Autor: Walter-Uwe Weitbrecht

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    Eine schwarz-weiße Katze Paula lebte in einer Villa am Königsforst. Meist lag sie auf einer Heizung, schnurrte vor sich hin und genoss die Wärme. Sie bewunderte die apart gekleidete Hausherrin, die sie immer mit Seidenhandschuhen streichelte. Sie empfand dies als besonderen Genuss, auch wenn es manchmal funkte. Sie beschloss, ebenso vornehm zu werden. Sie trabte zum Maulbeerbaum und sprach mit den Seidenraupen: „Könnt ihr mir ein zartes, fast durchsichtiges Seidenkleid und Seidenhandschuhe für die Vorderpfoten spinnen?“

    Die emsigen Seidenraupe unterbrachen ihre Arbeit und piepsten: „Wenn du uns vor den Vögeln bewahrst, die immer wieder einige von uns fressen, dann erfüllen wir deinen Wunsch.“

    So bewachte die Katze den Maulbeerbaum und fauchte die Vögel an, so dass sich diese sich nicht mehr in die Nähe des Baumes trauten. Innerhalb von nur 2 Tagen spannen die Seidenraupen ein der Katze passendes Cocktailkleid und so feste Handschuhe, dass die Krallen nicht durchkamen. So hatte die Katze seidenweiche Pfoten. Die Handschuhe reichten, wie bei einer Braut, weit über das Gelenk hinaus. Die Katze betrachtete sich im Spiegel und dachte: ‚jetzt benötige ich nur noch ein paar hübsche Schuhe und ein feines Hütchen.‘ Die Katze borgte sich aus der Haushaltskasse ihrer Herrin einige Münzen und stolzierte in den Puppenladen. Für kleines Geld bekam sie ein Paar weiße Schuhe und ein Hütchen mit einem bunten Kunstblumenkranz. Etwas unsicher stakste sie mit ihrem Seidenkleid und den neuen Schuhen aus dem Laden. Durch das Schwanken verschob sich das Hütchen über die Augen, so dass sie den Kopf nach hinten beugen musste, um etwas zu sehen. Da hörte sie das hässliche Lachen des Schäferhundes des Nachbarn, der sie schon mehrfach mit Gebell auf den Baum gejagt hatte.

    „Karneval ist doch erst in fünf Monaten“, gluckste er und begann zu grölen: „supergeile Zick….“

    Paula hielt den Hut mit einer Pfote fest und beschleunigte ihren Schritt, um schnell nach Hause zu kommen. Der Hund hüpfte hinter ihr her, sang weiter Karnevalslieder und schüttelte sich immer wieder vor Lachen. Paula war froh, als die Haustür hinter ihr zuschlug. Als die Hausherrin Paula sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Wer hat dich denn so zugerichtet?“

    Als Paula sie mit großen Augen ansah, begann sie zu lachen und kam erst zur Ruhe, als ihr die Luft weg blieb. Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen und fragte: „wie willst du in diesem Aufzug die Mäuse fangen, die sich wieder auf dem Dachboden eingenistet haben?“

    Stolz wie Paula war, stieg sie mit Hut, Kleid, Handschuhen und Stiefelchen auf den Dachboden und versuchte, die Mäuse zu jagen. Als dies misslang, da sie sie ohne Krallen die Mäuse nicht halten konnte, legte sie die Kleidung ab.

    Ein wenig traurig sprang sie später auf die Heizung, legte den Kopf auf die Pfoten, schnurrte und genoss die Wärme. Sie tröstete sich, es sei besser nützlich als vornehm zu sein.

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    Hubert wurde in den Sessel gepresst, als sich die Landeeinheit vom interstellaren Raumschiff löste,

    in dem er die letzten sieben Monate zugebracht hatte. Es war eine Zeit mit Höhen und Tiefen. Er vermisste nun doch seine Familie, was er in der Trainingsphase nicht geglaubt hatte. Es war sein Jugendtraum, der erste Mensch auf dem Mars zu sein. Diesen hatte er sich jetzt erfüllt. indem er sich von einem internationalen Konsortium in den Raum hatte schießen lassen. Professor Unsicher, der Leiter der Mission war froh, einen Kandidaten gefunden zu haben, der das Risiko einging, alleine zum Mars zu reisen. Bei der Einführung in die Technik des Raumtransporters und des Landemoduls erklärte er stolz:

    „Ich habe für Sie den besten Computer aller Zeiten für die Reise bereitgestellt. Jouf-M wird sie begleiten und unterstützen. Mit seiner künstlichen Intelligenz und seinen redundanten Systemen, kann er sich auf alle Situationen einstellen und er ist mit allen Daten gefüttert, die für eine solche Mission erforderlich sind.“

    Dennoch konnte es sein, dass, wenn etwas schief lief, Hubert nie wieder auf die Erde zurückkehren konnte. Aber daran wollte er nicht denken. Er glaubte an die Perfektion der Organisation U-Space Experiences, die diese bei mehreren Weltraummissionen bewiesen hatte. In den Bereich der Landezone auf dem Mars, in der nach allen wissenschaftlichen Befunden gefrorenes Wasser im Untergrund zu erwarten war, hatten sie in mehreren vorausgegangenen Missionen Material deponiert, das eine vorübergehendes Überleben ermöglichen sollte, bis eine eventuell notwendige Rettungsmission möglich geworden wäre.

    „Hubert, du siehst besorgt aus,“ meldete sich Jouf-M, der Computer mit sanfter aber emotionsloser Stimme. Hubert hatte während der langen Reise Freundschaft mit dem KI-Rechner geschlossen.

    Hubert blickte durch das Fenster der Landefähre auf die karge Stein- und Sandlandschaft, die sich mit großer Geschwindigkeit näherte. „Wir bewegen uns zunehmend auf die Landezone zu, aber ich kann das Material nicht sehen. Stimmen die Koordinaten?“

    „Meine Berechnungen ergeben, dass wir uns direkt dem Zielgebiet nähern,“ antwortete Jouf-M gleichmütig.“

    Hubert schwieg die nächsten Minuten, obwohl ihn der Zweifel beunruhigte. Plötzlich gab es einen Ruck und Landefähre schien bremsen.

    „Was war das, Jouf-M?“

    „Ich habe entsprechend den Höhenmessungen die Bremsfallschirme ausgelöst!“ hauchte Jouf-M.

    Hubert blickte verwundert auf die Instrumente: „Die Bremswirkung ist wieder Erwarten groß. Ist die Dichte der Atmosphäre in dieser Region höher, in den übrigen Bereiche des Mars?“

    Nach kurzem Zögern referierte Jouf-M: „Die Messröhrchen ergeben eine Zusammensetzung CO² 0,05 %, Argon weniger als ein Prozent und O² ca. 19%.“

    Hubert riss die Augen auf und runzelte die Stirn: „Nach meiner Erinnerung müssten es mindestens 94% CO² und ca. 0,14% O² sein. Was ist da los?“

    Aus dem Lautsprecher des Computer kam ein undefinierbares Rauschen. Jouf-M sprach monoton: „ich prüfe, ob die Sicherheitslücken im Hauptprozessor gehackt wurden und zu Störungen der Berechnungen geführt haben. Ich zünde jetzt die Bremsraketen.“

    Hubert verspürte erneut einen Ruck. Dann landete die Fähre sanft auf sandigem Boden. Die Landschaft war karg mit rötlichen Felsbergen am Horizont. Die untergehende Sonne ließ die Atmosphäre rötlich aufleuchten.

    „Was ist nun Jouf-M?“ Hubert war ungeduldig, da er aussteigen und die Umgebung prüfen wollte. Er hatte den Helm des Raumanzuges in der Hand, um ihn aufsetzen zu können. Ohne Sauerstoffflasche und Schutz durch den Raumdruckanzug gegen die Staubstürme und den niedrigen Luftdruck konnte man sich auf dem unwirtlichen Mars nicht bewegen.

    Jouf-M meldete sich gleichmütig: „Die Sicherheitslücken sind in zwei von sechzehn Quadprozessoren gehackt worden und ein Fremdprogramm hat Einfluss auf die Berechnungen genommen. Die gute Nachricht ist die Atmosphärenmessungen stimmen, aber die Koordinaten nicht.“

    „Lässt sich das Problem lösen?“ Hubert fühlte sich etwas mulmig.

    „Ich zerstöre das Fremdprogramm und berechne neu,“ teilte Jouf-M gleichmütig mit.

    Da es nun völlig dunkel geworden war, beschloss Hubert bis zum Morgen im Schutz der Landefähre zu warten, zumal es nachts auf dem Mars bis zu -85° C kalt werden konnte.  Die Tages Temperaturen von bis zu 20° C waren eher auszuhalten. Beim Einschlafen träumte er, wie er aus dem zuvor abgeworfenen Material das Schutzzelt aufbauen würde. Er hatte dies im U-SE Raumzentrum auf der Erde hunderte Male geübt. Die Landefähre konnte noch maximal zweimal zum Raumfahrzeug aufsteigen. Dieses hatte noch Treibstoff für eine Rückreise über die kürzeste Entfernung zwischen Mars und Erde. Dies war frühestens in etwa eineinhalb Jahren möglich. Also es musste alles klappen.

    Er schlief unruhig und wacht auf als es dämmerte. Er wunderte sich, das er bisher von Jouf-M nichts mehr gehört hatte. War der Computer abgestürzt, gerade jetzt in dieser kritischen Phase?

    „Jouf-M gibt es etwas Neues?“ In diesem Moment bemerkte er eine Bewegung außerhalb der Landefähre. Auf dem Mars gab es doch kein Leben! Begann er zu halluzinieren?

    Tatsächlich fuhr ein Geländewagen eine Staubwand aufwirbelnd auf die Landefähre zu. – Er war auf der Erde gelandet!

  • Nachkriegszeit – Was uns geprägt hat

     

    Nachkriegshunger, Rock‘n Roll
    Kartoffelsack gefunden, toll
    fremde Panzer, Lederhose
    Selbstbewusstsein gegen Null
    Man macht, man tut, die ganze Schose
    Nazideutschland, Sündenpfuhl
    betrifft uns nicht, zusammenhalten
    Untaten wir – nie! Das war‘n die Alten
    Kohle hab ich dir geklaut, verzeih
    Angst vor Mangel, Krieg und Polizei
    Lehrer prügeln, Hosenboden
    Für die Heizung Wälder roden
    Kindergarten Ringelreihen
    Taufe feiern, Kleider leihen
    sich in Suppenschlangen reihen
    muss den Sonntagsanzug schonen
    Spiel um Pfennige mit Bohnen
    Hüpfen auf den Gehwegplatten
    werfe Steine nach den Ratten
    Massenflucht kommt aus dem Osten
    leben hier auf unsre Kosten
    Flüchtling sein, das war ein Makel
    doch der Krieg war das Debakel
    Die Gesellschaft vaterlos
    Frauenleistung, grandios
    Mauerbau und Kuba-Krise
    Kalter Krieg war die Devise
    Wirtschaftswunder ließ vergessen
    Man konnte wieder richtig essen
    Die Gesellschaft aber blieb noch starr
    mit Schichten, Naziresten, sehr bizarr
    Die Studenten mit wirren Gedanken
    Begannen über Demokratie zu zanken
    Ist Kommunismus besser mit Ho-Chi-Minh
    Kommune oder Mao alles Widersinn?
    Gegen Kapital demonstriert und für Vietnam
    Gegen Reza Palavi kam‘s zum Melodram
    Die RAF begann zu morden
    Gewissensprüfung aller Orten
    Beatles, Stones, die Popmusik
    Stehblues, Röcke kurz und dusselig
    Diskoabende laut und anschmiegsam
    Im Lärm und Alkohol jedoch einsam
    Dann war das Studium zu Ende
    Fixiert im Kopf die Meinungsbände
    All das was uns geprägt
    uns heute emotional bewegt

  • Der Wurm im Kopf

     

    Hugo dachte immer komplizierter. Morgens beim Zähneputzen überlegte er lange, warum er die Zahnbürste für die Zähne und die Handbürste für die Hände verwenden sollte. Beides waren Bürsten. So nahm er die Handbürste und putzte damit Zähne und mit der Zahnbürste reinigte er die Fingernägel. Beim Zähneputzen störte in, dass es auf den Lippen kratzte, auch wenn er die Lippen weit auseinander riss. Als er versuchte, die Backenzähne zu reinigen, verkrampfte sich der Kiefer, so dass er über einige Minuten den Mund nicht mehr schließen konnte. Ich habe noch nicht die richtige Technik, dachte er und setzte sich an den Schreibtisch, um auf einem Blatt Papier die richtige Bürstentechnik zu entwerfen. Nach einer Stunde angestrengtem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass es an seinen Rotationsbewegungen liegen müsse.

    „Hugo, musst Du heute nicht zur Arbeit?“ rief seine Frau ungeduldig.

    „Doch, doch,“ brummte Hugo und stieg die Treppe nur langsam hinunter, da er seitlich über Kreuz abwärts stieg. Er schaffte es ohne zu stürzen. Eine Tasse Kaffee wollte er noch trinken, bevor er zur Arbeit ging. Er stülpte die Tasse verkehrt auf seinen Frühstücksteller und versuchte, Kaffee aus der Kanne einzuschütten. Verwundert sah er zu, wie das braune Wasser vom Tassenboden über den Rand, die Wand der Tasse hinunter auf den Teller floss. Es erinnerte ihn an die Wand in der Toilette eines teuren Restaurants, die durch das herabfließende Wasser faszinierend in ständiger Bewegung schien.

    „Hugo! Halt!“ Seine Frau riss ihm die Kanne aus der Hand, gerade so rechtzeitig, dass der Kaffee nicht mehr über den Rand des Frühstückstellers auf das Tischtuch schwappte. Etwas verärgert darüber, dass das Schauspiel so abrupt beendet wurde, wandte sich Hugo mit einer eckigen Bewegung ab, stolperte zur Garderobe und zog den Mantel mit der Innenseite nach außen an. „Es ist so praktischer,“ dachte er, da er nun leichter seine Papiere aus der Innentasche nehmen konnte. Was er schon immer erproben wollte, realisierte er jetzt. Er setzte sich in den Fond seines Automatikwagens, um von dort aus das Fahrzeug zu steuern. Wenn er mit dem Müllgreifer um die Lehne des Vordersitzes griff, konnte er das Steuer fassen und mit dem langen Stockschirm ließen sich Gaspedal und Bremse bedienen. Den Automatikhebel auf der Mittelkonsole erreichte er ohne Probleme. So setzte er das Fahrzeug in Gang und fuhr etwas unsicher langsam los. Die überholenden Fahrer blickten sich überrascht um nach dem Auto ohne Fahrer mit dem scheinbar entspannten Gast im Font. Heute im Zeitalter der Digitalisierung war ja alles möglich. So war niemand wirklich beunruhigt. Die Verwicklungen am Arbeitsplatz übergehe ich. Es war zu absurd.

    Als Hugo nach Hause kam, teilte ihm seine Frau mit, sie habe schon für morgen früh einen Termin beim Hausarzt gemacht.

    „Warum?“, rief Hugo fröhlich, „Wir sind doch alle gesund!“

    „Vorsorge!“, antwortete seine Frau ernst, „Das ist dringend notwendig.“

    Wenn es so dringend war, konnte Hugo nichts dagegen einwenden. Dem Hausarzt berichtete die Ehefrau die Verhaltensauffälligkeiten Hugos.

    Nach einigem Nachdenken sagte Hausarzt: „Es ist ein komplizierter Fall. Als Erstes schlage ich eine Kernspintomographie des Kopfes vor.“ Nach einigem Telefonieren hatte er einen Termin schon für den nächsten Tag organisiert.

    „Warum die Hektik?,“ fragte Hugo verunsichert.

    „Es ist dringend notwendig,“ antwortete seine Frau ernst.

    Wenn es so dringend war, konnte Hugo nichts dagegen einwenden. Hugo lauschte intensiv dem Klopfen des Kernspintomographen, das ihn an den Besuch in einem Bergwerk erinnerte. Er gewann jedoch keine neuen Erkenntnisse. Der Radiologe drückte Ihnen eine CD in die Hand und einen fast unleserlich beschrifteten Zettel.

    „Gehen sie damit zu Hausarzt und besprechen sie das weitere Vorgehen.“ Er schob sie zur Tür hinaus und schloss diese rasch.

    „Hugo hat die sogenannte Politikerkrankheit, die eigentümlicherweise bevorzugt Politiker befällt,“ klärte der Hausarzt das Ehepaar auf, nachdem er sich die Bilder der CD im Computer angesehen hatte.

    „Und was bedeutet das? Hugo ist doch kein Politiker.“

    „Ein großer Wurm frisst sich durch das Gehirn.“ Er drehte den Bildschirm des Computers ein wenig, so dass sie auf den Bildern eine wurmförmige Struktur sehen konnten, die das Gehirn durchzog. „Dies erklärt das auffällige Verhalten. Ich wollte es zuerst nicht glauben, da typische Symptome, wie Lügen und intrigantes Verhalten fehlen. Die Bildgebung ist jedoch eindeutig.“

    „Kann man dagegen etwas machen?“

    „Es gibt eine medikamentöse Behandlung, die jedoch nur eine langsame Besserung ermöglicht, da der absterbende Wurm weiter Symptome machen kann. Alternativ ist eine neurochirurgische Entfernung möglich, die zwar rasch wirkt, aber dafür muss man den Kopf aufbohren.“

    „Wir überlegen uns das,“ sagte Hugo schnell, der sich nicht wirklich krank fühlte und das mit dem Wurm nicht glauben wollte. Er zog  seine Frau am Arm aus dem Arztzimmer und ließ sich schweigend von ihr nach Hause fahren.

    Dort setzte er sich in sein Arbeitszimmer und dachte intensiv nach. Später habe ich gerüchteweise gehört, das er sich weder medikamentös noch neurochirurgisch behandeln ließ. Der Hinweis des Hausarztes auf das Lügen und Intrigieren hatte ihm gefallen. Er entschloss sich, in die Politik zu gehen und soll heute Staatssekretär in dem kürzlich geschaffenen Heimatministerium sein.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

  • Mariechens Beichte

     

    Mariechen kniete an der Kirchenbank nieder. Es bereitete ihr erhebliche Beschwerden, da sie eine zarte 16 Jahre alte Pflanze von 1,65 m Größe und 90 kg Gewicht war. Ihr frecher Bruder Steffen sagte immer, sie sehe aus wie das Kugelmännchen Flitzi. Er nannte sie deshalb immer Flitzi. Ihr war das peinlich, aber was sie auch tat, sie wurde nicht so schlank wie ihre Freundin Katrin.

    Keuchend faltete sie die Hände und blickte treuherzig hoch zum Herrn am Kreuz.

    „Ich habe mich bemüht,“ brabbelte sie und wandte den Blick wieder ab, „ ich habe auf die Cola verzichtet, zwei Kilo abgenommen und mich dabei ziemlich mit dem Hunger gequält.“

    „Fett hat immer großen Hunger,“ brummelte der Herr am Kreuz und schien zu lächeln.

    Mariechen sah ihn wieder an: „was hast Du gesagt? Ich konnte nichts verstehen.“

    Der Herr am Kreuz zeigte wieder seine Leidensmiene und schien völlig unbeteiligt.

    „Ja, dann habe ich wieder gesündigt,“ fuhr Mariechen fort, „bei Katrins Geburtstag mit den tollen Kuchen. Daraufhin war wieder alles beim Alten und ich fange wieder von vorne an. Was sagst du dazu?“

    „Es ist Dein Problem aber keine Sünde,“ hörte sie jetzt deutlich die Stimme des Herrn.

    „Aber alle sagen doch, man hätte wieder gesündigt, wenn man einen Kuchen zu viel oder oder beim Grillen eine Portion mehr gegessen hat.“

    „Du hattest Dir vorgenommen, mir von deinen Sünden zu erzählen.“

    „Aber das habe ich doch,“ rief Mariechen und blickte den Herrn am Kreuz mit großen Augen an, der durch das Sonnenlicht über die bunten Fenster von der Seite beleuchtet wurde und ganz in rot-grüne Farbenspiele getaucht wurde, so dass sie seinen Gesichtsausdruck nicht mehr erkennen konnte. Sie hörte ein leises Lachen.

    „Das was du mir berichtest sind keine Sünden. Du hast das Leben, um Freude und Leiden mit anderen Menschen zu teilen. Davon sprichst du. Denk an die zehn Gebote, Mariechen, vor allem an das siebte. Gehe nach Hause und denke nach.“

    Mariechen schüttelte den Kopf und zog sich an der Banklehne wieder hoch und trottete aus der Kirche. Was der Herr nur von ihr wollte. Sie hatte nicht gegen die zehn Gebote verstoßen, da war sie sich sicher.

    Nachdem Steffen sie geärgert hatte, hatte sie vor einigen Tagen sein Handy stibitzt und versteckt. Er war richtig wütend geworden. Worauf sie ihn lachend mit heiß und kalt zum Versteck gelenkt hatte. Das konnte es nicht gewesen sein, denn er hatte das Telefon ja wieder.

    Da fiel ihr siedend heiß ein, dass sie vor zwei  Wochen mit ihrem Freund Karlchen  geknutscht hatte. Das hatte sie ganz vergessen, obwohl es aufregend gewesen war. Ob der Herr das meinte? Karlchen war übergriffig geworden und in der Hitze des Gefechts hatten sie sich die Kleider ausgezogen und waren schließlich nackt auf dem Bett gelegen. Auf ihr war der dünne Karlchen in den Wellen von Brust und Bauch verschwunden. Es hatte Spaß gemacht, aber sie hatte dennoch ein schlechtes Gewissen, weil es so unmoralisch war. Sie dachte nach. Irgendwie passte das auch nicht, da in diesem Fall ja Karlchen ihr die Unschuld gestohlen hatte und sie nicht ihm. Sie nahm sich vor, das morgen mit dem Herr am Kreuz zu besprechen. Da ihr weiter nichts einfiel, begann sie eine Melodie zu summen, ihre gehäkelte Tasche zu schwingen und wackelte nach Hause.

     

    Als sie am nächsten Tag dem Herrn die Geschichte mit Karlchen vortrug, lachte dieser.

    „Gegen die zehn Gebote habt ihr nicht verstoßen, auch wenn dies nicht den moralischen Vorstellungen deiner Eltern und der Kirchenvertreter entspricht. Wenn Du weiter nachdenken willst, so erinnere dich an deine Großmutter.“

    Mariechen grübelte. Die Großmutter war sehr vergesslich, so dass immer einer der Familie nach dem Rechten sehen musste. Sie war in den letzten Wochen fast täglich bei ihr gewesen, hatte Essen gebracht, aufgeräumt und geputzt. An manchen Tagen hatte Großmutter gedacht, sie sei eine fremde Frau. Erst nach längerem Zureden ließ sie Mariechen in der Wohnung aufräumen. Großmutter neigte dazu in der Wohnung ein Chaos zu veranstalten. Sie verräumte Zahnbürste, Seife und andere Dinge an unmögliche Orte. Gestern hatte Mariechen Unterwäsche aus der verstopften Toilette gefischt. Wenn Großmutter etwas nicht mehr benötigte, ließ sie es irgendwo auf den Boden fallen. Ihr zu helfen, war sicher ein positiver Einsatz.

    Da fiel ihr ein, dass Großmutter sie kürzlich in einem wachen Moment von oben bis unten gemustert hatte und bemerkte: „Es ist eine Sünde, wie du dich anziehst.“

    „Aber Großmutter, die kurzen Röcke sind jetzt Mode.“

    Großmutter schüttelte den Kopf: „Man sieht ja alles. Zudem steht es Dir nicht.“

    Mariechen blickte zum Kreuz und sah wie der Herr ganz leicht den Kopf schüttelte. Das war es also nicht. Plötzlich wurde Mariechen knallrot und senkte den Kopf.

    „Ich sehe, es ist dir eingefallen. Wann gibst du es ihr zurück?“ Der Herr am Kreuz nuschelte ein wenig, aber es klang gutmütig.

    Vor etwa zwei Wochen wolle sie sich ein T-Shirt kaufen, hatte aber kein Geld. Da hatte sie Großmutters Geldbörse genommen und einen 20 Euro Schein entwendet. Als Großmutter zeterte, hatte sie gesagt: „Ich leihe mir das nur und gebe es Dir wieder zurück.“

    Als sie dann wieder zu Hause war, dachte sie, dass Großmutter es vergessen werde. So bräuchte sie das Geld nicht zurückgeben. Das war es, was der Herr ihr übel nahm. Sie hatte gestohlen.

    „Gleich morgen,“ stammelte Mariechen und verließ so schnell sie konnte die Kirche.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

  • Die Insel der Ruhe

     

    Während meines Studiums in Freiburg war ich eine Zeit lang für die Bahnhofsmission tätig. Ich wohnte damals in der Kreuzstraße, so dass ich rasch zu Fuß am Bahnhof war.

    Es war ein Zufall. Ich war auf dem Weg vom Psychologischen Institut in der Innenstadt, wo ich mich für Graphologie interessierte, zur Stühlingerbrücke, die damals noch eine Gusseisenbrücke mit einer schmalen Straße war. Dort sah ich am Ende des Bahnhofsgebäudes das beleuchtete Schild „Bahnhofsmission“. Damals war die Bahnhofsmission nicht am nördlichen Ende am Gleis 1 wie heute, sondern am südlichen Ende des Gebäudes lokalisiert. Neugierig ging ich hin und warf ich einen Blick durch die Tür, da ich mich – unbedarft wie ich war – fragte, was dort missioniert wurde.

    Die zwei Frauen lachten auf meine Frage: „Wir missionieren nicht. Wir helfen Behinderten oder Gestrandeten. Manchmal bieten wir Geängstigten Schutz oder bieten Erschöpften eine Tasse Kaffee an.“

    Ich blickte mich um. Der Raum war kaum größer als meine Studentenbude, ausgestattet mit einem Tisch, Stühlen und einer kleinen Küchenecke mit Spülbecken, Kaffeemaschine und zwei Kochplatten. Mit den Spitzenvorhängen am Fenster zum Bahnsteig und Blumen sowie weißer Decke auf dem Tisch wirkte er gemütlich – eine Insel der Ruhe im lärmenden Treiben des Bahnhofs.

    „Wir suchen vor allem für die Abendstunden eine männliche Person als Hilfe. Hätten Sie nicht Lust mitzumachen? Wir können allerdings nicht viel mehr als 10 DM Taschengeld bieten,“ fragte Johanna freundlich. Der Name stand auf einem Schild auf ihrer Brust. Sie trug ein blau-weiß gestreiftes Kleid mit einer weißen Schürze und auf dem Kopf ein Häubchen mit dem Symbol der Bahnhofsmission. Die zweite hieß Erika und war in Zivil.

    „Am Abend kommen manchmal aggressive Betrunkene zu uns. Da wäre ein Mann hilfreich,“ ergänzte Erika und bot mir eine Tasse Kaffee an. Die freundliche Atmosphäre stimmte mich nachgiebig.

    „Jeden Abend ginge natürlich nicht,“ sagte ich mehr zu mir selbst. Sie fassten dies als Zustimmung auf und vereinbarten sofort einige Termine.

    Die Abende in der Bahnhofsmission waren immer spannend. Frauen suchten Schutz bis zur Abfahrt ihres Zuges. Ein Jugendlicher kam in Panik. Er hatte seine Monatskarte verloren. Wir konnten sie schon leicht abgetreten auf dem Bahnsteig wieder finden. Häufig kamen verwahrloste oder angetrunkene Kerle, die sich finanzielle Hilfe erhofften und dann mit Nachdruck wieder hinaus gebeten werden mussten. Bargeld an Personen zu geben, war ein Tabu bei der Bahnhofsmission.

    An einem Sommerabend saß ein Mann, etwa 40 Jahre alt am Tisch und trank eine Tasse Kaffee. Er wirkte erschöpft und war fast ohne Haare, trug eine graue, schlottrige Freizeithose und ein blaues T-Shirt mit dem Aufdruck „Harvard University“. Er roch, wie wenn er eine Dusche nötig hätte und blickte versonnen vor sich hin.

    „Woher kommen Sie?,“ fragte ich ihn, um ein Gespräch zu beginnen.

    „Aus Heppenheim,“ antwortete er und blickte mich mit seinen großen grauen Augen an, „ich war dort in der Psychiatrie. Sie haben mich gegen meinen Willen festgehalten, die Hunde. Mein Ziel das Kreuz des Südens zu finden habe ich aber nicht aufgegeben. Bei der ersten Gelegenheit bin ich abgehauen, denn ich muss es finden. Hinweise, dass ich bis hierher auf dem richtigen Weg war, gab es immer wieder. Sehen sie dort die Kreuze?“ Er grinste triumphierend und zeigte durch das Fenster auf die Kreuze an der Spitze der beiden Türme der Stühlinger Kirche.

    „Haben Sie Familie?“

    „Ja, eine Frau und eine Tochter, die denken ich sei verrückt. Sie haben mich in die Psychiatrie gebracht.“ Er sprang plötzlich auf und hatte ein Flackern in den Augen, das mich davon abhielt, weitere Fragen zu stellen.

    „Wohin muss ich fahren, um das Kreuz des Südens zu finden?“ fragte er mit unruhigem Blick.

    „Ich denke, Sie müssen weiter nach Basel.“

    Er verließ grußlos den Raum, ohne seinen Kaffee ausgetrunken zu haben.

    Als etwas später zwei Bahnpolizisten vorbeikamen, um sich eine Tasse Kaffee zu genehmigen, erzählten sie, dass der Mann lange unruhig im Bahnhof  auf- und abgegangen sei. Auf Ansprache habe er nicht geantwortet, sondern nur starr vor sich hingeblickt. Daraufhin hätten sie ihn in die hiesige Psychiatrie gebracht.

    Für mich der Höhepunkt meiner Zeit bei der Bahnhofsmission, war die Begleitung eines fünfjährigen Mädchens zu ihrer Tante im D-Zug nach Mönchengladbach. Ich fuhr damals gerne Eisenbahn. Es bedeutete für mich in die Ferne zu reisen, da ich in die Ferien nach England, Schweden oder auch Fischen im Allgäu immer mit der Eisenbahn gefahren war. Das klopfende Geräusch der Schwellen löste in mir eine Reiseunruhe aus. Als wir in unser Abteil kamen, waren die Fensterplätze schon besetzt. Ein graues, voluminöses Ehepaar saß sich gegenüber und blickte uns grimmig an, als wir das Abteil betraten. Dann ignorierten sie uns mit starrem Blick aus dem Fenster, so dass es kaum möglich war auf den Platzkarten zu bestehen. Das Kind war etwas traurig, dass wir an der Tür sitzen mussten. Ich tröstete: „hier können wir auch spielen oder ich lese dir eine Geschichte vor. Wenn wir aus dem Fenster sehen wollen gehen wir auf den Gang. Das ist noch viel schöner, weil man dort das Fenster aufmachen kann.“

    Kaum war der Zug angefahren, packte die graue Frau knisternd ihr Vesperbrot aus und begann zu essen. Eine Minute später folgte ihr der graue Mann. Ein durchdringender Geruch aus Leberwurst und Handkäse füllte das Abteil, so dass wir froh waren im Gang aus dem Fenster sehen zu können, wie die Mama, der Bahnsteig und dann der Bahnhof mit zunehmender Geschwindigkeit verschwanden. Die Fahrt war mit Spielen und Lesen so kurzweilig, dass die Zeit wie im Flug verging und wir das graue Ehepaar und die Halte bis Mönchengladbach kaum wahrnahmen. Dort wartete schon die Tante auf dem Bahnsteig.

    „Das nächste Mal fährst Du wieder mit mir,“ rief das Mädchen fröhlich winkend und schon waren sie in der Menge verschwunden. Ich genehmigte mir einen Blick auf den Bahnhofplatz Mönchengladbachs und entschied mit dem nächsten Zug zurück zu fahren.

    Da meine Zimmerwirtin sehr neugierig war und manchmal, wenn ich abwesend war, Gäste in meinem Zimmer schlafen ließ, wechselte ich die Bude und zog in die Wiehre. Von dort war es mir nicht mehr möglich, abends mal schnell in die Bahnhofsmission zu gehen, so dass ich dies aufgab.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrech

     

  • „Einsam kann man auch in Gesellschaft sein, insbesondere wenn man als Single nur mit Pärchen befreundet ist“, dachte Susanne, während sie gedankenverloren nach Hause ging. Sie stockte. Ein Pudel stand vor ihr und kläffte sie an. Ängstlich starrte sie auf das Tier und rührte sich nicht.

    „Rudi, bei Fuß!“ Die Stimme klang angenehm sonor. Sie blickte auf. Ein schlanker junger Mann etwa in ihrem Alter stand vor ihr und griff nach dem Halsband des Hundes.

    „Entschuldigen Sie, dass Rudi hat sie erschreckt hat. Er tut keinem was. Er bellt nur.“

    „Ich mag Hunde nicht.“ Sie blickte in freundliche braune Augen. Wie konnte ein so netter Mensch einen so hässlichen Pudel haben?

    „Es tut mir leid.“ Er hatte den Hund angeleint. „Sie wirkten so abwesend. Vielleicht hat Rudi das irritiert.“

    „Abwesend? Ich habe nachgedacht. Einen schönen Tag noch.“

    Sie machte eine rasche Kopfbewegung, so dass die blonden Locken nach hinten flogen und setzte ihren Weg mit schnellem Schritt fort, ohne sich nochmals umzuschauen.

    „Ihnen auch“, sagte er leise und blickte ihr nach.

     

    Susanne liebte ihren Beruf als medizinisch-technische Assistentin, aber nicht ihre Arbeit. Früher konnte sie Enzymuntersuchungen und Elektrolytbestimmungen selbst im Einzelversuch ansetzen und mit dem Photometer messen. Da waren noch Fertigkeit und Erfahrung gefragt. Sie waren damals mehr Leute im Labor. Da war was los, ein Geschnatter und Gezickel. Heute bestückte sie alleine den Autoanalyser, einen Automaten, der alles erledigte, so dass sie sich wie eine Fließbandarbeiterin fühlte. Nur wenige Untersuchungen waren für sie übrig geblieben, und ihr fehlte der soziale Kontakt.

    „Ich habe noch etwas für Sie.“

    Sie blickte auf und stutzte.

    „Ach, der Herr mit dem Hund. Was machen Sie denn hier?.“

    „Ich habe gestern als Assistenzarzt in der Inneren angefangen.“ Er legte einige Röhrchen mit Blut auf den Labortisch. „Dass Rudi Sie erschreckt hat, tut mir leid. Haben Sie einen Kaffee?“

    „Dort neben dem Mikroskop steht die Kaffeemaschine, und dahinter im Regal sind Tassen, Milch und Zucker. Nehmen Sie sich, was sie mögen.“ Sie setze die letzten Proben in den Autoanalyzer und schaltete ihn ein.

    „Wie lange sind Sie schon hier?“

    Susanne nahm ihre Kaffeetasse und setzte sich auf einen Laborstuhl. „Seit sechs Jahren. Es hat sich seither viel verändert. Wo haben Sie studiert?“

    „Hier in Freiburg. Es gefällt mir hier sehr gut, deshalb habe ich versucht, hier eine Stelle zu bekommen. Glücklicherweise hat es geklappt. Ich stamme aus dem Ruhrgebiet.“

    „Ich habe eine Tante in Bochum. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, sie zu besuchen. Freiburg ist nicht sehr groß. Es wundert mich, dass ich Ihnen nicht schon früher begegnet bin.“

    Sie redeten noch einige Minuten und wunderten sich, dass sie an vielen Stellen in Freiburg beide schon gewesen sind, ohne sich zu begegnen. Er besuchte sie in den folgenden Wochen nahezu jeden Tag. Irgendwann gingen sie zum Du über und entdeckten, dass sie beide gerne ins Theater gingen, Krabben mochten und Tintenfischringe hassten. ‚Ich verstehe mich gut mit ihm‘, dachte sie überlegte, ob sie ihn näher kennenlernen wollte. Er hatte keinen Ring an, so dass er noch frei sein könnte. Ihn zu sich nach Hause einzuladen, fand sie aufgrund früherer Erfahrungen, sei zu früh. Vielleicht wäre ein Picknick eine gute Gelegenheit ihn näher kennenzulernen.

     

    Bei einer Schönwetterlage im Mai, es war schon sommerlich warm, sagte sie „Paul, wir könnten doch bei dem schönen Wetter zu einem Picknick in den Kaiserstuhl fahren.“

    „Ein Picknick, das wäre toll. Am Wochenende habe ich leider Dienst.“

    „Wie wäre es am Freitag nachmittags. Da können wir früher raus kommen und gegen 15 Uhr los ziehen.“

    „Ja das klappt. Ich gebe auf der Station Bescheid. Vor dem Wochenenddienst nimmt mir keiner übel, wenn ich früher Schluss mache.“ Paul stand auf. „Also dann bis Freitag.“

    Am Donnerstag summte Susanne während der Arbeit alle fröhlichen Melodien, die ihr einfielen. Alles schien flotter von der Hand zu gehen. Am Abend richtete sie den Picknickkorb, eine Decke und schrieb einen Zettel, welche Dinge aus dem Kühlschrank am nächsten Morgen in die Kühltasche mussten. Paul wollte Getränke mitbringen. Da Männer eher an Alkoholisches dachten, richtete sie ihre Thermokanne für Tee. Am Freitagmorgen bewegte sich die Zeit wie eine Schnecke. Immer wenn Susanne auf die Uhr schaute, waren nur wenige Minuten um. Endlich war es 15 Uhr. Das Labor war tip-top, und Paul kam nur fünfMinuten später mit einer Flasche Müller-Thurgau.

    „Mit welchem Auto fahren wir?“

    „Ich habe alles in meinem Kadett“, sagte sie, „also fahre ich.“

    Bei Vogtsburg im Kaiserstuhl bog sie rechts ab und erreichte einen Rastplatz, wo sie ihre Picknickuntensilien im Frühlingsgras ausbreiteten. Die Sonne strahlte warm. Die Worte flogen wir Schmetterlinge. Die Sätze kreuzten sich wie Liebesbriefe. Die Zeit verklang wie ein Kirchenglockenschlag.

     

    Am Samstag ging Susanne auf der Kaiserstraße vorbei an der Herder’schen Buchhandlung in Richtung Martinstor. In Höhe der Sparkasse stockte ihr der Atem. Direkt auf sie zu kam Paul mit einem Kinderwagen. Neben ihm ging eine junge Dunkelhaarige mit einer geschwungenen grünen Brille. Paul war völlig entspannt.

    „Darf ich vorstellen, meine Frau Marianne,“ Er zeigte auf den Kinderwagen, „mein Sohn Carsten, 3 Monate. Susanne Meier aus unserem Labor.“

    „Ach, das Labortraining!“, sagte Marianne und musterte Susanne.

    Susanne beugte sich zum Kinderwagen hinunter: „Ganz der Vater.“

    Dann richtete sich abrupt auf und lächelte: „Einen schönen Tag noch.“

    Sie machte eine rasche Kopfbewegung, so dass die blonden Locken nach hinten flogen, und setzte ihren Weg mit schnellem Schritt fort, ohne sich nochmals umzuschauen.

    Copyright Dr. Walter-Uwe-Weitbrecht

     

     

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    Ilka blickte auf den Mauerspalt über ihnen, um die Wärme des Sonnenstrahls im Gesicht zu spüren. Sie zog mit dem rechten Arm ihren kleinen Bruder Sami an sich. Das linderte die Schmerzen im rechten Bein, das von einem Trümmerbrocken getroffen worden war. Die Sonne kam nur einmal am Tag für ein bis zwei Stunden durch den Spalt zwischen den eingestürzten Betonplatten, die einen schmalen zeltförmigen Raum in dem Trümmerhaufen des eingestürzten Hauses bildeten. Ilka konnte den Himmel sehen, der manchmal blau, aber meist durch dir aufgewirbelten Staubwolken verdeckt war. Immer wieder erschütterte das Grollen der Bomben die Trümmer, und es rieselten kleine Steine zu Ihnen hinunter. Wenn sie menschliche Stimmen hörten, riefen sie mit schwacher Stimme, aber keiner hörte sie. Jetzt riefen sie nicht mehr. Es fehlte ihnen die Kraft.

    „Mama soll kommen“, flüsterte Sami und weinte, „ich habe Hunger, Durst.“

    Ilka, die sich selbst die Mutter herbei wünschte, drückte ihn an sich und summte ein Lied. Sami beruhigte sich und weinte nur noch ganz leise. Ilkas Bein klopfte, und sie versuchte, an die Schule zu denken, die sie in den letzten Wochen wegen des häufigen Fliegeralarms nur sporadisch besuchen konnte. So weit sie sich erinnern konnte, war immer Krieg. Das Schulgebäude war von Bomben in einen Haufen Steine verwandelt worden. Tante Selina hatte daraufhin in ihrem Wohnzimmer Schule improvisiert. Das war viel lustiger, weil die Puppe mit lernen durfte. Auch dieser Unterricht wurde wegen der Bombenangriffe immer wieder unterbrochen.

    Sie hörte wieder Rufe und versuchte, sich bemerkbar zu machen. Aber sie brachte nur ein Krächzen heraus. Sami war eingeschlafen und reagierte nicht. Das Licht schien jetzt nicht mehr nur über ihr durch den Mauerspalt zu kommen. Es breitete sich wie ein heller Nebel im gesamten Raum aus, so dass sie völlig geblendet war. In der Ferne durch den Nebel hörte sie ihre Mutter sprechen.

    „Mama“, rief sie mit erstaunlich heller Stimme. Da kam ihre Mutter aus dem Nebel hervor wie eine wunderschöne Fee. Sie hatte ein Kleid in leuchtenden Farben an und streckte ihr lächelnd die Hände entgegen. Ilka reckte die Arme vor, spürte die kühlen Hände ihrer Mutter und schien mit ihr zu schweben. Als sie sah, dass Sami zurückblieb rief sie: „Sami, Sami! Wir müssen Sami mitnehmen.“

    „Lass nur“, hauchte die Mutter, „ihn können wir später holen.“

    Es wurde wieder dunkler, und sie schienen wie auf einer Achterbahn durch den Raum zu rasen. Mutter hielt sie mit festem Griff. Ilka lachte vor Glück.

    Als die Retter die Trümmerplatten vorsichtig aufbrachen, riefen sie: „In dem Spalt sind noch zwei Kinder!“ Vorsichtig räumten sie Stück für Stück die Betonplatten und Steine zu Seite, bis sie die verschütteten Kinder erreichen konnten.

    „Das Mädchen ist tot, aber der Junge lebt noch.“

     

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    Auf einem Hof bei Lindlar lebte eine Gruppe Gänse. Die Tochter des Bauers war ein Fan von Verdi-Opern. Vor allem die Musik der Oper Aida ließ sie oft bei offenem Fenster mit voller Lautstärke ertönen, so dass der Bauer, wenn er in der Nähe des Wohnhauses zu tun hatte, manchmal schimpfend rief: „Mach die Musik leiser. Das kann man ja nicht aushalten.“

    Den Gänsen blieb die Musik nicht verborgen. Die meisten konnten nur wenig damit anfangen. Nur die Gans Anne war von der Musik beeindruckt, so dass sie Opernsängerin zu werden wollte. Die anderen Gänse hielten sie für verrückt, da sie wie alle Gänse nur ein „täää-tä-tä-tää“-Gekreische herausbrachte. Anne fragte ihre Mutter, ob sie das Singen erlernen könne. Diese antwortete: „Man kann alles lernen, wenn man es nur will.“

    Da beschloss Anne, dass sie Gesangsunterricht nehmen wollte. Die Schwäne am Teich kannte sie gut. Sie ging zu Ihnen und fragte, ob sie ihr das Singen beibringen könnten.

    Der alte Schwan schnatterte: „Wenn du mir vom Hof Brot bringst, dann lehre ich dich singen.“

    Anne trottete zum Hof und stahl den Pferden etwas altes Brot, das der Bauer diesen hingelegt hatte.

    Als sie damit zum alten Schwan kam, verschlang dieser es gierig, richtete seinen langen Hals auf und sagte: „Jetzt beginnen wir mit der ersten Stunde. Die nächsten Unterrichtsstunden musst du wieder mit Brot bezahlen.“ Er begann zu schnattern, stieß zwischendurch grelle Schreie aus und schnatterte dann: „Mach das nach!“

    Anne blickte ihn verwundert an und krähte: „Das war doch kein Gesang. Schnattern und Schreien brauche ich nicht zu lernen. Das kann ich schon, seit ich aus dem Ei schlüpfte.“

    Beleidigt quäckte der Schwan: „Wenn dir das nicht passt, dann geh doch zur Amsel!“

    Sie sprang ins Wasser und begann zu gründeln. Anne war enttäuscht. Hatte sie doch den Schwan mit Brot bezahlt. Auch wusste sie nicht, wie sie mit der Amsel Kontakt bekommen könnte, die meist auf einem Baum saß. Einige Wochen vergingen, in denen sie hin und her überlegte, wie und mit wem sie einen Gesangsunterricht organisieren könnte. Da ergab es sich, dass eine Amsel nach einem kräftigen Sommerregenschauer auf der Wiese um den Gänseteich nach Regenwürmern suchte.

    „Amsel, kannst du mir das Singen beibringen“, schnarrte Anne.

    Die Amsel antwortete: „Sing mir etwas vor. Dann kann ich dir sagen, ob es mit dem Gesangsunterricht klappen kann.“

    Anne begann zu schnattern und gellend „täää-tä-tä-tää“ zu kreischen. Die Amsel blickte sie mit schräg gelegtem Kopf  an und piepste: „Du hast keine Singstimme. Es wird nicht möglich sein.“

    Als Anne sie enttäuscht ansah, ergänzte die Amsel: „Man muss von Geburt an die Fähigkeit haben zu singen. Sieh dort die Bisamratte!“ Sie zeigte mit dem Schnabel in Richtung einer Bisamratte, die in der Wiese Gras aß. „Sie kann von Geburt an nicht fliegen.“ Das überzeugte Anne.

    Copyright Dr. Walter-Uwe Weitbrecht

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    Der Graureiher Elias stand am Ufer des Baches und begrüßte Hubert, den Storch, der aus seinem Winterurlaub in Ägypten zurückgekehrt war. Elias war die letzten Winter in Mecklenburg geblieben, da es nicht mehr so kalt war, so dass Bäche und Seen nicht mehr zugefroren waren.

    „Bist du in diesem Winter in Marokko gewesen, Hubert?“

    „Ich war nicht in Marokko“, klapperte Hubert und durchforschte das Ufer nach Fröschen.

    „Warum?“ Elias versuchte einen Fisch zu schnappen, der zwischen den Halmen des Uferschilfes entkam.

    „Die letzten Male kamen einige meiner Verwandten als IS zurück“, gurgelte Hubert und blickte dabei mit himmelwärts gerecktem Schnabel nach den Wolken. „IS?“ Elias legte den Kopf schräg und blickte Hubert fragend an. Dieser wendete seinen Schnabel wieder bodenwärts und antwortete: „Irre Störche! Es gibt in Marokko einige Frösche, die mit ihrem Schleim ein Gift absondern, das Störche verrückt macht. Sie beginnen wie Amseln zu singen und interessieren sich nicht mehr für Frösche. Manchmal werden sie aggressiv und zerstören die Nester anderer Störche.“

    „Merkwürdig! Das kann man doch nicht dulden.“

    „Die anderen wehren sich angemessen.“

    „Ich habe gesehen, dass einer deiner Nachbarn ein kleines schwarzes Mützchen trägt und seine Frau ein Kopftuch. Was hat das zu bedeuten?“

    Elias schnappte blitzschnell ins Bachwasser, wendete den Schnabel nach oben und verschluckte einen kleinen Fisch. Hubert versuchte durch hin und her schwingen des Schnabels am Rand des Baches den Schlick und das Wasser aufzuwühlen, um Frösche aufzuscheuchen, bevor er antwortete: „Das sind Bekannte aus Ägypten, die sich entschlossen haben, mit uns nach Deutschland zu kommen, da sie dort mit den politischen Verhältnissen nicht mehr zurecht kommen.“

    „Ich mag Fremde nicht. Das sind alles Banditen“, schnatterte Elias, „ich würde sie vertreiben.“

    „Abu und seine Frau sind politisch Verfolgte und nette Leute,“ antwortete Hubert, „in Ägypten herrscht ein Storchengeneral, der alle anderen Störche unterdrückt. Da sie sich dagegen aufgelehnt hatten, waren sie in Gefahr, von der Storchenpolizei umgebracht zu werden. Deshalb haben wir ihnen geraten, mit uns nach Deutschland zu fliegen, wo wir alle in Freiheit leben können.“

    Elias rollte die vor Schreck über diese Geschichte die Augen und trat von einem Bein auf das andere: „Das habe ich noch nie gehört, dass es unter und Vögeln Unterdrücker gibt. Dass man sich mal um das Futter streitet, ist normal. Aber sonst lassen wir uns doch gegenseitig in Ruhe. Ist es unter diesen Bedingungen denn nicht gefährlich, nach Ägypten zu reisen?“

    Hubert wiegte den Kopf und antwortete: „Bis jetzt haben sie Besucher in Ruhe gelassen. Aber man kann nicht wissen, ob das so bleibt. Im nächsten Winter fliege ich nach Südafrika.“

     

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