Kategorie: Prosa

  • Nicht nur zum Waschen….

    Vom Wasser in der Antike

     

               Wamser-Krasznai -Wasser Bild 1

     

                    Bild 1: Salvom lavisse, bene lava – „Angenehmes Baden!“
    Mosaiken in Sabratha/Libyen. Photo der Verfasserin, 2009

    In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts kam ein Liedchen auf, dessen Refrain „Wasser ist zum Waschen da, falleri und fallera…..“ im Handumdrehen Karriere als Ohrwurm machte. Der ausführliche Text geht populär persiflierend auf einige der wichtigsten Aspekte des Wassers ein.

    Sehen wir uns daraufhin bei den antiken literarischen Quellen um, so lesen wir bei Platon von der Einteilung der Erdbewohner in solche, die innerhalb und andere, die außerhalb der Säulen des Herakles[1] leben (Plat. Kritias 108 e), nämlich die Einwohner von Attika und Atlantis. Dem ersteren, griechischen, Lande gab Zeus Jahr für Jahr reichlich Wasser, das aber nicht wie heute von der nackten Erde ins Meer abfloss, sondern vom Erdreich aufgenommen wurde und sich zusätzlich in Hohlräumen sammelte. Überall gab es „Ströme von Quellwassern und Flüssen. An ihren ehemaligen Quellen auch jetzt noch erhaltene Heiligtümer…“ (Plat. Kritias 111 d). Er geht dann zu den Verhältnissen in Atlantis über, einer Insel, die im Losverfahren dem Bruder des Zeus, Poseidon, zugefallen war. Auch dort quoll kaltes und warmes Wasser aus dem Boden, „wobei jedes von beiden nach Wohlgeschmack und Güte … für den Gebrauch wunderbar geeignet war … und sie schufen ringsum Wasserbassins, die teils unter freiem Himmel lagen, teils überdachte Winterbassins für die warmen Bäder, und zwar getrennt für die Könige und die Privatleute, ferner für die Frauen (sic!), weitere für Pferde und die übrigen Zugtiere…“ (Plat. Kritias 117 a. b).

    Wir hören vom Geschmack des Trinkwassers, von üppiger Vegetation und blühender Viehzucht in ihrer Abhängigkeit vom Wasser, aber auch von Badebecken mit kaltem und warmem Wasser, das nicht nur den Einwohnern, getrennt nach Geschlechtern und sozialem Stand, sondern auch den größeren Nutztieren zur Verfügung stand (Plat. Kritias 111 b. c). Zudem erfahren wir von den Kultorten in der Nähe der Quellen, wo man die Gottheiten, die das Leben spendende Wasser schenken[2], verehrt.

     

    Trinkwasser

    Qualvoll ist es, nicht trinken zu können, wenn man Durst hat. So übel ergeht es dem Frevler Tantalus, der zur Strafe im Tartaros unablässig am Trinken gehindert wird:

    „Dürstend stand er und konnte es doch nicht erreichen.
    Denn sooft er sich bückte, der Greis, im Wunsche zu trinken,
    zog sich das Wasser zurück und verschwand, und unter den Füßen zeigte sich schwarze Erde. Ein Dämon machte sie trocken.“ (Hom. Od. 583-586)

    Zu den frühen Schriften, die im Umkreis des Hippokrates entstanden, zählt die Abhandlung „Über Luft, Wasser und Orte“, auch „Über die Umwelt“ genannt. Darin wird dem in einer fremden Stadt Ankommenden empfohlen, genau zu „überlegen, …wie es mit den Gewässern steht, ob die Menschen sumpfiges oder weiches Wasser trinken oder hartes, das von felsigen Höhen fließt, oder salziges und schwerverdauliches…“[3].

    Keine Wasserart war in der Antike so hoch geschätzt wie das Quellwasser. Die Entnahmestelle, Krene, wurde durch eine Einfassung geschützt. Schöpf- und Laufbrunnen[4] entstanden. Man legte überdachte Reservoirs, Gefälleleitungen, steinerne Kanäle und Rohrleitungen an. Letztere bestanden  überwiegend aus Ton oder  Blei[5]. Trinkwasser für Rom und Italien war vor allem zur Zeit des Trajan (109-117 n. Chr.) ein kaiserliches Anliegen. Zum Teil musste das kostbare Nass mittels Aquaedukten über weite Strecken herangeführt werden. Es gab einen Wasserdirektor, den curator aquarum, und man feierte die Fontinalia zu Ehren des Quellgottes Fons, der in Rom Staatskult genoss[6].

     

    Wamser-Krasznai-Wasser Bild 2

     

    Bild 2:  Aquaedukt von Olbia Diokaisarea, Kilikien, 2. Jh. n. Chr.
    Aufnahme der Verfasserin, 2013

     

    Reinigendes Wasser

    Über die Wohltat des Bades ergeht sich Homer in ausführlichen Schilderungen. Dem staubigen, verschwitzten Gast bietet der Gastgeber neben Speise und Trank auch warme Bäder und frische Kleider.

    Und so

    „Stiegen sie ein zum Bad in die wohlgeglätteten Wannen.“ (Hom. Od. 4, 48)
    „Und eine Dienerin brachte in schöner goldener Kanne Handwaschwasser und netzte damit über silbernem Becken Ihnen die Hände….“ (Hom. Od. 4, 52 f.)

    Letzteres entsprach wohl eher einem Ritual als übertriebenem Reinlichkeitsbedürfnis. Auch die Fußwaschung, die das Behagen des Gastes erhöht, ist Teil des Begrüßungszeremoniells:

    „…Und die Alte ergriff die blinkende Wanne,
    Die zum Waschen der Füße diente, und füllte viel
    Kaltes Wasser hinein und schöpfte dann warmes dazu…“

    (Hom. Od. 19, 386-88)

     

    Wamser-Krasznai Wasser Bild 3

                         Bild 3: Eurykleia bei der Fußwaschung des Odysseus
    Nach Furtwängler-Reichhold 1904, Taf. 142[7]

    Draußen erfreuen sich Nausikaa und ihre Freundinnen am fließenden Wasser:

    Und sie badeten sich und salbten sich mit dem Salböl

    …..bis die Gewänder vom Strahle der Sonne getrocknet (Hom. Od. 6, 96).

    Zuweilen entwickelt das Reinigungsbad geradezu therapeutische Eigenschaften:

    „Als das Wasser dann heiß im blanken erzenen Kessel,
    Setzte sie (Kirke) mich ins Bad und goss es aus mächtigem Dreifuß
    Mir mit duftenden Kräutern vermischt übers Haupt und die Schultern,Bis sie mir die verzehrende Mattheit nahm von den Gliedern.“

    (Hom. Od. 10, 360-365)

     

    Wamser-Krasznai Wasser Bild 4

    Bild 4: aus Amathous/Zypern, 7./6. Jh. v. Chr.
    nach Karageorghis 1995, 140-142 Taf. 81, 1

     

    Noch deutlicher wird das in der Ilias:
    Nestor lässt ein Bad für Machaon richten:

    „Bis dass ein warmes Bad Hekamede mit kräftigen Flechten
    Für dich wärmt und abwäscht den blutigen Schorf von der Wunde.“

    (Hom. Il. 14, 6)[8].

    Achill lehnt zum Zeichen der Trauer die Wohltat des Bades ab,

    „Ehe Patroklos nicht ist verbrannt und das Mal ihm geschüttet“

    (Hom. Il. 23, 39-45)

    Erst danach erlauben die Gebräuche,
    „Einen Dreifuß ans Feuer zu stellen, um zu versuchen,
    Den Peliden rein zu waschen vom blutigen Schorfe.“

    Wasser in Mythos und Kult

    Berühmte Orakel gehen direkt von einer Quelle aus. Es… „befindet sich in den Trümmern von Hysiai (im Gebiet von Platiai / Böotien)…ein heiliger Brunnen; einst holte man sich …aus dem Brunnen durch Trinken Orakel“ (Paus. IX 2, 1). Auch an anderen Orten wird die Kraft der Weissagung durch einen Trunk aus einem Brunnen oder einer Quelle verliehen[9]. Hellseherische Begeisterung ist eine Gabe der Nymphen[10]. Die überwältigende Erfahrung der Ergriffenheit durch die Nymphen, der Nympholepsie, vermag die Menschen mitzureißen und in Verzückung zu versetzen. Als Folgen einer Erweiterung des Bewusstseins und geschärfter Wahrnehmung können sich besondere rhetorische Fähigkeiten[11]  und gesteigerte Ausdruckskraft einstellen[12]. Der schöne Jüngling Hylas freilich wird von den Nymphen in Persona ergriffen und in die Tiefe gezogen[13].

    Aus der engen Beziehung des göttlichen Geschwisterpaars Artemis und Apollon zur Reinheit ergibt sich deren Affinität zu allen strömenden Gewässern. Das begann bereits vor der Geburt der Zwillinge, da Leto, die von der eifersüchtigen Hera verfolgte werdende Mutter, die thessalischen Nymphen um Fürsprache beim Flussgott Peneios bat, damit dieser seine Fluten anhielt und ihr so die ruhige Geburt im Flussbett ermögliche (Kall. h. in del. 109). Später gehörten zahlreiche Nymphen zu den dienenden Begleiterinnen der Artemis[14]. Wasser ist heilig, da es jede Art von Befleckung wegzunehmen vermag[15]. Auch zu den Asklepieia[16] gehört die Nähe von Quellhäusern und Brunnenanlagen, denn: „Rein muss sein, wer in den duftenden Tempel tritt, rein sein ist aber, heilige Gedanken zu haben“[17]. Plutos (= der reiche Mann) begibt sich, nachdem er sich durch Baden im Meer gereinigt hat, mit seinen Begleitern in den heiligen Bezirk des Asklepios, wo die Opfer, Honigkuchen und anderes Backwerk, auf dem Heiligen Tisch deponiert werden (Aristoph. Plut. 660-663).

    Ein Trunk aus den Wassern der Lethe endlich lässt die Verstorbenen ihre Erdenschicksale vergessen, auf dass ihnen die Ruhe des Hades zuteilwerde[18].

    Wasser und Heilwässer zu therapeutischen Zwecken

    Frühe Spuren des Gebrauchs von Heilwässern finden sich in Griechenland und seinen westlichen Kolonien in den Gegenden, die über zahlreiche „gesunde Flüsse“ und natürliche, durch Calor, Odor und Color[19] auffällige Quellen verfügen[20].  „Am blauesten ist das Wasser, das ich an den Thermopylen sah, aber nicht alles, sondern nur das, das in das Schwimmbecken fließt, das die Einheimischen ‚Frauenwannen‘ nennen“ (Paus. IV, 35, 9).

    Auch Herodot wusste davon:

    „Im Westen der Thermopylen…gibt es warme Quellen, die die Einheimischen ‚Kochtöpfe‘ nennen“ (Hdt. VII, 176, 3)[21].

    In der Argolis steigt Süßwasser aus dem Meer auf (Paus. VIII, 7, 2), aber vor Dikaiarcheia (Puteoli=Pozzuoli) im Etruskerland“ gebe „es kochendes Wasser im Meer und eine künstliche Insel dafür, damit auch dieses Wasser nicht ungenutzt bleibe, sondern ihnen zu warmen Bädern diene“ (Paus. VIII, 7, 3).

    Doch Hippokrates warnt: „Wo warme Gewässer aus dem Boden kommen oder Eisen, Kupfer, Silber, Gold, Schwefel, Vitriol, Erdpech oder Natron vorhanden sind – solches Wasser halte ich zu jeder Verwendung für schlecht.“ (Hippokr. Schriften „Über Luft, Wasser und Ortslagen“)[22]. Bittere Erfahrung machte ein Athener, der an Pachydermie und Juckreiz litt: …„dabei war die Haut dick über den ganzen Körper und sah wie die Schuppenflechte (lepra) aus; an keinem Körperteil konnte man die Haut abheben wegen ihrer Dicke…“. Er „reiste nach Melos, wo die warmen Bäder sind; hier genas er vom Juckreiz und von der Dickhäutigkeit (pachydermia), starb aber an der Wassersucht“. (Hippokr. Schriften „Über die epidemischen Krankheiten“) [23]. Das ist nicht gerade  ermutigend. Mehr Hoffnung macht 500 Jahre später Pausanias:

    „In Samikon[24] ist eine Höhle nicht weit vom Fluss, die Höhle der anigridischen Nymphen genannt. Und wer mit der Weißfleckenkrankheit hineingeht, muss zuerst zu den Nymphen beten und ihnen ein Opfer geloben, und dann lösen sich die kranken Stellen des Körpers ab. Wenn er den Fluss durchschwimmt, lässt er jenen Schaden in seinem Wasser zurück und steigt gesund und mit gleichmäßiger Hautfarbe heraus“ (Paus. V, 5, 11).

    Die elischen Nymphen werden gleich göttlichen Ärztinnen verehrt:

    „Gegen 50 Stadien von Olympia entfernt liegt das elische Dorf Herakleia und dabei der Fluss Kytheros; eine Quelle ist da, die in den Fluss mündet, und ein Nymphenheiligtum an der Quelle. Jede der Nymphen hat ihren besonderen Namen“ (Paus. VI, 22, 7). Eine von ihnen trägt den sprechenden Namen Iasis, die Heilende. „Wenn man in der Quelle badet, erlangt man Heilung von Erschöpfung und verschiedenen Schmerzen…“

    Neben den zahlreichen Heilnymphen war es besonders Herakles, der Heros der Arbeit, den man als Schirmherrn der Heilquellen verehrte. Unter seinem Schutz (oder dem des Asklepios?)[25] steht wohl auch die Magnesium-Sulfat-Therme von Himera auf Sizilien. Noch heute sei das 42o C warme Wasser in Gebrauch[26]. Eine um 420 v. Chr. geprägte Münze zeigt die Ortsnymphe bei der Libation vor einem Altar[27] sowie einen Satyr, der seine linke Schulter dem scharfen Strahl  aus dem Löwenkopf-Wasserspeier aussetzt. Wir wollen für den kleinen Trabanten des Dionysos hoffen, dass er nicht an einer akuten Gelenkentzündung litt – dann könnte nämlich der Nutzen des „Blitzgusses“[28] leicht auf Seiten des behandelnden Arztes sein statt auf der des Patienten!

     

    Wamser-Krasznai Wasser Bild 5

    Bild 5: Silbernes Tetradrachmon, 430/420 v. Chr.
    nach Franke 1964, 44 f. Taf. 22 a

    Ergötzliches Wasser. Baden als Lustgewinn

    In Rom wurde das Badewesen, das in republikanischer Zeit als moralisch nicht akzeptabel galt[29], zunächst mit Vorbehalt aufgenommen. Zwar hatte Scipio Africanus, der Sieger über Hannibal, in seiner Villa im kampanischen Liternum, in die er sich Anfang des 2. Jhs. v. Chr. zurückzog, ein kleines privates Bad, doch stand dieses in krassem Gegensatz zu dem Badeluxus, den man 250 Jahre später für selbstverständlich hielt[30]. 33 n. Chr. gab es in Rom bereits 170 öffentliche Bäder.

    Wamser-Krasznai Wasser Bild 6

                Bild 6: Hypokausten in der Hafentherme in Leptis Magna/Libyen
    Aufnahme der Verfasserin, 2009

    Zu Zeit des Scipio erfreuten sich die Griechen bereits einer entwickelten Badekultur. Es gab Gemeinschaftsbäder mit Sitzwannen und Schwitzbad, Duschen und Becken, und auch ihre Sport- und Bildungsstätten, die Gymnasien, waren mit Badeanlagen ausgestattet. Durch Perfektionierung und Standardisierung der im griechisch-hellenistischen Kulturraum entwickelten Bodenheizungen und Badeanlagen[31] entstand ein Ambiente, das man sich ohne kostbare Marmorintarsien, Glasmosaiken und  Nachbildungen berühmter griechischer Skulpturen nicht vorstellen konnte: die römische Therme.

    Überkam den Badegast ein menschliches Rühren, so brauchte er einen angefangenen Dialog deshalb nicht zu unterbrechen. Latrinen waren Gemeinschaftsräume, Stätten der Kommunikation. Man konnte das WC, das von ständig fließendem Wasser durchspült wurde, in Gesellschaft betreten und,   immerfort diskutierend, alle notwendigen Geschäfte dabei erledigen.

    Wamser-Krasznai Wasser Bild 7

                   Bild 7: Latrine in der Hafentherme von Leptis Magna/Libyen
    Photo der Verfasserin, 2009

    Für die Ableitung des Brauchwassers hatte man in Rom schon frühzeitig gesorgt, und zwar wie es die Überlieferung will durch die Ingenieure des etruskischen Königs Tarquinius Priscus, der die Cloaca maxima erbauen ließ. Aus dem unterirdischen Kanal wurde der flüssige Dreck – wohin wohl – natürlich direkt in den Tiber entsorgt. Das wird uns doch nicht überraschen? Betrachten wir nur einmal die Wasser der heutigen „schönen blauen Donau“ oder die des ebenso schönen Rheines!

    Wamser-Krasznai Wasser Bild 8

    Bild 8: Rom, Mündung der Cloaca maxima in den Tiber
    Zustand 1958, Photo der Verfasserin

    Übrigens handelt es sich bei der berühmten Bocca della verità in der römischen Kirche Santa Maria in Cosmedin möglicherweise um einen Kanaldeckel dieser Kloake[32].

    Bereits in der frühen Römischen Kaiserzeit wuchs die Neigung zu Luxuria atque avaritia, Luxus und Habgier. Ausgehend von der Hauptstadt verbreitete sie sich über die Villenvororte vor allem in der kampanischen Küstenregion, den „goldenen Strand der Venus“ (Mart. Epigrammata XI, 80)[33]. Dort entwickelte sich Baiae zu einem ebenso beliebten und „schicken“ Modebad wie sehr viel später Bad Ischl zur Zeit der Donaumonarchie. In mancher Hinsicht freilich dürfte das kampanische Seebad das k. und k. Landstädtchen im Salzkammergut übertroffen haben. Wenn wir Martial und seinen dichtenden und schriftstellernden Zeitgenossen glauben wollen, so geriet Baiae nicht nur zu einem Zentrum der Üppigkeit und Schwelgerei, sondern auch zu einem wahren „Sündenbabel“. Wohlanständige  Ehefrauen, die als keusche Penelope gekommen waren, verließen den Ort der Freuden nicht selten als kapriziöse Helena mit einem Paris im Gefolge (Mart. 1, 63) [34].

    „Ihr trinkt sogar verschiedenes Wasser!“ (Juv. V 52) geißelt Juvenal „die neumodische Verbindung von übertriebenem Luxus mit schmutzigem Geiz“. Es war nämlich durchaus üblich, die Teilnehmer am Gastmahl ihren sozialen Stellungen entsprechend zu bewirten. Sich selbst und erlesenen Freunden ließ der Gastgeber Delikatessen auftragen. Für geringere Freunde war eine einfachere Bewirtungsklasse vorgesehen und eine dritte noch schlichtere für die Freigelassenen (Plin. Epist. II 6, 2 und 6)[35]. Doch vor erfahrenen ‚Symposiums-Haien‘ und dickfelligen Schnorrern vermochte das System den vermögenden Gastgeber nicht zu schützen.

    Moderne Spa-Abteilungen und Wellness-Oasen in ehrgeizigen zeitgenössischen Hotels versuchen, sich dem Fluidum und den Attraktionen des „goldenen Strandes“ der römischen Kaiserzeit anzunähern, ganz im Gegensatz zu den heutigen Rehabilitations-Einrichtungen mit ihrer Atmosphäre von Ehrgeiz und Leistung. Übrigens bedeutet das Wort Spa weder eine Verstümmelung von Spa-ß-bad, noch handelt es sich um historisierende Abkürzungen wie „Sanus per Aquam, Salus per Aquam oder Sanitas per Aquam (Gesundheit durch Wasser). Das wäre zwar durchaus passend, aber nein, Spa hat seine Bezeichnung vom gleichnamigen belgischen Badeort, von dem ausgehend das Wort Spa seit dem 17. Jh. in Britannien für Mineralquellen und dann ganz allgemein als englisches Synonym für unser deutsches „Bad“ gebraucht wurde. Also nachgestellt, Bath Spa entsprechend Bad Nauheim?

    Antike Bade- und Tafelfreuden gingen Hand in Hand. Man ließ seinen Rausch im Schwitzbad verfliegen, holte sich dort neuen Durst oder verlegte das weitere Zechen gleich ganz in die Therme[36]. Kein Wunder, dass es das folgende Distichon[37] zur Grabinschrift brachte:

    Balnea, vina, venus corrumpunt corpora nostra,
    sed vitam faciunt balnea vina venus.

    „Die Bäder, die Weine, die Liebe: sie richten den Körper zugrunde.
    Doch sie sind auch das Leben: Die Bäder, die Liebe, der Wein“[38].

    Abgekürzt zitierte Literatur:

    Benedum 1985: J. Benedum, Physikalische Medizin und Balneologie im Spiegel der Medizingeschichte, Zeitschrift für Physikalische Medizin, Balneologie und Medizinische Klimatologie 14, 1985, 141-159, hier 144

    Benedum 1994: J. Benedum, Die Therapie rheumatischer Erkrankungen im

    Wandel der Zeit (Stuttgart 1994)

    Brödner 1983: E. Brödner, Die römischen Thermen und das antike Badewesen (Darmstadt 1983)

    De Haan 2007: N. de Haan, Luxus Wasser. Privatbäder in der Vesuvregion, in: R. Aßkamp – M. Brouwer – J. Christiansen – H. Kenzler – L. Wamser (Hrsg.), Luxus und Dekadenz. Römisches Leben am Golf von Neapel (Mainz 2007), 122-137

    Dierichs 2007: A. Dierichs, Am goldenen Strand der Venus, in: R. Aßkamp – M. Brouwer – J. Christiansen – H. Kenzler – L. Wamser (Hrsg.), Luxus und Dekadenz. Römisches Leben am Golf von Neapel (Mainz 2007), 31-41

    E. Diez, Quellnymphen, in: Festschrift Bernhard Neutsch (Innsbruck 1980) 103-108

    Franke 1964: P. R. Franke – M. Hirmer, Die griechische Münze (München 1964)

    Hähner-Rombach (Hrsg.), „Ohne Wasser ist kein Heil“. Medizinische und kulturelle Aspekte der Nutzung von Wasser (Stuttgart 2005)

    Heinz 1983: W. Heinz, Römische Thermen. Badewesen und Badeluxus (München 1983)

    Kapferer-Sticker 1934-39: R. Kapferer – G. Sticker (Hrsg.), Die Werke des Hippokrates. Die hippokratische Schriftensammlung in neuer deutscher Übersetzung (Stuttgart 1934-39)

    Karageorghis 1995: V. Karageorghis, The Coroplastic Art of Ancient Cyprus IV. The Cypro-Archaic Period. Small Male Figurines (Nicosia 1995)

    Klöckner 2001: A. Klöckner, Menschlicher Gott und göttlicher Mensch? Zu einigen Weihreliefs für Asklepios und die Nymphen, in: R. von den Hoff – St. Schmidt (Hrsg.), Konstruktionen von Wirklichkeit. Bilder im Griechenland des 5. Und 4. Jahrhunderts v. Chr. (Stuttgart 2001)121-136

    Krug 1985: A. Krug, Heilkunst und Heilkult (München 1985)

    Laser 1983: S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom S, 1983

    Ninck 1960: M. Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten (Darmstadt 1960)

    Pfisterer-Haas 2009: S. Pfisterer-Haas, Ammen und Pädagogen, in: Alter in der Antike, Bonn 25.2.2009-7.6.2009, 69-80

    Rook 1992: T. Rook, Roman Baths in Britain (Buckinghamshire 1992)

    Simon 31985: E. Simon, Die Götter der Griechen (München 31985)

    Simon 2000: E. Simon, Römische Wassergottheiten, AW 3, 2000, 247-260

    Steger 2005: F. Steger, Wasser in Kult und Medizin des Asklepios, in: S. Hähner-Rombach (Hrsg.), „Ohne Wasser ist kein Heil“ (Stuttgart 2005) 36-43

    Tölle-Kastenbein 1990: R. Tölle-Kastenbein, Antike Wasserkultur (München 1990)

    Steudel 1960: J. Steudel, Heilbäder und Heiltempel der Antike, Münchener Medizinische Wochenschrift 102/11, 1960, 513-519

    Wamser-Krasznai 2006: W. Wamser-Krasznai, Frau „Kur“ und ihr Schatten, oder: Badelust von der Antike bis heute, Orthoprof 02/2006, 38-40

    Wamser-Krasznai 2012: W. Wamser-Krasznai, Wie man sich bettet…Lager und Lagern in antiken Heil-Heiligtümern, Les Études classiques 80, 2012, 55-72

    Wamser-Krasznai 2012/2013: W. Wamser-Krasznai, Wie man sich bettet…Lager und Lagern in antiken Heil-Heiligtümern, in: dies., Auf schmalem Pfad (Budapest 2012/2013) 55-71

    Wamser-Krasznai 2015: W. Wamser-Krasznai, Vom Alter im Altertum, in:  dies., Fließende Grenzen (Budapest 2015), 58-69

    Weeber, Baden 2007: K.-W. Weeber, Baden, spielen, lachen. Wie die Römer ihre Freizeit verbrachten (Darmstadt 2007)

    Weeber 2007: K.-W. Weeber, Luxuria, das „süße Gift“, in: R. Aßkamp – M. Brouwer – J. Christiansen – H. Kenzler – L. Wamser (Hrsg.), Luxus und Dekadenz. Römisches Leben am Golf von Neapel (Mainz 2007), 2-15

     

     

    [1] Der Felsen von Gibraltar und der Berg Dschebel Musa auf der gegenüber liegenden Seite in Marokko.

    [2] Diez 1980, 107.

    [3] Krug 1985, 46 Anm. 7.

    [4] Tölle-Kastenbein 1990, 21-37.

    [5] Dies. a. O. 84-92; anscheinend sind bereits Vitruv mögliche Gesundheitsschäden durch die Verwendung von Bleirohren aufgefallen, ders., de architectura VIII (de aquis) 6, 10 f.

    [6] Simon 2000, 255.

    [7] Pfisterer-Haas 2009, Abb. 25; Wamser-Krasznai 2015, 63 Bild 6.

    [8] Laser 1983, 138-143.

    [9] = Hydromantik, Tölle-Kastenbein 1990, 12 f.

    [10] Ninck 1960, 48.

    [11] Man denke an die Redegabe der Echo, Ov, met. 3, 356-369.

    [12] Klöckner 2001, 128; vgl. Plat. Phaidros 238 c. d.

    [13] Simon 2000, 255 Abb. 13, unter Hinweis auf Goethes Gedicht “Der Fischer”, dessen Schlusszeilen zum geflügelten Wort gerieten: “halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr gesehn“.

    [14] Krause 1871, 143 f.

    [15] Simon 31985, 158 f.

    [16] Den Heiligtümern des Gottes Asklepios.

    [17] Porphyrius (De abstinentia 2, 19), für Epidauros überlieferte Inschrift, Krug 1985, 130; Wamser-Krasznai 2012, 66; dies. 2012/2013, 66; anders Steger 2005, 37: für Kos überliefert (?)

    [18] Ninck 1960, 104.

    [19] Wärme, Geruch, Farbe.

    [20] Benedum 1994, 125.

    [21] Benedum 1985, 147.

    [22] Kapferer-Sticker 1934-1939, Steudel 1960, 514; Benedum 1985, 144.

    [23] Kapferer-Sticker ebenda; Steudel ebenda;; Benedum 1985, 148.

    [24] In der Landschaft Elis, im Nord-Westen der Peloponnes.

    [25] Franke 1964, 44 f. Taf. 22 a.

    [26] Benedum 1985, 144.

    [27] Trankopfer.

    [28] Die mechanische und thermische Wirkung gezielter Wassergüsse wurde anscheinend seit 100 n. Chr. durch den Arzt Archigenes in größerem Umfang eingesetzt, Benedum 1985, 144. Diese Therapie hat, richtig angewendet, zwar noch heute ihren Stellenwert in der physikalischen Medizin, gehört aber längst nicht mehr zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen!

    [29] Rook 1992, 18.

    [30] Seneca, Epistulae morales ad Lucilium 86; De Haan 2007, 123-137.

    [31] Griechisches Hypokaustenbad 180-80 v. Chr., z. B. Brödner 1983, 8.

    [32] Tölle-Kastenbein 1990, 168 f. Abb. 107.

    [33] Dierichs 2007, 31.

    [34] Steudel 1960, 517.

    [35] Weeber, Baden 2007, 71-73.

    [36] Petr. 73, 3 ff.; Quint. inst. or. I 6, 44; Weeber, Baden 2007, 14 f.

    [37] Zweizeiler, aus einem Hexameter und einem Pentameter, die sich aus sechs bzw. fünf Hebungen zusammensetzen.

    [38] Nach CIL VI 15258 (Corpus lateinischer Inschriften).

     

  • TURTLE’S   SECRET

    (Die deutsche Übersetzung von Dietrich Weller folgt nach dem englischen Text.) 

                                               Simon-Der Bibliothekar - Das Geheimnis der SChildkröte                                           

    A long time ago there lived in Xian the Emperor’s Supreme librarian named Li-Yuan. His every day’s work was to examine, catalogue and control manuscriptsand ancient books written on  bamboo strips or rice papers as wereother written pieces in the possession of the great Imperial Library.

    Coincidentally, leafing through an old book, to his great astonishment Li-Yuan came across, between the pages a faded loose leaf sheet of inscribed rice paper. Possibly it had been put there by one of his predecessors. The paper had written on the top a question – and was followed by an interesting answer.

    The question asked was: “Why do turtles all bear heavy shell on their backs?”

    The answer given was: “The turtle’s ancestor WUGUI got his shell after declining an invitation from the Almighty with the excuse, that “There is no place like home”. His refusal enraged the Almighty so much so that he condemned all turtles to carry on their back forever a shell as their home. However, every grief contains seeds of bliss.

    To be protected against all injuries the turtle hides its head, legs and tail in the shell. It is considered that the turtles are spiritually gifted creatures.

    In former times, most natural phenomena seemed inexplicable to people. Therefore, they invented an imaginary animal able to resolve all mysterious happenings. This imaginary creature was a “a dragon” that symbolized the representation of existing animals. People painted the dragon’s shape with a horse’s head, crocodile’s body and a snake’s tail. However, a dragon was only imaginary whereas turtles were real.

    Everybody is able to observe, stroke and even talk to turtles. The turtle is slow, but a careful and  cautious walker. Every step is preconceived and is in accordance with its prudent nature. These actions are appropriate at a given time and space.

    Gentleness and politeness are the ways turtles care for all other living creatures, great and small. This implies that the body is in a state of balance and the heart beats very slowly.

    The peaceful heart guarantees a very long life and the longevity gives the blessing of prudence. In comparison with a turtles life, the duration of a

    human life is too short to reach the heart of prudence. Prudent beings are able to
    judge between morally admirable and wicked actions. The actions are appropriate at a given time and space. Gentleness and politeness are the ways to care for all other beings “

     

    Author’s note

    The biggest gift in life is a peaceful heart. A peaceful heart is a blessing for a long life. GUI (龟) is one of the oldest Chinese pictograms. Such pictograms are found already in oracle bone inscriptionswhich express the admiration towards turtles and the simplicity of the figures shows theturtle’s side and front views.

    These pictograms are lifelike and children throughout the whole world can “read them and identify the turtle’s head, legs, shell and tail”.  The pictogram GUI () is used to depict longevity as in GUI-SHOU (a long life) as does the pictogram in GUI-LING (a turtle’s age), both metaphors for a venerable age . 

     

    Dr.med.André Simon  ©Copyright

    andre.simon@hin.ch

     

    Das Geheimnis der Schildkröte

    Von André Simon

    Vor langer Zeit lebte in Xian des Kaisers oberster Bibliothekar Li-Yuan. Seine tägliche Arbeit bestand darin, Manuskripte und alte Bücher zu untersuchen, zu katalogisieren und zu kontrollieren, die auf Bambusstreifen oder Reispapier geschrieben waren so wie andere geschriebene Stücke im Besitz der großen kaiserlichen Bibliothek.

    Zufällig stieß Li-Yuan zu seinem großen Erstaunen beim Durchblättern eines alten Buchs zwischen den Seiten auf ein verblasstes loses Blatt von beschriebenem Reispapier. Vielleicht war es von einem seiner Vorgänger dorthin gelegt worden. Oben auf dem Blatt stand eine Frage geschrieben – und sie wurde von einer interessanten Antwort gefolgt.

    Die gestellte Frage lautete: „Warum tragen alle Schildkröten schwere Panzer auf ihren Rücken?“

    Die gegebene Antwort lautete: „Der Vorfahr der Schildkröte, WUGUI erhielt seinen Panzer, nachdem er eine Einladung des Allmächtigen mit der Begründung abgelehnt hatte, es gebe keinen anderen Platz als das Zuhause. Seine Weigerung erzürnte den Allmächtigen so sehr, dass er alle Schildkröten dazu verdammte, für immer auf ihren Rücken einen Panzer zu tragen. Jede Trauer enthält jedoch den Samen zur Glückseligkeit.

    Um gegen alle Verletzungen geschützt zu sein, versteckt die Schildkröte ihren Kopf, die Beine und den Schwanz im Panzer. Man geht davon aus, dass alle Schildkröten spirituell begabte Kreaturen sind.

    In alten Zeiten waren natürliche Phänomene für die Leute unerklärlich. Deshalb erfanden sie ein symbolisches Tier, das alle mysteriösen Geschehnisse erklären konnte. Dieses symbolische Tier war ein Drache, der die Erscheinung der existierenden Tiere darstellte. Die Leute malten die Drachenform mit einem Pferdekopf, einem Krokodilkörper und einen Schlangenschwanz. Ein Drache jedoch war nur symbolisch vorhanden, während die Schildkröten Wirklichkeit waren.

    Jeder kann Schildkröten beobachten, sie streicheln oder sogar mit ihnen reden. Die Schildkröte ist langsam, aber eine sorgfältige und vorsichtige Geherin. Jeder Schritt ist vorbedacht und steht im Einklang mit ihrer weisen Natur. Die Handlungen sind angepasst an die jeweilige Zeit und den Raum.

    Freundlichkeit und Höflichkeit sind die Mittel, mit denen Schildkröten sich um alle anderen Kreaturen kümmern. Das setzt voraus, dass der Körper sich in einem Gleichgewichtszustand befindet und das Herz langsam schlägt.

    Das friedvolle Herz garantiert ein sehr langes Leben, und die Langlebigkeit schenkt die Segen der Besonnenheit. Im Vergleich zu einem Schildkrötenleben ist das Menschenleben zu kurz, um ein Herz der Besonnenheit zu erreichen. Besonnene Lebewesen sind fähig, zwischen moralisch bewundernswerten Handlungen und verrückten Taten zu unterscheiden. Die Handlungen sind an die jeweilige Zeit und den Raum angepasst. Freundlichkeit und Höflichkeit sind die Wege, um für alle anderen Wesen zu sorgen.

     

    Bemerkung des Autors

    Das größte Geschenk im Leben ist ein friedvolles Herz. Ein friedvolles Herz ist ein Segen für ein langes Leben. GUI (龟) ist eines der ältesten chinesischen Symbolbilder. Solche Symbolbilder findet man schon in Inschriften von Orakelknochen, die die Bewunderung für Schildkröten ausdrücken, und die Einfachheit der Zeichen zeigt die Anblick der Schildkröte von der Seite und von vorn.

    Diese Symbolbilder sind lebensähnlich, und Kinder in der ganzen Welt können sie lesen und Kopf, Beine, Panzer und Schwanz der Schildkröte erkennen.

    Das Symbolbild GUI wird benutzt, um Langlebigkeit abzubilden wie in GUI-SHOU (ein langes Leben) oder wie im Symbolbild GUI-LING (ein Schildkröten-Alter). Beide Metaphern stehen für ein verehrenswertes Alter.

    Übersetzung von Dietrich Weller

     

     

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    Vom Alter im Altertum.
    Mit Texten und Bildern auf den Spuren einer „unheilbaren Krankheit“

     

    Zur Einstimmung seien ein paar Zeilen aus Elisabeth Herrmann-Otto, Die Ambivalenz des Alters[1], referiert:

    Während in Sparta, einem oligarchischen Staatswesen, den mächtigen Alten uneingeschränkte Anerkennung zuteil wurde, hing in Rom, sowohl unter republikanischer als auch monarchischer Führung, alles von der sozialen Schicht ab. Für den geistig gesunden Angehörigen der Oberschicht gab es gleitenden Ruhestand, private Altersversorgung und hohe Wertschätzung. Die Mitglieder der Unterschicht dagegen hatten weder Ruhestand noch Altersversorgung zu erwarten. Ihnen drohten Armut und Verachtung.

    Im demokratischen Athen dominiert der Kult der Jugend und der Männlichkeit, der die politische, soziale und ökonomische Marginalisierung der Alten, insbesondere der alten Frauen, zur Folge hat. Die unnützen Alten werden mit unzureichender Versorgung schutz- und fast rechtlos auf ihr nahendes Ende verwiesen. Zitat Ende.

    Es ist Seneca, der feststellt: Senectus enim insanabilis morbus est, das Alter nämlich ist eine unheilbare Krankheit[2]. Aristoteles sieht darin eine natürliche Krankheit – νόσος φυσική[3], eine Art Austrocknungsprozess, ähnlich dem Verwelken der Pflanzen.

     

    „Mir furchte bereits hier, da und dort
    tief meine Haut das Alter
    … weiß wurde das Haar,…
    …nicht tragen mich mehr die Knie
    …und tanzen so leicht wie Rehe.“

    klagt Sappho[4], die doch der Schönheit so leidenschaftlich zugetan ist, denn
    „…euch, ihr Schönen, wird sich mein Sinn und Fühlen niemals entfremden.“

    Wamser-Krasznai-Vom Alter -Bild 1 Die Greisin

     

    Bild 1. Die Baseler Greisin
    Antikenmuseum und Sammlung Ludwig (Photo Verf.[5])

     

    Auch der Spartaner Tyrtaios ruft aus: die Älteren, die schon keine flinken Knie mehr haben, lasst sie nicht im Stich….[6]                                

    Und noch einmal die Knie, die nicht nur den beiden lyrischen Poeten, sondern auch dem Epiker Homer als Sitz und Sinnbild der jugendlich-raschen Fortbewegung gelten; Agamemnon spricht zum greisen Nestor die geflügelten Worte:
    „Alter, würden doch so, wie dir der Mut in der Brust ist,
    Deine Knie auch folgen, und wäre die Kraft dir beständig!“[7]

    Wir bleiben bei der Ilias und hören die Klage des Priamos:
    „Dem Jüngling gereicht noch alles zur Zierde,

    jedoch das graue Haupt und das Kinn das ergraute,

    … das ist wohl das kläglichste Bild für die elenden Menschen.“[8]

     

    Nicht alle antiken Autoren äußern sich so negativ über das Alter. Für Salomo sind „Graue Haare … eine Krone der Ehre; auf dem Weg der Gerechtigkeit wird sie gefunden“[9]. Ebenfalls ermutigend klingt es bei Solon: „Wird auch silbern mein Haar, lern‘ ich doch immer noch vieles“[10].

    Sehen wir einmal, wem graue Haare zur Ehre gereichen. Da ist Nestor mit seinem vielfältig klugen Rat, der die Achäer, die im Zorn auf einander entbrennen, mit honigsüßer[11] Rede besänftigt.

     

    „Doch nicht alles zugleich gewähren die Götter den Menschen.

    War ich ein Jüngling vordem, so drückt mich heute das Alter.

    Aber auch so begleit‘ ich die Kämpfenden noch und ermahne

    Sie mit Worten und Rat, denn das ist das Vorrecht des Alters.“[12]

    Wamser-Krasznai - Vom Alter - Bild 2 - Die Greise Nestor und Phoinix

     

    Bild 2. Die Greise Nestor und Phoinix finden den toten Aias

    (nach Simon[13]1981, 51 f. Abb. 28)

     

    Auch der Gegner im troianischen Krieg, König Priamos, wird als würdiger Greis dargestellt. Gebeugt stützt er sich auf seinen Stab; das schüttere Haar ist grau.

    Wamser-Krasznai - Bild 3 - Kriegers Abschied

    Bild 3. Kriegers Abschied (nach Simon 1981, 101 Abb. 112)

     

    Seine Gemahlin Hekabe, die ihm gegenüber steht, prangt in jugendlicher Schönheit. Sie ist es auch, die ihrem Abschied nehmenden Sohn Hektor die Waffen reicht.

    Bekanntlich unterliegt Hektor im Zweikampf dem Griechen Achilleus.

    Zuvor jedoch war Patroklos im Kampf gegen Hektor gefallen. Maßlos in seiner Trauer um den geliebten Freund lässt Achill sich nicht damit genügen, den Feind getötet zu haben.

     

    Er „… ersann dem göttlichen Hektor schmähliche Dinge.

    Denn er durchbohrte ihm hinten an beiden Füßen die Sehnen

    Zwischen Knöchel und Ferse …

    Band am Wagen sie fest und ließ den Kopf dabei schleifen.…“[14]

     

    Zum unaussprechlichen Schmerz des Elternpaares Priamos und Hekabe, die von den Zinnen Trojas auf die unwürdige Szene blicken, schleift der Sieger den Toten von der Stadt bis zu den Zelten der Griechen. Dann liegt der Leichnam unter der Kline des zechenden und schmausenden Achilleus. Um den Sohn würdig bestatten zu können, erniedrigt sich der greise Priamos so weit, daß er sich, vom Götterboten  Hermes geleitet, mit Wagenladungen voll Lösegeld dem Feind demütig bittend naht. Wen wundert es, daß Christa Wolf ihre Kassandra stereotyp wiederholen lässt: „Achill das Vieh“[15]

    Wamser-Krasznai - Bild 4 - Priamos vor Achill

    Bild 4. Priamos vor Achill (nach Simon 1981, 112 f. 146)

     

    Doch endlich „sich des grauen Hauptes erbarmend und Kinnes, des grauen,“[16]

    gibt Achilleus den Leichnam frei, sodaß ihn der Vater bestatten kann.

     

    Ein Beispiel rührender Sohnesliebe gibt der Troianer Aenaeas[17], der seinen greisen Vater schulternd und den Sohn an der Hand führend die brennende Stadt verlässt.

    Wamser-Krasznai -Bild 5 - Terrakottagruppe aus Pompeji

    Bild 5.  Terrakottagruppe aus Pompeji

    (nach von Rohden 1880, 48 f. Taf. 37 a)

     

    Wir haben gesehen, dass Alterszüge einer hochgestellten Frau wie Hekabe, der Gemahlin des Priamos, nicht zukommen. Auch Heroen altern nicht. Während Homer wortreich schildert, wie die Göttin Athena den Odysseus aus taktischem Kalkül in einen alten Mann verwandelt,

     

    „Sprach‘s und berührte ihn mit dem Zauberstabe, Athene,

    Und ließ schrumpfen die schöne Haut der geschmeidigen Glieder,

    Tilgte am Haupte die braunen Haare und legte dann ringsum

    Ihm um all seine Glieder die runzlige Haut eines Greises.

    Und sie machte die Augen ihm trüb, die früher so schönen;

    dass du unansehnlich erscheinst“ …[18]

     

    behält der Heros in der bildlichen Darstellung sein jugendliches Aussehen.

    Wamser-Krasznai - Bild 6 -Eurykleia bei der Fußwaschung

                                    Bild 6. Eurykleia bei der Fußwaschung

    (nach Furtwängler – Reichhold 1904, Taf. 142; Pfisterer-Haas 2009, Abb. 25)

    Die Amme Eurykleia ist seit der Abreise des Odysseus ebenfalls um 20 Jahre gealtert. Graues Haar und ein faltiger Hals legen Zeugnis davon ab. Darstellungen von Alterszügen, die man bei Heroen möglichst vermeidet, sind bei Dienerinnen statthaft. Während der Fußwaschung erkennt Eurykleia ihren Herrn an einer alten Narbe. Odysseus kann sie gerade noch daran hindern, in ihrer Begeisterung sein Inkognito zu verraten.

     

    „Mütterchen, willst du mich denn verderben? Du hast mich an deiner

    Brust doch selber gestillt; nach viel überstandenen Mühen

    Kam ich im zwanzigsten Jahr zurück ins Land meiner Väter.“[19]

     

    Frauen, die von ihrer Hände oder anderer Körperteile Arbeit leben, wurden ohne Weiteres realistisch, als hässlich, alt, verkommen, dargestellt. Unter den negativ konnotierten Eigenschaften, die man alten Frauen – und zwar nicht nur Hetären und Dienerinnen, sondern auch alten Bürgerinnen[20] – zuschrieb, war am häufigsten die übermäßige Liebe zum Wein, ein beliebter Topos seit  spätarchaischer Zeit bis in die Spätantike, sowohl in der Literatur als auch in der darstellenden Kunst[21]. Schilderungen weiblicher Trunksucht erregten gleichermaßen Heiterkeit und Verachtung.

    „Von jenem Myron, der als Bronzebildner berühmt ist, steht eine alte Betrunkene (anus ebria) in Smyrna“[22]. Das hellenistische Werk des 3. Jhs. v. Chr. ist in römischen Kopien des 1. und 2. Jhs. n. Chr. überliefert.

    Wamser-KRasznai - Bild 7 - Trunkene Alte Rom                   Wamser -Krasznai - Vom Alter -Bild 8 -Trunkene Alte München                                                                                                                                                                                                              

    Bild 7. Trunkene Alte, Rom                            Bild 8. Trunkene Alte, München

    Kapitolinische Museen                                              Glyptothek

    (Photos Verf.)

    Die alte Frau hockt auf der Erde, eine bauchige Weinflasche (Lagynos) liebevoll, als wäre sie ein Kind, in den Armen haltend. Der angehobene Kopf ist haltlos zur Seite gesunken, der Mund – lallend vermutlich – geöffnet. Tiefe Furchen durchziehen die schlaffen Wangen. Mit unbarmherzigem Verismus[23] hat der Bildhauer Muskelstränge, Schlüsselbeine und Rippen unter der papierdünnen Haut des abgezehrten Körpers wiedergegeben. Die umfangreiche Flasche und das Niedersitzen am Boden deuten möglicherweise auf eine Teilnehmerin an den Lagynophorien hin[24]. Eine Efeuranke, die als plastisches Relief die Schulter des Gefäßes schmückt, weist in den Bereich des Weingottes. War die alte Säuferin in ihren besseren Jahren eine Priesterin des Dionysos[25] oder eine betagte Nymphe, „das heißt eine dionysische Amme“[26]? Im Haltungsmotiv einen Rückgriff auf den Typus des spreizbeinig hockenden Satyrn zu sehen[27] kann im Hinblick auf die beiden großplastischen Marmorfiguren nicht befriedigen, denn die Sitzende hält trotz der verlorenen Kontrolle über Mimik und Halsmuskulatur ihre Beine schicklich gekreuzt (Bild 7). Anders als die zahlreichen Terrakottastatuetten und figürlichen Gefäße, die lediglich das beliebte Thema der trunksüchtigen Vettel reflektieren, lassen die Marmorstatuen weitere bedeutsame Details erkennen: das sorgfältig geknüpfte Kopftuch und die elegante Drapierung der fein gefältelten stoffreichen Gewänder. Der herabgeglittene Träger, ein aphrodisisches Entblößungsmotiv[28], legt jedoch statt einer wohlgeformten, die Sinne stimulierenden Rundung von Schulter und Busen den kachektischen Oberkörper einer völlig heruntergekommenen Alten frei (Bild 8).

    Für Dichter und Philosophen sind Zeichen des Alters und der Hässlichkeit kein Manko. Sie treten bereits in klassischer Zeit in Form von Stirnglatze, Runzeln und schlaffen Hautpartien auf. Wir begnügen uns mit dem Beispiel des sog. Hesiod und seinem faltigen Hals.

    Wamser-Krasznai - Vom Alter -Bild 9 - Hesiod

    Bild 9. „Hesiod“,  Neues Museum Berlin

    (Photo Verf.)

    Welches Kraut ist gegen das Alter gewachsen? Medea, die Zauberin aus Kolchis, weiß Rat. Sie demonstriert die Verjüngung eines Widders und verführt damit die Töchter des Pelias, ihren Vater zu zerstückeln und zu kochen, damit er mit Hilfe ihrer magischen Kräuter dem Kessel als ein Jüngerer entsteige. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.

    Wamser-Krasznai - Bild 10 - Vom Alter- Marmorrelief

    Bild 10.  Marmorrelief um 100 v. Chr. Berlin (Photo Verf.)

     

    Aristoteles betrachtet, wie wir gehört haben, das Phänomen des Alterns als eine Art Austrocknungsprozess. Folgerichtig behandelt später Galen mit befeuchtenden und wärmenden Mitteln. Dazu gehöre der Wein, der für alte Menschen das Beste sei (V 5). Wichtig sind diätetische Maßnahmen und die Ausfuhr (V 9), auch körperliche Übungen und sogar Stimmübungen (V 10). In den hippokratischen Schriften wird, wenn die Menschen die 50 überschritten hätten, vor plötzlicher Sonneneinstrahlung oder Abkühlung gewarnt. Dies alles sind prophylaktische Ratschläge. Als Therapie taugen sie wenig, allenfalls tragen sie ein wenig zur Linderung bei. Gegen den Tod und das Alter ist nicht anzukommen. So wie heute versucht man auch damals, die Jugend mit Hilfe der Kosmetik festzuhalten. Aus dem Orient stammen Duftstoffe. Falten werden mit Bleiweiß und  Schminke abgedeckt[29].

    Es ist bereits angeklungen, dass man die unnützen Alten auf ihr nahendes Ende verwies. Dazu gab es gelegentlich sehr direkte Beihilfe, zu allen Zeiten und an allen Orten. Der Zoologe Ilja Ilijitsch Metschnikoff, der 1865 in Gießen die intrazelluläre Verdauung, später die Phagozytose entdeckte, zählt 1908 in seinen Beiträgen über das Altern[30] verschiedene ersprießliche Lösungen auf: In Melanesien ist es gebräuchlich, unnütze alte Menschen lebendig zu begraben. In Feuerland würden bei Hungersnot zuerst die alten Frauen getötet und verspeist, danach die Hunde, denn diese fangen Robben, die alten Weiber aber nicht. Er verweist auch auf Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, in dem ein altes dummes, böses Weib, das keinem Menschen das Geringste bedeute, ohne irgendwelche Gewissensbisse ermordet und beraubt werden dürfe.

    Greise laufen nicht nur Gefahr, ermordet zu werden; sie entschließen sich auch leichter, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Wie eine Statistik aus Kopenhagen ausweise, seien die Alten mit mehr als 63% an der Zahl der Suicide beteiligt[31]. Seneca, dem mit etwa 65 Jahren von seinem Kaiser und früheren Schüler Nero der Selbstmord befohlen wurde, hatte sich rechtzeitig mit diesem Thema auseinandergesetzt. Er begrüßt die Möglichkeit, das Ende selbst herbeizuführen: und “danken wir dem Gott, dass niemand im Leben festgehalten werden kann“[32].

    Wamser-Krasznai - Bild 11 - Vom Alter - Seneca

    Bild 11.  Büste des Seneca, Neues Museum Berlin

    (Photo Verf.)

     

    Eine Doppelbüste zeigt ihn zusammen mit Sokrates, der ebenfalls von Staats wegen, im demokratischen Athen, den Schierlingsbecher leeren musste.

    Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf Kindheit und Jugend, den frühen Stufen des Alters.

    Wamser-Krasznai -Vom Alter- Bild 12- Herakles                                      Wamser-Krasznai- Vom Alter -Bild 13 - Der Ganswürger

    Bild 12. Der kleine Herakles als Schlangentöter          Bild 13. Ganswürger

    Rom, Kapitolinische Museen                                             München, Glyptothek                                                                                                                                                                                                                                                           (Photos Verf.)

    Berechtigen diese kleinen Lieblinge nicht zu den schönsten Hoffnungen?

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Alter in der Antike 2009: Alter in der Antike. Die Blüte des Alters aber ist die Weisheit. Katalog zur Ausstellung  im LVR-LandesMuseum Bonn 25.2.2009-7.6.2009

    De Beauvoir 1978: S. de Beauvoir, Das Alter  (Reinbek bei Hamburg  1978)

    Brandt 2002: H. Brandt, Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alters in der Antike (München 2002)

    Furtwängler – Reichhold 1904: A. Furtwängler – K. Reichhold, Griechische Vasenmalerei. Auswahl hervorragender Vasenbilder (München 1904)

    Gutsfeld – Schmitz 2009: A. Gutsfeld – W. Schmitz (Hrsg.), Altersbilder in der Antike. Am schlimmen Rand des Lebens? (Göttingen 2009)

    Herrmann-Otto 2004: E. Herrmann-Otto (Hrsg.), Die Kultur des Alterns (St. Ingbert 2004)

    Kunze 1999: Chr. Kunze, Verkannte Götterfreunde, Römische Mitteilungen 106, 1999, 69-77

    Lippold 1950: G. Lippold, Die griechische Plastik. Hellenistische Periode, Hochblüte des 3. Jahrhunderts, Handbuch III 1(München 1950) 322

    Neugebauer 1951: K. A. Neugebauer, Die griechischen Bronzen der Klassischen Zeit und des Hellenismus (Berlin 1951)

    Pfisterer-Haas 2009: S. Pfisterer-Haas, Ammen und Pädagogen, in: Alter in der Antike, Bonn 25.2.2009-7.6.2009, 69-80  Bild 6

    Von Rohden 1880: H. von Rohden, Die Terrakotten von Pompeji (Stuttgart 1880)  Bild 5

    Salomonson 1980: J. W. Salomonson, Der Trunkenbold und die Trunkene Alte, BaBesch 55, 1980, 65-106 Taf. 107-135

    Simon 1981: E. Simon, Die griechischen Vasen (München 1981)  Bild 2-4

    Simon 2004: Kourotrophoi, in: S. Bergmann – S. Kästner – E.-M. Mertens (Hrsg.), Göttinnen, Gräberinnen und gelehrte Frauen (Münster – New York – München – Berlin 2004)

    Wrede 1991: H. Wrede, Matronen im Kult des Dionysos, Römische Mitteilungen 98, 1991, 163-188

    Zanker 1989: P. Zanker, Die Trunkene Alte. Das Lachen der Verhöhnten (Frankfurt am Main 1989)

     

    Antike Literatur:

    Il.: Homer, Ilias. Übers. R. Hampe (Stuttgart 22007)

    Od.: Homer, Odyssee. Übers. R. Hampe (Stuttgart 22007)

    Plin. nat.: C. Plinius secundus d. Ä. Naturkunde Buch 26, 1-5. Lateinisch-deutsch (München 1979)

    Sappho: Sappho, Lieder, griechisch und deutsch (M. Treu Hrsg. München 1958)

    Verg. Aen.: Vergil, Aeneis. Übersetzt und herausgegeben von W. Plankl, unter Verwendung der Übertragung Ludwig Neuffers (Stuttgart 32005)

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

     

    [1] Herrmann-Otto  2004, 14.

    [2] Seneca, Brief 108, an Lucilius 28; den Hinweis verdanke ich Prof. Dr. K. D. Fischer, Mainz.

    [3] De generatione animalium V 4.784 b 32-34, zit. nach G. Wöhrle, Der alte Mensch im Spiegel der antiken Medizin, in: Herrmann-Otto 2004, 19-31.

    [4] Sappho 4, 65 a D. 13-15; 1, 12 D.

    [5] Abbildung mit freundlicher Erlaubnis von Frau Dr. E. van der Meijden Zanoni, Basel.

    [6] Zit. nach Brandt 2002, 33.

    [7] Il. 4, 313.

     

    [8] Il. 22, 71-75.

    [9] Sprüche Salomonis Kap. 16 Vers 31, nach dem Hinweis bei S. de Beauvoir 1978, 79 und 95.

    [10] Solon Frgm. 22,7,  Diehl, zit. bei Brandt 2002, 37.

    [11] Il. I, 249.

    [12] Il. 4, 320-323.

    [13] Für wiederholt erteilte Abbildungserlaubnis bin ich Frau Prof. Dr. Erika Simon, Würzburg, von Herzen dankbar.

    [14] Il. 22, 395 f.

    [15] Christa Wolf, Kassandra (Frankfurt am Main 2008) 33. 51. 69. 86. 87. 88. 93. 97. 117.124.125.127.129.142.

    [16] Il. 24, 515.

    [17] Verg. Aen. 2, 705-725.

    [18] Od. 13, 429-433.

     

    [19] Od. 19, 482-484.

    [20] Pfisterer-Haas 1989, 78.

    [21] Pfisterer-Haas 1989, 78; Salomonson 1980, 94-97; s. sprechende Namen wie οινοϕίλη für das Bild einer Alten mit Weinschlauch auf einem attischen Gefäß in London, Pfisterer-Haas 78, oder „Silenis“ in einem Spott-Epigramm, Salomonson 96, bekunden die Nähe zu Trunk und dionysischem Gefolge.

    [22] Plin. nat. 36, 33; zu Myron, möglicherweise ein hellenistischer Meister, der denselben Namen trägt wie der berühmte Skulpteur des 5. Jhs. v. Chr.: Zanker 1989, 82; zur etl. fehlerhaften Überlieferung des Künstlernamens Salomonson 1980, 96 Anm. 171.

    [23] Neugebauer 1951, 71.

    [24] Ein Fest, das von Ptolemaios IV in Alexandria eingerichtet worden war, Kunze 1999, 72 f; Pfisterer-Haas 1989, 83..

    [25] Lippold 1950, 322; Salomonson 1980, 96 Anm. 170; Wrede 1991, 173.

    [26] Simon 2004, 72 f. Abb. 1-2.

    [27] Kunze 1999, 77.

    [28] Zanker 1989, 61.

    [29] Alter in der Antike 2009, 173 f.

    [30] E. Metschnikoff, Beiträge zu einer optimistischen Weltauffassung (München 1908) 9-12.

    [31] Metschnikoff a. O.

    [32] Seneca, De senectute 12, 10, zit. nach Brandt 2002, 195.

    Der Aufsatz ist erschienen in dem Buch Wamser-Krasznai: Fließende Grenzen – Zwischen Medizin, Literatur und (antiker) Kunst), Minerva Verlag, Budapest, 2015. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

     

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    Gestern saß ich im Zug von Berlin nach Basel. Ich kehrte von einem Kongress zurück, der für mich sehr wichtig war – sicher nicht nur für mich – und eine Mitgliedsversammlung hatte stattgefunden, die – vielleicht – noch wichtiger war als der ganze Kongress (objektiv und für mich). Ich schaute aus dem Fenster, trank Kaffee, Tee oder Wasser und erinnerte mich,  liess alles noch einmal Revue passieren. An dem Morgen war mir ein kleines Missgeschick passiert, dass mich an ein ähnliches Jahrzehnte zurückliegendes Missgeschick erinnerte. Ich verspürte den Impuls, darüber zu schreiben. Mein Mac Air war schon vor mir auf dem Tischchen. Ich schrieb und schrieb, die Gedanken flogen mir nur so zu, fast eine Seite war schon voll, da passierte es: Ich kann es nicht genau diagnostizieren, Absturz oder Aufhängen (Überlebenschancen in beiden Fällen gleich null). Ich hatte gehofft, dass mein etwas  kapriziöses Wordprogramm sich mit mir oder meinem Mac versöhnt hatte…

    Ich tröste mich damit, dass ich nicht Korrektur lesen muss, denn aus den Augenwickeln hatte ich gesehen, dass es viel rote Unterstreichungen gab! Noch mal beginnen? Wieder einen Absturz oder Erhängen riskieren? Nein, danke! Vielleicht morgen oder irgendwann. Eigentlich war der Text ja schon geschrieben, wenigstens in mir. Wie das nun mal meine berufsbedingte Art als Psychotherapeutin ist, fragte ich mich heute Morgen auf dem Spaziergang mit meiner Hündin, ob sich dahinter vielleicht irgendein Grund verstecke? Ich kam auf einen anderen Fehler, der mir am Anfang des Kongresses passiert war. War der nicht viel wichtiger, sollte ich vielleicht von ihm erzählen?

    Wie soll ich die nötige Information kurz und knapp vorausschicken? Es war im Vorfeld einiges Ungute geschehen. Auf objektiver Ebene, mehr noch auf persönlicher Ebene. Ich hielt mich im Vorfeld für besser informiert als die Mehrheit. Eine kleine Info per E-Mail, hatte in der darauffolgenden Nacht unangenehme Ängste ausgelöst, ein nicht näher zu definierendes Gefühl von Beklemmung. Ich hatte bei der Informantin vorsichtig nachgefragt und … die Antwort: „Ich bin im Weltuntergang“, tat ein Übriges, dass ich mich von der emphatischen Kollegin über die klar analysierende Therapeutin zur kämpfenden Mutter entwickelte. Ich setzte meine kriminalistische Begabung ein, versuchte hier und dort Informationen aus dem Nähkästchen zu erhalten und schließlich war auch ich in Sorge, bzw. schäumte ich vor Wut und entwarf – das war psychohygienisch absolut nötig, sozusagen psychotherapeutische Prophylaxe – einen Schlachtplan. Den galt es nun, wenn nötig, in die Tat umzusetzen. Möglichst so, dass Nähkästchenplauderer nicht erkannt wurden.

    Vor der MV fand unsere Großgruppe statt (der Ort, gleichermaßen geliebt und gefürchtet, wo jeder über seine Gefühle, Ängste, Träume und Visionen sprechen kann, ohne zu befürchten, be- und verurteilt zu werden). Ich war erstaunt, dass einige erwähnten, dass der Vorstand zurück treten wolle. Moment mal, war das nicht ein angesteuertes Ziel? War mein ,,Schlachtplan‘‘ nicht Teil davon, dies Ziel zu erreichen? Auch dort sprach einer ganz offen davon und da, die mir unbekannte Kollegin links in der Ecke… woher wussten denn so viele davon? Und Anwesende des noch nicht zurückgetretenen Vorstandes… hörten schweigend zu, mit verschiedenen Gesichtsausdrücken. Ich möchte auch nicht urteilen, weder be- noch ver-. Meine Irritation wuchs ins Unermessliche! Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich ergriff das Wort und sagte klipp und klar und unmissverständlich: „Ich verstehe kein Wort! Kann mich vielleicht einer mal informieren?“

    Ein Sturm brach los. Ich verstand nicht unbedingt mehr, aber die Stimmung wurde besser. Ich war nicht mehr allein. Der klärende Prozess (mehr bei mir als bei den anderen) setzte ein, als eine neue, mir noch unbekannte Kollegin meinte, dass ich ihr aus dem Herzen gesprochen hätte. Erst habe sie sich eigentlich ganz unvoreingenommen auf den Kongress gefreut, aber als sie im Mitgliederrundschreiben las, dass der Vorstand zurück treten wolle, habe sie nichts mehr verstanden. Ich muss sagen, meine Irritation nahm darauf doch wieder zu. Von was sprach sie?

    Ich muss etwas einschieben. Wir hatten vorher alle einen sehr schön gestalten Rundbrief bekommen, der aussah wie eine tolle Zeitschrift, ich hatte mehr oder minder alles mehr oder minder gründlich gelesen, auf jeden Fall wusste ich, was drin stand. Aber dann bekamen wir noch einen speziellen Mitgliederbrief als Vorbereitung auf die Mitgliederversammlung per E-Mail, den liess ich mir von meinem Copyladen ausdrucken um Platz und Papier zu sparen: beidseitig. Ich hatte ihn mal flüchtig durchgeblättert und stellte fest, dass ich die letzten Seiten vor Ort lesen könne, das andere las ich sehr gründlich. Und nun das! Nach einiger Zeit klärte sich das Missgeschick: genau auf der Rückseite von dem Blatt, wo ich aufhörte zu lesen, war dieser Brief des Vorstands! Warum hatte ich das nicht auf der Zugfahrt gelesen, wie ich es mir doch eigentlich vorgenommen hatte? Ich weiß es nicht, ich weiß jetzt nur, dass, auch wenn ich es gewollt hätte, nicht gekonnt hätte, dieser Mitgliederbrief ist schlichtweg verschwunden. Vielleicht habe ich ihn konstruktiv recycelt und als Konzeptpapier verwendet.

    Nach der Großgruppe kam meine Hauptinformantin und Hauptbetroffene (die, die im Weltuntergang war) auf mich zu und sagte bewundernd: ,,Du kannst ja vielleicht schauspielern! Es wirkte so echt! Man hätte meinen können, du hast von Tuten und Blasen keine Ahnung.‘‘ Ich kam erst nicht dazu ihr zu sagen, dass ich weder von Tuten noch von Blasen irgendeine Ahnung hatte! Dieses ihrer Meinung nach absolute (von mir geschauspielerte) Nichtswissen habe den Boden dafür bereitet, dass nun endlich alle Informationen gesagt werden konnten!

    Irgendwann werde ich jetzt heimgekehrt sie per Telefon darüber aufklären. Ich weiß nicht, ob sie meinen Fehler genauso bewundern wird wie meine angebliche schauspielerische Begabung, also warte ich noch etwas mit der Aufklärung, um es mir noch in der Bewunderung gut gehen zu lassen.

    Ich hoffe, dass ich dieses Erlebnis nicht so schnell vergesse, dass ich mich erinnere: Manchmal werden im Drama des Lebens vom Regisseur Schicksal korrigierende Regieanweisungen in Gestalt vermeintlicher Fehler eingesetzt:

     

    Copyright Dr. Helga Thomas

     

    Dieser Text wurde vorgetragen auf dem Jahreskongress de BDSÄ 2105 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Dieser Text wurde vorgetragen beim Jahreskongress des BDSÄ 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Bremer Stadtmusikanten“

     

    Eine wichtige Botschaft aus dem Märchen „Bremen Stadtmusikanten“ ist für mich, dass wir uns durch unvorhergesehene, abwegige, verrückte, unpassende, vielleicht auch laute Ereignisse und Anforderungen nicht aus dem Gleichgewicht bringen oder gar in die Flucht schlagen lassen dürfen.

    Ein Beispiel dafür habe ich neulich erlebt mit zwei Begegnungen der besonderen Art in einer Nacht.

    Ich war gerade in meinem Dienstzimmer eingeschlafen, wo wir Ärzte uns ausruhen können, wenn wir Nachtdienst in der Notfallpraxis haben. Da rief mich die Arzthelferin in die Praxis zurück. Auf dem Weg über den Flur machte ich mir zum soundsovielten Mal klar, dass ich jetzt trotz meiner Müdigkeit freundlich und aufmerksam sein musste.

    Es gibt ja tatsächlich Patienten, die nachts in die Notfallpraxis kommen und wirklich ein Notfall sind. Ich meine mit Notfall, was ein Arzt darunter versteht: eine frisch aufgetretene Notsituation, die den Patient akut bedroht und in der er sofort Hilfe benötigt. Oft habe ich den Eindruck, dass die Notfallpraxis für manche Menschen eine Bedürfnisbefriedigungsanstalt ist, zu der sie gehen, wenn sie gerade Zeit haben, ein schon längeres Bedürfnis zu stillen oder eine unangenehme Sache zu klären. Außerdem muss man in unserer Notfallpraxis auch selten lang warten, jedenfalls nicht länger als in so mancher Arztpraxis. Die Patienten wissen das genau und nützen es aus. Ich komme mir manchmal vor wie ein Angestellter bei McDonald´s oder an der Tankstelle. Aber jetzt, heute Nacht, bin ich der Verantwortliche in einer richtigen Arztpraxis.

    Auf der Rezeption steht eine halb volle Sprudelflasche. Die junge Frau weint, als wir einander begrüßen. Eine Begleitperson sitzt still im Eck.

    „Was gibt´s denn?“, frage ich.

    Die Patientin schaut mich durch ihre Tränen an und fragt mit weinerlicher Stimme:

    „Können Sie mir sagen, warum mein Mund seit heute Abend keine Spucke mehr produziert?“

    Ich bin verblüfft und versuche, meinen Ärger zu besänftigen.

    „Und das fragen Sie mich jetzt um halb zwei morgens?“

    „Ja, das möchte ich jetzt wissen, ich werde fast verrückt. Ich trinke und trinke, und ich habe trotzdem einen furztrockenen Mund.“

    Da greift die Arzthelferin ein: „Sie müssen dem Herrn Doktor aber schon die ganze Geschichte erzählen!“

    „Und was ist die ganze Geschichte?“

    „Ja, wissen Sie, ich habe mir Anfang der Woche ein Zungenpiercing-Loch erweitern lassen, da schwillt die Zunge an, das ist ja in Ordnung, und das ist auch schon wieder vorbei, aber jetzt habe ich keine Spucke mehr! Es macht mich wahnsinnig!“

    Ich bin drauf und dran, der Frau zu empfehlen, jetzt sofort mitten in der Nacht ihren Piercer anzurufen und um Rat zu fragen. Aber ich halte mich zurück und sage: „Na, über Piercing habe ich sicher eine andere Meinung als Sie! Kommen Sie ins Sprechzimmer, ich schau mir das mal an.“

    Ich untersuche die Mundhöhle und sehe kein Piercingloch, keinen Zungenstecker und einen auch sonst völlig gesunden Mund.

    Dann zucke ich mit den Schultern: „Ich weiß nicht, warum Sie keine Spucke haben. Haben Sie denn Medikamente genommen, die als Nebenwirkung einen trockenen Mund machen können?“

    „Nein, ich nehme gar keine Medikamente!“ –

    Die Frau wird etwas ruhiger, wahrscheinlich, weil sie merkt, dass ich sie doch wenigstens ernst nehme.

    „Dann erzählen Sie mir mal genau, was Sie heute Abend gemacht haben. Vielleicht komme ich dann drauf, was Ihr Problem verursacht hat.“

    Sie schildert einen unauffälligen Verlauf des Abends, dann kommt der entscheidende Satz:

    „Nach dem Zähneputzen habe ich noch eine Mundspülung gemacht, richtig lang und gründlich, damit es ja keine Infektion in dem Piercingloch gibt!“

    Ich bin erleichtert:

    „Ja, dann ist doch alles klar. Kennen Sie den Begriff adstringierende Wirkung?“

    „Nein.“

    „Das Mundspülmittel zieht die Schleimhaut zusammen und schließt damit auch die Ausführungsgänge der Speicheldrüsen. Das ist sehr lästig und völlig harmlos!“

    Die Frau schaut mich verblüfft an. „Und jetzt? Was mach ich jetzt?“

    Ich lächle sie an: „Ruhig bleiben, weiter trinken, bis die Wirkung nachlässt. Dann machen die Speicheldrüsen wieder auf. Im Lauf des Vormittags ist wieder alles in Ordnung!“

    Die junge Frau kann es kaum glauben, verlässt aber dann einigermaßen beruhigt die Praxis.

    Ich gehe zurück in mein Dienstzimmer und lege mich wieder hin. Nach einer weiteren Stunde im Halbschlaf werde ich erneut in die Praxis gerufen.

    Das steht ein Mann etwa Mitte vierzig und sagt: „Ich habe seit sechs Wochen Schmerzen an der linken Fußsohle. Können Sie da was machen?“

    Ich bemühe mich, nicht zu explodieren. Diese Situation habe ich oft erlebt: Ein völlig unangemessener Wunsch zur Unzeit und dann noch mit einer ebenso unpassenden Anspruchshaltung auf Sofort-Wunderheilung. Ich weiß, dass ich ruhig bleiben muss. Also sage ich nur mit gebremster Freundlichkeit und so, dass der Patient merkt, wie er bei mir auf ein roten Knopf gedrückt hat:

    „Also, seit sechs Wochen haben Sie das, und da kommen Sie mitten in der Nacht? Was sagt der Hausarzt?“

    Der Patient erwidert ganz ruhig: „Ich war bei keinem Arzt!“

    Ich bleibe auch ruhig – äußerlich wenigstens: „Da fühle ich mich aber ganz schön verschaukelt von Ihnen und ausgenützt! Haben Sie gelesen, dass da draußen auf dem Schild Notfallpraxis steht? Sie sind ganz bestimmt, ganz sicher nie und nimmer ein Notfall. Ist Ihnen das bewusst?“

    Der Patient zuckt mit der Schulter: „Nein, aber heute Abend hat´s weh getan. Und jetzt bin ich da. Was machen wir jetzt?“

    Ich weiß ja, dass ich den Patient versorgen muss, also schlucke ich meinen Ärger runter und sage: „Zeigen Sie mir mal den Fuß.“

    Ich untersuche den Fuß gründlich, denn auch ein nächtlicher Nicht-Notfall-Patient kann ja mal krank sein. Die Fußsohle zeigt keine Entzündung, keine Verletzung, keine Druckschmerzen, keine Bewegungsschmerzen, keine Hautauffälligkeiten, es ist wirklich eine völlig normale Fußsohle.

    Mit ernster Miene sage ich: „Das ist ein eindrucksvoller Befund!“

    „So, was ist das?“

    „Eine völlig normale Fußsohle!“

    Nach dieser Verblüffung überlegt der Patient: „Ja, können Sie die Glasscherbe jetzt rausmachen?“

    Jetzt bin ich überrascht: „Glasscherbe? Wie kommen Sie denn auf Glasscherbe?“

    „Ja wissen Sie, vor sechs Wochen habe ich im Urlaub am Strand Volleyball gespielt, und da habe ich mir wahrscheinlich eine Glasscherbe reingetreten. Die können Sie doch jetzt rausoperieren!“

    Ich hole Luft: „In so eine gesunde Fußsohle wird kein vernünftiger Chirurg reinschneiden, schon gar nicht, wenn er nicht sieht und tastet und Sie nicht wissen, wo die Glasscherbe ist!“

    „Aber Sie können doch jetzt ein Röntgenbild machen!“

    „Ich mache jetzt ganz sicher mitten in der Nacht kein Röntgenbild, auch deshalb nicht, weil man eine normale Glasscherbe im Röntgenbild nicht sieht. Nur wenn Sie schwören, dass es ein Bleiglas war, – und das können Sie nicht -, dann kann man die Scherbe im Röntgen sehen.“

    Der Patient lässt nicht locker.

    „Aber Sie können doch jetzt eine Computertomografie machen!“

    „Wenn es ein lebensbedrohlicher Notfall wäre, zum Beispiel ein Schlaganfall, könnte man jetzt ein CT machen, da haben Sie Recht. Aber die Sache hatte jetzt sechs Wochen Zeit. Dann muss ich nicht notfallmäßig auch noch die Röntgenassistentin aus dem Bett holen. Ich denke, das sollten Sie mal in Ruhe in der ganz normalen Sprechstunde mit Ihrem Hausarzt besprechen. Der kann Sie dann immer noch, wenn er es für nötig hält, zum Röntgen oder zum Chirurgen überweisen.“

    „Ja, und was soll ich jetzt machen?“

    „Jetzt machen Sie es wie in den letzten sechs Wochen auch. Gehen Sie nach Hause. Und wenn Sie je wieder Schmerzen haben – jetzt haben Sie ja keine Schmerzen -, dann nehmen Sie ein Schmerzmittel. Gute Nacht!“

    Copyright Dr. Dietrich Weller

  • Freitagnacht. Sprechstunde in der Notfallpraxis im Marienhospital.

    Der ältere Herr ist einfach und sauber gekleidet, schlank, stellt einen kleinen Rucksack neben den Stuhl, auf den er sich setzt, und sagt: „Ich habe eine chronische Bronchitis.“

    Dann wartet er auf meine Reaktion.

    „Haben Sie sonst noch Beschwerden?“ –

    „Nein!“

    „Dann lassen Sie mich mal die Lunge abhören, bitte.“

    Er steht auf, ich ziehe sein Hemd hoch, höre Lunge und Herz ab:  „Alles normal, prima!“

    Dann messe ich mit dem Ohrthermometer seine Temperatur: „37,1° C, auch gut! – Haben Sie überhaupt irgendwelche Beschwerden?“

    „Nein!“

    „Warum sind Sie dann da?“

    „Ich habe meinen Hausschlüssel verloren! Und der Mann, der mir helfen kann, der Hausmeister, kommt erst am Montag.“

    „Das ist natürlich dumm. Wo schlafen Sie bis dahin?“

    „Ja, ich denke, hier im Krankenhaus!“

    Ich bleibe freundlich und sehr bestimmt.

    „Also ganz sicher werden Sie nicht hier übernachten! Das hier ist ja kein Hotel! Da müssen Sie eine andere Lösung finden!“

    Er entgegnet ganz ruhig: „ Aber das ist doch ein christliches Krankenhaus, die müssen mir helfen!“

    „Ja“, sage ich, „aber nur wenn Sie krank sind! Sie sind nicht krank, sondern Sie haben den Hausschlüssel verloren! Das ist etwas ganz anderes. Dafür sind wir hier nicht zuständig!“

    Die Medizinische Fachangestellte, die mir in der Sprechstunde hilft und den Dialog mitgehört hat, fragt: „Haben Sie den Schlüsseldienst angerufen?“

    Der Mann antwortet empört: „Ja klar, aber der will 83 Euro haben, und die will ich nicht zahlen!“

    Sie bleibt direkt: „Wollen Sie nicht zahlen, oder können Sie nicht zahlen?“

    „Ich will nicht bezahlen, weil ich dann am Wochenende gar nicht aus der Wohnung gehen kann, sonst muss ich jedes Mal wieder neu den Schlüsseldienst rufen und wieder 83 Euro zahlen!“

    „Könnten Sie das Geld zahlen?“

    Er zögert, dann etwas kleinlaut: „Ja, aber ich habe kaum Geld da.“

    „Und auf der Bank? Können Sie etwas abheben?“

    „Ja, aber da gibt es auch nicht wesentlich mehr!“

    Er macht eine Pause, dann setzt er nach und fixiert mich: „Sie müssen mir helfen, Sie sind doch Arzt!“

    „Ja, stimmt, wenn Sie krank sind, bemühe ich mich, Ihnen zu helfen. Aber Sie haben den Hausschlüssel verloren und wollen die Hilfe, die Sie haben und bezahlen könnten, nicht annehmen. Das ist etwas ganz anders. Ich bin der falsche Ansprechpartner für Sie. Und wenn ich die Internisten hier im Haus bitte, Sie stationär aufzunehmen, werden die sich strikt weigern. Es gibt keinen medizinischen Grund für eine stationäre Aufnahme. Sie erwarten selbstverständlich, dass die Krankenkasse sofort mehrere hundert Euro zahlt, wenn Sie übers Wochenende hier aufgenommen werden. So geht das nicht!“

    Er gibt nicht nach: „Aber ich brauche doch nur ein Bett und eine Toilette und eine Dusche!“

    „Das verstehe ich. Dann müssen Sie in ein Hotel gehen, nicht in ein Krankenhaus. Sie könnten sich aus Ihrer Lage leicht retten, wenn Sie die 83 Euro investieren, dann können Sie eben übers Wochenende nicht aus dem Haus gehen, oder Sie fragen Nachbarn um Hilfe.“

    „Ich habe kein gutes Verhältnis zu den Nachbarn“, ist seine etwas zerknirschte Antwort.

    Ich will der Situation einen Ausweg geben und den Patient in Gutem entlassen und nicht hinauswerfen. Deshalb bitte ich die MFA, mir den Ordner zu geben, in dem die Adressen für Notunterkünfte in Stuttgart verzeichnet sind. Wir überfliegen die Seite.

    Ich erkläre es dem Patienten: „Hier diese Adressen sind für Obdachlose, für Frauen und für Kinder in Not und für junge Drogenabhängige. Da passen Sie nicht hin, denn Sie haben ja ein Obdach, eine Adresse, nur eben keinen Schlüssel dazu.“

    Es entsteht eine Pause. Dann sagt er:

    „Ja, und jetzt?“

    Ich antworte: „Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann: Ich rufe in dem Obdachlosenheim für Männer in der Nordbahnhofstraße an und frage um Rat.“

    Die Nummer ist rasch gewählt, ich stelle mich dem Diensthabenden im Obdachlosenheim für Männer vor, erkläre die Situation und frage, was er meinem Patienten rät.

    Die Antwort ist so klar wie knapp: „Wenn Ihr Patient den Schlüsseldienst nicht bezahlen will, schläft er auf der Straße. Wenn er den Schlüsseldienst nicht bezahlen kann, hat er ein Recht, sich im Obdachlosenheim in der Hauptstädterstraße 150 zu melden. Aber die werden ihn sehr genau fragen, warum er nicht zu Hause schläft! Ich glaube nicht, dass er da reinkommt. Aber versuchen kann er es ja.“

    Oje, denke ich, das ist auch die Adresse für jugendliche Drogensüchtige!

    Die MFA sagt: „Da werden Sie sich nicht wohlfühlen. Da ist es besser, Sie holen den Schlüsseldienst!“

    Ich erkläre dem Patienten noch einmal die Situation. Er akzeptiert widerwillig die Adresse und geht.

    Als er nach dem Rucksack greift, der da prallvoll steht, kommt mir der Gedanke: Wer verliert zufällig seinen Hausschlüssel und hat ebenso zufällig seinen vollen Rucksack dabei? Steckt da etwas ganz anderes dahinter? Hat der Patient mich angelogen oder nur die halbe Geschichte erzählt? Aber ich will nicht eine neue Diskussion anfangen und lasse den Patienten gehen. Ich weiß, dass ich ihm nicht mehr helfen kann, als ich es getan habe.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde vorgetragen beim BDSÄ-Jahreskongress 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Thema „Fehler“

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    Ein entfernter Onkel von mir plauderte gerne aus seiner Vergangenheit. Er hatte etliche Jahre als Arzt in einem Gefängniskrankenhaus gearbeitet.

    Einmal erzählte er folgende Begebenheit:

    Im Krankenhaus waren für jede Station einige Gefangene als Hilfskräfte ausgewählt, sie hatten eine Sonderstellung: Man nannte sie Kalfaktoren.

    Einer von ihnen, Walter Pingel, von Beruf Bäcker, war besonders geschickt und zuverlässig. Als er nach zwei Jahren entlassen wurde, bedauerten wir alle, dass seine Freiheitsstrafe nicht länger währte. Zum Abschied bedankte er sich sehr, denn er fühlte sich gut behandelt und er war froh, dass wir ihn im Krankenhaus behalten hatten und er nicht wieder in die Braunkohle zurück musste, wo er das erste Jahr verbüßt hatte.

    Walter Pingel, ein Mecklenburger, versprach, für unsere Station eine wunderschöne Torte zu backen und eigenhändig zum Krankenhaus zu bringen. Wir brachten unsere Freude darüber zum Ausdruck und nahmen das Versprechen als gutgemeinten Gedanken, nicht an die Verwirklichung glaubend. Aber, er war eben ein Mecklenburger. Versprochen ist versprochen.

    Drei Wochen später bekam ich telefonisch vom Wachgebäude Bescheid, dass ein Herr Pingel mit einer Torte im Karton gekommen sei und diese für unsere Abteilung abgeben wolle. Am liebsten würde er sie mir, dem Chefarzt, übergeben. Der Karton sei bereits geprüft, es sei wirklich eine Torte darin und geviertelt sei sie auch schon, um sicher zu gehen, dass in der Torte keine Feile und kein Messer versteckt seien.

    Ich gab Anweisung, Herrn Pingel in den Besucherraum zu führen und dort auf mich zu warten.

    Herr Pingel übergab mir dann mit Stolz die selbstgebackene Torte. Sie war mit Sahne ummantelt, deren Oberfläche mit Raspelschokolade bedeckt war und am Rand 16 Sahnerosetten trug, darauf jeweils eine kandierte Kirsche.

    Herr Pingel wollte sicher sehen, wie mir die Torte schmeckte und bat mich, gleich ein Stückchen zu probieren. Das wollte ich nur tun, wenn er ein Stückchen mitessen würde. Er willigte ein. Der Wachmann lehnte ab. Die Torte schmeckte fantastisch. Herr Pingel war voller Freude. Er erklärte mir, dass er sechs Eier verwendet hatte, deren Eiweiß zu Schnee geschlagen worden war. Das Eigelb hatte er mit Zucker schaumig gerührt und unter die im warmen Wasserbad geschmolzene Kuvertüre mit Butter gezogen. Die weiteren Schritte der Herstellung konnte ich mir nicht merken.

    Jedenfalls wurde der gebackene und erkaltete Biskuit waagerecht zweimal durchschnitten und mit Kirschsaft und Kirschwasser getränkt. Die Zwischenräume wurden mit Sahne ausgelegt. Verwendung fanden auch Zucker, Mehl, Speisestärke und Backpulver. Er wolle mir gerne das Rezept zusenden.

    Ich erkundigte mich nach Frau und Kindern und der Wiederaufnahme der Tätigkeit als Bäcker. Alles erschien positiv. Herr Pingel verabschiedete sich und ich ging mit den 14 Stücken  Torte zu meiner Krankenstation, wo ich ein gemeinsames Kaffeetrinken mit Torte für den Nachmittag plante.

    Als ich mein Zimmer betrat, sagte mir die Sekretärin, ich solle sofort zum ärztlichen Direktor kommen. Warum, dass wusste sie nicht.

    Der Direktor hatte inzwischen durch den Diensthabenden der Wache von der Tortenübergabe erfahren und machte mir heftige Vorwürfe, dass ich die Torte überhaupt angenommen hatte. Und das von einem ehemaligen Gefangenen! Die Torte dürfe doch auf keinen Fall gegessen werden, sie könnte doch vergiftet sein. Ich möge mir doch nur einmal vorstellen, was es bedeute, wenn das gesamte Personal meiner Abteilung, ich eingeschlossen, wegen Krankheit ausfiele oder wegen Todes ersetzt werden müsse.

    Auf meinen Einwand, dass wir die Torte ja auch den Kalfaktoren geben könnten, erwiderte er, dass es mindestens genau so schlimm sei, keine Hilfskräfte mehr zu haben. Dann müssten Pfleger und Schwestern ja alle Arbeiten allein verrichten.

    Ich wurde langsam wütend und sagte: “Dann geben Sie die Torte doch den Hunden in der Laufzone”. Der Direktor erregte sich ebenfalls: “Das wäre ja noch furchtbarer. Wissen Sie, was so ein Tier kostet und wie viel Zeit es braucht, um es abzurichten?”

    Daraufhin habe ich meinen Dienstvertrag nicht verlängert.

    Die Torte wurde in einem chemischen Labor auf Gifte untersucht und, da sie kein Gift enthielt, von den dortigen Mitarbeitern verzehrt, was ich neidvoll zur Kenntnis nehmen musste.

     

    Copyright Dr. Jürgen Rogge

    Der Text wurde vorgetragen bei der BDSÄ-Jahrestagung 2015 in Bremen in der Lesung mit dem Titel „Fehler“

     

  •                                               SPRINGTIME

    (deutsche Übersetzung von Dietrich Weller am Ende des Textes)

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    The painting on the silk shows birds, a budding apple tree and flourishing roses. The painter is familiar with the old saying, “One showing is worth a hundred sayings”.
Above the drawings are Chinese pictograms .成熟 味 鸣 which appear to the foreigners as a “secret message”. 
However, these show  the perfection of the artist. The inscriptions when translated mean: flower’ fragrances are delightful and birdsongs are beautiful.

    Not only can one see the drawings, one hears marvelous birdsongs and enjoys the scent and smell of the heady perfume of the flowers wafting in the breeze. 
Thanks to the birdsongs and thanks to the flower’s aroma our lives are made more pleasant.

    Furthermore, birds’ songs are important for all life on Earth. There is a magical reason for this little known phenomenon.

    The singing of birds create a particular sound vibration that promotes the growth of the new and fresh young leaves of trees, plants and flowers.
 So, the birdsongs are heard all day long in the Spring, while the new growth is occurring.

    During the summer months, the birdsongs cease except at dawn and dusk. At dawn and in the early morning, the trees and plants stimulated by birdsong, absorb carbon dioxid  from the air and give off pure oxygen.

    In the winter the birds fly south and with their songs promote the growth of the plants there.

    Without the birds’ songs, there is no sound vibration and therefore no growth of all plant life. Without plant growth there is a lack of food for animals and humans.

    The artist is not only a painter, but a teacher. Admire the paintings, but with a profound gratitude listen to the birds singing. 
The birds’ song assures continuous growth of all plant life and theexistence of Earth’s inhabitants.

     

    All birds know where and when to build their nests. If bird know how and where to build their nests, then they know the purpose-of- life. It is paradoxical that the wisest creature, man, does not know what life’s purpose is. It is not possible to embrace the real meaning of life,
if one regards life as a universal meaning. However, to consider it as an individual is simple.

    The purpose-of-life is by cultivating the habits of kindness and goodness, and to pursue exclusively kind thoughts and deeds.
 Kindness exists in the spiritual life, although one may not see a clear indication or reward in return.Nevertheless one feels compensated with our conscience

    Alas, kind deeds are like beautiful flowers they sadly fade through time.

     

    Copyright by Dr. med. André Simon, andre.simon@hin.ch                                                                                             

     

    Frühlingszeit

    (übersetzt von Dr. Dietrich Weller)

    Das Gemälde auf der Seide zeigt Vögel, einen knospenden Apfelbaum und blühende Rosen. Der Maler ist bekannt durch das Zitat: „Ein Bild sagt so viel wie hundert Worte.“ Über der Zeichnung stehen chinesische Piktogramme, die für den Fremden wie eine geheime Nachricht anmuten. Sie zeigen jedoch die Vollkommenheit des Künstlers. Wenn man die Inschriften übersetzt, bedeuten sie: „Blütendüfte sind genussvoll und Vogelgesänge sind schön.“

    Man kann nicht nur die Zeichnungen sehen, man hört wunderbare Vogelgesänge und genießt den Duft und Geruch der Kopfnote der Blumen, die in der Brise heranwehen. Dank der Vogelgesänge und dank der Blumenaromen werden unsere Leben angenehmer gemacht.

    Außerdem sind die Lieder der Vögel wichtig für alles Leben auf Erden. Es gibt eine magische Begründung für dieses nur gering bekannte Phänomen.

    Die Gesänge der Vögel schaffen eine besondere Tonschwingung, die das Wachstum der neuen und frischen jungen Blätter von Bäumen, Pflanzen und Blumen fördern. Deshalb hören wir im Frühling den ganzen Tag über die Vogelgesänge, während das neue Wachstum gedeiht.

    Während der Sommermonate lassen die Vogelgesänge außer in der Morgen- und Abenddämmerung nach. Angeregt vom Vogelgesang nehmen die Bäume und Pflanzen in der Morgendämmerung und am frühen Morgen Kohlendioxid auf und geben reinen Sauerstoff ab.

    Im Winter fliegen die Vögel nach Süden und fördern dort das Wachstum der Pflanzen. Ohne die Vogelgesänge gibt es keine Tonschwingungen und deshalb kein Wachstum des Pflanzenlebens. Ohne Pflanzenwachstum entsteht ein Nahrungsmangel für Tiere und Menschen.

    Der Künstler ist nicht nur ein Maler, sondern ein Lehrer. Bewundern Sie die Gemälde, aber hören Sie mit tiefer Dankbarkeit den Vögeln beim Singen zu. Der Vogelgesang sichert dauerhaftes Wachstum allen Pflanzenlebens und die Existenz der Erdbewohner.

    Alle Vögel wissen, wo und wann sie ihre Nester bauen müssen. Wenn Vögel wissen[1], wie und wo die Nester zu bauen sind, kennen sie den Sinn des Lebens. Es ist paradox, dass das weiseste Lebewesen, der Mensch, nicht weiß, was der Sinn des Lebens ist. Es ist nicht möglich, die wirkliche Bedeutung des Lebens zu umfassen. Wenn man Leben als eine allgemeingültige Bedeutung betrachtet. Es jedoch als individuell aufzufassen ist einfach.

    Der Sinn des Lebens besteht darin, die Verhaltensweise der Freundlichkeit und Güte zu pflegen und ausschließlich gute Gedanken und Taten zu verfolgen. Freundlichkeit existiert im spirituellen Leben, obwohl man kein klares Anzeichen oder keine Anerkennung als Antwort erkennen mag. Nichtsdestotrotz fühlt man einen Ausgleich in unserem Bewusstsein.

    Also: Freundliche Taten sind wie schöne Blumen, sie schwinden traurigerweise im Laufe der Zeit.

     

    Copyright für die Übersetzung Dr. Dietrich Weller

     

     

     

     

     

     

     

     

     

  • Ein hochbetagter Patient, seit vielen Jahren privat krankenversichtert bei der „Alten Oldenburger Krankenversicherung AG“, vor zehn Jahren wegen eines Aortenaneurysmas mit einer Stentprothese versorgt, wird mit Bauchschmerzen in das Krankenhaus Delmenhorst eingewiesen.

    Dort wird eine Computertomographie durchgeführt. Man findet ein retroperitoneales Hämatom als Ausdruck einer Aneurysmaruptur bei liegender Stentprothese.

    Der Patient wird mit dem Rettungshubschrauber in ein Gefäßzentrum geflogen und erreicht das Krankenhaus in den Abendstunden.

    Sofort wird auf dem OP-Tisch eine Angiographie durchgeführt, der Befund imponiert als Typ III Endoleak auf der linken Seite. In die alte, undichte Stentprothese wird auf der linken Seite ein neuer Prothesenschenkel platziert. Dann ist angiographisch alles dicht, und der Patient wird kurz vor Mitternacht auf die Intensivstation gebracht, und der fast sechzigährige Chefarzt hat Feierabend.

    Nachts um halb drei klingelt beim Chefarzt das Telefon: Der hochbetagte Patient blutet offensichtlich wieder.

    Das Team geht wieder in den OP.

    Es wird entschieden, nun den Bauch zu eröffnen.

    Eröffnen des Aneurysmasackes.

    Es wird klar: Die Stentprothese ist an vielen verschiedenen Stellen undicht, das Material ist aufgebraucht, zermürbt. Die Situation ist schwierig. Einen Stentprothesenausbau wird der hochbetagte Patient wahrscheinlich nicht überleben. Was tun? Man versucht, die vielen kleinen Löcher abzudichten. Das misslingt.

    Schließlich wird bei offenem Bauch auch von rechts über die Leiste ein neuer Prothesenschenkel in die alte, kaputte Stentprothese hineingebracht. Die Blutung steht, das Aneurysma wird verschlossen, die Leibeshöhle ebenfalls.

    Es wird jetzt hell draußen.

    Der Chefarzt hat noch Zeit, ein paar frische Brötchen zu holen und Kaffee zu trinken.

    Dann beginnt für ihn der neue Arbeitstag, mit zwei Stunden Schlaf.

    Der Hochbetagte liegt jetzt kreislaufstabil auf der Intensivstation.

    Er bekommt Besuch von seinen Angehörigen, die in diesem Rahmen auch mit dem Krankenhaus die Wahlleistungsvereinbarung unterschreiben.

    Der Hochbetagte erleidet nach der Operation mehrere Organversagen, er überlebt die Aneurysmaruptur letztlich nicht.

    Einige Wochen später erhält der Chefarzt ein Schreiben von der Alten Oldenburger Versicherung: Die Leistungen des Operationstages würden nicht erstattet, weil die Angehörigen die Wahlleistungsvereinbarung erst am Tag nach der Operation unterschrieben hätten.

    Der Chefarzt fühlt sich betrogen.

    Trotzdem wird er auch weiterhin nachts in die Klinik fahren, wenn seine Oberärzte Hilfe brauchen, sei es bei privaten oder Kassenpatienten.

    Er fragt sich aber auch, wie sich wohl die Angehörigen fühlen mögen, die ja eine Kopie dieses Schreibens der privaten Krankenversicherung bekommen haben – Zechprellerei ist sicherlich der falsche Ausdruck. Und sie würden doch auch niemals von einer Tankstelle wegfahren, ohne zu bezahlen.

    Wie mag sich die Mitarbeiterin der Alten Oldenburger Krankenkasse fühlen, die Verfasserin des Schreibens? Wahrscheinlich freut sie sich, einem gut verdienenden Chefarzt eins ausgewischt zu haben.

    Man muss sich aber auch fragen, wie es um eine Krankenkasse bestellt sein muss, die schamlos ausnutzt, dass ein lebensbedrohlich Erkrankter vor einer Notfalloperation keinen Wahlleistungsvertrag unterschreiben kann.  Die sich offensichtlich mit Zechprellermethoden am Leben halten muss.

    Die auch mit dem Slogan „Ihr Partner für Leben“ wirbt.

    Was einmal mehr ein Hinweis ist, dass man bei der Partnerwahl nicht vorsichtig genug sein kann.

    Copyright Prof. Dr. Heiner Wenk

     

  • (deutsche Übersetzung von Dietrich Weller am Ende des Textes)

     

    This is an untold story of a young peasant TIEN, who tried to enclose the secret of getting rich. He worked tough cultivating the rice fields nurturing the crop by hand. Consequently the long drought periods, the cultivation of rice diminished drastically, and he therefore decided to abandon forevermore his village. His decision to leave was strengthened through the legend about peasant XI-ZHU, who moved to the Emperor’s town of Luoyang, and there he became fabulously rich.

    Pursuing his dream, the courageous peasant TIEN, walked many days till he reached Luoyang. There, he was really surprised, that XI-ZHU was known to almost everybody. Easily, TIEN reached the guarded entranceand an enormous property consisting of a palace with several wings and a large garden. In front of the guardian, appeared TIEN in his grimy robe and dirty shoes. He asked them to be introduced to XI-ZHU, who came originally from the same village. A guardian accompanied TIEN into a huge room with the high arch-formed windowswhere dressed in emerald-green gold embroidered robe, the proprietor XI-ZHU received the guest.

    Having heard his requests, he replied gently

    “Many years ago, by arrival here, my only possession was ten copper coins. After deducting daily expenses for room and food, it remained only one copper. In the search for an employment, I entered in jade manufactory. After hearing my needs, the owner proposed to polish rough gems for him.

    For one copper, he sold me one small jade-stone and provided me with rasping files. I polished it vigorously, and sold it for two coppers. The value of the polished jade was redoubled. For two coppers, I purchased two rough-hewn jade polished them and gained four coppers. After a while, I purchased four rough hewn jade.

    In this instant, TIEN interrupted his host: “XI-ZHU I should quit you now !!! I will come another time.

    Many months later, TIEN reappeared again.          Simon-Charity-Bild

    “Dear XI-ZHU, following your council I was able to polish daily up to eight big gems and gain sixteen coppers. With sixteen coppers received, I paid eight for food and lodging and eight to purchase another eight rough gems. Day after day, my gainwas used half for the  life and half to purchase rough gems. Still working from daybreak to the late evening, I could not save even one copper. This manner of working is not the way to strike it rich!   What is the secret of getting rich and becoming wealthy?

    XI-ZHU  replied “Like you, I polished the rough gems the whole day long, too. However, every evening I visited my great grand-uncle. The old, lonesome man received me with joy and gave me many precious life lessons like to be humble, to perceive the needy and offer them regularlythe part of one’s wealth.

    So I became his intermediate to offer partof his wealth he poor and needy. When he died; I became the heir of this palace, myriad of gold coins and much more. And, I continueto follow his path giving and regularly to the poor and deprived.

     The purpose of getting rich and the wealth in itself is to be shared and willingness and desire to help others in charitable donations.

    Copyright bei Dr. André Simon, E-Mail  andre.simon@hin.ch

     

    Wohltätigkeit

    Dies ist eine bis jetzt noch nicht erzählte Geschichte von dem jungen Bauern Tien, der das Geheimnis lüften wollte, wie man reich wird. Er arbeitete hart, indem er die Reisfelder mit der Hand bearbeitete. Als Folge davon wurde in den langen Dürreperioden der Reisertrag drastisch vermindert, und deshalb beschloss Tien, sein Dorf für immer zu verlassen. Seine Entscheidung zu gehen, wurde bestärkt durch die Geschichte über den Bauern Xi-Zhu, der in die Kaiserstadt Luoyang gezogen und dort märchenhaft reich geworden war.

    Auf der Suche nach seinem Traum marschierte der mutige Bauer Tien viele Tage, bis er Luoyang erreichte. Dort war er wirklich überrascht, dass Xi-Zhu fast jedem bekannt war. Tien erreichte leicht den bewachten Eingang und ein enormes Anwesen, das aus einem Palast mit mehreren Flügeln und einem großen Garten bestand. Tien erschien vor dem Wächter in seinem schäbigen Anzug und mit schmutzigen Schuhen. Er bat, darum, Xi-Zhu vorgestellt zu werden, der ursprünglich aus demselben Dorf stammte. Ein Wächter begleitete Tien in einen riesigen Raum mit hohen bogenförmigen Fenstern, wo der Eigentümer Xi-Zhu den Gast in einer smaragd-grünen, gold-behäkelten Robe empfing.

    Nachdem er Tiens Bitte gehört hatte, antwortete er sanft: „Vor vielen Jahren bei meiner Ankunft hier war mein einziger Besitz zehn Kupfermünzen. Nachdem ich die täglichen Ausgaben für Zimmer und Essen abgezogen hatte, blieb nur eine Kupfermünze übrig. Auf der Suche nach einer Anstellung ging ich in eine Jade-Manufaktur. Nachdem der Eigentümer meine Bedürfnisse angehört hatte, schlug er vor, dass ich Schmucksteine für ihn poliere.

    Für ein Kupferstück verkaufte er mir einen kleinen Jadestein und versorgte mich mit raspelnden Feilen. Ich polierte die Steine kräftig und verkaufte sie für zwei Kupferstücke. Der Wert der polierten Jade war verdoppelt. Für zwei Kupferstücke kaufte ich zwei roh-behauene Jadestücke, polierte sie und erhielt vier Kupferstücke. Nach einer Weile kaufte ich vier roh-behauene Jadesteine.“

    In diesem Moment unterbrach Tien seinen Gastgeber: „Xi-Zhu, ich muss dich jetzt verlassen! Ich werde zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen!“

    Viele Monate später erschien Tien wieder.                              .Simon-Charity-Bild

    „Lieber Xi-Zhu, indem ich deinen Rat befolgt habe, war ich in der Lage, bis zu acht große Schmucksteine täglich zu polieren und sechzehn Kupferstücke einzunehmen. Mit diesen sechzehn bezahlte ich acht für Kost und Unterkunft, und für acht kaufte ich neue acht rohe Schmucksteine. Obwohl ich von Tagesanbruch bis in den späten Abend arbeitete, konnte ich kein einziges Kupferstück sparen. Das ist kein Weg, um plötzlich reich zu werden! Worin besteht das Geheimnis, reich und wohlhabend zu werden?“

    Xi-Zhu antwortete: „Wie du habe auch ich Rohsteine den ganzen Tag lang poliert. Jedoch habe ich jeden Abend meinen Urgroßonkel besucht. Der alte einsame Mann empfing mich mit Freude und erteilte mir viele wertvolle Lebenslektionen wie demütig zu sein, die Bedürftigen wahrzunehmen und ihnen regelmäßig den Anteil am eigenen Wohlstand anzubieten.

    So wurde ich zu seinem Vermittler, einen Teil seines Wohlstands den Armen und Bedürftigen zu schenken. Als er starb, erbte ich den Palast, unzählbar viel Goldmünzen und viel mehr. Und ich folge weiterhin seinem Weg, regelmäßig den Armen und Ausgestoßenen etwas abzugeben.

    Der Sinn des Reichwerdens und des Wohlstandes selbst besteht darin, geteilt zu werden, und in der Bereitschaft und dem Verlangen, anderen mit wohltätigen Spenden zu helfen.“

     

    Übersetzt von Dr. Dietrich Weller

    Copyright bei Dr. Dietrich Weller