Autor: Ulrike Wendt

  • „Das Wasser sucht sich seinen Weg“, sagte der Dachdecker, als er die Ursache für die Feuchtigkeit in der Küchenwand herausfinden sollte. Das lag Jahrzehnte zurück. Den Satz allerdings vergaß ich nie.
    Es geht um in Kisten verpackte Bücher. Nicht alle Bücher benötigt man ständig. Die man gerade nicht liest, stellt man in Regale, damit sie jederzeit griffbereit sind. So ist es im Allgemeinen und so ist es auch bei mir.
    Je mehr Bücher sich bei mir ansammelten, desto voller wurden auch die Regale im Haus. Das führte dazu, dass etliche Bücher, die, von denen ich mich nicht trennen mochte, die aber doch noch weiter für mich und im Allgemeinen von Bedeutung sind, oder sein können, oder vielleicht sein werden, wer trennt sich schon von Büchern, zumal sie so viel beinhalten, einen Verbleib haben mussten.
    Für die fortgesetzte Aufbewahrung aller Bücher spricht auch, dass man denen Respekt zollen muss, die sie geschrieben haben, denen, die sie lektoriert haben und Respekt vor dem bedeutenden Inhalt der Werke haben muss, natürlich. Dem Inhalt, einem wesentlichen Bestandteil unseres gemeinsamen kulturellen Erbes, gilt dieser Respekt in erster Linie, das muss betont werden.
    Wohin also mit diesen Büchern?
    Mit schlechtem Gewissen entfernte ich sie aus meinem akuten Radius und legte sie in Kisten, in sehr gute, in sehr stabile Kisten, in Kisten aus wunderbar fester Pappe. Ich achtete darauf, dass nicht zu viele Bücher in den nicht zu großen Kisten Aufenthalt erhielten, wegen des Gewichtes und wegen der Möglichkeit des fortgesetzt einfachen Zugriffs. Die Kisten lagerte ich in dem gut belüfteten Keller, stapelte sie vorsichtig, so dass ich wusste, welche Inhalte wo waren.
    Ich muss gestehen, dass während der Verbringung meiner ausgelagerten Schätze in Kisten mein Herz schwer wurde. Auf keines der Werke mochte ich verzichten. Durfte ich sie so behandeln? Besonders ans Herz waren mir die Enzyklopädien gewachsen. Enzyklopädien, die voluminös und platzgreifend waren und das gesammelte Wissen von Generationen beinhalteten. Da waren Enzyklopädien zum Allgemeinwissen, aber auch vielbändige Werke zu verschiedenen Spezialgebieten wie der Kunst und der Literatur. Ja, die zur Literatur konnte ich nur verkisten, nachdem ich noch einmal mit strengem Blick die Regalsituation in den Arbeitszimmern, in meinem und in dem meines Mannes studiert hatte und wirklich keinen Platz dafür entdeckte. Ich tröstete mich, denn die Auslagerung war ja nicht endgültig. Ich wusste ganz genau, wohin ich die Kisten verbracht hatte und würde einfach Zugriff bekommen, wenn ich das Bedürfnis danach haben würde.
    Wir wollen hier keinen Exkurs über die ausufernden Recherchemöglichkeiten im worldwide web unternehmen, da die Kränkung für die wunderbar gedruckten Werke zu groß wäre und auch, weil meine Treulosigkeit zu den Enzyklopädien, indem ich diese elektronische Informationsquelle nutze, mir wirklich unangenehm ist.
    Auf diese Weise hatte ich das Bücherproblem gelöst. Kein überwältigend großes Problem, aber immerhin eine Sache, die mich einige Zeit und die passende Aufmerksamkeit gekostet hatte.
    Dass es lange regnete, war unübersehbar. Es regnete Tage und Wochen und Monate. So war es. Wir fuhren ein paar Tage fort und kamen erholt zurück, ein wenig durchgeregnet zwar, bis auf die Haut, um genau zu sein, aber daran hatten wir uns gewöhnt. Wir wollten unsere Sachen gerade ausziehen, um sie in die Waschmaschine zu legen, da bemerkten wir den Einbruch.
    Es war ein Wassereinbruch. Es waren nicht nur die Flüsse der Stadt randvoll, sondern das Wasser hatte seinen Weg zusätzlich in unseren Keller, in unseren Bücherkeller gefunden.
    Es stand da wortlos, klar und kühl und zentimeterhoch herum, still, unbewegt, mit großer Gelassenheit und, so kam es mir vor, sehr selbstbewusst.
    Natürlich schöpften wir, bis das Wasser verschwunden war. Es war vom Boden verschwunden, und nun machten wir uns an die Kisten.
    Sie waren zentnerschwer geworden und daher absolut unbeweglich, die Kisten. So hatte ich sie nicht hinterlassen. Auch mit ganzer Kraft waren sie nicht zu verrücken. Sie waren in ihrer unteren Hälfte dunkelbraun-schwarz verfärbt, mit Wasser vollgesogen. Bei näherer Betrachtung waren etliche an den Nähten zusätzlich geplatzt, diese ursprünglich so zuverlässigen Kisten.
    Beim Öffnen der gerade noch beweglichen, weil einigermaßen trocken gebliebenen Deckel stieß ich auf meine Enzyklopädien. Etwas hatte sich in den Kisten zugetragen. Etwas war geschehen. Dieses Etwas hatte die Veränderung zu verantworten.
    Die Bücher waren eine Beziehung mit dem neu erschienenen Wasser eingegangen. Sie hatten sich auf das besonnen, was sie ihrer Natur nach waren. Sie hatten unter Missachtung aller Autoren und Verleger und mit Gleichgültigkeit für die Arbeit der Buchdrucker und Buchbinder im Kontakt mit dem  Wasser zu dem zurückgefunden, was sie ihrer Natur nach waren. Sie waren nämlich Zellstoff, sie waren Holz. In der Verbindung mit dem überraschend anrollenden Wasser hatten sie sich auf das glücklichste damit vermischt, eine Hochzeit gefeiert und das neu Hinzugekommene eingesogen, die Druckerschwärze missachtet und ihr Volumen auf das vorteilhafteste vermehrt, sich in eine schwere, ausufernde Papiermasse verwandelt. Mit solcher Begeisterung hatten die Bücher das Wasser aufgesogen, dass sie dabei ihr Volumen vermehrt, stark vermehrt, sehr stark vermehrt hatten, so dass die nun weich gewordenen Kisten dieser enormen Kraft der Masse nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Sie waren geborsten. Die Enzyklopädien, deren ehemaliger Inhalt noch auf den gewölbten Buchrücken zu lesen war, konnten von mir höchstens als in sich fest verbackene, blattlose Einzelstücke, als Einzelpakete, als Einzelmassen mit einiger Kraftanstrengung entnommen werden. Nicht weiter verwertbares Wasser entließen sie beim Anheben, damit es andere Bücher beglücken konnte.
    Mit den Büchern war es vorbei. Alle Forschungsergebnisse waren unlesbar geworden, das Lektorat war obsolet und auch vom Druck oder gar der Buchbinderei war nichts, aber auch gar nichts übriggeblieben.
    Das Wasser hatte die Regie übernommen. Sie war irreversibel.



  • Katrin und Roger hatten sich einfach sehr, sehr gern. Sie hatten sich so gern, dass sie alles gemeinsam unternahmen. Sie aßen zusammen, sie kochten zusammen, sie lasen zusammen, manchmal in einem Buch. Natürlich wohnten sie zusammen in einem Haus.
    Katrin liebte Roger und Roger liebte Katrin.
    Jeden Morgen, wenn sie erwachten, wenn sie gemeinsam erwachten, freuten sie sich, dass sie wieder einen Tag zusammen erleben würden.
    Das war nicht selbstverständlich. Katrin war nämlich sehr, sehr krank. Sie war so krank, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen, dass sie nicht mehr laufen konnte.
    Zum Glück war Roger ein erfahrener Ingenieur. Er plante, probierte, baute und konstruierte, damit Katrin trotz ihrer Krankheit das Bett verlassen konnte, wann sie das wünschte. Er baute kleine, aber sehr kräftige Kräne, die Katrin aus dem Bett hoben, ganz sacht.
    Er baute einen wunderschönen, zarten Rollstuhl mit goldenen Rädern, der mit feinem Surren.
    Katrin nach ihren Wünschen durch das Haus rollte, ganz sacht.
    Katrin war froh, dass Roger sie so gut versorgte, denn so konnte sie sich immerhin eine Weile in ihrem Haus bewegen. Längere Zeit ging das nicht, denn dafür war Katrin zu schwach.
    Manchmal rollte Katrin auf den Balkon, besonders im Sommer, wenn es warm war. Da hatte sie nämlich ihre Pflanzen. Das waren ihre Pflanzen, sie gehörten ihr ganz allein. Katrin hegte und pflegte die Pflanzen, die Tomaten, die Sonnenblumen und die Hortensien.
    Roger hatte nur einen Gedanken im Kopf: Er wollte Katrin alle Wünsche erfüllen. Er wollte sie glücklich machen.
    „Was wünschst du dir?“, fragte er wieder.
    Katrin wurde nachdenklich. Roger sah, dass sie traurig war. Da fragte er nochmal:
    „Was wünschst du dir? Sag es bitte.“
    „Mein größter Wunsch ist es, einmal das Meer zu sehen, den Strand zu fühlen, die Brandung zu hören, das wäre wunderbar“, sagte Katrin. „Leider ist das ja nicht möglich, aber es wäre sehr schön.“
    Roger wollte Katrin diesen Wunsch sehr, sehr gerne erfüllen, aber er wusste nicht, wie er sie ans Meer transportieren sollte. Katrin war einfach zu schwach. So kaufte er ihr Postkarten vom Meer, er kaufte große Bilder, die den Strand zeigten und hängte sie am Fußende des Bettes auf, damit Katrin sie sehen und sich daran erfreuen sollte. Er kaufte Sand in Säcken und verteilte ihn auf dem Balkon, damit Katrin das Gefühl von Strand haben sollte.
    „Ach“, sagte Katrin, „lass es bitte sein. Es macht mich noch trauriger, denn nun merke ich, dass ich niemals an das Meer kommen werde. Ich ertrage es nicht, dass du dich so anstrengst.“
    Katrin wurde in dieser Zeit langsam, aber zuverlässig immer schwächer, und bald konnte sie das Bett auch mit den Hilfen nur noch für kurze Zeit verlassen.
    Roger wurde immer sorgenvoller und trauriger. Er musste zusehen, wie seine Liebste verging.  Aber er gab nicht auf. Er plante und zeichnete, er baute und telefonierte.
    Eines Nachts schlief Katrin sehr unruhig, denn draußen ging ein großer Sturm. Er heulte und bebte, er ergriff das Haus so fest, dass sogar die Fensterrahmen rüttelten. Zudem war Roger fort. Er hatte sehr viel Arbeit. Katrin machte sich große Sorgen. Irgendwann schlief sie erschöpft ein. Als sie erwachte, war ihr Liebster wieder da.
    „Wo warst du? Es hat sehr stark gestürmt. Gut, dass du zurück bist!“, sagte Katrin erleichtert.
    Roger roch irgendwie fremd. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht in der Fabrikhalle gearbeitet.
    Als die Zeit für das Frühstück kam, zog Roger die Vorhänge des Schlafzimmers auf, wie immer.
    „Das Licht ist heute so hell, und was sind das für Maschinen draußen, die so komische Geräusche machen?“, fragte Katrin.
    Vorsichtig, sehr vorsichtig hob diesmal ihr Liebster Katrin in den Rollstuhl und rollte sie hinaus.
    Katrin verschlug es den Atem.
    Das Hinausrollen ging schwerer als sonst, denn die Reifen des Rollstuhles mussten im Sand laufen. Katrin sah sich um: Das Balkongitter war offen, der Weg führte direkt in tiefen, weißen Sand. Es war nichts als Sand zu sehen, Sand überall. Und dort vorne, direkt vor ihr, zum Greifen nah, da war Wasser, da war Wasser ohne Ende. Da war Wasser mit Wellen, die immer wieder den Strand hinaufliefen, sie rollten ruhig und doch entschlossen. Katrin sah den Sand und roch das Meer, sie hörte den Schrei der Möwe, und fern am Horizont erblickte sie große Schiffe.
    „Roger, wo sind wir? Wie hast du das nur geschafft?“
    Roger freute sich mit Katrin. Beide lachten laut und waren vor lauter Glück ganz aufgeregt.
    „Wenn wir nicht zum Meer gehen können, dann müssen wir einfach mit dem Haus zum Meer reisen, das hatte ich mir überlegt.“
    Und wirklich: Roger hatte es geschafft, das ganze Haus mit Katrin darin in die Luft zu heben, es von großen Transporthubschraubern über Nacht hier an den Strand tragen zu lassen.
    Das Haus stand nun wie selbstverständlich am Strand, am Meer.
    „Nimm das!“, sagte Roger zu Katrin und gab ihr eine zarte Kette aus Glasperlen in die Hand.
    Es war eine sehr besondere Kette, das merkte Katrin gleich. Die Perlen waren unterschiedlich groß, unterschiedlich geformt und schillerten im Licht in allen Regenbogenfarben. Durch sie hindurch zog sich ein metallisch glänzendes Band, das an beiden Enden der Kette mit filigranen Goldkügelchen befestigt war.
    „Wenn wir mit dem Haus auf unser Grundstück zurückkehren sollen, dann musst du nur das Band dehnen. Das Haus steht an diesem Ort auf dem Sand und kann daher ganz leicht zurück transportiert werden, wenn du dazu mit der Kette den Befehl gibst.“.
    Roger verriet nicht, dass das nur ein paar Mal funktionieren würde, denn die Mauern des Hauses waren nicht für ständige Luftreisen gemacht.
    Er und Katrin aber wussten, dass das nicht wichtig war.
    Solange Katrin lebte konnten die zwei nun immer wieder ans Meer reisen und dort gemeinsam kochen, essen und lesen, manchmal zusammen in einem Buch.