

    Über das Wochenende besuchte er seine Schwester Marithe und ihre Familie. Hier fühlte er sich sehr wohl. Hier herrschte eine Atmosphäre von Geborgenheit und Liebe. Am Sonntag spielten alle Fußball im Garten. Achim trat dabei auf den Ball und stürzte. Sein Knöchel war verstaucht und schmerzte. Humpelnd bat er um Auswechslung. Er konnte nicht mehr mitspielen. Nach dem Nachmittagskaffee fuhr Achim wieder nach Hause. Sofort legte er sein rechtes Bein mit dem geschwollenen Knöchel hoch und kühlte die Schwellung.

     

    Als am Montagmorgen der Fuß immer noch sehr schmerzte, ging er zum Arzt. Nach zwei Stunden Wartezeit, er war nicht angemeldet gewesen, wusste er durch ein zweiminütiges Gespräch mit dem Arzt, dass nichts gebrochen war, sondern dass es sich um eine Verstauchung des Knöchels handelte. Mit Schmerztabletten und Schonung würde es in einigen Tagen besser werden. Zu Hause setzte er sich an seinem Schreibtisch, das schmerzende Bein seitlich hoch gelegt. Das Arbeiten in dieser Stellung war schnell ermüdend. Die gesamte Muskulatur verkrampfte sich. Also setzte er sich wieder normal an seinen Schreibtisch und nahm lieber noch einmal eine Schmerztablette ein, obwohl sich bei der ersten schon sein Magen bemerkbar gemacht hatte. Bis zum späten Nachmittag hatte er nach umfangreicher Internetrecherche eine Liste von Veröffentlichungen erarbeitet, die er sich besorgen wollte. Nach der Erledigung seiner montäglichen Hausmannspflichten aß er den Rest des Gemüsekuchens, den ihm Marithe mitgegeben hatte.

    Etwas Gutes hatte seine Verletzung, sagte er sich, denn jetzt hatte er einen guten Grund für die erneute Absage vom Squash kommenden Mittwochabend. Sicher hätte er sich sonst später spöttische Bemerkungen gefallen lassen müssen. Wieder hatte er diesen Mittwochabendtermin ohne nachzudenken an Priska vergeben, obwohl er eigentlich schon fest verplant war.

     

    Mittwochabend machte sich Achim etwas früher auf den Weg. Sein Knöchel schmerzte weniger stark, der Schmerz war aber immer präsent. Einige Minuten vor der Zeit stellte Achim sich am Treffpunkt in den dunklen Hauseingang und wartete. Schon von Weitem sah er Priska kommen. Mit weit ausholenden, kraftvoll-dynamischen Schritten kam sie vom Bahnhof her. In aller Ruhe und von ihr unbemerkt konnte er sie beobachten. Sie machte einen sportlichen, durchtrainierten Eindruck. Das Haar war einfach in einem großen Wirbel hochgesteckt. Das helle Gesicht leuchtete und betonte ihre schwarzen Augen und ihren großen schwarzen Mund. Sie trug eine bis zum Hals geschlossene schwarze glänzende Rüschchenbluse und einen ebenfalls glänzenden schwarzen Rock über den schwarzen, blickdichten Strümpfen. Die Füße steckten in flachen Lederstiefeln. Über dem rechten Knie war ein großes Loch gerissen, so dass das Knie bei jedem Schritt aus dieser Öffnung glitt. Achim trat aus der Türöffnung und humpelte ihr entgegen. Sie begrüßten sich mit einem festen Händedruck. Achim wedelte mit seiner rechten Hand wegen ihres quetschenden Handschlags.

    »Guten Abend. Schön, dass sie pünktlich sein konnten,« begrüßte Achim sie.

    »Guten Abend. Ich bin immer pünktlich,« grüßte sie.

    »Darf ich einen Vorschlag machen?«

    Sofort schaute Priska misstrauisch.

    »Selbstverständlich«, antwortete sie.

    »Hier, ganz in der Nähe ist eine kleine Pizzeria, zur von mir vorgeschlagene Trattoria ist es einige hundert Meter, und das Gehen ist schmerzhaft. Wollen wir dorthin gehen?«

    Priska zuckte gleichgültig mit den Schultern. Achim humpelte los, und Priska ging verhaltenen Schrittes neben ihm her. Sie nahmen an einem kleinen Tisch vor dem Aquarium Platz. Der Ober überreichte ihnen eine überdimensionale Karte, die in den italienischen Landesfarben gehalten war. Nachdem sie ihre Karten geschlossen und auf den Tisch gelegt hatten, kam der Ober, um die Bestellungen entgegenzunehmen.

    Achim sagte, zu Priska gewandt, »Der Babera ist hier ganz gut?«

    »Nein«, sagte Priska bestimmt, »ich trinke Pils.«

    Nach einer Weile sagte Priska.

    »Hier haben Carlo und ich auch schon gesessen, aber man wollte uns nicht bedienen.«

    »Ist Carlo ihr Freund?« fragte Achim.

    »Ja, ich glaube schon. Wenigsten von meiner Seite aus,« antwortete sie zögerlich und ihrer Körperhaltung verschloss sich heftig. Achim wechselte schnell das Thema und sprach über die Ergebnisse seiner bisherigen Arbeit.

    »Sie waren sicher schon im Institut für Soziologie in Münster, hab ich recht?«, fragte Priska jetzt, auf den Themawechsel eingehend. Achim war sichtlich beeindruckt von der Frage. Priska hatte sie so sicher und bestimmt gestellt, dass sie mehr einen bestimmenden als rhetorischen Charakter hatte.

    »Ja! Wie kommen Sie darauf?«, fragte Achim.

    »Ich schätze Sie als gründlichen Mensch ein«, antwortete sie, mit sich zufrieden. Achim nahm diese schmeichelhafte Feststellung zu Kenntnis. Trotzdem war er irgendwie enttäuscht, dass sie sie nicht nach seinem Befinden erkundigt hatte.

    Während des Essens schwiegen beide, sie musterten einander jedoch, als würden sie sich etwas über den Anderen lustig machen. Trotzdem war ihnen diese Situation nicht peinlich, und keiner hatte das Bedürfnis, dieses beredte Schweigen zu brechen. Mit der hausgemachten Pasta und der Steinpilzsauce waren beide zufrieden, und als die Teller abgeräumt waren, sprach Achim über seine Liebe zur italienischen Küche. Priska äußerte sich nicht dazu.

    Danach besprachen sie intensiv über Achims Arbeit. Gegen 23 Uhr hatte Achim eine konkrete Vorstellung vom Aufbau seines Artikels. Vor allem hatte er ein Verzeichnis von Literatur, die er noch einsehen und studieren musste. Priska hatte ihm deutlich mehr geholfen als die lustlose Frau Prof. Birgit Stauder-Raumann.

    Langsam, Achims Fuß schmerzte wieder stärker vom langen Sitzen, gingen sie zum Bahnhof. Achim wollte weitere Details, insbesondere seine Einleitung über die Gothics, mit Priska besprechen. Sie hatte ihm ihre Telefonnummer verweigert, aber versprochen, dass sie sich bei ihm meldet.

    Am nächsten Morgen klingelte das Telefon.

    »Achim Roessler am Apparat.«

    »Guten Morgen, liebes Bruderherz«, klang es gut gelaunt aus dem Hörer.

    »Schwesterlein, schön, den sonnigen Ton deiner Stimme in meinem Gehörgang zu vernehmen.«, sagte Achim ebenso gut gelaunt.

    Trotzdem sagte Isabelle: »höre ich aus deiner Stimme eine leise Enttäuschung? Hast du einen anderen Anrufer, oder besser eine Anruferin erwartet?«

    In diesem Moment wurde es Achim bewusst, richtig bewusst, dass er wirklich auf eine andere Anruferin gehofft hatte.

    »Übrigens, was macht dein Liebesleben zurzeit. Du hast schon länger nichts mehr darüber gesagt. Heißt das etwa, du hast Geheimnisse vor mir, oder gibt es zurzeit nichts zu berichten, was ich allerdings nicht glaube«, neckte Isabelle weiter.

    »Du hast recht, wie immer. Sogar zweimal recht hast du. Seit Ciara in New York ist, hänge ich etwas in der Luft, rein gefühlsmäßig. Im Weiteren habe ich im Rahmen meiner Recherchen eine Frau kennen gelernt, die mir bei Einstieg in mein Projekt sehr geholfen hat und die mich beschäftigt. Ich kann diese Frau nicht einschätzen. Allen diesbezüglichen Versuchen entzieht sie sich. Nicht einmal ihre Telefonnummer habe ich bekommen.«

    »Ja, ja,« unterbrach Isabelle ihren Bruder mit gespielt mitleidsvoller Stimme, »wie sagst du immer? Die Telefonnummer ist der Schlüssel zum Erfolg.«

    »Jetzt machst du dich auch noch lustig über mich«, grummelte Achim. »Gibt es einen bestimmten Grund für deinen Anruf?«

    »Natürlich, mein liebstes Bruderherz, es geht um Vaters Geburtstag. Ich habe schon mit Marithe gesprochen. Wir wollen den Geburtstag ausschließlich mit der Familie feiern, also ohne eigene Familie oder Anhang. Ich habe auch schon mit Vater telefoniert, er freut sich sehr. Er wird keine Gäste einladen, und er wird auch mit Mutter darüber sprechen, so dass wir ganz unter uns sind. Wie sieht es mit dir aus?«

    »Blöde Frage! Das freut mich sehr. Wann ist Anreise, Freitag oder Samstag?« Achims Stimme war mit Vorfreude auf das Familienwochenende erfüllt.

    »Ach was! Ich komme schon Freitag, am Nachmittag, und du?«

    »Auch Freitag. Ich werde zuerst Marithe abholen. Wir werden gegen 17 Uhr eintreffen.«

    »Gut, ich werde schon dort sein, wenn ihr eintrefft,« versprach Achim. »Und, was macht dein Liebster das ganze Wochenende ohne dich?« fragte Achim, provozierend auf das Liebesthema zurückkommend.

    »Lothe hat sich ein Fotostudio gemietet und wird sich das ganze Wochenende darin einschließen,« antwortete Isabelle, ohne besonderen Ton in der Stimme.

    »Kannst denn du ein ganzes Wochenende ohne deinen Lothe sein?«

    »Es wird hart werden, aber im Kreis meiner Lieben wird es gehen,« antwortete Isabelle ernst. Sie musste aber sofort lachen, und Achim lachte laut mit.

    »Bist du immer noch so verrückt nach ihm?« fragte er interessiert.

    Isabelle empfand diese Frage nicht als Angriff oder Anmaßung, sondern antwortete normal.

    »Außer dir ist Lothe der einzige Mensch, dem ich absolut vertraue«, und mit liebevoller Stimme fuhr sie fort: »ich liebe ihn mehr denn je. Ich freue mich auf jeden Augenblick, in dem er mich ansieht oder berührt.«

    Nach dem Gespräch mit Isabelle ging er zu seiner Anlage und stellte „Queen“ laut, sehr laut. Bestens gelaunt begann er die Wohnung abzustauben und zu saugen. Diese Schwester war ein großes Glück für ihn. Sie war wie ein Fels in stürmischer See. Er dachte an zu Hause, an Silvia und an seinen Vater. Er freute sich auf das Wochenende im November. Schnell stellte er den Sauger ab und rief seiner Mutter an, um ihr seine Essenswünsche mitzuteilen. Sie hatte auf seinen Anruf gewartet, denn auch Isabelle hatte schon Wünsche angemeldet. Während er weiter saugte, kehrten seine Gedanken zu Priska zurück. Diese dunkle Frau, die er so geheimnisvoll empfand und die ihn so beschäftigte.

     

    In den nächsten Tagen arbeitete Achim intensiv an seinem neuen Projekt. Die Schmerzen im Bein wurden deutlich besser, seit er die Schiene, die ihm sein Hausarzt streng verordnet hatte, auch konsequent trug. Freitagmorgen läutete das Telefon, und Achim meldete sich mit einem bestimmten Druck im Bauch. Am Telefon meldete sich seine Tante Elisabeth.

    »Hallo Achim, wie geht es dir? Ich habe gehört, du hast dich am Fuß verletzt.«

    »Eigentlich gut, die Schmerzen lassen nach. Ich bin einfach umgeknickt«, antwortete Achim.

    »Um es kurz zu machen! Ich wollte Klaus zu seinem Geburtstag besuchen, aber Klaus hat mich quasi ausgeladen. Steckt da Silvia dahinter, oder gibt es einen bestimmten Grund?»

    »Ja, diese Quasiausladung hast du uns Kindern zu verdanken. Wir haben eine Geburtsfeier im allerengsten Familienkreis, nur die Kernfamilie so zu sagen, angeregt.«

    Tante Ele, die Silvia nicht besonders leiden mochte und bis heute immer noch glaubte, dass die Ehe von Klaus mit Silvia ein Fehler war, schnaubte ungläubig. Achim, der Tante Ele gut leiden konnte, machte einen Vorschlag zur Güte:

    »Tante Ele, komm einfach Sonntagnachmittag zum Kaffee und bleibe dann ein paar Tage. Wäre das eine Möglichkeit?«

    »Ja, ich werde es mir überlegen«, antwortete sie versöhnlicher.

    Achim wusste, dass das bereits eine Zusage war.

    »Ich stelle aber eine Bedingung!«

    »Die wäre?« fragte Achim.

    »Ihr alle seid dann auch noch zum Kaffee da.»

    Tante Ele meinte damit die Geschwister.

    »Ich kann dir sofort zusagen. Aber ich kann nicht über die Zeit von Isabelle und Marithe verfügen. Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, versprach Achim.

    Am späten Nachmittag erreichte Achim die Villa seiner Eltern. Mit der Schiene schmerzte das Bein kaum noch, aber Autofahren konnte er damit nicht. Für die Fahrt hatte er die Schiene in den Koffer gepackt. Schon bald während der Fahrt begann der Knöchel wieder zu schmerzen. Als er seinen Z 4 Roadster hinter dem Haus abgestellt hatte, öffnete sich die Haustür, und Silvia, zu Ausritt umgekleidet, verließ das Haus. Mit Mühe und unter Schmerzen quälte er sich aus seinem Fahrzeug. Er humpelte auf seine Mutter zu. Er umarmte sie herzlich, fest und betont lange. Er wusste, dass seine Mutter diese Umarmungen nicht besonders mochte. Er wusste aber auch, dass sie ihn sehr liebte und vielleicht genoss sie seine Liebe im Innersten doch.

    »Geh!!   –   hör auf! Du weißt doch, dass ich das nicht mag.«

    Halb lachend, halb ärgerlich schob sie Achim von sich weg.

    »“Feuerwind“ wartet noch darauf, bewegt zu werden. Danach muss noch die Organisation für den Weihnachtsbazar besprochen werden. Ich werde bis 20 Uhr zurück sein. Bitte, entschuldige mich bis dahin. Isolde hat gerade Tee bereitet, da ist sicher noch etwas für dich übrig.»

    Silvia wollte sich gerade zum Gehen wegdrehen, hielt aber die Blick ungewöhnlich lange auf Achim gerichtet. Ihr Blick wechselte vom rechten Auge Achims zum linken Auge und zurück. Dabei hatte sie einen Gesichtsausdruck, der nachdenklich und zugleich ängstlich war, als hätte sich Angst, dass dieses Idyll bald zerstört würde. Als sie mit ihren kräftigen Schritten zur Garage schritt, hatte Achim ein mulmiges Gefühl. Hatte Isabelle etwas über Achims Familienrecherchen gesagt?

    Achim blickte noch seiner Mutter hinterher, als sie schon in ihrem Mercedes Ml davon gebraust war. Er hörte ein Hupen und gleich darauf eine gehupte Antwort.  Isabelle brauste durch die Toreinfahrt auf den Hof und hielt direkt neben Achim. Sie öffnete ihr Fenster.

    »Wir kommen zu Hause an, und Mutter hat Termine?«

    »Komm, sei nicht gleich wieder so spitz mit deiner Zunge«, antwortete Achim. Er ging um den Wagen herum und öffnete Marithe die Wagentür und half ihr beim Aussteigen, bevor er sie herzlich begrüßte.

    Zu Isabelle gewandt, sagte er: »Park dein Ofen neben meinem Wagen, und komm dann rein. Ich sorge für einen Begrüßungstee für uns alle. Isabelle wartete, bis Achim die Koffer aus dem Kofferraum gehoben hatte und ließ dann die Kiesel spritzen. Achim nahm den Arm von Marithe und zog sie ins Haus. Dort rief er nach Isolde und bat um Tee. Danach humpelte er das Gepäck holen. Gleichzeitig mit Isabelle kam er zurück und stellte das Gepäck in der Halle neben die Treppe. Isolde musste neuen Tee aufbrühen. Achim ließ es sich nehmen, die Koffer auf die Zimmer zu verteilen. Humpelnd trug er zuerst seinen Koffer auf sein Zimmer. Sofort öffnete er ihn und legte die Schiene um den Knöchel. Danach versorgte er die restlichen Koffer. Als er zurück zu seinen Schwestern humpelte, standen dampfend, drei Tassen Tee auf dem Tischchen. Bis jetzt hatte er fest auf die Lippen gebissen und den Schmerz so gut es ging ignoriert, aber als er auf dem Stuhl saß, schmerzte der Knöchel sosehr, das es ihm die Tränen in die Augen trieb. Schnell nahm er eine Schmerztablette. Er legte sein Bein auf einen Stuhl. Schnell waren die Geschwister in einem unbeschwerten Gespräch vertieft. Immer wieder unterbrochen durch lautes Lachen sprachen sie von früheren Zeiten. Plötzlich sprang Marithe auf.

    »Kommt, lass uns zum See gehen. –  So wie früher immer.«

    Dann fiel ihr Blick auf Achims hoch gelegtes Bein, und sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl.

    »Schade!«

    Als Achims Schmerzen nachgelassen hatten, stand er auf.

    »Gute Idee! Es wird schon gehen. Wir treffen uns in zehn Minuten auf der Terrasse.«

    Umgezogen standen sie auf der Terrasse, bereit loszugehen. Achim musste seine Schiene wieder ausziehen, weil ihm seine Wanderschuhe mit Schiene nicht gepasst hätten. Fröhlich liefen die Mädchen los. Achim humpelte hinterher und ließ sich seinen Schmerz nicht anmerken. Durch den gepflegten Park gingen sie hinter zum See. Am Ufer entlang schlendernd genossen sie die Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit.

    Als es dämmerte, traten sie den Rückweg an. Wie früher immer wählten sie den Abkürzungsweg über die Felder. Als sie den Rain zum Park hochkraxelten, rutschte Achim mit seinem lädierten Fuß aus. Sofort wurde der Schmerz schlimmer, und Achim merkte, wie der Knöchel wieder anschwoll. Mit einem schmerzerfüllten »Scheiße« setzte er sich ins feuchte Gras und betastete sein Unterschenkel.

    »Steh auf, ich stütze dich, du wirst ganz nass und kannst dich erkälten«, sagte Marithe, die mit ihren Kinder diesbezüglich Erfahrung hatte.

    Isabelle, ebenso pragmatisch wie energisch, rief: »Schnell, bringen wir Achim zu Dr. Berthold, der wird ihm helfen.

    «Achim stand mit feuchtem Hosenhinterteil auf, »ja, gehen wir zu Dr. Berthold, von hier ist es nicht weit.«

    »Aber Dr. Berthold praktiziert doch nicht mehr. Er hat seine Praxis an einen Nachfolger übergeben. Dr. Vollmer, oder so ähnlich, heißt er.«

    »Egal, Dr. Berthold wird mir helfen«, sagte Achim, stützte sich auf seine Schwester und humpelte los. Nach kurzer Zeit standen sie vor dem alten, verwitterten Holzhaus von Dr. Berthold und klingelten. Dr. Berthold öffnete selbst. Er blickte überrascht auf die beiden Roessler-Töchter, die ihren eingedreckten Bruder in ihrer Mitte stützten. Sofort öffnete er die Eingangstüre weit und bat sie, ihm zu folgen. Er öffnete die linke große Tür, die zu seinen ehemaligen Praxisräumen führte und an der noch das alte Emailschild „Praxis“ hing.

    »Mein Nachfolger, Dr. Volkmar, ein sehr tüchtiger junger Kollege übrigens, hat jetzt eine neue, große, modern eingerichtete Praxis mitten in der Stadt«, sagte Dr. Berthold, während er Achim auf die grüne Untersuchungsliege bugsierte. Dann ging er zur Tür und lehnte sich am Türrahmen festhaltend nach draußen.

    »Hildchen, komm mal bitte und schau, wir haben lieben Besuch.«

    Sofort kam Hildruth Berthold. Mit strahlendem Lächeln begrüßte sie die jungen Frauen, während sie sorgenvoll auf Achim sah.

    »Mach bitte schnell eine Kanne Tee, oder möchte jemand Kaffee?«

    Mit diesen Worten zu seiner Frau, schob er alle anderen aus dem Untersuchungszimmer. Achim hatte in der Zwischenzeit Schuhe und Hose ausgezogen. Nach einer gründlichen Untersuchung sagte Dr. Berthold: »Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist, aber das vordere Band am Außenknöchel hat etwas abbekommen. Wegen der Schwellung kühlen wir den Knöchel. Zusätzlich spritze ich dir noch ein Schmerzmittel, damit die Schmerzen erträglich werden.«

    Nach ein paar Minuten zog sich Achim wieder an.

    »Komm mit ins Wohnzimmer. Hildchen hat sicher schon den Tee fertig.«

    Mit Schuh und Strumpf in der Hand, mit „Coolpack“ versorgt, hüpfte Achim hinter Dr. Berthold ins andere Zimmer. Hildruth schob einen Hocker vor Achims Stuhl.

    »Leg dein Bein hier bitte hoch«, sagte sie.

    »Hildruth Berthold hat wie immer zum Wochenende einen Apfelkuchen gebacken,« sagte Dr. Berthold nun, «und für besondere Gäste wird er schon am Freitagabend angeschnitten.«

    Hildruth ging mit Marithe zum Sahneschlagen in die Küche. Marithe kam mit dem duftenden Apfelkuchen zurück, schnitt ihn an und legte jedem ein Stück auf einen Teller. Jetzt kam Hildchen aus der Küche zurück, und auf jedem Stück Kuchen landete ein großer Klecks gesüßte Sahne. Früher waren die Geschwister häufiger am Wochenende vorbei geschlendert, um etwas von Hildchens Apfelkuchen abzustauben. Dr. Berthold war, seit sie denken konnten, der Hausarzt der Familie. Schnell war ein lebhaftes Gespräch entstanden. Immer wieder begannen die Sätze mit: »Wisst ihr noch?«, oder, »Da fällt mich auch eine Geschichte dazu ein.«

    Gerade sagte Hildchen: »Erinnert ihr euch noch, als eure Mutter euch das Schlittschuhlaufen verboten hatte und ihr trotzdem heimlich gelaufen seid.«

    »Ja, natürlich! Und ich bin eingebrochen und stand bis zu den Knien im kalten Wasser.«

    »Ich lief zu dir und wollte dir aus dem Wasser helfen und bin ebenfalls eingebrochen«, ereiferte sich Marithe.

    »Und ich bin solange um euch herumgefahren und habe gelacht, bis auch ich eingebrochen war,« rief Achim laut, »wir mussten mit nassen Schuhen nach Hause laufen.«

    Dr. Berthold fuhr lachend weiter:

    »Am Montagmorgen hattet ihr alle drei eine handfeste Erkältung mit hohem Fieber. Damit eure Mutter nichts merkt, seid ihr auch pünktlich aus dem Haus gegangen.«

    Eifrig erzählte Marithe weiter, »aber wir sind schnurstracks zu Ihnen gelaufen.«

    Hilde sagte gutmütig lachend zu ihrem Mann, »und du hast die kranken Kinder mir gebracht. Ich habe euch dann mit Wärmflaschen, und dicken Decken ins Bett verfrachtet. Den ganzen Tag musstet ihr Tee und heiße Milch mit Honig trinken.«

    »Ja, und ich habe sofort mit der Schule telefoniert,» sagte Dr. Berthold, »Ich glaube eure Mutter hat wirklich nichts bemerkt. Vor allem weil ihr zu den üblichen Zeiten nach Hause gekommen seid.«

    Nun konnte auch Achim nicht mehr ruhig bleiben.

    »Ich weiß nicht recht, ob Mutter nicht doch etwas bemerkte. Besonders weil wir alle drei sofort in unseren Zimmer verschwunden sind und auch nicht zum Abendessen herunterkommen wollten.«

    »Jedenfalls ging es Dienstag schon wieder besser. Dank ihrer Hilfe,« sagte nun Marithe. Das weitere Gespräch wechselte heiter von Erinnerung zu Erinnerung, von Anekdote zu Anekdote. Die Köpfe waren bald gerötet, sei es von den anregenden Erinnerungen oder vom heißen Tee. Auf dem Tisch stand eine Flasche Rum und jeder bediente sich mehr oder weniger großzügig daraus. Später erzählten die Bertholds Geschichten aus Zeiten, in denen die Rössler-Kinder noch gar nicht geboren waren. Dann wurde Hildruth ernst.

    »Wusstet ihr, dass wir uns um eure Mutter große Sorgen machten? Eure Großeltern verloren viel Geld. Man sagte damals, euer Großvater habe sich an der Börse verspekuliert. Sogar das Personal musste entlassen werden, und das Anwesen verwahrloste. Der schöne Park verwilderte völlig. Fremde Kinder spielten dort wie in einem Abenteuerspielplatz. Aber auch zwielichtige Gestalten bezogen ab und zu die unübersichtlichen Wildnis.«

    »War das, als Opi so krank war?«, fragte Marithe.

    »Ja, euer Opa wurde sehr krank«, sprach Dr. Berthold weiter, »ich musste ihn mehrfach ins Krankenhaus einweisen. Er wurde nicht mehr richtig gesund.«

    »Dann kam die Sache mit eurer Mutter«, erzählte Hilde, »Das hat ihrem Vater zusätzlich belastet.«

    »Was war mit unsere Mutter?«, fragte Achim und blickte zu Dr. Berthold, auf genaue Auskunft hoffend.

    »Eigentlich nichts Besonderes, etwas das heutzutage tagtäglich vorkommt. »Eure Mutter war damals eine sehr lebenslustige junge Frau, sehr gut aussehend, immer gut gelaunt und fröhlich, ansteckend lachend. Jeder mochte sie. Sie war mit einem wunderbaren Mann, der sehr gut zur ihr passte, befreundet. Wir alle freuten uns auf ein großes, rauschendes Verlobungsfest. Aber kurz vorher hat er ihr, wegen einer anderen Frau, den Laufpass gegeben. Für eure Mutter brach die Welt zusammen. Sie wurde schwermütig und entwickelte eine Fresssucht. Man konnte dem Unglück kaum zuschauen. Es wurde damals ein Spezialist von außerhalb zugezogen, der ihr riet, für einige Zeit ins Ausland zu gehen.«

    Die Geschwister hörten gespannt zu.

    »Ging Mutter damals ins Ausland?«, fragte Achim.

    »Ja,« antwortete Hildruth, »eure Mutter wurde ins lebenslustige Frankreich geschickt. Als sie nach einigen Monaten zurückkam, waren die Depressionen überwunden. Sie war wieder die Silvia, die alle kannten.«

    »Trotzdem war es eine traurige Zeit, trotz aller Bemühungen musste das ganze Anwesen verkauft werden, und eure Großeltern zogen in die Stadt. Euer Großvater hat diese Schmach nicht lange überlebt,« sagte Dr. Berthold.

    »Eure Großmutter konnte wenigsten noch erleben, dass eure Eltern das Anwesen zurück kauften, aber sie ist auch bald danach verstorben«, sagte Hildchen.

    »Lass die Vergangenheit ruhen,« sagte jetzt Dr. Berthold energisch, «heute glänzt das gesamte Anwesen wieder in alter Schönheit. Eure Mutter ist ein würdiger Spross ihrer alten Familie und repräsentiert das Gesellschaftsleben mit Würde und ausgesuchter Eleganz.«

    »Möchtet ihr noch ein Stückchen Kuchen?«, fragte Hildruth, und alle griffen zu.

    »Du musst für dieses Wochenende wohl noch einen Kuchen backen«, sagte Dr. Berthold lachend mit Blick auf die letzten drei übrigen Stückchen. Er erkundigte sich nach dem derzeitigen Leben der unerwarteten Besucher. Jeder der Geschwister erzählte etwas, und Hildruth und Dr. Berthold waren glücklich, dass sich die Kinder so prächtig entwickelte hatten. Später wurden sie von Dr. Berthold bis vor das Haus gefahren.

    Gerade als Dr. Berthold abgefahren war, kam der Wagen von Silvia auf den Hof gefahren, und direkt dahinter fuhr Klaus ebenfalls auf den Hof. Klaus stieg aus und umarmte seine Kinder.

    »Das war doch Dr. Berthold? Ist etwas passiert?«

    Achim erklärte es ihm kurz und humpelte, um keine weiteren Erklärungen abgeben zu müssen, vor allen anderen ins Haus. Isolde, die Hauswirtschafterin, hatte das Abendessen bereitet. Nach dem Umziehen setzen sich alle zusammen an den Tisch. Marithe, Isabelle und Achim waren noch vom Rum in bester Stimmung, und nachdem Silvia und Klaus ein paar Schlucke Wein getrunken hatten, saß eine gut gelaunte Familie zusammen.

    Vor dem Schlafengehen zog Achim seinen Vater etwas zur Seite.

    »Vater, wie sehen eure Pläne für das Weihnachtsfest aus?«

    Klaus drehte sich zu Achim und sagte:

    »Marithe wird mit ihrer Familie feiern. Isabelle wird mit ihrem Freund in den Süden fliegen. Über deine Pläne ist mir nichts bekannt.«

    Beim letzten Satz zog er lächelnd die linke Augenbraue hoch.

    »Nach Abschluss des Weihnachtsmarktes werden deine Mutter und ich nach St. Anton fahren. Willst du auch kommen?«

    Achim, der sich noch keine Pläne für das Weihnachtsfest gemacht, aber insgeheim gehofft hatte, das Fest zusammen mit der ganzen Familie begehen zu können, zögerte:

    »Ich habe mir noch keine konkreten Pläne überlegt. Vielleicht komme ich für ein paar Tage nach.«

    Silvia, hatte die letzten Worte mitbekommen.

    »Da würde ich mich sehr freuen, wenn du nach St. Anton kämest.»

    Silvia, die eine sehr gute Skifahrerin war, frotzelte, »Ich warte immer noch auf den Tag, an dem ich nicht unter am Lift auf dich warten muss.«

    Achim wusste, dass er seine Mutter im Skilaufen nicht schlagen konnte.

    »Dieses Jahr wird es wohl leider nicht damit werden. Du musst verstehen, meine Verletzung am Knöchel wird mich daran hindern.«

    »Gute Ausrede, dagegen kann ich nichts sagen, obwohl ich sicher bin, dass du Weihnachten wieder vollständig genesen sein wirst.«

    »Schon, aber eine gewisse Behinderung wird schon noch da sein, und die wird mich hindern, mein ganzes Können zu zeigen. Deshalb wirst in diesem Jahr du als erste am Lift stehen«, antwortete Achim auf Silvias spöttische Bemerkung.

    Achim wechselte das Thema.

    »Isolde hat sich jetzt gut in ihre Aufgabe eingearbeitet, wie ich sehe, oder?«

    »Ja«, antwortete Klaus, »nach anfänglichen Schwierigkeiten. Silvia hatte schon über eine andere Lösung nachgedacht. Jetzt ist Isolde in die Aufgabe hinein gewachsen, und der Haushalt wird mittlerweile sogar besser und straffer geführt. Sie war eigentlich ja noch zu jung und unerfahren für diesen Haushalt. Neun Monate nach Abschluss ihres Hauswirtschaftstudiums, und als zweite Stelle war es sehr schwer.«

    Isolde war Hauswirtschafterin in dritter Generation. Ihre Eltern, Jakob und Maria Hofmann und die Eltern von Maria Hofmann waren schon Wirtschafterin und Gärtner hier auf dem Anwesen und der Villa gewesen.

    »Jetzt sind wir sehr zufrieden und froh, dass wir Geduld mit ihr hatten. Das waren wir auch ihren Eltern schuldig«, sagte Silvia, »man weiß ja nie, wen man sich ins Haus holt und ob man Vertrauen haben kann. Bei Isolde war ich mir da ganz sicher.«

    Klaus beugte sich leicht zu Achim vor und sagte: »Mit meiner Wahl des Gärtners ist Silvia nicht ganz glücklich.«

    »Es hätte sich mit Sicherheit eine andere Lösung finden lassen.«

    Silvia stimmte zu, weil sie diese Entscheidung immer noch missbilligte.

    »Nein!«, Sagte Klaus bestimmt, »Behlül ist absolut vertrauenswürdig. Der Park ist gepflegt wie nie zuvor. Behlül gehört zu den Menschen, die alles reparieren können. Ich habe ihn deshalb auch im Kanzleigebäude als Hausmeister angestellt. Wenn die Arbeit zu umfangreich wird, dann besorgt er sich aus dem schier unerschöpflichen Quell seiner Verwandtschaft jederzeit entsprechende Hilfskräfte.«

    »Natürlich macht er seine Arbeit gut, aber es sind immer irgendwelche Vettern oder Cousins von ihm oder seiner Frau auf dem Gut. Mit ihren dunklen Schnauzbärten und schwarzen Haaren könnten es auch Zigeuner sein. Sie sind einfach kein gutes Renommee für die Familie, und wir bezahlen sie auch noch. Die Leute reden schon!«, giftete Silvia zu Achim. »In dieser Beziehung ist mit deinem Vater nicht zu reden, da ist er regelrecht starrköpfig. Es gäbe auch ebenso gut Lösungen mit einem deutschen Gärtner.«

    Klaus legte beschwichtigend die Hand auf Silvias Arm. »Nein! Behlül ist nicht nur Gärtner, sondern auch noch Klempner, Maler, Elektriker, Schreiner und, wenn es sein muss, Mechaniker – denk an deine Autopanne im Sommer. Liebe Silvia und vergiss bitte dabei Nedret nicht.«

    Zu Achim gewandt sagte er: »Nedret ist Behlüls Frau, sie ist Schneiderin und kann alles nähen oder ändern, und außerdem kocht sie deftig und gut.«

    »Ja, und überall stinkt es nach Knoblauch«, beendete Silvia das Gespräch. Sie nahm dabei eine Haltung ein, die deutlich zum Ausdruck brachte „Mit dir ist ja nicht vernünftig zu reden.“

    Sie wandt sich aus Klaus´ Arm und verschwand die Treppe hinauf im oberen Geschoß. Klaus und Achim sahen ihr nach.

    »So ist sie halt!«, sagte Achim.

    »…..und so lieben wir sie auch,« vollendete Klaus den Satz liebevoll und folgte ihr ins Schlafzimmer.

    An Klaus´ Geburtstag, nach einem ausgiebigen Frühstück, machten sich Silvia, Isabelle und Marithe zu einem langen Spaziergang auf. Achim hatte sich bei den Eltern von Isolde, dem früheren Hauswirtschaft- und Gärtnerehepaar, zu einem zweiten Frühstück eingeladen. Nachdem Isolde ihre Arbeit beendet hatte, fuhren sie zusammen zu ihren Eltern in die nahe gelegene Stadt. Im Gegensatz zum Herrenhaus lag hier kein gestärktes Leinen auf dem Tisch, sondern es war ein einfacher, mit Linoleum belegter Holztisch. Auf den Holzstühlen lagen bunte Kissen, auf den man bequem saß. Isoldes Eltern kannte Achim seit seiner Geburt. Sie freuten sich sehr darüber, dass Achim wieder einmal den Weg zu ihnen gefunden hatte. Isolde und Achim waren gleichaltrig und fast wie Geschwister aufgewachsen. Sie hatten die Grundschule und das Gymnasium zusammen besucht und waren dabei immer in derselben Klasse gewesen. Alle duzten sich. Achim hatte auch weiterhin auf das Du bestanden, als Isolde ihre Stelle in der Villa angetreten hatte. Schnell hatte das traute Gefühl die anfängliche Scheu vertrieben. Maria war so, wie Achim sie kannte: tagsüber immer in ihre dunkelblaue Kittelschürze gekleidet.

    »Die Eltern sind jetzt sehr zufrieden mit Isolde. Wir haben gerade gestern darüber gesprochen«, sagte Achim.

    »Ja, ich hatte am Anfang große Schwierigkeiten und, sei mir bitte nicht böse, mit deiner Mutter. Sie wollte meiner Art der Haushaltsführung nicht folgen. Nach ihr hätte alles so bleiben sollen, wie es früher immer war. Ich habe mehrere Monate über einen Stellungswechsel nachgedacht. Ich hatte auch schon Bewerbungen geschrieben. Dein Vater, der ein guter Beobachter ist, hat mich, als deine Mutter bei einem Ausritt war, zu einen Gespräch in sein Zimmer gebeten. In diesem Gespräch hat er sich ausdrücklich und energisch für mein Bleiben eingesetzt. Er hat mir auch deutlich mehr Lohn versprochen. Deswegen hatte er auch großen Ärger mit seiner Frau, aber er hat nicht nachgegeben. Glaube nicht, dass ich gelauscht hätte, das Gespräch war im ganzen Haus nicht zu überhören. In den nächsten Monaten ging es dann immer besser im Haushalt. Vor allem, seit auch Behlül da ist. Mit ihm haben wir das große Los gezogen. Dieser Mann kann einfach alles, und er hilft wo immer er kann. Meist muss man ihn gar nicht darum bitten, denn er sieht die Probleme und löst sie sofort.«

    Isolde stand auf, um sich zu verabschieden. Freundschaftlich fragte Achim: »Wie heißt der Gärtner an deiner Seite?«

    Isolde wackelte viel sagend mit ihrem Kopf und verließ das Zimmer. Ihre Eltern waren sichtlich stolz auf ihre Tochter. Als Nachfolger ihrer Eltern waren Jakob und Maria so etwas wie eine Institution, die sie jetzt durch ihre Tochter fortgeführt sahen. Maria sinnierte und dachte an die alten Zeiten.

    »Wir hatten wirklich schöne und schlimme Zeiten oben in der Villa erlebt. Viel Gutes, aber auch Schlimmes war dabei. Damals, als deine Mutter so krank war und fortgeschickt wurde; das war fürchterlich für uns alle. Vielleicht wollten ihre Eltern nicht, dass sie den Niedergang erleben sollte. In dieser Zeit musste alles verkauft werden. Die Leute redeten und redeten, es ging das Gerücht um, die Villa solle abgerissen werden, und es solle dort eine Wohnanlage gebaut werden. Niemand wusste Genaueres oder wer das Anwesen gekauft hatte. Als deine Mutter wieder gesund war und zurückgekommen war, ging alles sehr schnell. Sie heiratete Klaus Roessler ziemlich überstürzt. Deine Großeltern zogen aus. Die Villa wurde von Klaus´ Familie gekauft, und deine Eltern zogen dort mit Saus und Braus ein. Die schlechte Zeit war zu Ende. Vor allem deine Mutter brachte neuen Glanz in die alte Villa und in die ganze Gegend hier. Alle mochten sie und waren in großer Sorge, als plötzlich die Schwangerschaft ihre Gesundheit erneut gefährdete. In einer Spezialklinik konnte ihr jedoch geholfen werden, und deine Schwester kam als Frühgeburt zur Welt. Aber Mutter und Tochter mussten noch einige Wochen in der Klinik verbleiben. Als deine Mutter dann zurückkam, war sie selbst gesund und munter, und sie brachte auch ein gesundes, lebensfreudiges Mädchen mit: deine Schwester Marithe. Die beiden folgenden Schwangerschaften machten keine Probleme. Ihr brachtet eine herrliche Unruhe und Leben ins Haus.«

    Ihre Augen leuchteten bei der Erinnerung. Jakob nickte zustimmend.

    »Bis heute wohnt das Glück in der Villa,« sagte Jakob, »Ich bin ganz stolz, dass Isolde bei deinen Eltern arbeitet. Sie ist ein so gutes Kind.«

    Achim, der wusste, dass Jakob lieber einen Sohn gehabt hätte und der ihm nach einer Fehlgeburt von Maria versagt geblieben war, stimmte zu:

    «Die Eltern sind sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, und darüber hinaus ist sie eine sehr schöne, attraktive Frau.«

    Nach einem „klitzekleinen Likörchen“ fuhr Achim zurück. Er legte sich auf sein Bett und machte einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Am frühen Abend trafen sich alle in der Küche und bereiteten gemeinsam das Abendessen zu. Sie aßen, tranken, lachten und redeten und waren glücklich. Auch Marithe spürte das Glück in der Familie, das diese Familie ihr und ihrer Familie so häufig vorenthalten wurde. Sie saßen bis spät in die Nacht.

    Pünktlich zum Frühstück traf Tante Eli ein. Die Unbeschwertheit des gestrigen Abends war schlagartig verschwunden. Tante Elisabeth brachte wie immer Spannung in die Familie.

    Als Achim am Abend seine Wohnung betrat, ging er als erstes zum Anrufbeantworter. Priska hatte sich nicht gemeldet, wie er insgeheim gehoffte hatte. War er enttäuscht? Ein bisschen schon, gestand er sich ein. Gegen seine Gewohnheit hatte er sein Handy über das gesamte Wochenende nicht ausgeschaltet. Warum rief sie nicht an? Hatte sie keine Lust mehr? Diesen Eindruck hatte er nicht, Also warum rief sie nicht an? Am folgenden Freitag flog Achim für eine Woche nach New York. Als er zurückkam, hatte sie immer noch nicht angerufen. Er zuckte mit seinen Schultern, um sich selbst Gleichgültigkeit zu demonstrieren und packte seinen Koffer aus. Nach dem Duschen machte er sich einen Tee und begann, in einem neuen Buch zu lesen. Aber er fand nicht in die Geschichte. Seinen Gedanken ließen sich nicht binden. Gerade als er das Buch beiseitelegte, meldete sich das Telefon. Mit Herzklopfen, warum eigentlich?, sprang er zum Telefon.

    »Achim Roessler, wer spricht?«

    »Brüderchen, Hallo«, erklang Isabelles Stimme. Achim quälte sich durch das Gespräch. Schließlich sagte Isabelle, die ihren Bruder gut kannte, «wenn du keine Lust hast zu reden, dann sag es einfach. Pass auf, ich bin nächsten Donnerstag in Düsseldorf und möchte dich sehen. Was schlägst du vor?«

    Achim freute sich einerseits darüber, andererseits wusste er nicht, was er sagen sollte. Er antwortete schnell, »In den Schadow-Passagen ist ein italienisches Lokal, „Poccino“. Dort können wir uns treffen. Ist dir ein Uhr recht?«

    »Ja, das ist mir recht«, antwortete Isabelle und beendete das Gespräch. Achim war unzufrieden mit sich insgesamt und im Besonderen, weil er seiner Schwester nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Vielleicht hat sie ein Problem? Zurückrufen wollte trotzdem nicht. Nach wenigen Minuten tat er es aber doch.

    »Verzeih, ich bin mit meinen Gedanken unterwegs.«

    »Schon gut, erzähl es mir am Donnerstag«, sagte Isabelle beschwichtigend und ließ ihren Bruder in Ruhe. Jetzt war die Leitung wieder frei.

     

    Das „Poccino“ ist eine Trattoria im hinteren Winkel der „Schadow-Passage“. Das Essen wird immer frisch zubereitet. Die Küche ist offen, und man kann dem arabischen und den zwei dunkelhäutigen Köchen bei der Arbeit zusehen. Achim setzte sich am liebsten in den hinteren Teil des Lokals. Hier saß man bequem an Tischen und konnte das Essen genießen. Im vorderen Teil an den hohen Cocktailtischchen saßen eben die Leute, die gesehen werden wollten. Das Personal ist immer sehr freundlich und kann auch individuell und kompetent beraten. Achim war einige Minuten vor der Zeit da und setzte sich an einen Tisch direkt am Fenster, mit Blick auf viel Beton, die Straße und den Verkehr. Er bestellte schon eine Flasche Brunello di Montalcino 1999.

    Während er auf Isabelle wartete, schaute er sich um und beobachtete die anderen Gäste. Eine vorgealterte Dame mit blondierten Haaren und einer langen, sicher sehr teuren Perlenkette saß im genau gegenüber am nächsten Tische. Sie unterhielt sich mit ihrer, ebenfalls sehr blonden Tochter , während sie lebhaft mit vollen Mund kaute und ihn nach unvollständigem Schlucken sofort wieder füllte. Mit spitzen Fingern und dabei elegant abgespreiztem Kleinfinger pulte sie ein Stückchen Fleisch aus den Zahnzwischenräumen. Dieses steckte sich nach einer optischen Prüfung wieder in den halbgefüllten Mund und kaute weiter. Warum muss die Blondine, schon wieder blond, mit ihrem dunklen Haaransatz einen nichts sagenden beigefarbenen Strickpullover tragen, der für ihre Fettröllchen viel zu eng geschnitten war? Trotz ihrer figürlichen Probleme trug sie eine ebenfalls beige und zu eng geschnittene Hüfthose, die nicht nur im Sitzen, sondern wie Achim später sah, auch im Stehen einen schwarzen Stringtanga über ihren voluminösen Backen nicht verdecken sollte. Achim fragte sich, wie diese Frauen zu ihrem Reichtum gekommen waren. Der soziale Aufstieg durch Heirat schien ihm die einzige Erklärung dafür zu sein. Ein nettes Gesicht und eine gute Figur sind anfänglich sicher notwendig, aber nicht ausreichend. Es bedarf vielmehr weiterer Fähigkeiten, die diese Frauen sicher auch für einen bestimmten Beruf qualifizieren würden, oder sie waren in diesem horizontal ausgeübten Gewerbe sogar ausgebildet.

    »Guten Tag, mein lieber Bruder«, sagte Isabelle fröhlich und umarmte ihren Bruder stürmisch von hinten. Sie umrundete den Tisch und setzte sich Achim gegenüber.

    »Hallo Isabelle, mein Schatz, schön dich zu sehen.«

    Achim schenkte ihr gleich ein Glas von dem Brunello ein, »Der Wein ist ausgezeichnet, und wenn ich jetzt nicht teile, dann bekommst du nichts mehr ab.«

    Sie bestellten beide Pasta mit Salbei und Trüffel, eine Empfehlung der freundlichen Bedienung. Isabelle kam wie gewohnt sofort zu Sache:

    »Du warst bei Ciara in New York! Gib es ein Problem zwischen euch?«

    Etwas zu schnell und zu fröhlich antwortete Achim:

    »Nein, überhaupt nicht. Es war eine sehr schöne Woche.«

    Isabelle, die ihren Bruder genau kannte, ließ sich nicht abspeisen:

    »Glaube ich nicht! —Sag mir auf der Stelle, was los ist!«

    Sie schaute im dabei fest in die Augen. Achim konnte dem festbindenden Blick kaum standhalten, dann löste es den Blick von ihren Augen und starrte in sein Weinglas, das er in seinen Fingern nachdenklich hin und her drehte.

    »Jetzt mach schon, Klaus-Achim«.

    Isabelle nannte ihn selten bei seinem ganzen Vornamen, »schinde hier keine Zeit, das ändert auch nichts«, drängte sie. Achim nahm einen Schluck Wein und stellte das Glas auf den Tisch. Er sah seine Schwester entschlossen an.

    »Ich habe  –  äh  –  wir haben beschlossen, dass wir uns in unseren beruflichen Ambitionen nicht im Wege stehen wollen.«

    »Ihr habt euch also getrennt?«

    »Ja und nein, nicht explizit. Wie schon gesagt, es war schon eine harmonische Woche in New York, die wir zusammen waren. Aber Ciara hat ihren Arbeitsvertrag vor der Zeit um ein weiteres Jahr verlängert. Ich möchte nicht, dass sie eine berufliche Entscheidung trifft, die sich aus persönlichen Gründen später als falsch erweisen könnte.«

    Achim sah Isabelle in dem plötzlichen Bewusstsein an, dass diese Einstellung Ciara gegenüber richtig war. Isabelle blickte von schräg unten zurück.

    »Und es gibt keinen anderen Grund? Ich glaube dir immer noch nicht so ganz. Das ist eigentlich nicht deine Art. Du neigst zu Kämpfen und nicht zur Aufgabe. Gibt es eine andere Frau?«

    Achim wies diesen Aspekt weit von sich.

    »Nein, überhaupt nicht.«

    Das Gespräch wurde unterbrochen, weil die großen Teller mit der dampfenden und appetitanregend duftender Pasta auf den Tisch gestellt wurden.

    »Guten Appetit.«

    »Guten Appetit.«

    Zuerst aßen sie schweigend. Im Laufe der Mahlzeit erzählte Isabelle von einem neuen Projekt, das ihr angeboten worden war.

    »Allerdings soll dieses Projekt in einem großen Team und in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Marketinggesellschaften durchgeführt werden. Ich weiß nicht, ob ich mich in einem so großen Team unterordnen kann«, sagte Isabelle.

    »Lass deine Finger davon, auch wenn es lukrativ erscheinen sollte«, riet Achim. Sie erörterten das Für und Wider, ohne dass Isabelle einer Entscheidung näher gekommen wäre.

    Nach dem Café lehnten sie sich gut gesättigt zurück und sahen einander  zufrieden an. Irgendwie war jeder glücklich, den anderen zu haben.

    »Geht es bei deiner Arbeit weiter?«, fragte Isabelle.

    »Nein, nicht so richtig. Ich hänge irgendwie in der Luft. Sie hat noch nicht angerufen.«

    Breit lachend, mit großen Augen, unter ihren in die Stirn hochgezogenen Augenbrauen, meinte Isabelle:

    »Du wartest auf einen Anruf einer bestimmten weiblichen Person. Du hängst deshalb mit deiner Arbeit in der Luft. Ich glaube, diese Person möchte ich doch gerne einmal kennen lernen.«

    Natürlich dachte sie jetzt an das gemeinsame Familienwochenende zu Hause, als sie auch darüber geredet hatten, wie sehr ihm Priska geholfen hatte. Aber irgendetwas war bei Achim in Bezug auf diese Frau nicht so wie sonst.

    Bald bezahlten sie die Rechnung, nicht ohne der Bedienung bestätigt zu haben, wie gut ihre Empfehlung gewesen war. Sie verabschiedeten sich herzlich voneinander.

     

    Zuhause angekommen fand er keine neuen Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter. Nach der Hausarbeit las er noch etwas. Zum Arbeiten fand er keinen richtigen Einstieg.

    Montagabend klingelte das Telefon. Achim ärgerte sich darüber, dass er sich darüber ärgerte, dass es nicht Priska war. Später läutete erneut das Telefon. Dr. Berthold erkundigte sich nach seinem Befinden und den Schmerzen im Bein. Achim konnte nahezu Schmerzlosigkeit vermelden. Er versprach, in den nächsten Wochen weiterhin den Knöchel zu schonen.

    »Ihren Rat folgend trage ich den „Air-cast“ jetzt vom Aufstehen bis zu Hinliegen.«

    Über diesen Anruf freute er sich ehrlich. Er wünschte Dr. Berthold alles Gute und bat, Hildruth einen schönen Gruß auszurichten.

    Kaum hatte er das Gespräch beendet, er war gerade auf dem Weg zur Toilette, klingelte das Telefon erneut. Er wusste sofort, wer am anderen Ende der Leitung war. Er wusste es einfach. Vielleicht klingelte das Telefon freundlicher. Vielleicht gab es so etwas wie Gedankenübertragung. Jedenfalls wusste Achim mit Bestimmtheit, das war Priska, die jetzt anrief. Sein Mund wurde trocken, als er ihre Stimme hörte.

    »Hier ist Priska. Wenn es ihnen passt, können wir den Rest besprechen. Kommen sie Samstag um 14 Uhr in die Zweibrückenstraße 27. Bis dahin.«

    Außer ein zustimmendes »ja«, konnte Achim nicht sagen, schon hatte Priska aufgelegt. Wie gewohnt, direkt und ohne überflüssige Worte, sprach Priska am Telefon. Wie betäubt setzte sich Achim auf sein Bett. Priskas Anruf kam wie eine Sturmbö über ihn. Er hatte keine Gelegenheit, darauf zu reagieren.

    Am Samstag fuhr Achim nach ein Uhr in Richtung Eggesheim. Er hatte im Stadtplan nachgesehen und festgestellt, dass es wegen vieler Einbahnstraßen schwierig war, die richtige Straßen zu finden. Entgegen seiner Gewohnheit, kein Navigationsgerät zu benutzen, hatte er Priskas Adresse eingegeben und ließ sich von der seelenlosen Stimme durch Düsseldorf nach Eggesheim lotsen. Vor der Hausnummer 17 stellte Achim sich an den Rand der Straße, um die 15 Minuten bis 14 Uhr zu warten. Er stand in einem typischen Düsseldorfer Wohngebiet, mit zahlreichen eher kleinen Einfamilienhäusern, mit kleinem Garten drum herum. Teilweise standen hier noch die alten, klinkerverkleideten Häuser, teilweise waren diese durch moderne Wohnhäuser ersetzt. Dadurch war ein Mix unterschiedlichster Baustile entstanden. Achim zog noch einmal seine Schiene zurecht und versuchte sich auf das Gespräch mit Priska vorzubereiten, obwohl ihm das unmöglich erschien,.

    Pünktlich um 14 Uhr stellte er seinen Wagen vor die Garage des Hauses Nummer 27. Die große Doppelgarage war direkt an das dunkelrot geklinkerte Haus gebaut. Zweifel stiegen in Achim hoch, ob er die Adresse richtig verstanden hatte, während er zur Eingangstür ging. Ein Namensschild suchte er vergeblich. Ihm blieb nur übrig, den großen Messingklingelknopf zu ziehen. Das Haus wurde erfüllt von der Melodie „Greensleeves“. Plötzlich wurde Achim bewusst, dass er kein Mitbringsel dabei hatte. Jetzt fühlte er sich ziemlich nackt, mit nichts als seinem rehbraunen Lederaktenkoffer in der Hand vor der Tür stehen.

    Schnell wurde die Tür geöffnet, und dieser Berg von Frau blickte auf ihn herab. Noch mehr weil Achim vor den drei Eingangsstufen zum Eingang stehen geblieben war. Nach einem langen Blick auf Achim wurde die Tür freundlich geöffnet, und Priska ging einladend voraus. Achim hatte sich Gedanken gemacht, wie wohl diese Frau wohnte, aber dass sie in dieser Gegend, in der hauptsächlich ältere Menschen und junge Familien wohnten, lebte, hatte er nicht erwartet. Er betrat das Haus und stand in einem kleinen Treppenhaus, das mit schwarzen und weißen Kachel ausgelegt war. Rechts führte eine wuchtige, mit den Jahren gedunkelte Holztreppe in den oberen Stock. Links stand eine große raumhohe Spiegelwand. Die in die Decke eingelassenen Lichtspots leuchteten das Treppenhaus vollständig aus. Ein leichter Duft von Myrrhe lag in der Luft. Priska drücke auf ein sandgestrahltes Ornament, und eine verspiegelte Tür öffnete sich und Achim sah dahinter eine begehbare Garderobe. Priska reichte ihm einen geschnitzten Holzbügel. Sie ging durch die offene Tür in das Wohnzimmer. Hier wurde der Myrrheduft stärker. In diesem Raum herrschte eine besondere Stimmung. Nicht unangenehm, ganz im Gegenteil, Achim fühlte sich sofort wohl und geborgen. Er blieb hinter der Tür stehen, um sich das Zimmer erstmal richtig anzusehen. Auf den groben Eichendielen lag ein tiefer, schwarzer Teppich mit gelben verschlungenen Schlangen und einer strahlenden Sonne im Zentrum. Links und rechts war der Teppich zu langen Fransen ausgezogen, die in regelmäßigen Zöpfchen geknotet waren. Die Wände waren mit einer antik goldenen Tapete ausgekleidet. Die unzähligen Wandleuchten tauchten den Raum in ein eigentümliches Licht. Beherrscht wurde der Raum einerseits durch ein riesiges, mit dunkelrotem Samt bezogenen Sofa, auf dem massenhaft ovale Kissen verteilt waren, andererseits durch zwei mannshohe flache Lautsprecher. Irritiert konnte Achim den Blick nicht von einem riesigen Poster wenden, das ein Drittel der rechten Wand bedeckte, wenden. Es zeigte Priska völlig nackt an eine ehemals weiß gestrichene, jetzt abblätternde, Wand gekettet. Der Blick war von steil oben herab, so dass ihr weiß geschminktes Gesicht dominierte. Der Körper war auf Grund der Aufnahmetechnik nicht genau zu sehen, sondern wirkte eigentümlich unklar. Ihr ganzer Körper war mit blutenden Wunden gezeichnet.

    »Wollen sie hier stehen bleiben, oder wollen wir die Sache zu Ende bringen?«, fragte Priska und schob Achim durch eine enge Tür in das angrenzende Zimmer. Dieses Zimmer war nüchtern möbliert. Eine Wand bestand aus einem Schleiflackregal mit vielen unterschiedlichen Büchern und Bildbänden. An der Wand hinter der Tür standen zwei professionell aussehende Nähmaschinen. Vor dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem Apple-Computer.

    Priska setzte sich an ihren Schreibtisch. Mit dem Kopf wies sie auf einen Stuhl an der Wand. Achim zog ihn zum Schreibtisch und setzte sich neben Priska. Sie schob ihm eine Kartonmappe zu. Priska hatte schon ausführlich vorgearbeitet. Achim war erstaunt über so viel Fachwissen und Engagement. Je mehr sie redete und begründete, umso mehr merkte Achim, wie sehr ihr das Ganze Spaß machte und ihr Interesse geweckt war. Nach einer Zeit stand sie auf.

    »Machen wir eine Pause, ihre Aufmerksamkeit und Konzentration sinken.«

    Sie ging durch das Wohnzimmer um die Ecke in die offene Küche, und Achim folgte ihr. Unter dem Fenster stand eine weiße Spüle, die eher einem Steinausguss glich. Links und rechts lag eine mit bunten Kacheln versehene Arbeitsplatte. Links neben dem Spülstein stand sah Achim ein großes Schnittbrett aus Hartholz. Die linke Arbeitsplatte endete neben einem riesigen, schwarz- und messingfarbenen Gasherd. An der Wand stand ein abgelaugtes Küchenbuffet. Ein alter Holztisch ohne Tischdecke stand in der Mitte. Erst dachte Achim, woher hat sie dieses altertümliche Monstrum, dann sah er, dass er vor einem hypermodernen Gasherd mit allen technischen Raffinessen stand. Priska hatte Wasser im Kocher zum Sieden gebracht und, nachdem es etwas abgekühlt war, über den Tee gegossen. Sie stellte die Zeituhr auf vier Minuten dreißig Sekunden. Während der Tee zog, stellte sie einen ringförmigen Kuchen auf den Tisch.

    »Oh, ein Safarin«, sagte Achim.

    »Oh, der Herr kennt sich aus«, sagte Priska belustigt, aber mit einer Prise Bewunderung.

    »Ja, das ist ein Safarin. Safarin ist ein Überbegriff für ringförmiges Hefegebäck. Dies hier ist ein „baba au rhum“.

    Priska ging ins Wohnzimmer zu einem Turm mit Elektrogeräten. Sie drückte dort ein paar Knöpfe. Sphärische Klänge von berückender Schönheit und Weite erfüllten den Raum. Sie saßen am Küchentisch und tranken Tee aus hauchdünnen Porzellantassen mit Goldrand. Priska freute sich, dass Achim von ihrem Kuchen ein zweites und dann ein drittes Stück nahm und sie genussvoll aß. Achim sah immer wieder wie gebannt auf das große Bild im Wohnzimmer. Wie magisch zog es seine Blicke an. Priska, die seine Blicke bemerkte, sagte:

    »Ein Photoarrangement meines früheren Freundes. Ein Künstler, wie du siehst. „Lott-Lott“ ist sein Künstlername.«

    Achim fragte: »Wie kommt es, dass Sie mit ihrem Wissen als Automechanikerin arbeiten …«,

    ……»und nicht studiert haben, wollten sie fragen, nicht wahr?“, vollendete Priska den Satz.

    »Wir sollten keine persönlichen Fragen stellen.«

    Nach einer Weile fragte sie:

    »Oder interessiert es Sie wirklich?«

    »Ja, aber sie müssen nicht antworten, wenn Sie nicht wollen.«

    »Natürlich nicht. Ich wollte studieren. Ich war sehr gut in der Schule. Eine Musterschülerin, obwohl ich nicht sonderlich viel dafür arbeiten musste. Ich habe mich besonders für Physik und Elektrotechnik interessiert, aber manchmal kommt es im Leben anders, als man es plant.«

    Priska füllte die Porzellantassen vorsichtig mit Tee.

    »Warum konnten Sie nicht studieren?«, fragte Achim, ehrlich interessiert.

    Priska schaute ihn prüfend an, und nach einer nachdenklichen Pause fuhr sie fort: »Während der Unterprima kam ich zu den „Dunklen“ und wurde eine „Raven“. Mein Vater tobte und schrie. Je mehr mein Vater Druck machte, umso mehr zog mich zu den „Darkies“ zurück.«

    »Wie reagierte ihre Mutter?«, fragte Achim dazwischen.

    »Meine Mutter und meine Schwester sind seit 16 Jahren verschollen. Sie waren auf einem Segelturn in der Karibik und sind bis heute nicht zurückgekehrt. Einfach nicht mehr zurückgekommen. Auch das Boot und der Skipper blieben verschwunden. Keine Spur war zu finden. Mein Vater hat überall nach meiner Mutter und Christiane suchen lassen. Mein Vater war sehr betroffen. Er hat sich dann noch mehr in seine Arbeit geflüchtet. Ich habe ihn manchmal wochenlang nicht gesehen.«

    »Sind sie für tot erklärt worden?« fragte Achim.

    »Ja, durch Gerichtsbeschluss, gegen den Willen meines Vaters. Ich glaube, er hofft noch heute.«

    Versonnen blickte Priska in ihre fast leere Teetasse. Achim sagte nichts, und so saßen sie schweigend am Tisch. Plötzlich sprach Priska weiter.

    »Mein Vater mied meine Anwesenheit. Früher sind wir am Wochenende immer Essen gegangen. Jetzt wollte er sich mit mir nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.«

    Priska war aufgewühlt. Achim sagte kein Wort, er blickte sie nur aufmerksam an.

    »Eines Tages«, fuhr sie fort, »schrieb mir Klaus, unser Familienanwalt und Freund meines Vaters, dass mein Vater mir ein Appartement gemietet habe und dass er mir monatlich einen bestimmten Betrag auf mein Konto überweisen würde. Nach dem Abitur könne ich eine Lehre in einer seiner Werkstätten absolvieren. Damit habe er seine Pflicht erfüllt, der Tochter eine Ausbildung zu finanzieren, Mit mir wolle er erst wieder reden, wenn ich Vernunft angenommen hätte. Zu Vernunft!«, schrie Priska, »Zu Vernunft?«, fragte sie jetzt matt dazu. »Zu Vernunft», sagte sie wütend, »da kann er warten, bis er modert.«

    Sie schnaufte trotzig.

    »Ich sollte eine kaufmännische Lehre machen, aber ich kannte den Werkstattleiter seit meiner Kindheit. Er holte mich in die Werkstatt, und ich lernte Autos reparieren. Aus seiner aktiven Zeit als Chefmechaniker im Rennstall hatte er viele Bekannte, und die ließen Ihre Auto von ihm tunen und frisieren. Da habe ich viel gelernt, und es hat riesigen Spaß gemacht, und das mache ich noch heute.«

    »Sie haben ihren Vater nicht mehr gesehen?« fragte Achim.

    »Nein», antwortet Priska bitter. »Natürlich habe ich früher oft versucht, mit ihm in Kontakt zu treten. Er hat alles abgeblockt. Einmal wollte ich es ganz besonders schlau anstellen und bin ganz früh in sein Büro gegangen. Die Sekretärin kannte mich ja. Als mein Vater das Büro betrat und mich sah, hat er sich augenblicklich umgedreht und das Gebäude verlassen. Seither habe ich Hausverbot.«

    Beide schwiegen. Achim schüttelte ungläubig den Kopf, dann fragte er. »Möchten Sie jetzt nicht mehr Physik studieren?«

    Priska meinte nur lapidar:

    »Ein Traum!«

    Achim schaute sich um und betrachtete die Küche und das Wohnzimmer. Priska verstand die unausgesprochene Frage sofort:

    »Klaus hat veranlasst, dass mein Erbteil aus dem Vermögen, das meine Mutter in die Ehe brachte, ausbezahlt wurde. Damit habe ich dieses Haus gekauft und umgebaut. Das war mir in dieser Situation wichtiger, als zu studieren.«

    Sie stand auf und ging zur Verandatür.

    »Schauen sie«, und zeigte auf den Garten, »alles mein Werk, auch alles hier im Haus, mein Werk. Niemand, absolut niemand kann mir hier sagen, was ich tun soll oder nicht. Hier bin ich für alles selbst verantwortlich.«

    Achim blickte in den Garten. Vor der Verandatür sah er einen kleinen, sauber mit Rheinkiesel gepflasterten Platz. In einem Beet standen noch herbstliche Stauden und sorgten für Farbe. Der Garten war sauber und für den Winter gerichtet. Aus einem kleinen Teich schien ein großer Steinfrosch aufzutauchen. Alles zeugte von Liebe zu Blumen einer Hobbygärtnerin.

    »Alles, auch das Haus, habe ich selbst entworfen und umgebaut oder angelegt. Alle Vorhänge, Überzüge und Kissen habe ich selbst genäht. Auch meine Kleidung nähe ich selbst. Das habe ich von meiner Mutter gelernt. Mir braucht keiner zu helfen.«

    Der letzte Satz kam trotzig aus dem Innersten ihrer Seele. Achim sagte nur:

    »Ich bin beeindruckt«. Priska merkte, dass er es ehrlich meinte.

    »Sagen Sie, woher haben sie alle die Stoffe, die sind ja ein Vermögen wert?«

    »In Hannover gibt es einen speziellen Stoffdiscounter. Dort bekommt man fast alles, auch Zweite-Wahl-Stoffe. Sogar Spezialstoffe, die ausschließlich in Frankreich produziert werden.«

    »Nehmen Sie auf dem Sofa Platz, wenn Sie mir versprechen den Bezug nicht zu zerschneiden.«

    Konsterniert fragte Achim: »Wie kommen sie darauf, dass ich den Bezug zerschneiden könnte?«

    »Bei ihren rasierklingenscharfen Bügelfalten kann das doch leicht passieren«, spöttelte sie.

    Jetzt bemerkte Achim ihren Scherz und er spürte mit Freude so etwas wie Humor bei Priska. Er ging zum Sofa und blickte auf den Berg Kissen, diese waren weinrot oder schwarz, mit gelber Bordüre abgesetzt und an den Seiten mit lang ausgezogenen Schleifen. Auf fast jedem der Kissen war ein florales Ornament aufgestickt. Als er sich setzte, versank in der weichen Polsterung. Das Sofa war so tief, dass er sich nicht anlehnen konnte. Schnell rutschte er wieder ganz auf die Kante, zog seine Schuhe aus, zog seine Hosenbeine noch oben und setzte sich im Schneidersitz in eine Ecke. Bevor er es sich richtig bequem gemacht hatte, rutschte er erneut nach vorn und setzte sich in die gegenüberliegende Ecke des Sofas. Von dieser Position hatte er Priskas Bild im Rücken. So konnte es seinen Blick nicht anziehen. Amüsiert ging Priska zu anderen Ende des Sofa. Sie griff nach ihrer Teetasse, zog ihre schwarzen Pluderhosen zurecht und tauchte in die Vielzahl der Kissen ein. Die in den schwarzen Stoff eingewebten Silberfäden blitzten bei jeder Bewegungen auf. Beide saßen in den Ecken und lauschten der getragenen Musik.

    »Bitte, erzählen Sie mir etwas von den „Darkies“, wie Sie sagen.«

    »Nun gut,« sagte die „Dunkle“, die Achim gegenüber saß.

    »Wir „Gothics“ sind keine Satanisten, das müssen sie zu allererst wissen. Ich lehne Satanismus grundsätzlich ab. Ich glaube an Gott. Wir „Raven“, oder „Dunklen“, leben in zwei parallelen Welten. Der harten, feindlichen Welt des Berufs stellen wir die ruhige, romantische, sehnsuchtsvolle Welt der Gefühle und des Genusses entgegen. Wir halten nichts von Gewalt. Unser Lebensprinzip ist Liebe, Treue, Gefühl, Mystik und Erotik. Dadurch, dass wir uns vollkommen abgrenzen und das auch äußerlich in der Öffentlichkeit demonstrieren, stehen wir zu unseren Überzeugungen. Wir stehen dazu, auch gegen alle Anfeindungen, die wir erleiden müssen.«

    Achim blickte erneut in diesen unwirklichen Raum umher, der trotzdem Wärme und Geborgenheit ausstrahlte. Er sah sie schweren, roten Brokatvorhänge. Überall hingen blaue Kordeln mit goldenen Quasten. Außer der überdimensionalen Inszenierung von Priska gab es keine Bilder an den Wänden. Überall strahlten die Wandleuchten.

    »Meine Musik«, fuhr Priska fort, »sind mystische, sehnsuchtszeugende Weisen oder „Heavy metal“.

    »Kennen Sie „ACDC?«

    »Ja,«, antwortete Achim, »mag ich gern.»

    Sie mögen „ACDC“, das hätte ich nicht erwartet. Wenn ich frustriert bin, dann ziehe ich mir „Highway To Hell“ oder „Gimme A Bullett“ rein.«

    Zwischen die Musik von „Olaf Sickmann“ mischte sich plötzlich die Melodie von „Greensleeves“.

    »Das wird Carlo sein,« sagte Priska und ging zur Eingangstür, um zu öffnen. Achim schaute interessiert zur Tür. Carlo trat ins Zimmer und blieb abrupt stehen, als er Achim auf dem Sofa sitzen sah. Der schwarze knöchellange Ledermantel war offen. Achim sah die schwarze, sehr eng sitzende Lederhose. Über dem nackten Oberkörper trug er nur eine schwarze Lederweste. Teile eines bunten Tattoos waren zu erkennen. Sein Schädel war wieder glatt rasiert bis auf einen Strang langer Haare, der mittels eines silbernen Schmuckrings noch oben abstand. Das ließ den langen schlanken Mann noch größer erscheinen. Vielleicht war das auch seine Absicht. Achim rappelte sich hoch und stand auf, um Carlo die Hand zu geben. Als Carlo Achim sah, verfärbten sie Hals und untere Gesichtshälfte in fleckige Röte. Laut sagte er zu Priska:

    »Da bin ich aber gerade noch mal rechtzeitig gekommen«.

    Priska wollte etwas sagen, aber er ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern schrie sie, die Beherrschung verlierend an, »Vögelst du schon lange mit ihm? Ich sehe doch, was hier läuft.«

    Achim, der stehengeblieben war, ging nun auf Carlo zu.

    »Halt dich da raus, du Arschgesicht!«, schrie er jetzt auch Achim an und stieß ihn kraftvoll auf das Sofa zurück. Dann wandte er sich erneut Priska zu.

    »Ich lass dich mir von niemandem wegnehmen. Du gehörst mir, und dann vögelst du mit so Einem herum.«

    Jetzt erhob auch Priska ihre Stimme, und diese füllte den ganzen Raum, ja das ganze Haus:

    »Ach, und wenn du das ganze Wochenende mit Lola verschwunden bist, was machst du dann mit Ihr?«

    »Was ich mache und mit wem ich ins Bett gehe, ist meine Sache, das ist etwas anderes. Du jedenfalls bist meine Freundin.«

    Während den letzten Worten veränderte sich Priskas Gesicht. In grenzenloser Wut holte sie tief Luft, Ihre Oberweite hob sich drohend, sie straffte ihre breiten Schultern. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Die silbernen Ringe an ihren Fingern wirkten plötzlich bedrohlich wie Schlagringe. Priska packte den nur unwesentlich größeren Mann an seiner Lederweste und schüttelte ihn kräftig durch. Dann griff sie mit ihren rechten Hand an seine Kehle, und während sie fest zu drückte, schleifte sie in aus dem Haus. Die langen, schwarzen Fingernägel gruben sich tief in die Haut, und sie begann zu bluten. Die Augen Carlos waren vor Angst starr und weit.

    »Hau ab, und lass dich nie wieder blicken. Wenn du mir noch einmal zwischen die Finger gerätst, beiß ich dir die Kehle durch.»

    Carlo hatte sich aufgerappelt und rannte davon. Priska stand vor Wut zitternd, mit zusammen gekniffenen Lippen, der Mund war nur noch ein schmaler schwarzer Strich, keines Wortes fähig. Achim war aufgestanden und zog sich die Schuhe an.

    »Tut mir leid, dass es so gekommen ist.«

    »Ihnen muss gar nichts leidtun,« fauchte sie ihn an.

    »Ich gehe jetzt besser.«

    »Ja, das ist besser, ich muss mich erst fassen«, schnaubte sie noch voller Wut. Als er zur Tür ging, sagte sie sich um Haltung bemühend und betont ruhig.

    »Ich muss mich entschuldigen. Morgen früh um zehn Uhr am Rheinturm.«

    Mit diesen Worten schob sie ihn zur Tür hinaus und schloss sie leise.

     

    Zu Hause bemerkte er, dass er seinen Aktenkoffer hatte stehen lassen. Er hoffte, ihn morgen wieder zu erhalten. Bei einer Tasse weißen Tee dachte er über den Nachmittag nach. Mit Priskas Hilfe stand das Gerüst seiner Arbeit. Der Rest war mehr oder weniger Routine. Er schätze, die erste Fassung in drei Monaten fertig zu haben. Obwohl er ihr aufmerksam zugehört hatte, konnte er sich ihr Gesicht genau einprägen.

    Vor seinem inneren Augen sah er sie, wie sie ihm im schwarzen Samtrollkragenpullover gegenüber saß. Dieser große Mund, mit den großzügig geschwungenen Lippen, der durch den dunklen Lippenstift in dem hell geschminkten Gesicht noch mehr dominierte. Die Unterlippe wurde durch einen dunkleren Lippenstift hervorgehoben, den sie großzügig aufgetragen hatte. Beim Öffnen der Lippen betonte er die besonders weiß erscheinenden Zähne, die zahnklammergebändigt in Reihe standen. Nur der Abstand der beiden Schneidezähne schien zu breit. Die Eckzähne standen etwas vorgesetzt und waren ungewöhnlich lang und spitz. Wenn Priska lachte, bekam ihr Gesicht dadurch ein fast vampirhaftes Aussehen. Trotzdem hatte das Gesicht nie etwas Bedrohliches, sondern immer etwas herzlich Warmes, ja sogar etwas gutmütig Frauliches. Die Nasenspitze war nicht zu spitz, und der geraden Nasenrücken lief gerade zu den Augen, deren Farbe Achim nicht kannte. Achim hatte immer das Gefühl, wenn sie ihn anschauten, blickten sie direkt in sein Innerstes. Welche Kraft in den breiten Schultern und in der muskulösen Armen steckte, hatte Carlo leidvoll erleben müssen. Jetzt sah er Priskas wütend vorgeschobene Unterlippe vor sich, in die sich ihre Zähne tief eingebissen hatten. Achim bekam großen Respekt vor dieser Frau und ihrem unzähmbaren Temperament. Gleichzeit stieg seine Faszination für sie.

    Beide waren pünktlich. Ohne es zu bemerken, saßen sie in demselben Bus der Linie 725. Erst als sie an der Haltestelle gemeinsam ausstiegen, bemerkten sie einander. Wortlos gingen sie nebeneinander in Richtung Rheinufer. Auch ohne Worte wechselte der braune Aktenkoffer die Hand. Achim unterbrach als Erster die Stille.

    »Haben Sie nochmals mit Carlo gesprochen?«

    Bestimmt antwortete Priska. »Es gibt keinen Carlo mehr.«

    »Es tut mir wirklich leid«, sagte Achim stehenbleibend. Priska blieb nicht stehen, sondern sagte im Weitergehen.

    »Es gib Nichts, was ihnen leid tun müsste und mir auch nicht«, fügte sie bitter an. Sie setzten sich auf eine Bank und schauten auf den grauen Fluss. Alles schien an diesem Morgen grau. Priska zog ihren schwarzen Schal enger um ihren Hals. Sie griff in ihre Umhängetasche und zog eine Mappe heraus.

    »Hier, mit diesen Papieren sollten sie was anfangen können.«

    Sie reichte Achim die schwarze Mappe, der sie, ohne sie anzusehen, zusammenrollte und in die Innentasche seines Lodenmantels steckte.

    »Was bin ich Ihnen schuldig?«, fragte Achim, mehr um irgendetwas zu sagen.

    »Ein Abendessen, wie besprochen, sonst nichts.« antwortete sie.

    »Geben Sie mir noch Ihre Telefonnummer, damit ich sie erreichen kann?«

    »Es reicht, wenn ich Ihre Nummer habe.«

    Priska griff in ihre Tasche und schnippte das Plättchen von Achims Visitenkarte. Hoffentlich verliert sie sie nicht, dachte Achim. Priska stand auf und ging langsam am Rhein entlang. Achim folgte ihr und ging neben ihr her.

    »Darf ich Sie fragen, was sie machen, wenn sie nicht Autos reparieren oder frisieren?«

    Sie schaute ihn von der Seite her an.

    »Hauptsächlich bin ich in meiner Burg und führe mein Erstleben. Zweimal in der Woche gehe ich zum Training.«

    Sofort fragte Achim: »Was trainieren Sie?«

    »Ich spiele Handball in der Oberliga, bei der „HSG“.«

    »Handball?«, fragte Achim erstaunt.

    »Was haben Sie erwartet? Ballett oder Kunstturnen?«, fragte Priska amüsiert zurück. Achim zuckte mit den Schultern, schwieg aber. Im Weitergehen unterhielten sie sich über Musik und ihren Musikgeschmack, das gestern unterbrochene Gesprächsthema wieder aufnehmend.

    »Ich habe früher selbst im Chor gesungen, bis man mich dort nicht mehr wollte«, sagte Priska verächtlich. Sie unterhielten sich weiter über die Multiphonie des Mittelalters. Achim hatte auch im Chor seiner Schule gesungen und konnte gut mitsprechen.

    »Ich muss los«, sagte Priska plötzlich nach einem Blick auf die Uhr. Ich habe um 16 Uhr noch ein Spiel. Sie ging schneller zur Haltestelle. Kurz bevor die Bahn kam, flüstere Priska zu Achim gewandt:

    »Meine Telefonnummer kann man sich ganz leicht merken.«

    Während sich die Tür zur Bahn öffnete, sagte sich noch ganz schnell. »Sieben mal acht, plus acht, dritte Wurzel daraus« und stieg ein. Schnell öffnete er seinen Koffer und schrieb sich die Merkhilfe auf.

    Zu Hause ging er noch im Mantel an den Computer und enträtselte als erstens ihre Telefonnummer. Danach suchte im Internet, wo die 2. Damenmannschaft der ESG Düsseldorf heute spielte. Pünktlich zum Spielbeginn um 16 Uhr saß Achim auf der Tribüne von Fortuna Düsseldorf und hielt nach Priska Ausschau. Er sah sie sofort. Sie überragte nicht nur ihr Mitspielerinnen, sondern auch die Gegnerinnen um fast eine Kopflänge. Sie hatte ihre Lippen schwarz angemalt wie immer, nur jetzt war der Mund deutlich überzeichnet und die Mundwinkel deutlich nach unten gezogen. Zusammen mit den großen dunklen Augenhöhlen sah sie furchterregend aus. Priska musste seinen intensiven Blick gespürt haben, denn plötzlich sah sie direkt zu ihm hin und erkannte ihn sofort. Mit einem Lächeln und einem kurzen Kopfnicken zeigte sie ihm, dass sie ihn gesehen hatte. Achim glaubte, dass das Lächeln freudig überrascht war. Er bildete es sich wenigstens ein. Handball ist kein Spiel für Weichlinge, auch im Damenhandball nicht. Priska spielte im Rückraum. Wenn sie richtig ins Spiel gebracht wurde, kam sie wie ein schweres Geschoß angeflogen. Jedes Mal stemmten sich mindestens zwei Gegenspielerinnen ihrer brachialen Gewalt entgegen. Achim sah sofort, dass Priska bei ihren Mannschaftskameradinnen beliebt und geachtet war. Sie wurde gern und häufig angespielt. Vor allem weil sie nie besser postiertem Mitspielerinnen übersah und Dank ihrer körperlichen Präsenz auf dem Spielfeld Freiräume erarbeitete. Aber Handball war keine Sportart, für die sich Achim, weder für sich selbst, noch zum Zusehen, begeistern könnte. Er verließ die Halle noch vor der Halbzeit. Auf der Rückfahrt fragte sich Achim, was war an dieser Frau, dass sie immer mehr seine Gedanken ausfüllte.

    Am 25. Dezember fuhr Achim zu seinen Eltern nach St. Anton. Klaus´ Schwester besuchte die Familie am 26. Dezember für ein paar Tage. Obwohl sich Achim mit Tante Eli gut verstand, brachte sie immer Spannung in die Familie. Am 27. Dezember begann es am Nachmittag zu schneien. Achim zog sich warm an, um einen großen Spaziergang zu machen. Er liebte den leisen Schneefall und die stille Stimmung. Tante Elisabeth begleitete ihn, und so stapften sie gut eingepackt los. Nachdem sie mehrere Kilometer schweigend gegangen waren, fragte Tante Eli:

    »Vor einiger Zeit hast du mich wegen unserer Familie befragt. Du wolltest eine Familienchronik schreiben. Über unsere Familie hatte ich dir alles erzählt, aber wie weit bis du mit deinen Nachforschungen in Silvias Familie?«

    Ich bin zur Zeit beruflich vollkommen ausgelastet und habe keine Zeit, mich damit zu beschäftigen«, sagte Achim.

    »Es ist ja kein Geheimnis,« fuhr Elisabeth fort, »dass ich die Heirat von Klaus und Silvia, sagen wir, nicht unterstützt habe. Ich glaubte und glaube noch heute, dass Silvia Klaus wegen unseres Vermögens geheiratet hat. Klaus´ Freund, Arndt von Schloßhüter, Klaus, Walther, Silvia und manchmal auch ich, sind damals recht wild über die Dörfer gezogen, wie man so sagt. Ich war damals in einen ausgesprochen gut aussehenden jungen Mann verliebt. Dieser hatte aber nur Augen für deine Mutter. Silvia schien seine Zuneigung nicht zu erwidern. Als deine Mutter genesen von ihrer sogenannten Krankheit zurück kam, hat sich das geändert. Deine Mutter und Walther zu Cloppenthal wurden ein Paar, bevor dieser Mann überstürzt nach Amerika abgereiste. Er hat sich von keinem seiner Freunde verabschiedet. Ich war damals sehr traurig. Klaus hat daraufhin Silvia sehr überstürzt, wie ich meine, geheiratet.«

    »Warum hast du nie geheiratet?«, fragte Achim, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

    »Die Einflussnahmen und die Forderungen, die an Silvia und Klaus auf Grund ihrer gesellschaftlichen Stellung gestellt wurden, waren so abschreckend. Diesen Aufgaben wollte ich mich nicht stellen und unterordnen. Vielleicht ist auch nicht der Richtige gekommen. Glaube nicht, dass ich heute darüber unglücklich bin. Damals glaubte ich fest, dass Klaus deine Mutter nur aus Verantwortungsgefühl und Freundschaft geheiratet hatte, zumal für Silvias Familie viel von der Heirat abhing. Heute bin ich davon überzeugt, dass sich deine Eltern aufrichtig mögen. Silvia hat mir meine Skepsis, ja Ablehnung, ihr gegenüber, nie verziehen, aber sie ist immer sehr freundlich zu mir, schon um Klaus´ willen.«

    »Warum erzählst du mir das alles?«, fragte Achim, dem das Gespräch unangenehm zu werden drohte.

    »Ich dachte, es sei für deine Familiengeschichte ein wichtiger Aspekt«, antwortete Elisabeth.

    »Da gibt es sicher noch einen Grund«, bohrte Achim weiter.

    »Also gut,« sagte Elisabeth, »es gibt zwei Gründe, erstens solltest du wissen, warum es immer zu Spannungen kommen, wenn ich auftauche, und zweitens, ich werde für mehrere Monate nach Los Angeles fahren und wollte Walther von Cloppenthal besuchen. Ich wollte dich bitten, mir dabei zu helfen.«

    »Ich halte das für keine gute Idee«, sagte Achim, »lass die Vergangenheit ruhen. Es ist, wie es ist, und du wirst nichts ändern, aber es könnte für jeden zu Enttäuschungen kommen.«

    Nach einer kurzen Pause fragte Achim:

    »Warum ist Walther von Cloppenthal damals so überstürzt abgereist? Weißt du etwas darüber?«

    »Meines Wissens hat er eine gute Stelle angeboten bekommen, die er innerhalb drei Tagen antreten musste«, sagte Elisabeth.

    »Es muss eine gute Stelle gewesen sein, denn er arbeitet noch immer in derselben Bank. Walther von Cloppenthal ist heute Amerikaner und hat mit Europa abgeschlossen,« erklärte Achim, »deshalb ist es auch kein gute Idee, ihn zu besuchen. Mein Rat: verzichte darauf.«

    »Ist Walther verheiratet?«, fragte Elisabeth.

    »Als ich ihn gesprochen habe, war er nicht verheiratet,« antwortete Achim unbestimmt. Schweigend gingen sie weiter. Beide griffen das Thema nicht mehr auf.

     

    Wieder zu Hause fand Achim den erhofften Anruf nicht auf seinem Anrufbeantworter. Am nächsten Tag wählte er zum ersten Mal Priskas Telefonnummer, aber sie nahm den Anruf nicht entgegen. Er versuchte es mehrmals, jedoch jedes Mal ohne Erfolg, sie schien nicht anwesend zu sein. Nach Dreikönig versuchte er es erneut und, endlich, diesmal meldete sie sich.

    »Priska«.

    »Hallo, ein gutes neues Jahr wünscht Ihnen Achim Roessler. Wie geht es Ihnen? Waren Sie über die Feiertage verreist?«

    »Danke! Ihnen auch. Gut und nein. Ich wollte einfach nicht gestört werden. Sie haben mit Ihren Anrufen ganz schön genervt.«

    Kurz und bündig, wie es Priskas Art am Telefon, antwortete sie auf die Fragen Achims.

    »Ich könnte für nächsten Samstag einen Tisch bestellen. Haben Sie Zeit?«

    »Ja, wann holen Sie mich ab?«

    »Ich werde um 18 Uhr 30 bei Ihnen vor dem Hause stehen. Ich freue mich darauf.«

    »Auf das Essen? Dann muss es ja gut sein, so wie ich Sie kenne. Bis dann.«

    Ehe Achim weiter sprechen konnte, hatte sie aufgelegt. Wieder saß Achim kopfschüttelnd da, das Telefon in der Hand.

     

    In seiner typischen Pünktlichkeit fuhr Achim um 18 Uhr 30 in die Einfahrt vor Priskas Garage. Bevor er aus seinem Wagen steigen konnte, öffnete sich die Haustür, die schwarze Frau trat heraus und zog die Türe hinter sich ins Schloss. Priska ging zur Beifahrertür und quälte sich in den Sportwagen.

    »Hallo«, sagte Achim, »Ich hoffe, wir werden einen schönen Abend bei gutem Essen verbringen.«

    »Das hoffe ich auch«, sagte Priska.

    »Wie meinen Sie das?« fragte Achim.

    »Sowohl als auch,« antwortete Priska, »ich hoffe auf einen schönen Abend und auf ein gutes Essen.«

    Achim startete den Wagen und fuhr mit etwas zu viel Gas los. In dem dunklen Wageninneren sah Achim nur Priskas weiß geschminktes Gesicht und bemerkte, wie sie wohl missbilligend mit dem Kopf schüttelte, aber nichts wegen des hochtourigen Anfahrens sagte. Warum fühlte er sich in ihrer Gegenwart immer in der Defensive, fragte sich Achim. Er war gern mit ihr zusammen, sehr gern sogar, aber er hatte immer das Gefühl, sich wehren und rechtfertigen zu müssen. Er fuhr auf den Parkplatz der Alten Wuppermühle.

    »Das ist aber nicht wirklich Ihr Ernst?« fragte sie fast drohend.

    »Gefällt ihnen meine Wahl nicht?« fragte Achim unsicher.

    »Sie wollen wirklich mit mir da hinein gehen?«

    »Ja, natürlich, man isst hier außerordentlich gut.«

    »Dass man hier außerordentlich gut isst, weiß ich, aber glauben Sie, dass man Sie mit mir dort herein lässt?«

    Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter, »Ihnen graut es auch vor gar nichts.«

    Ihre Worte ignorierend ging Achim um den Wagen und öffnete die Beifahrertür.

    »Kommen Sie!«, sagte er und reichte ihr die Hand, um ihr bei Aussteigen zu helfen. Achim war völlig überraschst, als sie seine Hand nahm, um sich aus dem Wagen helfen zu lassen.

    »Also gut, auf Ihre Verantwortung.«

    Mit diesen Worten ließ sie sich aus dem Wagen ziehen.

    Achim zog die breite, hohe Holztür auf, und sie gingen die pompösen Holztreppe zum ersten Stock. Auf dem Treppenabsatz erwartete sie ein junger Herr mit einer makellos weißen Schurze über seiner schwarzen Hose. Die Manschetten und der Kragen, des weißen Hemdes standen vor Stärke. Dieser junge Mann führte sie zu einem anderen Herrn, der vor einem Stehpult stand.

    »Haben die Herrschaften reserviert?«, fragte er, während er in dem riesigen Buch auf dem Stehpult blätterte. Achim nannte seinen Namen. Das freundliche, einladende Lächeln erfror regelrecht, als sein Blick ungläubig auf Achims ganz in schwarz gekleidete Begleitung fiel. Er schien den Namen Achims nicht gehört zu haben, denn er stand stocksteif da und starrte ungläubig auf die Gestalt, mit dem weiß geschminkten Gesicht, in dem die blutroten Lippen leuchteten, als sei sie eine kosmische Erscheinung. Wahrscheinlich war sie es auch für jemanden, der nur best gekleidete Gäste begrüßt. Achim sah jetzt erst, dass das rechte Auge von Priska mit Eye-Shadow tiefdunkel umrandete war, das Schwarz war bis zum Haaransatz der Schläfen ausgezogen, wobei die Intensität der Farbe abnahm. Das Ober- und Unterlid war tiefschwarz geschminkt. Das silberne Mascara blitzte vor dieser schwarzen Kulisse. Das linke Auge war ebenfalls schwarz, jedoch zu einer Kralle gemalt, die blutroten Striemen in ihre Stirn riss. Aus der Tiefe dieses Schwarz glühten rote Augen. Achim wurde sofort klar, dass Priskas farbige Kontaktlinsen trug. Weniger selbst überrascht über das Aussehen von Priska, als geschmeichelt, welche Reaktion seine Begleiterin beim Empfangschef ausgelöst hatte, sagte er: »Bitte führen Sie uns zu unserem Tisch.«

    Hochrot bis in den Nacken, »Bitte folgen Sie mir«, murmelnd ging er voran. sie das große Speisezimmer mit der der mittelalterlichen Sparrenkonstruktion betraten, erstarben plötzlich alle Gespräche. Nach kurzer Zeit erscholl von den besetzten Tischen und ein fast empörtes Tuscheln. Am Tisch angekommen, trat ein hochgewachsener Sechziger mit vollen ergrautem Haar, der in seinem dunklen Cut wie das Klischeebild eines „Maitre d hotel“ wirkte, zu ihnen. Seine eisige Miene sprach Bände. Er beugte sich zu Achim und wisperte:

    »Herr Roessler, diese Situation ist in unserem Haus unüblich. Ich würde Sie deshalb…«

    …»Herr Wachter, bevor Sie jetzt weiter reden«, unterbrach Achim den Oberkellner, »sollten Sie bedenken, was es für den Ruf dieses Hauses bedeutet, wenn Sie einen Skandal provozieren und in der Presse diesbezüglich von Diskriminierung gesprochen werden wird.“

    Während dieser Worte schob Achim dem Oberkellner einen eng zusammen gefalteten Schein unauffällig zwischen die Finger. Im Saal waren wieder alle Gespräche erloschen, und die Gäste schauten, nein gafften, und hofften auf ein besonderes Ereignis. Nachdem Herr Wachter mit einem routinierten Blick an der braunen Farbe den Wert des Geldscheines erkannt hatte, streckte er sich aufrecht in die Höhe und ging um den Tisch. Dabei ließ er den Schein unauffällig in seiner Hosentasche verschwinden. Er sagte mit ausgesprochener Höflichkeit und freundlichem Lächeln, zu Priska: »Es freut mich ungemein, Sie heute als Gast begrüßen zu dürfen und hoffe, Sie werden sie in unserem Hause wohlfühlen.«

    Mit diesen allgemein vernehmlichen Worten schob er Priska den Stuhl zum Sitzen unter. Teilweise erleichtert, teilweise enttäuscht nahmen die anderen Gäste ihre Gespräch wieder auf und aßen ihr jetzt kühleres Essen weiter. Nachdem Herr Wachter die überdimensionalen Speisekarten geholt und eine davon Priska gereicht hatte, sagte er, während, er die zweite Karte Achim übergab:

    »Sie haben, Herr Roessler, nicht nur bezüglich des Speisens einen besonderen Geschmack.«

    Aufmerksam, wie eben ein guter Oberkellner, hat Herr Wachter sofort bemerkt, dass Priska nur auf der vorderen Stuhlkante saß.

    »Entschuldigung«, sagte er zu Priska, hinter sie tretend, »bitte stehen Sie noch einmal kurz auf und sitzen Sie bequem«.

    Mit diesen Worten schob er Priska den Stuhl richtig unter, so dass sie bequem auf der gesamten Sitzfläche saß. Priska legte die Karte sofort wieder beiseite und verschränkte reserviert die Arme von der Brust.

    »Möchten Sie einen Aperitif?« fragte Achim.

    Distanziert antwortete Priska: »Wer bezahlt, der bestimmt.«

    »Gilt das auch für das Menü?«

    »Das gilt für alles im Leben«, war die steife Antwort.

    Als Herr Wachter wieder an den Tisch kam, bestellte Achim zuerst je ein Glas Sekt, danach ein Glas Bellini und ohne einen weiteren Blick in die Speisekarte geworfen zu haben, das Gourmetmenue als Degustationsmenue. Mit einem distinguierten Nicken, „Sie haben wie immer ausgezeichnet gewählt“, nahm der Oberkellner die Bestellung entgegen. Er sammelte die Speisenkarten ein und verschwand. Als der Sekt gebracht war, erhob Achim das Glas und prostete Priska zu. Steif und unbehaglich, sich unauffällig nach den anderen Gästen umsehen, hob auch sie ihr Glas und trank einen großen Schluck.

    Achim betrachtet Priska ungeniert. Er bemerkte sofort, dass sie sich heute mit besonderer Sorgfalt in Szene gesetzt hatte. Allein über das Schminken mussten Stunden vergangen sein. Über ihrer schwarzen Legging trug sie eine kurze schwarze Lederhose. Über der Hose hatte sie ein enggeschnürtes Mieder, das ihre üppige Oberweite aufs Vorteilhafteste zur Geltung brachte. Ihr keltisches Kreuz lag auf ihrem Busen und hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Dieser Anblick zog den Mann in Achim magnetisch an. Zum ersten Mal bemerkte er ihr Taatoo auf dem linken Oberarm. Es war ein schwarzes Kreuz, um das sich eine dornige rote Rose empor rankte. Eine wunderbare Arbeit, von einem wahren Künstler gestochen.

    Die beiden Bellini wurden auf den Tisch gestellt, und sie tranken ihren Sekt schnell aus, so dass der Kellner die Gläser gleich abräumen konnte. Die Bellini waren in extrem hohen und schlanken Gläsern serviert worden. Im warmen Licht der Kerzen leuchtete der fruchtige Inhalt gelb wie die früh untergehende Sonne. Durch den Alkohol entspannte sich Priska etwas.

    »Schauen Sie nur, wie vornehm diese ganzen Leute sind«, sagte Priska.

    »Die Leute sind nicht vornehm, sie tun nur so, weil sie glauben, in solchen Lokalen müsse man sich vornehm benehmen. Entspannen Sie sich und sind Sie ganz Sie selbst. Sie sollen sich hier wohl fühlen, denn nur so kann man das Essen wirklich genießen, und Sie scheinen ja von gutem Essen etwas zu verstehen. Denken Sie einfach, die ganzen Leute hier sind Staffage, Staffage zu Ihrem Vergnügen. Nach dem Bellini und dem Amuse-Bouche entspannte sich Priska zusehends, und sie unterhielten sich im weiteren Verlauf des Abends lebhaft. Sie beachteten die neugierigen Blicke, vor allem der späteren Gäste, nicht mehr.

     

    Auf der Heimfahrt, sie fuhren im Taxi, Achim hatte seinen Wagen stehen gelassen, kicherten und lachten sie ausgiebig.

    »Das Essen war exzellent«, sagte Priska, »aber die Souce á la confiture de myrtilles zum Entenbrüstchen mache ich besser.«

    »Das können Sie irgendwann beweisen«, machte Achim eine Anspielung.

    Vor Priskas Haus angekommen, stieg sie sofort aus.

    »Danke! Danke, für beides«, sagte sie noch, bevor sie in ihrem Haus verschwand.

     

    Zuhause stand Achim eine ganze Weile noch am Fenster und schaute in die Weite. Seine innere Stimme wurde laut: Jetzt geh einfach zum Telefon und rufe sie an und sage ihr, wie gut dir der Abend gefallen hat. Warum rufst du sie nicht an? Sie ist sicher noch nicht im Bett. Ruf sie jetzt an, sag ihr, wie gerne du sie wiedersehen möchtest. Warum traue ich mich nicht?, dachte Achim. Dieser Anruf ist die halbe Miete. Nach solch einem Anruf läuft der Rest wie von selbst. Wahrscheinlich wartet sie auf diesen Anruf. Irgendetwas hielt Achim davon ab zum Telefon zu gehen und ihre Nummer zu wählen.

    Du Feigling, schalt er sich. Los mach schon, sie wartet auf deinen Anruf. Sie geht vielleicht deshalb nicht ins Bett, sondern wartet am Telefon.

    Immer wenn er zum Hörer greifen wollte, hielt ihn irgendetwas ab. Er ging zum Fenster, um das Telefon nicht sehen zu müssen. Schließlich ging er missgelaunt unter die Dusche und dann sofort ins Bett. Achim hatte das Telefon in die Küche getragen und die Küchentüre fest geschlossen. Kaum lag Achim unter seiner Decke, schlief er sofort ein.

    Am nächsten Morgen saß Achim gerade bei einer Tasse Tee und las Zeitung. Das Telefon läutete und nachdem er sich gemeldet hatte, hörte er fröhliche Priskas Stimme.

    »Guten Morgen! Ich hoffe, es geht Ihnen gut, und Sie haben gut geschlafen. Schön, dass sie gestern nicht noch angerufen haben, um mir zu sagen, wie toll der Abend gewesen sei und dass sie mich gerne wiedersehen möchten. Diesen alten Bauerntrick hätte ich Ihnen unverzeihlich übelgenommen. Am 6. März spielt in Köln, „In Extremo“. Ich habe zwei Karten, und eine davon brauche ich nicht mehr. Haben Sie Lust, mich zu begleiten?«

    »Ja«, antwortete Achim sofort.

    »Schön, ich hole Sie um 17 Uhr ab.«

    Ehe Achim auch nur ein Wort erwidern konnte, war die Leitung unterbrochen. Achim wunderte sich jetzt nicht mehr darüber. Offensichtlich war sie ein Mensch der kurzen Worte. Am Telefon wenigstens. Achim machte sich sofort eine große Notiz in seinen Kalender, obwohl er sicher war, diesen Termin nicht zu vergessen.

    In der nächsten Zeit schlich Achim immer wieder um sein Telefon herum.

    Soll ich anrufen, einfach mal so und fragen, wie es geht, oder nicht, fragte er sich jedes Mal. Was gibt es dabei auszusetzen? Er wusste die Antwort ganz genau, ohne es sich einzugestehen: Er hatte Angst, etwas falsch zu machen. Diese Angst hatte er bisher nie gehabt. Seine Devise war, immer drauf los, und er war mit ihr bisher nicht schlecht gefahren. Warum nicht auch jetzt?, fragte er sich, mit seinen Gedanken sich im Kreis drehend. Er konnte, das wusste er, diese Frau überhaupt nicht einschätzen, sie war unergründlich für ihn. Gerade diese Unergründlichkeit und Unberechenbarkeit, verbunden mit dem Gefühl, dass sie ihm in sein tiefstes Innere blickte, verunsicherte ihn. Gerade deswegen auch war er bis in sein Mark nahezu unerträglich fasziniert von ihr. Ab und zu fragte er sich, warum ruft Priska nicht an? Sie könnte ja ebenso einfach mal anrufen, einfach mal so. Sofort wusste er, dass sie nicht anrufen würde, denn es war alles besprochen.

     

    Am Freitag, dem ersehnten Freitag, war Achim schon gegen 16 Uhr fertig. Er trug bequeme leichte Wanderschuhe, eine Stretchjeans, ein mittelblaues, weites Hemd, mit Botton-down-Kragen und ein hellblauen Pullunder. Um 17 Uhr, Achim war seit einiger Zeit unruhig und nervös, läutete das Telefon. Sollte er das Gespräch annehmen? Das Telefon läutete penetrant weiter. Achim nahm das Gespräch nicht ab. Jetzt läutete es schon wieder und nach einer Pause von drei bis vier Sekunden erneut. Wenn es wichtig war? Wenn etwas passiert war? Resigniert ausatmend ging er zum Telefon und meldete sich.

    »Priska, hier. Ich stehe schon einige Minuten vor Ihrem Haus, kommen Sie herunter!«

    An diese Art der Pünktlichkeit hatte er nicht gedacht. Erleichtert zog er seine Wildlederjacke über und rannte die Treppen hinunter. Als er vor das Haus trat, wurde auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Motor gestartet. Ein schwarzer GL 320 Mercedes fuhr an, und Priska winkte Achim. Die Beifahrertür sprang auf und Achim stieg ein.

    »Hallo«, sagte Achim.

    »Hallo«, sagte Priska.

    Wieder war es Priska gelungen, ihn zu überraschen. Dieses Auto hatte er bei Priska zuletzt erwartet. Sofort als Achim Platz genommen hatte, drehte er sich zu ihr und schaute sich ihr heutiges Aussehen genau an. Die ganze Zeit war er gespannt gewesen, wie sie heute aussehen würde. Sie war ganz in schwarzes Leder gekleidet. An jedem Finger trug sie mehrere silberne Ringe. Sofort musste er an seine Assoziation, Schlagringe, denken. In der linken Augenbraue stak eine neues Piercing. Von dem Nasenpiercing und von dem neuen Piercing hing jeweils eine grobe Kette, deren beiden Enden an ihrem Ohrpiercing befestigt waren. Heute hatte sie einen mittelblauen Lippenstift aufgetragen. Die Augenfarbe konnte er auf die Schnelle nicht erkennen. Sicher und routiniert steuerte sie das große Auto durch den Freitagnachmittagverkehr.

    »Ihr Auto?«, fragte Achim.

    »Ja.«

    »Sie haben ein neues Piercing?«, fragte Achim.

    »Sie haben es bemerkt?«

    »Sind Sie zufrieden mit Ihrem Auto?«

    »Ja.«

    Wieder hatte er das Gefühl, dass sie ein Spiel mit ihm trieb. Er bemerkte ein leichtes Lächeln um ihre blauen Mundwinkel. Warum fühlte er sich schon wieder in der Defensive? Scheiß drauf, sagte er zu sich und beschloss, das Spiel mitzuspielen.

    »Wie lange haben Sie den Wagen schon?« fragte er weiter.

    »Drei Jahre?«, antwortete sie.

    Wie schnell fährt er auf der Autobahn?«

    »Genügend schnell.«

    »Wie langen werden wir bis zur Arena brauchen?«

    »Eine Stunde, etwa.«

    »Kennen Sie den Weg?«

    »Ja.»

    Welches Parkdeck werden Sie nehmen?«

    »Mal sehen.«

    Plötzlich mussten beide laut lachen, und Achim merkte sofort, das Verhältnis zwischen ihnen war ein anderes geworden. Über ihr Lachen war er zunächst erstaunt. Sie hatte ein tiefes gutturales Lachen, das aus den Tiefen ihres Körpers eruptiv hervor brach. Lachend sahen sie einander in die Augen. Ihre Augenfarbe passte genau zu ihrem Lippenstift.

    »Sagen Sie, warum fahren Sie so einen riesigen Wagen? Ich finde, er passt nicht zu Ihnen.«

    «Doch, es passt zu mir, denn er ist das ideale Auto!«

    »Es macht Spaß, damit zu fahren, aber der Hauptgrund ist der Sicherheitsaspekt.«

    »Legen Sie so großen Wert auf Sicherheit?« fragte Achim.

    Priska antwortete nicht sofort. Erst als er sich fragend zu ihr hin beugte, sagte sie: »Ich habe nur ein Leben, und ich bin noch jung, zu jung, um irgend ein Risiko einzugehen.«

    »Andere Autos sind auch sicher.«

    »Ja, aber diese ist eines der sichersten Auto der Welt.«

    Sie sah seinen skeptischen Blick.

    »Er gibt den fahrerspezifischen Sicherheitsaspekt, den kann ich nur für mich bestimmen, für alle anderen Autofahrer ist er von mir nicht beeinflussbar. Zusätzlich gibt es einen fahrzeugspezifischen Sicherheitsaspekt, der lässt sich sehr wohl beeinflussen. Dieser fahrzeugspezifische Aspekt ist im Moment eines Crashs entscheidend. Die baulichen Sicherheitsstandards beispielsweise Knautschzonen, Energie aufnehmende Konstruktion, steife Fahrgastzelle, Gurte, Gurtspanner, Airbag ringsherum, sind da zu nennen. Der Rest ist reine Physik.«

    »Durch die Sicherheitskonstruktion wird viel Energie aufgenommen und vernichtet«, sagte Achim.

    »Energie kann nicht vernichtet werde, sondern sie wird von einer Form in eine andere Form umgewandelt«, dozierte Priska weiter. Sie war jetzt richtig in ihrem Element. Bei diesem Thema schien sie sich gut auszukennen.

    »Bei einem Crash soll sehr viel potentielle Energie in Verbiegungsenergie und damit in Wärme umgewandelt werden. Dadurch soll die Fahrgastzelle stabil bleiben. Für die Fahrgastzelle gilt der Energieerhaltungssatz. Für die Fahrgäste gilt dagegen der Impulserhaltungssatz. Der lautet „m1 x v1 gleich m2 x v2“ oder anders ausgedrückt „m1 x v1 minus m2 x v2 gleich null“. Die Geschwindigkeit ist situationsbedingt, und darauf habe ich nur einen beschränkten Einfluss, nämlich für meine eigene Geschwindigkeit. Die eigene Masse kann ich bestimmen, und jeder weiß, je höher die Masse umso mehr Impuls überträgt sie. Nehmen wir ein einfaches Beispiel; dieser Wagen hat eine Masse von 2500 kg, und es kommt zu einem Frontalzusammenstoß mit einem Wagen der 1250 kg Masse hat. Beide Wagen treffen bei einer Geschwindigkeit von 100 km pro Stunde auf einander. Beide Fahrzeuge werden in unendlich kurzer Zeit auf Null abgebremst. Das leichtere Auto erhält aber zusätzlich einen Impuls, der genau der Hälfte des Gesamtimpulses entspricht, nur in entgegengesetzter Richtung, das Auto wird also nicht nur abgebremst, sondern sofort in entgegengesetzter Richtung beschleunigt. Das bedeutet, dass das Auto ungefähr 20 Meter zurückgeschleudert wird. Stellen Sie sich vor, was das für die Insassen bedeutet. Man kann es in jeder Unfallstatistik nachlesen, die Insassen des leichteren Autos sind schwerer verletzt und sterben häufiger, als die Fahrer des schwereren Autos. Trägt man die Verkehrstoten, die in einem Auto sterben, in Abhängigkeit zum Gewicht des eigenen Wagens in einer Kurve graphisch auf, so erhält man in großer Näherung eine Gerade. Das heißt, auf einen Nenner gebracht, je mehr Masse das Auto umso besser die Überlebensrate und umso kleiner das Verletzungsrisiko.«

    »Sie sprachen vorher von Energieumwandlung, in diesem Fall von kinetischer Energie. Die physikalische Formel für kinetische Energie lautet:   Ekin gleich mv2 halbe. Das heißt, bei dieser Energie geht die Geschwindigkeit im Quadrat in die Berechnung ein«, wandte Achim ein.

    »Ja, die Formel ist korrekt. Mit ihrer Hilfe lässt sich der absolute Betrag der Energie berechnen. Beim Impulsübertragungssatz betrachtet man den übertragenen Impuls, der auf die Insassen wirkt. Aber es ist gleichgültig, mit welcher Formel Sie arbeiten, die Messdifferenz machte die Energiedifferenz, die letztlich dem masseärmeren Partner oder Unfallgegner übergeben wird. Sie kennen doch das Spiel, an dünnen Schnüren hängen zwei Kugeln. Hebt man eine Kugel an und läst sie auf die andere Kugel prallen, so treffen sie am unteren Wendepunkt auf einander. Die gehobene Kugel übergibt ihren Impuls auf die ruhende Kugel, die fast genauso hoch geschleudert wird, wie die andere Kugel angehoben worden war. Voraussetzung ist, dass beide Kugeln die gleiche Masse haben. Ist die ruhende Kugel nur halb so schwer, wie die angehobene Kugel, so fliegt diese nach dem Aufprall fast doppelt so hoch, wie die erste Kugel angehoben war. Genau das Gleiche passiert bei einem Frontalunfall.«

    »Durch moderne Materialtechnologie, zum Beispiel mit Carbonfasern in Waben-Sandwich-Aufbau, ließen sich sehr leichte Autos bauen, die gleichen oder sogar bessere Stabilitäts- und Unfallverhalten haben. Im Formal-eins-Rennsport wurde das bewiesen«, sagte Achim.

    »Natürlich wäre das ohne Probleme möglich. Aber der Bau solcher Autos ist teuer, und deshalb wären sie nur schwer verkaufbar. Das physikalische Grundproblem bleibt aber das Gleiche, nicht alle Autos werden das gleiche Gewicht haben, also bleibt das Grundproblem der Gewichtsdifferenz erhalten.«

    »Natürlich«, erwiderte Achim, »bei insgesamt geringerem Gewicht geht dann die Geschwindigkeit der Unfallgegner überproportional in die Rechnung ein.«

    »Richtig,«, antwortete Priska, »aber das Geschwindigkeitsverhalten der anderen Verkehrsteilnehmer kann ich nicht beeinflussen. Das Gewicht und damit die Masse meines Auto sehr wohl. Also sprechen auch Ihre Argumente für die Anschaffung eines schweren Wagens. Ausschließlich vom Standpunkt der Sicherheit aus betrachtet. Werden andere Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, Preis, Umweltverträglichkeit und Unterhalt zum Beispiel, wird das Ergebnis ein anderes sein.«

    Mittlerweile standen sie auf Parkdeck zwei vom Parkhaus 4, nahe der Arena, eingeparkt. Beiden blieben aber sitzen und diskutierten weiter.

    »Ein Aspekt, der gegen das Fahren eines hochgewichtigen Autos spricht, sind doch der enorm hohe Spritverbrauch und der damit verbundenen erhöhten CO2– Emission«, fuhr Achim fort.

    »Vollkommenes Einverständnis«, sagte Priska, »schwere Autos sind umweltfeindlich. Aber das ist nicht Bestandteil einer Sicherheitsdiskussion. «

    Achim ließ nicht locker:

    »Wenn es gelingt, die äußeren Abmessung wie Stoßdämpferhöhe und Breite zu vereinheitlichen, dann kann der Verlauf der Energieumwandlung genau vorausberechnet werden.«

    Priska winkte energisch ab: »Ich kenne diese Untersuchung und die Folgerungen daraus. Dazu muss gesagt werden, dass dann auch die Stoßdämpfer entsprechende einheitlich ausgelegt werden müssen. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, wie das vertikale Bewegungsverhalten des Fahrzeuges beim Bremsvorgang selbst ist, weil sich der vordere Stoßdämpfer beim Bremsen nach unten bewegt.«

    Achim unterbrach den Redeschwall und sagte:

    »Genau, deshalb muss es umfangreiche gesetzliche Vorgaben, ohne nennenswerte Toleranzen, geben.«

    Priska schüttelte ihren Kopf.

    »Stellen wir uns einmal den Bremsvorgang eines modernen Autos vor. Bei einer Vollbremsung, wie sie bei einem drohenden Unfall durchgeführt wird, setzt das ABS ein, mit dem der Wagen optimal abgebremst wird. Dabei bewegt sich die Schnauze des Autos rhythmisch auf und ab. Also müssten die Bremsassistenten synchronisiert werden, damit beide Auto im Moment des Aufpralls entweder ganz oben oder ganz unten, auf jeden Fall aber auf gleicher Höhe sind. Die einzige Lösung ist das Einheitsauto.«

    Achim wollte sie noch nicht geschlagen geben.

    »Durch Angleichung könnte auch das Verletzungsrisiko beherrscht werden.«

    »Ja, da haben Sie vielleicht recht, wenn wir die Situation ausschließlich auf Personenkraftwagen beziehen. Aber auf unseren Straßen sind auch Lastkraftwagen unterwegs, und damit sind wir wie beim Ausgangsproblem, nämlich dem unterschiedlichen Gewicht.«

    »Warum fahren Sie dann keinen „Hummer H1“, wenn es Ihnen so auf das Gewicht ankommt?», fragte jetzt Achim ärgerlich und provozierend, weil ihm die Argumente ausgegangen sind. Priska war sich dieser Situation durchaus bewusst, sie blieb aber ruhig und gelassen.

    »Dieses Auto eignet sich mehr, um sich vor Einschlägen einer Panzerfaust oder von Maschinengewehrsalven zu schützen. Ansonsten hat es keine weiteren Sicherheitsausrüstungen.«

    Achim suchte nach weiteren Argumenten, aber Priska sagte nach einem Blick auf die Uhr: »Langsam sollten wir los, wenn wir noch einen guten Platz finden wollen.«

    Dann warf sie Achim einen anerkennenden Blick zu: Endlich ein Mann, mit dem man fundiert über Technik diskutieren kann.

    »Um vorher noch einen Happen zu essen, haben wir keine Zeit mehr. Übrigens, ich habe Ihnen Ohrenstöpsel mitgebracht, es wird sehr laut werden.«

    »Danke,« grinste Achim, froh, dass auch er Priska erstaunen konnte, und während er in seine Tasche griff, sagte er: »Sehr aufmerksam, aber nicht notwendig.«

    Er zeigte Priska seine offene Handfläche und ließ sie seine eigenen Ohrenstöpsel sehen.

    »Ich habe sie vom Akustiker anfertigen lassen.«

    »Konzertprofi also«, sagte Priska und ließ Achim ihre eigenen sonderangefertigten Ohrenstöpsel sehen.

    Schnell gingen sie in die Lanexx-Arena, der ehemaligen Köln-Arena.

     

    Nach dem Konzert standen sie, noch benommen von der lauten, wuchtigen Musik an einem Imbissstand und aßen zusammen ein Stück Pizza. Die Ausfahrt aus dem Parkhaus dauerte kaum 15 Minuten, obwohl 12000 Menschen nach Hause oder in die Stadt fuhren. Erst als sie eine Weile auf der Autobahn Richtung Düsseldorf fuhren, sprachen sie wieder. Sie teilten ihre Begeisterung für das erlebte Konzert. Einmal musste Priska stark abbremsen, und als sie wieder gleichmäßig fuhren, Priska fuhr nie schneller als 120 Stundenkilometer, sagte sie:

    »Jetzt fällt mir gerade etwas ein: Bremsen, Bremsen brüllt der Ehemann, doch die Ehefrau gibt stattdessen Gas. Nachdem beide aus dem Autowrack geklettert waren, fragt der Ehemann, warum hast du denn nicht gebremst? Da sagte die Ehefrau: Ich lasse mir doch von dir keine Vorschriften machen.«

    Beide lachten laut. Priskas Lachen erklang von ganz Innen und suchte sich einen Weg wie ein Ausbruch. Es erschütterte ihren Körper wie ein Beben. Dieses wuchtige, raumfüllende Lachen war sofort ansteckend.

    Ich kenne auch einen:

    »“Für jeden Menschen gibt es ein passendes Sprichwort“  –  „Na, und welches würde zu mir passen?“  –  „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand.“  –  „Aber ich habe doch kein Amt!“  –  „Siehst du, es passt.“«

    Wieder erschütterte lautes Gelächter das Auto.

    Irgendwann waren sie vom Sie zum du übergegangen und hatten es nicht bemerkt.

    »“Meine Frau ist im Bett genauso langweilig wie meine Sekretärin“, sagt der Direktor zu seinem Fahrer.  –  „Ja“, antwortet dieser, „das ist mir auch schon aufgefallen.“

    Inzwischen war Priska auf einen Parkplatz gefahren, denn vor lauter Lachen konnte sie nicht mehr Auto fahren.

    »Auf einer Party stehen zwei sich nicht näher kennenden Herren bei einem Glas Sekt zusammen.  –  „Sehen sie die beiden Frauen dort an der Bar?  –  Ja? Stellen Sie sich vor, die eine ist meine Frau und die andere meine Geliebte.“  –  „Das ist ja lustig,“  –  sagt der Andere,  –  „bei mir ist es gerade umgekehrt.“

    Schallend erschütterte das gemeinsame Lachen den Wagen.

    »“Das Paar dort drüben scheint sehr glücklich zu sein. Sind sie verheiratet?“  –  „Ja! Er in Hamburg und sie in München.“«

    Als sie sich vom Lachen etwas erholt hatten, fuhr Priska weiter. Immer wieder, wenn sie sich ansahen, begann erneut ein Kichern, ein Glucksen und ein Lachen. Beide machten dem Anderen wiederholt Zeichen, dass er noch einen Witz und noch einen Witz auf Lager hatte.

    Priska fuhr direkt vor das Haus von Achim und stellte den Motor ab.

    »Ich würde gerne noch eine Tasse Kaffee trinken,« sagte Priska zu Achim gewandt. Achim war irritiert und sagte verunsichert,

    »Ich habe keinen Kaffee zuhause, ich trinke keinen Kaffee.«

    »Wenn es keine Kaffee gibt, trinke ich auch eine Tasse Tee oder ein Glas Wasser,« lachte Priska. Achim wusste nicht, was er antworten sollte. Priska stieg aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und sagte: »Komm schon, notfalls verzichte ich auf das Trinken.«

     

    Am nächsten Morgen saß Achim in seiner Küche und schnippelte Früchte. Leise öffnete sie die Tür, auf leisen Sohlen, Zehenspitze vor Zehenspitze setzend, schlich sich Priska von hinten an. Weiße, scharfe Zähne gruben sich seitlich in Achims Hals. Wohlig neigte er seinen Kopf zur anderen Seite. Priskas Lippen schlossen sich fest um die Bissstelle.

    »Hör auf, hör auf,« rief Achim, «sonst muss ich die ganze Woche einen Rollkragenpulli tragen.«

    »Das musst du sowieso schon, und ich fürchte, eine Woche wird nicht genügen.«

    Priska setzte sich Achim gegenüber und nahm ihm das Messer aus der Hand.

    »Ich mache weiter, bereite du den Tee.«

    Achim betrachte Priska, die nun nicht mehr richtig geschminkt war. Was er da ungeschminkt, zwar noch etwas verschmiert und zerzaust, sah, gefiel ich recht gut. Im Gegensatz zu beispielsweise Madonna, deren Anblick in ungeschminkten Zusatz nahezu unerträglich ist, war Priska in diesem Zustand durchaus nett anzusehen.

     

    Sonntagmittag verließ Priska die Wohnung Achims. Sie hatte am Nachmittag noch ein Spiel und musste ihre Sachen noch von Zuhause holen.

    In den nächsten Wochen und Monaten trafen sie sich recht häufig. Priska schaute Achim beim Squash zu, und Achim sah sich ein ganzes Heimspiel von HCD Düsseldorf an. Sie machten lange Spaziergänge und redeten und lachten miteinander. Häufig reichte ein Wort oder eine Geste, um den Anderen an eine Pointe oder einen Witz zu erinnern, und schon schüttelten sie sich vor Lachen. Achim liebte das tiefe voluminöse Lachen Priskas. Unter der Woche arbeiteten sie, insbesondere Achim arbeitete teilweise bis tief in die Nacht hinein. Die Wochenenden gehörten ihnen aber ganz allein. Sie saßen nächtelang tief versunken in Priskas Sofa und ihrem Kissengebirge. Die Musik und Priskas Duftkompositionen verzauberten sie in eine andere Welt. Dort redeten sie miteinander und über einander oder schwiegen gemeinsam. Sie waren zusammen unendlich allein.

     

    »Hallo, liebes Bruderherz,«, flötete es aus dem Telefonhören, »wenn ich so lange nichts von dir höre, ist es immer irgendeine Frau, die deine ganze Aufmerksamkeit fordert und du keine Zeit für deine Schwester hast.«

    »Nicht irgendeine Frau«, sagte Achim, »sondern die Frau.«

    »Oho, so ernst ist es? Diese Frau, die dein Herz gestohlen hat, die muss ich kennenlernen. Ich bin am Freitag in Düsseldorf, dann gehen wir zusammen essen. Ich werde mein Herzblut ebenfalls mitbringen.«

    »Ich freue mich, dir Priska vorstellen zu können, aber ich bin sicher, dass mein Herzblut uns lieber bekochen wird,« antwortete Achim.

    »Auch gut, wir kommen gegen 18 Uhr bei dir vorbei.«

    »Ach, Isabelle ich freue mich riesig«, sagte Achim.

    »Ich auch, jetzt aber etwas Anderes, hast du etwas von Vater oder Mutter gehört?«, fragte Isabelle.

    »Nein, so wie ich dich vernachlässigt habe, so habe ich auch die Eltern vernachlässigt. Ich rufe gleich Zuhause an, Marithe hat in der Woche schon eine diesbezügliche Bemerkung gemacht,« sagte Achim mit schlechtem Gewissen. Sofort nach dem Gespräch wählte Achim die Telefonnummer von zuhause.

    »Hier bei Roessler,» meldete sich das Mädchen.

    »Hallo, Isolde, hier ist Achim. Wie geht es dir?«

    »Gut,« antwortete Isolde erfreut, als sie Achims Stimme hörte, »hier ist alles in Ordnung.»

    »Wie geht es Vater und Mutter?« fragte er weiter.

    »Ach,« antwortete sie zurückhaltend, »hier geht alles seinen gewohnten Gang. Aber es ist so leer hier in diesem großen Haus. Deine Eltern sind häufig unterwegs. Achim! Darf ich ehrlich sein?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter, »Hier fehlt Leben.«

    Beide schwiegen eine Moment.

    »Sind Vater oder Mutter zu sprechen?«

    Nach einer kurzen Pause meldete sich Silvia wie gewohnt. Klaus ging höchst ungern ans Telefon und überließ alle Anrufe seiner Frau. Nach dem Gespräch hatte Achim ebenso wie Isolde, das Gefühl, dass Leben fehlte. War es ein echtes Gefühl, oder war es nur auf Grund der Bemerkung Isoldes?

     

    Am Freitag schon deutlich vor 18 Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Als Achim öffnete, quietschte Isabelle laut und sprang ihrem Bruder um den Hals. Dieser hob sich hoch und ließ sich in seinen Arm fallen. Lothe, der die Geschwister kannte, stand wartend daneben. Dann schüttelte er Achims Hand, der den Händedruck fest und warm erwiderte. Während sie auf das Taxi warteten, tranken sie noch schnell eine Tasse Tee.

    »Glaub mir, ich genauso gespannt und aufgeregt, sie, „die Frau“, kennen zu lernen,« sagte Isabelle, und später im Taxi sitzend hielt sie es nicht länger aus.

    »Nun, sag schon, wie ist sie?“

    »Klasse! Mehr sag ich nicht.«

    »Ach Bruder, spann mich nicht auf die Folter. Ist sie groß oder klein? Welche Haarfarbe hat sie, welche Augenfarbe hat sie? Los! rede! «

    »Nein.» Ein glückliches Gefühl der Vorfreude, Priska gleich zu sehen, durchströmte ihn wärmend.

    »Eines kann ich dir versprechen, es wird eine Überraschung werden, eine große Überraschung.«

    »Ha! Dann kenne ich sie. Sag, wer ist es. Ich kenne sie!«

    »Nein, du kennst sie nicht, und jetzt gib Ruhe.«

    Isabelle zog einen Schmollmund und sagte nichts mehr. Als das Taxi in die Zweibrückenstraße einbog, drehte sich Lothe zu Isabelle um und sagte: »Wenn es dorthin geht, wohin ich glaube, dass es geht, dann mach dich auf eine gewaltige Überraschung gefasst.«

    Dabei wendete er seinen Blick zu Achim und suchte in seinen Augen Bestätigung. Als das Taxi hielt, drehte sich Lothe zu Achim:

    »Das ist die Bestätigung. Donnerwetter, Achim, ich habe dir viel zugetraut, aber das hätte ich niemals erwartet.«

    Achim ließ die Eingangsmelodie im Hause erklingen, und fast sofort wurde die Haustüre geöffnet. Priska, wie immer in schwarz gekleidet, mit rotem Lederstirnband, die Enden seitlich bis auf ihre Schultern baumelnd, und ebensolchen blutroten Lippen stand in der Tür. Sie warf einen Blick auf die drei unten Stehenden. Plötzlich erschütterte ein tiefer, lauter Schrei die Umgebung. Priska stürzte die Eingangsstufen hinunter. Sie griff Lottes Rastalocken und schüttelte seinen Kopf vor und zurück. Dann deckte ein Berg von Frau Lothe fast zu, der Priska ebenfalls lachend umarmte.

    »Ich glaub es nicht!  –  Lott-Lott!  –  Wo kommst du denn her? «, kreischte Priska überlaut. Voller Wiedersehensfreude kämpfte sich Lothe aus Priskas gewaltigen Oberarmen.

    Sie redete weiter, bevor er richtig antworten konnte.

    »Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«

    Sie gab auch gleich selbst die Antwort.

    »Das müssen mindestens fünf Jahre sein.»

    Ihre Hand krachte auf seine schmächtigen Schultern, so das er mit Schmerzen in die Knie ging.

    »Mensch, freue ich mich», sagte Priska und drehte sich zu Achim. Sie fasste ihn an seinen Hüften und zog ihn fest an sich. Sie küssten sich lang und hingebungsvoll. Dann drehte sich Priska zu Isabelle und sagte:

    »Sie, als die einzige Unbekannte, müssen Achims Schwester sein. Ich habe schon viel von ihnen gehört, und was ich gehört habe, hat mich sehr neugierig gemacht.«

    Mit diesen Worten ergriff sie Isabelles Hand herzlich. Isabelle ungläubig mitten in dieser Situation stehend, konnte betäubt kein Wort sagen. Priska ergriff Achims Hand und schob mit der anderen Hand Lott-Lott und Isabelle ins Haus. Mit ihrem Absatz beförderte sie die Haustür ins Schloss, als solle diese Türe niemals mehr aufgehen.

    Priska hatte sich den Freitag frei genommen. Den ganzen Tag hat sie geputzt, gewaschen, geschnippelt, kandiert, karamellisiert, julieniert, gekocht, blanchiert, gerieben, gebacken, deglaciert, emulgiert, geklärt, paniert, gespickt, gebraten, pochiert, frikassiert, reduziert. Lott-Lott, der ihre Kochkünste kannte, meinte, er werde sich ein Essensabo hier einrichten. Sofort nachdem sie am Tisch Platz genommen hatten, war die Stimmung gut. Es gab keine Berührungsängste, kein anfängliches Abtasten. Es wurde geredet und gelacht. Hier saßen vier Menschen, die sich gut verstanden und mochten. Isabelle, die sich wiederholt unauffällig umdrehte und das Wohnzimmer betrachtet hatte, fühlte sich gleich wie zuhause. Fasziniert betrachtete sie sich diese Urgewalt einer Frau. Sie sah die glücklichen Blicke, die sich ihr Bruder und Priska immer wieder zu warfen. Isabelles anfängliche Distanz zu den blutroten Lippen, zu den rasierten Schläfen, zu dem schwarzen Nest, das auf Priskas Kopf thronte, zu den roten Augen, zu dem Piercing mit den Ketten war schnell verflogen. Bei Achim machte sich Erleichterung breit, denn er hätte es nur schwer ertragen, wenn Isabelle Priska nicht gemocht hätte.

    Um 4,30 Uhr lagen Priska und Achim oben im Schlafzimmer und schliefen fest. Ebenso fest schliefen Lott-Lott und Isabelle auf dem riesigen Sofa im Wohnzimmer. Priska hatte schnell zwei Schlafsäcke geholt.

     

    Auf der Rückfahrt zu Achims Wohnung sagte Isabelle zu Achim:

    »Ich finde Priska toll, sie gefällt mir richtig gut. Aber, mein liebes Bruderherz, bisher war das Aussehen bei der Wahl deiner Begleiterinnen immer von größter Wichtigkeit.«

    »Ja,« antwortete Achim ernst, »ich habe bisher gutes Aussehen mit Schönheit verwechselt. „Naomi“, zum Beispiel, sieht sehr gut aus, ist aber ein abgrundhässlicher Mensch. Schönheit ist der ganze Mensch, nicht nur die Fassade.«

    Beim Abschied flüsterte Isabelle Achim noch ein, »Glückwunsch«, ins Ohr und drückte ihn fest. Sie ging zu Lothe in den Wagen, und die beiden fuhren zurück nach Hamburg.

     

    Zwei Wochen später besuchten Priska und Achim eine Aufführung der Berliner Philharmonie unter Sir Simon Rattle. Anschließend saßen sie noch bei einer Tasse Tee beisammen. Priska beugte sich zu Achim hinüber und sagte mit fester Stimme:

    »Willst du mein Mann werden?«

    Ehe Achim über die Konsequenz nachdenken konnte, hatte er schon, »Ja!«, gesagt. Mit ihren großen Augen strahlte sie ihn freudig an, und er strahlte freudig zurück.

    »Du weißt, ich möchte mindestens drei Kinder«, sagte Priska und ergriff Achims Hand, »lass uns gleich mit der Produktion beginnen.«

    »Nein«, antwortete Achim, »diesen Augenblick mochte ich genießen, ihn nie mehr vergessen. Ich möchte dich ansehen und mich deinem Anblick hingeben. Für das Andere haben wir noch ein ganzes Leben Zeit.«

     

    Am nachfolgenden Freitag fuhr Achim zu seinen Eltern nach Hause. Unterwegs dachte er an das Telefongespräch mit Isabelle, als er ihr von seinen Zukunftspläne erzählte. Sie sollte es als erste in der Familie erfahren. Er grinste, als er sich an ihre Worte erinnerte.

    »Achim«, sagte Isabelle, »Als ich Priska kennenlernte und euch sah, habe ich das erwartet, vielleicht nicht ganz so schnell, aber ich habe es erwartet. Priska weiß, was sie will. Ihr werdet glücklich werden. Ich freue mich mit. «

    Nach dem Abendessen ging Achim auf sein Zimmer. Er rief Isolde und bat seiner Mutter und seinem Vater auszurichten, er erwarte sie in seinem Zimmer. Er müsse mit ihnen sprechen.

    Isolde kam zurück: »Deine Mutter lässt dir sagen, im Salon ließe es sich gemütlicher sprechen und dass sie dort auf dich warten.«

    »Bitte, sage Mutter, ich lege größten Wert darauf, dass dieses Gespräch hier bei mir stattfindet.«

    Wenige Minuten später erschienen Silvia und Klaus. Silvia blieb in der Tür stehen.

    »Was soll das hier, Familienangelegenheit werden unten im Salon besprochen.«

    Achim sah genau, wie unsicher sie war und dass sie versuchte, in gewohnte Umgebung zu gelangen, um damit ein Heimspiel zu haben.

    Achim sagte jedoch bestimmt: »Kommt herein und setzt euch.»

    Steif und abwehrbereit setzte sie sich auf die Vorderkante des Stuhles.

    »Bist du sicher, dass hier der richtige Ort für ein ernstes Gespräch ist?«

    Dabei sah sie sich demonstrativ um. Klaus hatte sie auf die Wäschekommode neben der Tür zum Badezimmer gesetzt. Achim wusste: wegen der überlegenen und abwartenden Art seines Vaters. Deshalb wandte er sich erst an seine Mutter.

    »Liebe Mutter, was ich jetzt zu sagen habe, ist sehr wichtig für mich, und es ist auch wichtig für dich. Bitte sprich nicht dazwischen, sondern hör genau zu, was ich dir zu sagen habe. Ich möchte dir keine Gelegenheit geben, mit deinen geschliffenen Wendungen und sprachlichen Spitzfindigkeiten mich zu unterbrechen und dem Gespräch eine Richtung zu geben, die ich nicht haben will. Am Schluss sollst du Gelegenheit haben, Stellung zu nehmen. Unterbrichst du mich einmal, stehe ich auf und verlasse das Haus.«

    »Wenn das ein Tribunal wegen Marithe werden soll, dann sag es sofort, dem ist nichts hinzuzufügen, und wir können uns das Gespräch sparen.«

    Sicher, das richtige Thema angesprochen zu haben, das schon oft Anlass für heftigen und verletzenden Diskussionen war, stand Silvia entschlossen auf.

    »Setz dich, Mutter«, sagte Achim unerbittlich, »oder du siehst mich hier nicht mehr wieder. Es ist mir sehr ernst.«

    Silvia stand unschlüssig in der Tür, dann atmete sie zweimal tief aus und ein und ging zurück zum Sessel und setzte sich auf die Vorderkante. Auch Achim holt tief Luft, als müsse er Kraft sammeln und begann:

    »Liebe Mutter, du weißt, dass ich deine und Vaters Vorurteil oder Urteil, wenn man so will, nicht teile, sondern sogar scharf verurteile. So geht man nicht innerhalb einer Familie miteinander um.«

    Als Silvia für eine scharfe Erwiderung Luft holte, sagte Achim scharf: »Kein Wort! Mutter!»

    Widerwillig schwieg Silvia, bereit, bei der nächsten Gelegenheit das Gespräch zu beenden.

    Achim sprach weiter.

    »Ich will nur im Vorfeld klären, dass mir und meiner zukünftigen Familie nicht Ähnliches wie der Familie von Marithe widerfährt. Ja, du hast richtig gehört, ich werde heiraten.«

    Wieder wollte Silvia, die es überhaupt nicht gewohnt war, passiv zu sein, etwas erwidern. Ein zorniger Blick Achims ließ sie jedoch schweigen. Plötzlich blass geworden, saß sie da, und Achim konnte sehen, wie es in ihrem Inneren rumorte. Welche Absichten hatte Achim? Welche Richtung nahm das Gespräch? Warum kein normales Gespräch wie sonst auch? Warum dieses Gespräch überhaupt?

    »Die Entscheidung, ob ihr ein weiteres Kind verlieren werdet, denn was ihr mit Marithes Familie gemacht habt, werde ich nicht akzeptieren. Wenn ich von Verlieren spreche, dann meine ich, dass es keine Kompromisse geben wird. Er wird einzig und allein an dir, Mutter, und an Vater, oder an euch beiden liegen. Ich verlange, dass ihr meine Braut und spätere Frau akzeptieren werdet, genauso wie sie ist, auch wenn sie nicht eurer Vorstellung von Konvention entspricht. Es wird besonders für dich, liebe Mutter, schwer, sehr schwer werden, das weiß ich. Nur so ist die Möglichkeit gegeben, dass hier wieder Leben einzieht, mit Familien und deren Kinder oder aber hier stirb langsam alles. Mit anderen Worten, entweder ihr gewinnt wieder Familie oder ihr verliert mich. Als Achim geendet hatte, stand Silvia sofort auf, Klaus blieb, wie es seine Art war, sitzen.

    »Wenn es so eine Asoziale ist, womöglich noch aus Asien oder Afrika, dann brauchst du sie gar nicht erst mit hierher bringen.«

    Als habe sie das Richtige getroffen und es bedürfe keiner weiteren Worte, ging sie zur Tür.

    »Nein, Mutter, sie ist durchaus, wie du zu sagen pflegst, standesgemäß. Aber für dich sicher noch schlimmer, sie ist eine Gothic, und ich liebe sie über alles. Mit einem Schulterzucken verließ Silvia das Zimmer. Jetzt erst stand Klaus auf, er legte seinen Arm um Achims Schultern und sagte ruhig.

    »Jeder Mensch muss seinen Weg gehen, und ich vertraue dir. Ich lade euch für nächsten Sonntag zum Kaffee ein und erwarte dich und deine Braut um 15 Uhr. Sag mir bitte noch ihren Namen.»

    »Sie heißt Priska.»

    »Ich erwarte dich und Priska am Sonntag. Ich freue mich, deine Priska kennenzulernen.«

    Mit diesen Worten und einem freundlichen, Wir-machen-das-schon-Lächeln, verließ Klaus das Zimmer. Wenige Minuten saß Achim nachdenklich auf seinem Bett, dann rief er Priska an und erzählte ihr den Verlauf seines Gespräches mit seinen Eltern und über die Einladung für kommenden Samstag.

    »Muss ich etwas Besonderes anziehen?«, war die erste Frage von Priska.

    »Nein, zieh das an, worin du dich wohl fühlst«, antwortete Achim.

    »Sehen wir uns morgen Abend?«

    »Nein, ich treffe mich mit Lott-Lott,« antwortete Priska.

    »Gut,« sagte Achim. Sofort nachdem das Gespräch beendet war, tippte er schnell eine SMS: „Es gibt drei Sorten von Frauen, hässliche, geschminkte und dich!“ und schickte sie los. Nur wenige Sekunden später läutete das Telefon.

    »Mann, hey, das geht mir runter wie Öl. Ich glaube aber du hast Oskar Wilde zu gut gelesen. Aber ich weiß, was du sagen willst, ich dich auch,« flötete Priska fröhlich.

    »Ich dich auch.«

    »Tschüss  –  Schlaf gut. Wir treffen uns gleich…   …in unseren Träumen.»

    Am Sonntag erschien Achim um 8 Uhr bei Priska zum Frühstück. Wohlwollend, aber auch mit einer Portion Respekt im Bauch, betrachtete er seine zukünftige Frau. Sie hatte ihren schwarzen Haare mit einem silbernen Reif zusammen genommen und ließ die überquellenden Haare in üppigen Schillerlocken auf ihre Schultern fallen. Die Augen waren groß und schwarz. Der Teint blass geschminkt Die Form ihres Mundes sorgfältig ausgezeichnet und schwarz betont. Neben ihrem üblichen Piercing trug Priska an jedem Finger zwei silberne Ringe. Jeder Fingernagel sogfältig manikür und schwarz lackiert. Alles an ihr war schwarz, nur ihr rotes Kreuz lag über der schwarzen Seidenbluse auf ihrer Brust. Bald nach dem Frühstück fuhren sie los.

    »Mutter! Vater! Ich freue mich sehr, euch meine zukünftige Frau, meine Priska, vorstellen zu dürfen. –  Priska, darf ich dir meine Mutter, darf ich dir meinen Vater vorstellen. Sie haben uns Geschwistern die schönste und beste Kindheit geschenkt. Auch heute noch sind sie immer für mich da.«

    Er betonte „mich“ leicht, mit einem Blick zu seiner Mutter.

    »Auch ich freue mich, die Eltern von Achim kennen lernen zu dürfen. Achim hat viel Liebes und Gutes von Ihnen erzählt. Ich war deshalb schon sehr gespannt auf Sie. Wenn ich noch Marithe kennengelernt habe, kenne ich die ganze Familie und hoffe, dass wir uns gut verstehen werden; so gut, wie ich mich mit Isabelle, die ich schon kenne, verstehe,« sagte Priska freundlich und mit Optimismus in ihrer Stimme.

    Silvia, die außer zu einem eher laschen Händedruck, zu keiner Bewegung fähig war, stand einfach da und blickte auf diese Unmöglichkeit vor ihrer Haustür. Klaus, der sich schnell von der Überraschung erholt hatte, sagte warm, mit einem unergründlichen Unterton in der Stimme, »Herzliches Willkommen.«

    Vielleicht erhoffte er sich, dass wieder Leben und Abwechslung ins Haus kommen würde, oder es machte ihm Spaß, seine Frau in dieser Situation zu sehen. Er ging einen Schritt zur Seite, ergriff Priskas Hand und zog sie, einladend ins Haus. Die anfängliche Unterhaltung verlief steif, sehr steif. Achim überließ diesen schwierigen Teil gänzlich Priska, die einfach über sich und ihre Hobbys erzählte. Als sie erwähnte, dass sie früher ein Reitpferd besessen habe und auch noch heute sehr gern reite, erwärmte sich Silvia für Priska. Als sie auch gemeinsamen Reitbekanntschaften fanden, wurde das Gespräch lockerer und freier. Dank Priskas unbekümmerten Charme wurde auch Silvia lebhafter und lächelte Priska dann und wann an. Bald war eine lebhafte Unterhaltung über weitere gemeinsame Bekannte in Gang. Priska schien den richtigen Draht zu Silvia gefunden zu haben, dachte Achim. Nur wenn Silvia Priskas Aussehen bewusst wurde, versteifte sich ihre Körperhaltung.

    »Wir haben ja den einen oder anderer gemeinsamen Bekannten, kennen wir auch ihre Eltern? «, fragte Silvia interessiert.

    »Meine Mutter ist tot, oder besser seit vielen Jahren verschollen. Meinen Vater könnten sie eventuell kennen, Arndt von Schloßhüter.«

    Als sei eine Bombe explodiert, erstarrte alles im Raum wie zu Eis. Klaus wurde stocksteif und drehte den Kopf sofort zu seiner Frau hin. Silvia war leichenblass und presste die Lippen fest aufeinander. So fest, dass sie nur noch ein weißer, blutleere Strich waren. Mit ihrer linken Hand umfasste sie ihre Sessellehne, die rechte Hand war zur Faust geballt, mit der sie immer wieder auf ihren Oberschenkel schlug. Schwindelnd stand sie auf und sagte mit zittriger, sich mühsam beherrschter Stimme: »Achim,« sie machte Pause, um sich zu sammeln und sich mit beiden Händen am Tisch festhaltend, »Achim, ich verbiete dir,« jetzt schrie sie fast hysterisch, »diese Heirat. Hörst du! Ich verbiete sie dir.«

    Dann sagte sie zu Priska gewandt:

    »Verzeihen Sie, aber es darf nicht sein. Bitte verlass ….., verlassen Sie jetzt das Haus.«

    Silvia ging schwankend und unsicher, wie gebrochen, aus dem Zimmer. Klaus war nach dem ersten Entsetzen aufgestanden und stürzte jetzt hinter Silvia her. Achim und Priska starrten sich an, unfähig ein Wort zu sagen. Dann begann Priska zu weinen und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Achim, bitte rufe mir ein Taxi.«

    »Nein, ich werde dich nach Hause fahren,« sagte Achim, ebenfalls noch fassungslos.

    Unterwegs sprachen sie lange kein Wort. Beide starrten durch die Windschutzscheibe gerade aus. Nach einer ganzen Weile drehte Priska ihren Kopf zu Achim und sah ihn verzweifelt an. Achim ahnte ihre Frage.

    »Tut mir leid. Ich kann mir das Ganze nicht erklären. Ich weiß nicht, was plötzlich passiert ist. Es muss mit den Nennung deines Vaters zusammen hängen.«

    Dann sprachen sie kein Wort mehr.

    In der Einfahrt zu Priskas Garage hielt Achim und stellte den Motor ab. Als Priska schnell aussteigen wollte, hielt er sie am Arm fest.

    »Darf ich noch für ein Wort mit hinein kommen?«

    Priska zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging ins Haus. Achim folgte ihr. Im Treppenhaus stellte es sich vor Priska.

    »Was passiert ist, weiß ich nicht. Ich will dir aber eins sagen. Du bist meine große Liebe, meine ganz große Liebe. Mit dir möchte ich mein ganzes Leben leben und teilen. Neben dir möchte ich einst auf dem Friedhof liegen. Egal, was heute passiert ist oder in Zukunft passieren wird, ich möchte dich niemals verlieren. Du bist das Allerwichtigste in meinem Leben. Manchmal habe ich das Gefühl, als muss ich deine Ausatemluft einatmen, wie bei einem Lungenzug, um leben zu können.«

    Heulend warfen sie sich in die Arme. Sie drückten einander fest, zum Zeichen, den Anderen nicht mehr los zu lassen.

     

    Zwei Monate später trafen die Geschwister, Maria-Theresia, Achim und Isabelle in der Villa Roessler ein. Obwohl Silvia vom Kommen ihrer Kinder wusste, war sich nicht anwesend. Klaus meinte, das sei typisch, sie brauche ihren Auftritt. Gerade fuhr Silvia auf den Hof und betrat kurz darauf in Reitkleidung den Salon. Klaus hatte fünf Gläser mit Portwein gefüllt und sich neben dem Kamin in einen Sessel verzogen. Silvia schaute in die Runde und meinte:

    »Ihr schaut mich an, als sei dies eine Gerichtsverhandlung und ich die Angeklagte.«

    »Nein,« sagte Achim, »dies ist mitnichten ein Tribunal, aber wir fordern eine Erklärung. Ich habe mit Marithe und Isabelle gesprochen und meine Schwestern und ich glauben, dass wir das Recht haben, eine umfassende Erklärung zu erhalten.«

    »Es gibt nichts zu erklären, aber auch gar nichts. Ich weiß nicht, was ihr wollt.«

    Silvias Stimme war nicht mehr ganz so fest. Ihr Blick wanderte von einem zu anderen. Letztlich blieb ihr Blick bei Klaus kleben. Jetzt bat der Blick um Hilfe.

    »Wenn du es nicht erzählen willst, dann werde ich es erzählen,«, sagte Achim entschlossen, «ich habe auch mit Arndt von Schloßhüter gesprochen.«

    Wieder wurde Silvia blass. Sie ballte beide Hände zu Fäusten. Ihre Fingernägel gruben sich in ihr Fleisch. Ihre aufrechte Haltung schwankte, und sie setzte sich an den Tisch. Sie zitterte, und in ihrem Gesicht sah man den Kampf, der in ihrem Innersten tobte. Wieder blickte sie zu Klaus, diesmal mehr um eine Bestätigung zu bitten. Als dieser leicht nickte, stand sie auf und öffnete schnaufend die Verandatür und trat nach draußen. Nach wenigen Minuten kam sie zurück und schloss die Tür. Sie schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein. Mit straffer Körperhaltung, sehr aufrecht und mit gehobenem Kopf, trat sie in die Mitte des Zimmers. Ihr Gesicht war plötzlich entspannt, ihre schönen Gesichtszüge leuchteten vor Erleichterung, als habe sie eine jahrelange Fessel gesprengt.

    »Gut, gut, es ist wirklich die Zeit, dass alles eingerissen wird. Wappnet euch gut, es wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Es wird sich alles ändern.»

    Jetzt verließ auch Klaus seine entspannte Haltung, und er richtete sich auf. Er zeugte von Aufmerksamkeit und Spannung, denn er kannte diesen entschlossenen Ton in Silvias Stimme und er wusste, dass sie es ernst meinte.

    »Ich will dieses Gefängnis, diese Gruft hier verlassen.   –   Einen Augenblick, bitte,« sagte sie und verließ das Zimmer. Man hörte sie nach Isolde rufen und mit ihr sprechen. Eine Tür fiel ins Schloss, und das Geräusch eines Fahrrads entfernte sich. Kurz darauf betrat Silvia wieder das Zimmer. In ihrer linken Hand glühte eine Zigarette. In der rechten Hand hielt sie ein übervoll eingeschenktes Glas Gin.

    »So, ich bin bereit!«

    Sie nahm einen großen Schluck, dann setzte sie sich auf einen Stuhl, direkt gegenüber ihren Kindern. Erst etwas stockend nach und nach flüssiger und nach wenigen Sätzen sprudelnd, erzählte sie ihre Geschichte.

    »Ich hatte hier im Hause eine wundervolle Kindheit. Später, als ich mit dem Studium begann, begann auch ein herrlich unbeschwertes, freies Leben. Ich ließ keine Feier, keine Fete oder Party aus. Dieses Leben gefiel meinen Eltern langsam immer weniger. Sie sahen in meinem Studium eher die Möglichkeit, einen standesgemäßen und vor allem wohlhabenden Mann fürs Leben zu finden, oder man muss in dieses Zusammenhang schon sagen, dass Angeln der korrekte Ausdruck war. Meine Schwester Viktoria,« – Bei der Erwähnung Silvias Schwester warfen sich die Geschwister erstaunte Blick zu, denn Silvia erwähnte ihre Schwester selten und ungern – »war mit Carl von Dannenberg innerhalb unserer Clique befreundet. Er war adelig, reich und, was meine Eltern nicht wussten, schwul. Ihn hatten sie als Viktorias zukünftigen Gatten auserkoren. Durch diese Heirat sollte vor allem der finanzielle Ruin abgewendet werde. Bei einem Fest erlaubten sich Viktoria und Carl einen Scherz und umarmten sich und küssten sich. Darauf haben die Eltern vorschnell und überraschend die Verlobung der beiden bekannt gegeben. Viktoria war außer sich gewesen. Kurze Zeit später ist sie mit einem amerikanischen Soldaten nach Amerika entschwunden, durchgebrannt, um, wie die Eltern zu sagen pflegten, der Schande einen Namen zu geben. Die Hoffnung meiner Eltern richteten sich jetzt auf mich. Sie erwarteten meine baldige und finanziell entsprechende Heirat. Im Mai 1979 lernte ich Arndt von Schloßhüter kennen. Es war eine herrlich wilde Zeit. Uns gehörte die Welt. Ich lebte wie im Traum. Anfänglich waren die Eltern mit meiner Wahl einverstanden. Später, als sie mitbekamen, das Arndt zwar von Stand, aber ohne Reichtum war, haben sie unsere Beziehung hintertrieben. Sie drangen darauf, die „Sache mit Arndt“, die ja ohnehin keine Zukunft habe, zu beenden und mich ernsthaft um meine Zukunft zu bemühen, oder was meine Eltern darunter verstanden. Ich weiß nicht, ob es das war oder ob wir aus einem Traum erwacht sind, jedenfalls verstanden wir uns nicht mehr so gut. Arndt verliebte sich in Maria, der Tochter der Familie Kaiser. Die Familie Kaiser besaß 12 Autohäuser der Marke Mercedes in Nordrhein-Westfalen. Vielleicht spielte Maria und ihre Familie auch eine Rolle bei der Entwicklung und der Entscheidung. Arndt und ich beschlossen uns zu trennen. Und wir trennten uns im Guten. Dann merkte ich, dass ich schwanger war. Ich litt unter der Trennung mehr, als ursprünglich geglaubt. Arndt fehlte mir, gerade auch in dieser Zeit, sehr. Dazu kam die Tatsache, dass Maria ebenfalls schwanger wurde und Arndt und Maria sich überstürzt verlobten. Ich habe daraufhin den Kontakt vollständig abgebrochen. Als mein Gewicht anstieg und mein Bäuchlein deutlicher sichtbar war, wurde ich von meinen Eltern nach Frankreich zur „Erholung“, wie sie es nannten, geschickt. Ich studierte in Paris und bekam dort auch eine Tochter.

    Walther von Cloppenthal, hatte mich mit Klaus Roessler, einem Freund von ihm, bekannt gemacht. Eben zu dieser Zeit gab es Gerüchte, dass Walther homosexuell sei. Diese Gerüchte hätten seine Kariere, er hatte ein gutes Angebot einer amerikanischen Großbank, zerstört. Jetzt in dieser Situation zeigte sich, was Arndt für ein wertvoller Mensch war. Er hat sich wie ein Gentlemen verhalten. Offiziell gaben wir Walther von Cloppenthal als Vater an. Damit war den Gerüchten die Grundlage entzogen. Er bekam seine Stelle in den USA. Arndt adoptierte seine Tochter und entlastete damit auch meine Situation. Die Bedingung war, dass es keinen Kontakt gab, damit das Mädchen normal in seiner Familie aufwachsen konnte.«

    Direkt zu Achim gewandt, sprach sie weiter:

    »Jetzt weiß du, warum keine Heirat mit der Tochter von Arndt von Schloßhüter möglich ist. Klaus, der Freund von Walther, und ich fanden uns sympathisch, und wir hatten viel Spaß, aber wir waren kein Paar. Im Mai 1982 hatte mein Vater durch eine riskante Spekulation den Rest des Vermögens verloren. Ich habe nie erfahren, was das für Spekulationen waren. Auf jeden Fall musste alles verkauft werden, auch dieses Anwesen. Zur selben Zeit wurde ich wieder schwanger, von Klaus. Eine Abtreibung kam damals und auch diesmal nicht in Frage. Auch Klaus war strikt gegen eine Abtreibung. Wir beide, und nur wir beide, beschlossen zu heiraten. Ich kann sagen, das gilt aber nur für mich, obwohl ich sicher bin, das Klaus das Gleiche sagen wird, dieser Entschluss war der größte Glücksfall in meinem Leben. Bald merkten wir beide, dass uns eine große, feste, tiefe Liebe verbannt. Diese Liebe hält noch heute unverändert an.«

    Silvia drehte sich zu Klaus und sah in voller Liebe und Zuneigung an. Klaus nickte leicht, um ihr zu zeigen, dass er ebenso fühlte. Jetzt war Silvia wieder die selbstsichere Frau, die alle kannten. Marithe, Isabelle und Achim hatten trotzdem das Gefühl, dass die Silvia, die vor ihnen auf dem Louis-seize-Stuhl saß, eine ganz andere Silvia war. Sie hatten ihre Mutter noch nie rauchen gesehen, auch trank Silvia nur Rotwein oder Sekt. »Damals war eine schlimme Zeit für die Familie. Alles Vermögen war verloren und zum Schluss musste das Anwesen verkauft werden. Vater verhandelte mit einer Baugesellschaft, die eine ganze Neubausiedlung auf dem Grundstück errichten wollte. Die Eltern zögerten lange mit der Unterschrift. Als Klaus und ich heirateten, haben Klaus´ Eltern kurzerhand das Anwesen gekauft. Die Bedingung war, dass Klaus und ich hier wohnten und das Haus zu Repräsentationszwecken dienen sollte. Um den guten Ruf von Anfang an nicht zu gefährden, wurdest du, liebe Maria-Theresia, offiziell als Siebenmonatskind, also als nach der Hochzeit gezeugt, geboren. Alle haben es geglaubt. Klaus und ich waren sehr glücklich, und bald kamen, du lieber Achim, und du, liebe Isabelle. Im Laufe der Zeit wurde die Repräsentation hier in der Gegend immer wichtiger und umfangreicher. Alle nahmen mich in Beschlag. Bei jedem Verein musste ich mich sehen lassen. Bei jedem Bazar erwartete man nicht nur, dass ich offiziell dabei war, nein, immer mehr wurden auch finanzielle Wohltaten von uns erwartet. Anfänglich machte es mir auch Spaß, aber irgendwann wurde es zur Last, zum Käfig, zum Gefängnis, zum Kerker, aus dem ich nicht entkommen konnte. Klaus war in der Kanzlei sehr beschäftigt, so dass ich das alles allein bewältigen musste, als Frau von Rechtsanwalt Klaus Roessler und dem Stand dieses Anwesen geschuldet. Zusätzlich wollte ich eine gute Mutter für euch Kinder sein und eine gute Ehefrau für meinen Mann. In den Jahren verkrustete alles und war in Konventionen von Ruf und Ehre eingebettet. Ich war nicht mehr in der Lage, mich außerhalb dieser Strukturen zu bewegen. Du, liebe Marithe, du und deine Familie mussten unter dem eingemauerten Herzen leiden.«

    Silvia ging zu Marithe, zog sie zu sich hoch.

    »Bitte verzeih mir, bitte verzeih mir, ab heute und ab jetzt wird alles anders werden. Versuch mir zu verzeihen.«

    Sie ging zu Klaus, der sofort aufgestanden war und ihre Frage vorwegnehmend, antwortete:

    »Liebste, es gibt nicht zu verzeihen! Ich habe das ganze Ausmaß der Veränderung nicht erkannt und habe alles mitgetragen. Vielleicht weil es auch für mich bequemer war, denn du hast mir alles abgenommen. Verzeih du mir, dass ich es soweit habe kommen lassen.«

    Silvia ging zu Achim.

    »Nun weißt auch du, Achim, warum ich so heftig und überrascht auf Priska, als deine zukünftige Frau, reagiert habe. Du siehst auch die Unmöglichkeit einer Heirat. Priska ist deine Halbschwester. «

    Achim war auch aufgestanden. Wortlos drückte er seine Mutter auf ihren Stuhl zurück.

    »Liebe Mutter, vielleicht ist nicht alles so gelaufen, in der Familie, wie es hätte laufen können. Aber ich kann es mir auch mit viel Phantasie nicht besser vorstellen. Es gibt also nichts zu verzeihen.«

    Als Silvia ihn unterbrechen wollte, sagte es bestimmt:

    »Mutter, und auch ihr anderen hört jetzt mir zu.«

    Zu Klaus gewandt, sagte:

    »Vater, dieser Abend ist es wert, gefeiert zu werden. Bevor ich meinen Teil dieser Geschichte, einen anderen Teil dieser Geschichte, erzähle, möchte ich dich bitten, gehe und hole eine Flasche Champagner und fünf Kelche, wenn ich fertig bin, möchte ich mit der Familie auf uns anstoßen. Er wartete, bis Champagner und Gläser bereit standen.

    »Ich könnte es ganz kurz machen, aber das würde mir die Pointe verderben, deshalb hole ich weiter aus. Vor einiger Zeit begann ich die Geschichte unserer Familie zu erforschen. Ich wollte die Chronik dieser Familie schreiben. Schon bald traf ich auf Schweigen und Ausflüchte. Allenfalls wurden Andeutungen anstelle von schlüssiger Auskunft gemacht. Immerhin hörte ich, das Walther von Cloppenthal nach der  Affäre mit Mutter nach Amerika geflüchtet sei. Man sagte mir, er sei aus Liebe zu Silvia und Kummer, sie nicht bekommen zu haben, bis heute unverheiratet geblieben. Ich flog zu ihm nach New York, aber er war nicht sehr gesprächig. Er bestätigte alles, was ich wusste, aber er sagte auch nicht mehr. Immerhin erfuhr ich, dass er wirklich unverheiratet war. Den Grund kennen wir mittlerweile. Aus Angst irgendwelche Leichen im Keller zu finden, habe ich die Nachforschungen einschlafen lassen. Ich bin aber kein Mensch, der sich leicht von seinen Plänen abbringen lässt. Ich will meine Pläne und Ideen zur Tat werden lassen. Nach der Szene mit Mutter und Priska habe ich nicht aufgegeben. Nein, ich habe Arndt von Schloßhüter um ein Gespräch gebeten. Erst ließ er mich durch seinen Anwalt mitteilen, dass an einem Gespräch kein Interesse bestünde. Über diesen Anwalt bat ich um wenigstens ein Telefongespräch. Nach dem Telefongespräch erklärte er sich bereit, ein persönliches Gespräch mit mir zu führen. Das Ergebnis dieses Treffens, das übrigens auf einer Parkbank in den Anlagen stattfand, ist, liebe Mutter, hör gut zu, der andere Teil der Geschichte. Arndt hatte sich frisch verliebt und von dir getrennt, als er erfuhr, dass er Vater wurde. Er fädelte das von dir erwähnte Arrangement ein, in dem Maria Kaiser ohne Wenn und Aber der Adoption zugestimmt hatte. Vor allem deswegen, weil er seine Tochter nicht in fremde Hände geben wollte und auch seinem Freund Walther helfen wollte.

    Maria Kaiser wurde zu dieser Zeit ebenfalls schwanger. Zwei Monate nach deiner Tochter,« -mit diesen Worten blickte er seiner Mutter ins Gesicht- »wurde seine andere Tochter geboren. Nach einer verlängerten Erholungsphase kehrte Maria mit zwei Kindern heim, offiziell mit Zwillingen. Christine und Priska wuchsen wie Zwillinge auf. Sie selbst glaubten, sie seien Zwillinge. Maria und Christine sind dann von einer Segeltour in der Karibik nicht mehr zurückgekehrt. Priska ist nicht meine Halbschwester.«

    Blass stand Silvia auf.

    »Ist das wirklich wahr?«

    Achim nickte mit zusammengekniffene Lippen.

    »Oh Gott, oh Gott,», sagte Silvia, »was habe ich dem Kind nur für ein Unrecht angetan.«

    Sie schwieg einen kurzen Moment, dann sagte sie im Hinausgehen:

    »Das muss ich sofort in Ordnung bringen.«

    Es herrschte Schweigen im Raum. Klaus stand auf und öffnete die Flasche und goss vier Gläser ein. Er reichte jedem ein Glas, nahm sein eigenes Glas, hob es und prostete jedem seiner Kinder zu.

    »Auf das Wohl dieser Familie und auf Silvia. Wir werden nicht auf sie warten müssen.«

    Jeder wusste genau, was er damit meinte. Minuten später hörte sie die Haustür zu fallen und Silvia Wagen fuhr vom Hof.

    Gut gelaunt und sichtlich stolz auf seine Silvia sagte Klaus: »So ist sie, und so liebe ich sie auch. Ich glaube, es wird sich viel ändern.

     

    Priska hatte sich ein Hochzeitskleid entworfen und saß nun Tag und Nacht an ihrer Nähmaschine. Am Tag der Hochzeit holte Achim Priska ab. Er bewunderte ihr Aussehen auf das Ehrlichste. Zu schwarzen Stiefeletten und schwarzen Netzstrümpfen trug sie ein knielanges karminrotes, ärmelloses Seidenkleid. Dazu trug sie schwarze überlange Handschuhe. Über jeden Finger, mit Ausnahme ihrer linken Ringfingers, hatte sie Silberringe gestreift. Die Lippen in Rot und die Augen, wie immer, mit großzügigem Schwarz, das zu den Schläfen ausgezogen war.

    Der Kopf rasiert, bis auf ihre seitliche Strähne, in die dünne Silberkettchen eingeflochten waren. In der Hand trug sie einen riesigen Strauß roter Rosen, den ihr Achim, er hatte sich ausbedungen, für das Bukett zu sorgen, mitgebracht hatte. Achim war in schwarzen Anzug und schwarzem Hemd. Dazu trug er eine von Priska, aus dem selben Stoff wie ihr Kleid genähte Krawatte und rote Schuhe. Die Hochzeit fand in der alten Stiftskirche St. Wendelstein statt.  Alle von Priskas Freunden und Bekannten waren gekommen und bildeten zusammen mit den Freunden und Verwandten von Achim ein buntes Bild. Als Achim seine Braut durch den Mittelgang führte, erhob sich plötzlich allgemeines Gemurmel. Aus der Gruppe der Schwarzen trat eine große, schlaksige Gestalt. Klingend und klappernd mit seinen vielen Ketten war Carlo auf die beide zu gegangen. Erst umarmte er wortlos Priska und küsste sie auf beide Wangen, dann sagte er leise zu Achim:

    »Ich gratuliere dir und wünsche euch viel Liebe und unendlich Glück. Du hast mit Priska einen unermesslichen Schatz. Glaub mir, es gibt auf der Welt niemand, der das besser beurteilen kann, als ich. Nochmals alles Glück auf Erden und später im Himmel«, sagte er jetzt laut und vernehmlich.

    Priska und Achim waren nur wenige Schritte weiter gegangen, als ein gellender Schrei durch die kleine Kirche hallte und sie fast erschütterte. Priska drückte Achim den Strauß in die Hand und rannte den Gang zur vierten Reihe hinunter.

    »Papa  –  Papa«, schrie sie ungläubig und vor tiefer Überraschung. Vater und Tochter lagen sich in den Armen. Beide weinten vor Glück. Priska rannen Tränen über ihr Gesicht und hinterließen schwarze Rinnsale bis zum Kinn hinunter. Ihren Vater fest an der Hand haltend, „Dich lasse ich niemals mehr los“, ging Priska zu Achim, der im Gang gewartet hatte. An Achims Arm und ihren Vater fest an der anderen Hand, so dass er mit zu Altar gehen musste, ging Priska zu Pfarrer Hansen, der irritiert kopfschüttelnd vor dem Altar stand.

     

    Epilog:

    Silvia hatte sich gleich nach der familiären Aussprache allen offiziellen Ämtern und allen Verpflichtungen entledigt. Klaus und Silvia zogen in eine schöne Stadtwohnung. Marithe und ihre Familie zogen in die Villa ein. Das Anwesen beherbergte endlich wieder eine junge Familie, die neues, lautes und lachendes Leben brachte.

    Priska und Achim sind von einem ausgedehnten Segelturn durch die Karibik bisher noch nicht zurückgekehrt.

     

    Frauen sind faszinierend eigenwillig

    Sie sind Rebellinnen der Liebe und

    Jedweder Revolution wert

     

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

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    Eine kleine, wahre? Geschichte über einen Einsatz der Bundesrepublik in Afrika  
    oder
    Ist der Mensch ein Werkzeug des Schicksals?

    Sie waren noch bei Dunkelheit aufgebrochen. Jetzt fuhren sie schon zwei Stunden über Straßen, die kaum als solche zu identifizieren waren. Die Landschaft ausgedörrt und ausgetrocknet. Es hatte seit Monaten nicht mehr geregnet. Die Vegetation war abgestorben. Nur hier und da an besonderen Stellen standen noch grün-braune Sträucher. Langsam stieg die Sonne und mit ihr die gnadenlose Hitze. Der Lastwagen zog eine kilometerlange rötlich-gelbe Staubwolke hinter sich her.

    Die zwanzig Soldaten saßen auf zwei gegenüberstehenden Holzbänken auf der offenen Ladefläche. Vornüber gebeugt, auf ihre Schnellfeuergewehre gestützt, die Helme tief ins Gesicht gezogen, sprach keiner ein Wort. Schweiß rann über ihre Gesichter und tropfte auf die Tarnkleidung. Schweiß floss auch über den Nacken. Er sammelte sich zu größeren Tropfen, die den Rücken hinunter rannen, bis sie vom Stoff aufgesogen wurden.  Es stank nach Schweiß, Männerschweiß. Unter ihren schusssicheren Westen waren alle durchgeschwitzt. Und es roch nach Angstschweiß. War da nicht auch der Geruch von Urin? Auch die Tarnhosen waren schweißnass, so dass keine urinfeuchte Stellen zwischen den Beinen erkennbar waren. In den hochgeschnürten Lederstiefeln stand ebenfalls die schweißige Feuchtigkeit. Die Stiefel ließen aber keine Gerüche frei. Jeder der Männer hatte seine Stiefel fest geschnürt, damit sie Schutz vor Insekten, vor allem Skorpionen – die waren zwar nicht gefährlich, aber unangenehm-  und natürlich vor Schlangen boten. Der Staub blieb in den schweißnassen Gesichtern kleben. Er ließ die Augen groß und weiß erscheinen in den rotbraunen Masken. Auch die Lippen waren staubverkrustet. Die Männer hatten schon lange aufgegeben, den Staub mit der Zunge wegzuwischen. Teilweise waren die Lippen aufgesprungen.

    Jedes Mal, wenn die Fahrer zu viel Zwischengas gab, zogen aus dem defekten Auspuff Abgasschwaben über die Ladefläche. Die weiter vorn Sitzenden husteten. Das Atmen war nahezu unmöglich, wenn sich Abgas und Schweißgeruch mischten. Immer wieder warfen sich die Soldaten einen kurzen Blick zu, bevor sie wieder ihre Blicke senkten. Keiner sollte die Angst bemerken.

    Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihrem letzten Einsatz vor drei Tagen zurück. Auch an diesem Tag waren sie lange gefahren. Nach Stunden erreichten sie ein Dorf am Fuße eines kleinen Hügels. Die wenigen Bewohner, vielleicht fünfzehn oder zwanzig, waren schnell auf dem Dorfplatz zusammen getrieben. Dort standen sie: einige Frauen und alte Männer. Allesamt armselige Kreaturen in bunter abgetragener Kleidung. Die meisten hatten ihren Kopf ängstlich gesenkt. Maier eins, der Befehlshaber, ließ alle in einer Reihe antreten. Er trat vor die dunkelhäutigen Haufen Elend und blickte jeden durchdringend an. Dann ließ er zwei Frauen hervortreten. Er zog seine Pistole, trat zu ihnen und schoss ihnen in den Kopf. Einfach so. Beiden Frauen fielen lang nach hinten.

    Markus Müllert sah immer noch die angstvoll aufgerissenen Augen. Die beiden Frauen hatten keine Zeit mehr, um zu begreifen was mit ihnen passierte. Die anderen umso mehr.

    „Maier vier, Maier acht, Maier neun und Maier fünfzehn, ihr erledigt das hier. Ihr nehmt den Toyota und kommt nach ins Lager. Wir fahren schon vor.“

    Maier eins brüllte diesen Befehl kurz und zackig.

    Die Männer antworteten wie aus der Pistole geschossen: „Jawohl, Maier eins.“

    Immer wieder sah Maier zwölf, Markus Müllert, diese Szene auf dem Dorfplatz. Fast fror es ihn jetzt. Er war froh, nicht bei dem Erledigungskommado eingeteilt gewesen zu sein. Aber was wird heute kommen?

    Wenn er in die Gesichter schaute, sah er Angst und Betroffenheit.

    Als sich Markus vor Monaten zu diesem Einsatz gemeldet hatte, wusste er nicht, was auf ihn zukommen würde. Es sollte ein großes Abenteuer werden. Er war schon häufiger im Auslandseinsatz gewesen, auch mit Feindbeschuss. Aber er hatte sich alles irgendwie anders vorgestellt.

    Plötzlich hielt der Toyota, und der Lastwagen stoppte dicht dahinter. Die Soldaten standen auf, froh, ihre Beine vertreten zu können. Sie blickten sich um. Nichts war zu erkennen. Nur ganz am Horizont war ein dünner grüner Saum. Hier gab es offenbar länger Wasser.

    Maier eins ging um den Lastwagen herum.

    „Absitzen, Männer!“

    Die Soldaten sprangen und kletterten von der Ladepritsche und stellten sich in Reih und Glied.

    Der Kommandant trat vor die Männer.

    „Soldaten! In knapp einer Stunde werden wir das Ziel unserer heutigen Operation erreichen. Es ist ein kleines Dorf vor uns. Es gibt eine Straße und nur ein paar Häuser. Wahrscheinlich ist es verlassen. Unsere Aufgabe ist, sicherzustellen, dass sich wirklich kein Feind mehr dort aufhält. Wir haben das Dorf zu bereinigen. Zwei Männer zusammen gehen in ein Haus und inspizieren es. Seit jederzeit bereit, dass es zu Kampfhandlungen kommen kann und dass ihr aus einem Hinterhalt angegriffen werdet. Denkt auch daran, dass es hinter den Häusern Ställe oder Anbauten gibt. Manche Häuser haben einen geheimen Verschlag unter dem Haus. Überall kann sich ein Feind verstecken und angreifen. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass sich kein Feind mehr im Dorf befindet. Ist ein Haus sauber, dann macht ihr ein weißes Kreidekreuz mit einem Halbkreis darüber rechts neben der Eingangstür. Maier eins blickte von Mann zu Mann, von Soldat und Soldat.

    „Noch Fragen?“

    „Nein, Maier eins“, scholl es wie aus einer Kehle.

    Während die Soldaten wieder auf die Ladefläche des Lasters kletterten, teilte der Befehlshaber die Zweiergruppen ein.

    Markus wurde mit Maier vierzehn eingeteilt.

    Maier vierzehn war ein drahtiger, noch nicht bulliger Typ. Sein Gesicht war immer recht ausdruckslos. Man wusste nie, was in ihm vor ging. Es zeigte keine Emotionen. Die blaugrauen Augen lagen tiefen in ihren Höhlen und wurden von tiefhängenden Lidern verborgen.

    Die Fahrt wurde noch holpriger. Der letzte Regen hatte alle Reste einer möglichen Straße verwischt. Jedes Schlagloch oder jede gröbere Unebenheit wurden durch die schlechten Federn des Lastwagen an die Männer oben auf der Ladepritsche weitergegeben. Obwohl es jedes Mal einen Schlag auf die Wirbelsäule der Männer gab, spürten diese keinen Schmerz.

    Nach mehr als einer halbstündigen Fahrt wurden die Häuser des kleinen Dorfes sichtbar; nicht mehr als drei Dutzend Häuser.

    Die Soldaten sprangen vom Lastwagen und entsicherten ihre Schnellfeuergewehre. Nach und nach wurden die Zweierkommandos in die Häuser geschickt.

    Maier zwölf und Maier vierzehn betraten das vierte Haus links an der Straße. Es war größer und hatte als einiges einen zweiten Stock.

    „Du unten, ich oben“, sagte Maier vierzehn.

    Sofort rannte Maier vierzehn die Holztreppe in den ersten Stock.

    Markus betrat den Raum rechts. Es war so eine Art Büro. Jedenfalls standen ein großer Schreibtisch in der Mitte und ein kleinerer Schreibtisch, mit einer mechanischen Adler-Schreibmaschine neben der Tür. Auf dem großen Schreibtisch stand ein großer, schwarzer Telefonapparat. Überall auf dem Schreibtisch und über den Boden lagen Papierbogen verteilt. Das Büro musste fluchtartig verlassen worden sein. Maier zwölf trat über geöffnete Ordner und Briefe, auch Stempel lagen verstreut. Nur wenige Ordner standen noch auf ihrem Platz im Regal hinter dem kleinen Schreibtisch. Markus blickte unter die Schreibtische und öffnete auch die Rollos der Tische.

    Hier war niemand versteckt, und es gab auch keinen Sprengstoff. Er ging langsam auf die Tür im Hintergrund zu und trat sie auf. Dieser Raum diente offensichtlich als Depot oder Lager. In der Regalen an den Wänden lagen ordentlich verpackte Papierpakete, Briefpapier, bräunliche Kuverts. Auf der anderen Seiten standen landwirtschaftliche Geräte und neben der Tür ein altertümliches Faxgerät. Einen Keller oder eine versteckte Falltür gab es auch hier nicht. Markus trat zurück in das Büro. Er ergriff einen der Briefe auf dem Schreibtisch. Markus las ihn. Er war in französischer Sprache geschrieben und irgendjemand hatte eine Anfrage. Eher unbewusste griff Markus einen Stapel Papiere. Er faltete sie zusammen und steckte sie in seine Oberschenkeltasche. Gerade als er das Büro verlassen wollte, polterte Maier vierzehn aus dem oberen Stock herunter.

    „Alles klar, Maier zwölf“, rief er.

    „Alles sauber bisher“, antwortete Maier zwölf.

    Gemeinsam betraten sie durch die nur noch notdürftig in den Angeln gehaltene Tür den Raum gegenüber dem Büro. Die beiden Männer warteten einen Augenblick, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es war eine Art Waschraum. Es gab ein schmutziges Waschbecken und ein typisches Plumpsklo. Fünf Holzspinte standen an der Wand. Schlösser dazu gab es keine.

    „Also weiter“, rief Maier vierzehn.

    Als sie auf die Straßen traten, waren sie von dem hellen Licht geblendet. Plötzlich hörten sie eine Gewehrsalve und dann eine zweite. Meier zwölf und Maier vierzehn schreckten zurück und gingen im Haus in Deckung. Markus machte ein Zeichen, dass sich Maier vierzehn in den hinteren Raum positionieren sollte. Er selbst blieb neben der Tür, das Gewehr schussbereit, in Deckung. Aber jetzt blieb alles ruhig. Er rief Maier vierzehn. Vorsichtig blickten sie auf die helle, staubige Straße.

    Nur die einzelnen Zweiergruppen, wenn sie ein Haus verließen und ein anderes betraten, waren zu sehen. Maier vierzehn markierte das Haus rechts neben dem Eingang mit einem Kreuz und einem Halbkreis darüber. Gemeinsam gingen sie weiter. Das nächste Haus ohne Kennzeichnung war klein. Es hatte keine Tür oder keine Tür mehr und bestand nur aus einem Raum.

    Markus betrat vorsichtig den Raum. Maier vierzehn ging um das Haus herum zu einem Stall dahinter. Der Raum war spärlich möbliert. Ein grauer Tisch mit mehreren Plastikstühlen stand mitten im Raum. Daneben ein uralter Elektroherd. Markus erinnerte sich an den Generator außerhalb des Ortes. Maier eins und Maier zwo hatten angehalten und das Aggregat unbrauchbar gemacht. Zwei Betten, übereinander gestellt, mit zerwühlten Decken standen an der Wand gegenüber der Eingangstür.

    Plötzlich hörte er ein leises Geräusch, das aus dem Schrank in der Ecke zu kommen schien. Leise ging Markus zu dem Schrank und riss die Schranktür auf. Das Gewehr hielt er schussbereit in der rechten Hand. Im Schrank saß ein kleines Mädchen und starrte ihn mit ängstlich aufgerissenen Augen an. Langsam falteten sich ihre Hände zu einer Bitte. Markus blickte auf das Mädchen, das auf dem Boden im Schrank saß. Langsam führte er seinen Zeigefinger und legte ihn auf seinen geschlossenen Mund. Sachte nickte das Mädchen. Markus schloss leise den Schrank. An der Tür traf er Maier vierzehn.

    „Alles klar?“

    „Alles klar!“ antwortete Maier zwölf. „Los weiter, zum nächsten Haus.“

    Maier vierzehn schaute Markus in die Augen. Er schob zweifelnd seine Unterlippe vor.

    „Warte vor dem Haus auf mich.“

    Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Er drückte Maier zwölf aus dem Haus. Markus blieb angespannt, an der Hauswand gelehnt, stehen. Trotz der Hitze und trotz des Schweißes fror er und hatte Gänsehaut. Keine Minute später hörte er eine Holztür zerbersten, dann einen kurzen kindlichen Schrei und sofort eine Salve aus einen Schnellfeuergewehr.

    „So, sauber!“

    Zufrieden trat Maier vierzehn auf die Straße. Er stellte sich vor Maier zwölf:

    „Wusste ich es doch.“

    Er nahm seine Kreide und malte ein großes weißes Kreuz neben die Tür und zog einen Halbkreis darüber.

    Wortlos gingen sie zum nächsten Haus ohne Kreidezeichen.

    Ab und zu hörte man Schreie und Schüsse. Dann blieb es ruhig, gespenstisch ruhig.

    Man konnte die Hitze fühlen und flimmern sehen. Und man konnte Angst und Blut riechen.

    Später saßen die Soldaten im Schatten des Lastwagens und warteten.

    „Aufstehen und antreten“, schrie Maier eins.

    „Irgendwelche Vorkommnisse?“ fragte der Kommandant.

    Maier vier trat einen Schritt vor und salutierte.

    „Ich bin von einer Frau mit einer Machete angegriffen worden“.

    Er zeigte auf seinen linken Oberarm. Der notdürftige Verband war durchgeblutet, aber die Blutung stand.

    „Den Feind abgewehrt und liquidiert.“

    „Gut gemacht, Maier vier“, lobte Maier eins.

    „Maier zwo, versorgen sie die Wunde“.

    Maier zwo salutierte und ging zum Toyota.

    Meier eins schaute weiter über die Reihe.

    Maier neunzehn trat einen Schritt vor und salutierte.

    „Zweimal von einem Feind mit Machete angegriffen worden. Beide Angriffe abgewehrt und die Situation bereinigt. Keine Verletzung und keine weiteren Vorkommnisse“.

    Meier neunzehn stand stramm. Er salutierte erneut und trat zurück ins Glied.

    Maier sechzehn trat vor.

    „Eine Feindberührung, die Situation geklärt. Sonst keine besonderen Vorkommnisse.“

    Er salutierte und trat zurück.

    Maier vierzehn machte einen Schritt vorwärts und salutierte.

    „Eine kleine Feindberührung. Situation geklärt, gereinigt ohne Verluste oder Verletzungen.“

    Er salutierte nicht, und er trat auch nicht in die Reihe zurück.

    „Maier vierzehn! Gib es sonst noch Vorkommnisse?“

    „Jawohl, Maier eins.“

    Maier vierzehn machte eine Pause.

    „Ich hatte den Eindruck, dass Maier zwölf den Feind absichtlich übersah.“

    „Noch etwas, Maier vierzehn“, fragte Maier eins laut.

    „Nein!“

    „Danke, Soldat.“

    Maier vierzehn salutierte jetzt und stellte sich zurück in die Reihe.

    Maier eins stellte sich vor Markus.

    „Maier zwölf, vortreten!“

    Maier zwölf trat einen Schritt vor und salutierte strammstehend.

    „Was haben sie dazu zu sagen?“

    Maier eins schob seinen Kiefer drohend vor.

    „Nichts, Maier eins“, sagte Maier zwölf fest.

    „Maier zwölf!“

    Maier eins machte eine gefährliche Pause.

    „Maier zwölf! Das ist eine schlimme Anschuldigung. Äußern sie sich.“

    Diese Aufforderung war ein Befehl und erlaubte kein Ausweichen.

    „Ich bin kein Mörder! Maier eins.“

    Markus antwortete steif. Sein Blick ging starr geradeaus. Bei der Vorstellung, was in dem Raum geschehen war, wurde es ihm fast übel.

    „Maier zwölf! Sind sie wahnsinnig? Wir sind keine Mörder. Keiner von uns. Wir sind Soldaten im Kriegszustand.“

    Die Stimme von Maier eins überschlug sich fast. Speichel spritzte und traf Markus im Gesicht. Dieser verzog keine Miene.

    „Das war ein kleines Mädchen. Keine fünf Jahre alt. Das bringt man doch nicht einfach um.“

    Markus wusste genau, dass die Situation zu seinem Nachteil kippen konnte.

    „Wir sind keine Mörder! Verdammt noch einmal! Wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen. Aus dem Mädchen wird später eine Terroristin und eine Gefahr.“

    Die Kopf und der Hals von Maier eins verfärbten sich unnatürlich rot.

    Markus konnte es nicht lassen:

    „Unsere Mission ist auf zwei Jahre beschränkt, so sagt man wenigstens, dann ist das Mädchen vielleicht sieben oder acht Jahre alt, aber niemals eine Terroristin oder eine Gefahr.“

    Die Augen von Maier eins traten hervor. Er sagte nichts. Er blickte nur in die Augen von Maier zwölf. Dieser blickte unverwandt zurück. Zwei Männer maßen sich.

    „Meier zwölf“, Maier eins sprach jetzt ruhig und leise, „wir wissen nicht, ob dieses Mädchen irgendwann, mit einem Sprengstoffgürtel auf eine belebte Straße oder einen Markt geschickt und dort in die Luft gejagt wird.“

    Markus holte Luft, um eine Antwort zu geben.

    Maier eins trat dicht vor ihn hin. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Markus spürte die Hitze des Gesichts von Maier eins, und umgekehrt war es wohl ebenso.

    „Maier zwölf, sie halten jetzt ihren Mund. Sie sagen kein Wort mehr. Das ist ein Befehl. Ist das klar?“

    Maier eins hatte leise gesprochen, fast geflüstert.

    „Jawohl, Maier eins“, brüllte Markus ihm ins Gesicht.

    Maier eins wich keinen Millimeter zurück.

    Markus salutierte und trat an seinen Platz zurück.

    „Aufsitzen und Abfahrt“

    Maier eins ging zum Toyota, nachdem er Maier zwei ein entsprechendes Zeichen mit dem Kopf gegeben hatte.

    Spät am Nachmittag kamen die Fahrzeuge im Camp an. Auf der gesamten Fahrt war kein Wort gesprochen worden. Müde sprangen die Männer von der Ladefläche.

    Maier eins stand schon bereit.

    „Angetreten!“

    Die Soldaten murrten und fluchten innerlich, stellten sich aber sofort auf und bildeten zwei Reihen.

    Maier eins stand stramm. Er schwieg lange. Dabei blickte er jeden einzelnen an. Der kleine rote senkrechte Strich unterhalb der Unterlippe wippte auf und ab. Maier eins achtete peinlich darauf, dass sein Bart immer gut getrimmt war. Der Befehlshaber hatte sich so positioniert, dass den Männern die tief stehende Sonne genau ins Gesicht und in die Augen schien. Er selbst hatte sie im Rücken. Die tief ins Gesicht gezogenen Helme und die Sonnenbrillen halfen wenig, die Augen brannten. Auch vom Schweiß und vom Staub.

    Maier zwölf spürte die Wut und Abneigung seiner Kameraden. Auch er wünschte sich jetzt eine Dusche, auch wenn sie nur lau war.

    „Männer“, sagte Maier eins leise.

    „Männer!“ brüllte er das Wort jetzt.

    „Männer“, sagte er noch einmal, „wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen. Es ist eine spezielle Mission. Niemand weiß, dass wir hier sind und dass es uns gibt. Deshalb tragen wir auch keine Rangabzeichen, keine Namensschilder und auch kein Nationalitätenzeichen. Wir sind in geheimem Auftrag eingesetzt. Ich wiederhole ausdrücklich: Wir sind hier um eine geheime Mission zu erfüllen. Ihr seid bestausgebildete Elitesoldaten, und ihr seid speziell ausgewählt , weil ihr die besten seid. Jeder von uns muss jederzeit einhundert Prozent Einsatz bringen. Neunundneunzig Prozent sind zu wenig. Wer keine einhundert Prozent Einsatz bringt, gefährdet die gesamte Operation, gefährdet die gesamte Truppe, einzelne seiner Kammeraden und letztlich sich selbst. Unsere Aufgabe ist es, dieses Gebiet zu bereinigen, den Feind zu demoralisieren, zu schwächen und zu töten. Jeder hier ist ein potentieller Feind und Terrorist. Jeder, sage ich euch, Männer, Frauen, Junge oder Alte auch Kinder, jeder ist ein Feind und muss dementsprechend bekämpft werden. Männer, Soldaten, Kämpfer, tut alles, um den Feind zu destabilisieren, zu demoralisieren und zu liquidieren.“

    Maier eins machte eine Pause.

    „Habt ihr das verstanden?“

    „Jawohl, Maier eins“, schrien die Männer. Alle wollten in die Unterkünfte und ins Toilettenzelt.

    „Maier zwölf, sie melden sich in einer Stunde im Kommandozelt.

    Genau eine Stunde später betrat Maier zwölf das Kommandozelt. Er grüßte stramm. Maier eins saß geduscht, frisch rasiert und umgezogen hinter seinem Feldschreibtisch. Er ließ Markus einige Minuten stehen, ehe er ihm seine Aufmerksamkeit widmete. Wieder hüpfte der rote Bartstrich.

    „Ich will es kurz machen. Wir sind eine geheime Operation und diese Operation muss geheim bleiben und darf vor allem nicht gefährdet werden. Deshalb hat niemand von uns ein Handy, ein Laptop oder eine Digitalkamera. Es gibt nur ein Funkgerät, hier im Kommandozelt, mit einer Frequenz. Ich habe den Eindruck, dass Sie den Anforderungen dieser Aufgabe nicht gewachsen sind. Sie sind von allen weiteren Aktionen ausgeschlossen, mit dem nächsten Versorgungshubschrauber fliegen sie zurück nach Libreville. Sie haben absolutes Stillschweigen zu wahren, genau wie sie es schriftlich fixiert haben. Abtreten!“

    Maier zwölf salutierte und verließ das Kommandozelt.

     

    Sieben Jahre später

    “Markus, Markus“, Heideann kam suchend um die Ecke.

    Markus“, rief sie lauter.

    Ihr Mann saß im Liegestuhl und hatte die Ohrenstöpsel in den Ohren. Er hörte Musik. Sein Blick ging in die Ferne, durch den blauen Himmel ins Weite. Eigentlich sah er nichts, oder doch? Sein rechter Fuß wippte den Takt.

    Heideann ging zum Liegestuhl und kraulte Markus die Haare. Sofort riss er sich die Ohrstöpsel heraus und stellte die Musik aus. Er legte den Kopf in den Nacken um sie sehen zu können. Er musste blinzeln, denn jetzt schaute er direkt in die Sonne.

    Heideann ließ ihre beiden Hände langsam auf seine Brust heruntergleiten. Dabei beugte sie sich vor und legte ihre Wange auf seinen Kopf.

    Markus griff nach ihren Handgelenken und drückte sie fest an seine Brust. Wärme durchströmte ihn. Mit seiner rechten Hand zog er Heideann zu sich. Jetzt konnte er sie ansehen, ohne geblendet zu werden. Liebevoll betrachtete er ihren mächtigen, spitzen Bauch. Vorsichtig befühlte er ihre gespannte Haut.

    „Mein Baby“, sagte er.

    „Welches Baby meinst du?“ fragte sie lachend.

    „Meine drei Babys“, verbesserte er sich, ebenfalls lachend, „und euch zwei holen wir nächste Woche“, sagte er auf den Bauch zu.

    „Luisann kann man wohl nicht mehr als Baby bezeichnen. Sie wächst und wächst und hält mich ganz schön auf Trab.“

    „Meine süßen Babys bleiben immer meine Babys. Auch Du“, sagte Markus.

    Er stand auf und umarmte Heideann. Obwohl er seinen Bauch einzog, so richtig umarmen konnte er seine Frau nicht. Ihr Spitzbauch war einfach im Weg. Gerade als das Gewicht von Heideann wieder langsam nach unten ging, war sie wieder schwanger geworden, diesmal mit Zwillingen.

    „Markus, hast du heute Nacht schlecht geträumt? Du warst so unruhig“, fragte sie besorgt. Sie kannte die schlechten Träume von Markus.

    „Nein, eigentlich nicht. Nicht bewusst in den Morgen hinein“, antwortete Markus.

    „Hast du von dem kleinen Mädchen geträumt?“

    „Nein, nicht, dass es mir bewusst geworden wäre“.

    Markus blieb auch bei diesem Gedanken ruhig.

    „Nein, ich glaube nicht. Ich hatte schon lange keine schlechten Träume mehr. Es ist halt manchmal so, dass ich ihre großen, flehenden Augen und ihre gefalteten Hände sehe. Es ist, als sei etwas noch nicht abgeschlossen. Manchmal kommt mir ein Gedanke, nein es ist kein Gedanke, es ist so wie eine Ahnung oder Eingebung, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann, dass das Mädchen nicht ihre Ruhe gefunden hat.“

    Markus tätschelte Heideanns Bauch. Dann pikste er mit spitzem Zeigefinger in den vorstehenden Bauchnabel.

    „Glaub´ mir, ich freue mich auf zwei weitere Mädchen. Es werden doch Mädchen?“

    Er schaute Heideann fragend an.

    „Wenn man dem Gynäkologen glauben will und der Ultraschall nicht gewaltig täuscht, dann ja“, lächelte sie. „Ich habe so ein Gefühl, dass es Mädchen werden. Eine Frau spürt das.“

    „In zwei Wochen fliege ich nach München auf die Messe. Hoffentlich sind meine Mädchen dann alle Zuhause. Ich will unbedingt bei der Geburt dabei sein.“

    Er stellte sich im Kreissaal stehend vor. In jedem Arm ein schreiendes Mädchen.

     

    Markus blickte auf die Landschaft unter sich. Er hatte jedes Mal einen Knoten im Bauch, wenn das Flugzeug startete. Heute war es weniger schlimm. Das Wetter war sonnig und windstill. Wieder und wieder dachte er an seine Babys zu Hause. Es war alles gut gegangen. Mutter und Töchter waren wohl auf. Gott sei Dank. Linde und Dora waren glatt auf die Welt geflutscht und hatten wirklich kräftig geschrien, als die Hebamme sie in seine Arme legte. Die Hebamme hatte mehrere Fotoaufnahmen gemacht und meinte, der Vater könne stolz sein. Das sagt sie zwar immer, aber Markus hörte es trotzdem gern.

    Er griff sich eine der kostenlosen Wirtschaftszeitungen, die er vor den Abflug eingepackt hatte. Gelangweilt und ohne Interesse blätterte er. Hie und da las er einen Artikel an. Weiter hinten informierte der Hersteller von Fertighäusern über die neue Modepalette. Das interessierte ihn. Heideann und er hatten genau mit dieser Firma gebaut. Den Artikel über eine neuen Herrenmodeausstatter, La Torre, las er wieder oberflächlich. Er hatte sich schon vorher entschieden, die Kollektion nicht für sein Sortiment zu ordern. Vielleicht würde er, wenn noch Zeit war, über den Messestand von La Torre schlendern. Er blätterte lustlos weiter. Sein Blick fiel auf eines dieser unsäglichen Firmenportraits, bei denen man nie weiß, ist es ein Firmenportrait oder ein Inhaberportrait. Er wurde plötzlich steif und bekam eine Gänsehaut über den Rücken.

    Schnell riss er diese Seite heraus und legte sie sorgfältig gefaltet in seinen braunen Lederaktenkoffer. Den Rest des Fluges blickte er aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.

    Nachdem er seine Termine erledigt, abgearbeitet hatte, zog er sich auf sein Hotelzimmer zurück. Er verzichtete auf sein geplantes Abendprogramm. Obwohl er die Oper liebte und seit vier Monaten eine Karte hatte, verzichtete er darauf. Bis spät in die Nacht und darüber hinaus bis in den Morgen saß er am Computer. In der Mittagspause verpasste er sein Mittagessen. Er telefonierte sein Handy heiß. Heideann schimpfte schon, weil er nicht wie gewohnt bei ihr anrief und sie ihn selbst nicht erreichen konnte.

     

    Markus horchte auf das Klingelzeichen.

    „Security by Terhagen. Sie sprechen mit Frau Weiler. Was kann ich für sie tun.“

    „Guten Tag, mein Name ist Maier. Ich möchte Herrn Terhagen sprechen.“

    „In welcher Angelegenheit? Was kann ich ihm dazu sagen?“, fragte die Stimme von Frau Weiler.

    „Wir planen eine Hausmesse, konnten dafür einen Minister gewinnen und benötigen dafür einen entsprechenden Schutz.“

    „Ich kann sie mit Herrn Mahler verbinden. Er ist der Ansprechpartner in solchen Angelegenheit.“

    „Nein, bitte nicht. Der Minister hat ausdrücklich Herrn Terhagen empfohlen und empfohlen, mit ihm persönlich zu sprechen. Bitte verbinden sie mich mit Herrn Terhagen“, sagte Markus bestimmt.

    „Einen Moment bitte“, hörte er Frau Weiler sagen.

    Nach einer langen Minute meldete sich zackig, eine männliche klingende Stimme.

    „Terhagen, was kann ich für sie tun.“

    „Guten Tag, Herr Terhagen. Mein Name ist Maier. Sie sind mir empfohlen worden. Ich will es kurz machen. Wir sind ein mittelständisches Unternehmen der Elektroindustrie und planen eine Hausmesse. Unser Wirtschaftsminister hat sein Kommen zugesagt. Zusätzlich wird eine Delegation aus Israel erwartet, und wir sind für die Sicherheit verantwortlich.“

    „Ja, ich verstehe. Wer hat unsere Firma empfohlen?“

    „Der Innenminister hat ausdrücklich ihren Namen genannt.“

    Es trat eine Pause ein. Markus hörte, wie Terhagen Seiten umblätterte.

    „Ich kann ihnen den 20. Mai um 14 Uhr als Termin anbieten. Passt das Ihnen?“

    „Nein, überhaupt nicht. Ich fliege gegen 22 Uhr zurück und möchte sie heute noch sprechen.“

    „Kommen sie um 19 Uhr in mein Büro.“

    „Wieder muss ich nein sagen. Die Sicherheitsorganisation wird über unser Büro in Haifa abgewickelt. Sie verstehen? Deshalb treffen wir uns auf der Wupperbrücke um 15 Uhr. Ich werde sie ansprechen. Es wird ein umfangreicheres Projekt werden.“

    „Gut. Ich werde auf Sie warten.“

    „Danke, Herr Terhagen, bis in einer Stunde.“

    Markus drückte die rote Taste auf seinem Handy. Dieses Handy hat er sich auf dem schwarzen Markt für dieses Gespräch besorgt. Er entnahm die SIM-Karte und vernichtete sie. Das Handy warf er in eine graue Tonne.

    Um 14 Uhr 54 stieg Markus an der Haltestelle Pestalozzistraße aus dem Bus und schlenderte in Richtung Wupperbrücke. Er sah einen Mann in mittelgrauen Anzug am Geländer gelehnt stehen. Einen schwarzen Ledergeschäftskoffer stand neben ihm abgestellt. Der Mann wirkte schlank und durchtrainiert. Markus ging nun zielstrebig auf den Mann zu.

    „Herr Terhagen, nehme ich an.“

    „Ja.“

    Der Mann drehte sich zu Markus. Unsicheres Wiedererkennen im Blick sagte er: „Maier zwölf?“

    „Richtig, Maier vierzehn. Gut, dass Sie sich erinnern.“

    Interessiert schaute Maier vierzehn auf seinen Gegenüber, den er als Maier zwölf kannte.

    „Wie geht es ihnen, Maier vierzehn.“

    „Gut, ich bin zufrieden. Wie geht es ihnen, äh, Maier zwölf“

    „Auch gut, soweit. Wie geht es Maier eins?“

    Terhagen oder Maier vierzehn blickte Markus prüfend an, dann lachte er trocken. Noch einmal lachte er freudlos. Diesmal war das Lachen eher ein Schnauben.

    „Auf der Rückfahrt vom Versorgungshubschrauber, übrigens der Flug, mit dem sie ins Hauptquartier nach Libreville geflogen wurden, geriet der Lastwagen in einen Hinterhalt. Maier zwei, Maier vier und Maier zehn wurden erschossen. Meier eins wurde die Kehle durchtrennt. Wir haben die Leichen am nächsten Morgen auf der Zufahrtsstraße zum Lager gefunden. Der Lastwagen mit dem Nachschub wurde gestohlen. Die gesamte Operation wurde daraufhin abgebrochen und das Camp aufgelöst.“

    Terhagen lehnte sich wieder auf die grün gestrichen Brückenbrüstung. Damit kehrte er in die Gegenwart zurück.

    „Wie ist Ihr Name, und was kann ich für Sie tun? Meine Sekretärin sagte, es handle sich um eine Sicherheits- und Personenschutzaktion?“

    Markus stellte sich dicht neben Maier vierzehn, fast berührten sich ihre Schultern. Er stützte sich ebenfalls auf die Brüstung. Beide starrten auf das gleitende Wasser.

    „Maier zwölf sollte genügen. Und tatsächlich handelt es sich um eine Personenschutzangelegenheit.“

    Markus nestelte an der Innentasche seine Jacketts und reichte Maier vierzehn einen Boden Papier.

    Terhagen griff nach dem Papier ,faltete es auf und las. Verständnislos blickte er zu Markus. „Ich verstehe nicht.“

    Er blickte erneut auf den Fax-Auszug mit seinem Bild, seiner Firmenadresse und seiner Privatadresse.

    „Können Sie mir das erklären?“ fragte er immer noch verständnislos.

    „Klar kann ich das.“, antwortete Markus locker, „Ich habe im Flugzeug Ihr Firmenportrait und vor allem Ihr Bild gesehen. Ich habe Sie sofort wiedererkannt, Maier vierzehn. Daraufhin habe ich mir mehrere Nächte um die Ohren geschlagen. Ihre Adresse herauszufinden, war nicht schwer. Schwieriger war es, mit dem Bürgermeister eines kleinen, mir unbekannten, Dorfes in Afrika in Kontakt zu treten. Als der Kontakt bestand, wurde er allerdings sehr lebhaft. Besonders die Familie des kleinen Mädchens war außerordentlich interessiert. Sie erinnern sich: das kleine Mädchen im Schrank? Sicher!“

    „Und Sie haben mein Bild und meine Adresse nach Afrika in das Dorf gefaxt?“

    „Ja, wahrscheinlich noch dasselbe Faxgerät, das damals im Nebenraum stand.“

    Markus war völlig emotionslos, obwohl er die Bestürzung und die Angst bei Maier vierzehn spürte, als diesem die gesamte Bedeutung klar wurde. Dieser drehte sich abrupt zu Maier zwölf und packte ihn am Oberarm. Markus wurde geschüttelt.

    „Aber wir waren damals im Krieg!“, schrie Maier vierzehn voller Panik. „Das ist doch vorbei. Wir haben keinen Krieg mehr.“

    Waren wir wirklich im Krieg damals? Im Krieg gegen wen? Sicher nicht im Krieg gegen das kleine Mädchen, übrigens: Sie hieß Hmgali. Haben Sie nie darüber nachgedacht, was wir damals gemacht haben? Wir waren nichts anderes als Söldner. Söldner der Bundesrepublik Deutschland, an den Meistbietenden verschachert. Das war bei uns so, und es ist heute noch so. Wer am meisten bietet, dem wird militärische Hilfe zu humanitären Zwecken, auch zum Töten Unschuldiger angeboten.“

    Die Augen von Terhagen waren angstvoll aufgerissen. Schweiß stand ihm im Gesicht.

    „Wissen Sie, was Sie da gemacht haben?“

    Seine Stimme überschlug sich.

    „Ja! Man muss fest davon ausgehen, dass sich die Familie von Hmgali jetzt im Krieg befindet. Im Krieg gegen Sie, Maier vierzehn.“

    Terhagen war kaum in der Lage zu antworten. Stotternd sagte er: „Aber, aber, wenn die nach Deutschland kommen und mich suchen, werden sie mich finden.“

    Jetzt verspürte Markus Genugtuung und Triumph.

    „Davon ist fest auszugehen“, sagte er kalt, „aber Sie sind ja Spezialist in Personschutzangelegenheiten: Security by Terhagen. Ich glaube, ihre Nächte werden furchtbar werden, Maier vierzehn.“

    Mit diesen Worten drehte sich Markus um und schlenderte zur Bushaltestelle.

    Terhagen blieb fassungslos an der Brückenbrüstung hängen.

     

    Sieben Wochen später.

    Markus war früh durch das Gezwitscher der Vögel aufgewacht. Fröhlich trat er vor die Haustür. Er blickte zum dämmrigblauen Himmel. Die Sonne würde gleich hinter den Baumspritzen empor kommen. Er genoss die frühmorgendliche Kühle und atmete tief durch. Als er die Samstagszeitung aus dem Briefkasten fischen wollte, bemerkte er einen Zettel auf dem Boden liegen. Markus hob den Zettel auf. In ungelenken Druckbuchstaben stand das Wort: D A N K E. Durch einen kleinen Riss war ein Blümchen gezogen.

    Markus atmete tief durch. Irgendwie konnte er besser atmen. Er fühlte sich schwebend.

    In den nächsten Tagen würde er keine Zeitung lesen oder Nachrichten hören.

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

     

     

     

     

     

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    Es war noch früher Abend, trotzdem war es schon dunkel, fast finster. Der kühle Wind trieb dichte Regenschwaden durch die menschenleeren Straßen. Wenn dennoch jemand unterwegs sein musste, eilte er tief nach vorne gebeugt unter einem Regenschirm, der eng vor den Körper gehalten wurde, mit hochgestelltem Mantelkragen nach Hause. In den Wasserlachen doppelten sich die Lichter, ohne dass es heller wurde. Die Straßenbahn ratterte quietschend durch die verlassenen Straßen.

    Ein Mann saß mit Schulter und Stirn an die kühle Scheibe gelehnt. Außen erschienen tausende von Tropfen, die sich trafen und als kleine Bäche schnell die Scheiben hinunter eilten. Über die Backen des Mannes floss ebenfalls ein kleiner Bach. Die Tränen tropften vom Kinn auf seine Hose. Der Mann blickte leer durch das Fenster nach draußen, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Als die Straßenbahn hielt, stand er auf und stieg aus. Einen kurzen Moment stand er, dann wendete er seine Schritte in Richtung Pier. Der heftige Regen hatte aufgehört. Es nieselte nur noch unangenehm kalt. Der Mann sollte eigentlich frösteln, nur mit einem leichten Shirt bekleidet, aber es war ihm heiß, er schwitzte sogar zwischen den Schulterblättern. Ohne auf die Pfützen zu achten, ging er langsam zum Wasser hin. Seine fransig getretene Jeans zog Wasser. Er achtete nicht darauf. Seine Schritte klangen leise hallend, als er am Meer entlang ging. Er fühlte sich einsam und allein. Sein Blick suchte immer wieder das Weite und den unsichtbaren Horizont. Leichter Neben stieg vom Wasser auf. Es war nun windstill,und die Straße lag ruhig und verlassen. Jetzt blieb der Mann stehen und starrte, seine Unterarm auf der nassen gusseisernen Brüstung aufstützend, ins Leere.

    „Annett, warum hast du mich verlassen?“

    „Warum so plötzlich? Ich konnte nicht einmal mehr Adieu sagen.“

    „Ach, Annett, Liebste, warum bist du weg, einfach weg, für immer weg von mir?“

    Diese Fragen stellte er sich immer wieder und wieder, ohne eine Antwort zu finden.

    Diese Gedanken kreisten in seinem Kopf. Immer wieder. Es gab keine Antwort. Es gab keinen Trost. Das Einzige, was er spürte, wirklich spürte, war dieser zerreißende Schmerz in seinem Inneren. Der Mann fühlte sich leer, einsam, unsagbar einsam und traurig. Er blickte weiter auf das ruhig Wasser mit seinem weißen Nebelhauch.

    „Komm, komm zu mir, schien es zu sagen, komm zu mir. Bei mir ist es weich und warm. Hier bist du geborgen, für immer. Und vielleicht bist zu Annett ganz nah. Komm, es ist nur ein kleiner Schritt. Ein ganz kleiner Schritt.“

    Der Mann hörte die lockenden Worte ganz deutlich. Wieder blickte er auf das dunkle Wasser mit seinem Hochzeitsschleier.

    „Ja, das ist die Lösung.“

    „Ja, Annett, ich komme“, sagte der Mann laut.

    Hinter sich hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde. Musikfetzen trieben zum ihm. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und es war wieder ganz still. Ali las er über dem Eingang. Langsam und schwer ging er hinüber, öffnete die Tür und betrat das schmuddelige Lokal. Wieder hörte er die Musik, die aus einem Fernsehgerät in der Ecke kam. Er sah einige Menschen drum herum sitzen und auf die Bilder sehen. Er trat an die klebrige Bar. Ein junger dunkelhaariger Mann kam zu ihm, den Blick nicht vom Fernsehapparat zu wenden.

    „Einen Schnaps, bitte. Einen Doppelten“, bestellte der Mann. Wortlos stellte der Junge das Gewünschte auf die fleckige Platte und verschwand. Vor sich hin starrend trank der Mann den Schnaps in kleinen Schlucken. Er bestellte noch einen und dann noch einen und dann noch einen doppelten Schnaps. Der Störungen leid stellte der Junge die Schnapsflasche neben das Glas und ging zurück in die Ecke mit dem Fernsehgerät.

    Irgendwann später, die Flasche war ziemlich leer, klemmte der Mann einen Geldschein unter die Flasche. Unsicheren Schrittes verließ er das Lokal. An der Brüstung stehend blickte er auf das Wasser. Jetzt war es dunkle Nacht. Das rote Licht der Hafeneinfahrt spiegelte herüber. Der Mann hörte die verlockenden Worte, dem Gesang der Sirenen gleich. Die Fäuste krampften sich zum Sprung um das Geländer. Plötzlich spürte er einen feucht-schwitzigen Körper neben sich. Der Mann roch einen Atem, nach Knoblauch, Schnaps und kaltem Zigarettenrauch stinkend. Ein schwerer Arm mit einer riesigen feuchten Hand legte sich väterlich um seine Schultern. Der Mann blickte auf und sah in ein breites, fettiges Gesicht, mit einem mächtigen schwarzen Bart über der Oberlippe. In den langen Barthaaren klebten Schweiß und Speicheltropfen. Mit hartem türkischen Akzent sagte er, „Mein Freund, wir gehen wieder hinein. Du wählst den falschen Weg. Wir trinken noch ein Glas zusammen. Dann erzählst du mir alles.“

    Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er den Mann mit seinem kräftigen Armen zurück in das wärmend Lokal. Die Flasche stand noch am selben Platz. Ali holte noch ein Glas und füllte die Gläser. Das hob er sein Glas und beide tranken in einem Schluck aus. Wieder füllte Ali die Gläser. Dann sagte er, „Sprich, du bist unter Freunden.“

     

    Am nächsten Morgen wurde der Mann durch einen heftigen Tritt geweckt. Er lag auf einem Haufen Decken in einer Ecke. Der Mann öffnete die Augen und schloss sie sofort geblendet wieder. Jetzt bemerkt er den pochenden Schmerz im Hinterkopf und in den Augen. Er fühlte sich kräftig hochgerissen und auf die Füße gestellt.

    „Ayda hat dir ein Frühstück gemacht. Setz dich an den Tisch.“

    Der Mann wurde stützend durch die Tür nach draußen geschoben. Blinzelnd schaute er sich um. Die Sonne schien warm an diesem frühen Morgen. Normale Geschäftigkeit wogte um ihn herum. Menschen gingen zur Arbeit, Autos fuhren an ihm vorbei. Große Lastschiffe fuhren langsam auf das Meer hinaus. Der Mann erblickte jetzt, dass eines der kleinen Tischchen, die an der sonnenbeschienen Hauswand entlang aufgestellt waren, für ein Frühstück gedeckt war. Er wurde an den Tisch gesetzt. Vor ihm standen warme Croissants und frische Brötchen. Auf einem Teller war scharfe Salami mit Schafskäse angerichtet. Es gab Butter, Honig und Marmelade.

    Ali stellte eine Tasse extra starken Kaffee vor ihm auf den Tisch.

    „Schau, ein neuer Tag ist wie ein neues Leben. Wenn es dir wieder einmal schlecht geht, dann komm. Hier bist du unter Freunden“.

     

    In meinem ganzen weiteren Leben, immer wenn es mir schlecht geht, spür ich den feucht-schweißigen Körper, die mächtige fleischige Hand und rieche den Atem, der nach Knoblauch, Schnaps und kaltem Zigarettenqualm stinkt.

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger