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Liebe Frau S.,
Sie haben mir das Buch von Alberto Dines „Tod im Paradies“ ausgeliehen, seine Biografie über Stefan Zweig, die mich wie kaum ein anderes Buch in den letzten Jahren beeindruckt hat. Für dieses Geschenk des Lesen-Dürfens möchte ich mich herzlich bedanken.
Wenn ich mit jeder brillant formulierten Zeile neu spüre, mit welch einem enormen Fleiß und perfektionistischer Hingabe der brasilianische Autor sich des wechselvollen Lebens seines Protagonisten angenommen hat, ergreift mich großer Respekt vor der schriftstellerischen und wissenschaftlichen Leistung und dem enormen Einfühlungsvermögen von Alberto Dines in die Seelenstruktur und Psychodynamik Zweigs.
Dines ist ein empathischer Psychologe (Zweig war darin sein Vorbild!), der mit verblüffender Schärfe und umfassender Klarsicht versteht und formuliert, was Zweig zu seinem unsteten Lebensmuster getrieben hat. Ja, Zweig war ein Getriebener, gehetzt von seinem schriftstellerischen Drang, gepeinigt von den Kriegen, denen er versuchte, bis nach Brasilien auszuweichen. Er, der immer Ruhe und Abgeschiedenheit suchte, lebte überwiegend aus dem Koffer, reiste von Hotel und Hotel, von Land zu Land, von Gespräch zu Gespräch. Dazu wurde er unterstützt von einer finanziellen Basis aus dem Elternhaus und den reichen Einkünften seiner erfolgreichen Bücher. Doch alles hat seine zwei Seiten: Der Erfolg produziert immer den Neid, die Intrige, die Eifersucht, die Missgunst. Wer den Glanz des Erfolgs anstrebt und erlebt, muss lernen, mit dieser hässlichen Kehrseite umzugehen.
Die Nationalsozialisten mussten Zweigs Werk und ihn als Menschen bekämpfen, weil er Jude war. Die intriganten politischen und literarischen Speichellecker in Brasilien schmeichelten Zweig und missbrauchten ihn teilweise als ihr Instrument: Er ließ sich mit einem brasilianischen Einreisevisum kaufen und schrieb in seiner Begeisterung ein Buch über dieses wunderbare Brasilien, das ihm in den Zeitungen übel um die Ohren geschlagen wurde. Er, dem Freiheit immer höchstes Gut war, konnte noch nicht wahrhaben, dass er ein Land der Diktatur lobte und als Brasilien. Land der Zukunft pries. Zu sehr hatten die Flucht aus dem zerstörten Europa und die Hoffnung auf einen Neuanfang seinen Blick getrübt.
In allen Biografien, die ich bis jetzt über Zweig gelesen hatte, war mir nie klar geworden, was Zweig letztlich in den Tod getrieben hat. Seine „schwarze Leber“ hat er immer wieder erwähnt, seine Depression. Jetzt nach der detailliert recherchierten Lebensgeschichte sehe ich besser, wie sehr und wodurch sich dieser große Mann in zunehmendem Maße über Jahre hinweg eingeengt, bedroht, verzweifelt sah.
Aber auch bei lebenslang rezidivierenden depressiven Phasen braucht es einen Funken, um die immer wieder verdrängte Aggression zur Explosion zu zünden. Es ist ein letzter Tropfen nötig, der das Fass voll Wehmut, Verzweiflung, Erniedrigung, Kränkung zum Überlaufen bringt. Welche verheerenden Konsequenzen können immer wiederkehrende Ent-Täuschungen hervorrufen, wenn die Täuschungen also weggenommen werden, denen er aufgesessen ist! Wie bitter ist es, in der Ent-Täuschung immer eine Ent-Tarnung zu sehen, die den klaren Blick auf die Wirklichkeit erzwingt – auf das, was wirklich wirkt.
Auch bei solch einem psychologisch bestens geschulten und höchst sensiblen Menschen wie Zweig ist ein letzter Würgegriff des Schicksals not-wendig, der die lebenslange Not wendet und den Ent-Schiedenen zur letzten Tat schreiten lässt, zur Scheidung von dieser Welt. Die antrainierte Disziplin, die niederdrückende Wucht der Gefühle pressen dem Verzweifelten die letzte Kraft ab, den Be-Schluss zum Schluss des Lebens detailliert zu planen und konsequent umzusetzen.
Mit den Fakten, die Dines in über zwanzig Jahren akribischer Forschung zusammengetragen hat, stellt sich die Frage: Wurde hier ein manisch-depressiver Patient in einer Tiefphase der Depression in die Enge getrieben, von der Aussichtslosigkeit der Flucht überwältigt und von der Macht der Krankheit gezwungen, sich umzubringen? Er hat es selbst vorausahnend geschrieben: Er würde „am Krieg sterben“, vor dem er ein Leben lang floh.
Oder war es so, dass Zweig trotz der Depression „aus freiem Willen und mit klaren Sinnen“ einen Bilanzsuizid vornahm und die Ehefrau davon überzeugte, mit ihm zu gehen. Suizidanten wollen eigentlich leben, aber eben nicht unter den Umständen, in denen sie sich gezwungen sehen zu leben. Es ist bewundernswert, mit welchem Feingefühl Dines die vielschichtigen Konflikte und inneren Widersprüche aufzeigt, an denen Zweig litt, und mit welchem Respekt er die vielen Beweggründe gegeneinander abwägt. Auch wenn wir letztendlich keine abschließende Antwort haben, fasst das Buch eine bedrückende, bereichernde Fülle an Informationen zusammen.
Dines lässt das Buch nicht mit Zweigs Tod enden, sondern schildert die verpatzte Aufklärung dieses Todes und die Intrigen um seinen Nachruf, seine Beerdigung und die weltweite Erschütterung, die sein Tod auslöste. Wir können verfolgen, wie es den Menschen (zum Teil bis 2002!) weiter erging, die Zweig begleitet hatten. Dines kümmert sich um alle, führt ihre Geschichten so sorgfältig zu Ende, wie er uns im ganzen Buch durch liebevolle Einzelheiten Einblick gibt in Schwächen und Stärken der Menschen. Diesen Nachspann habe ich geradezu als wohltuend empfunden.
Zweig hat seine Beweggründe zum Suizid unmissverständlich in seiner Declaraçao beschrieben, und sie sind weit entfernt von niedrigen Motiven und krimineller Energie: „Ich halte es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen ist. Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.“
Wenn wir den Freud´schen Begriff des Schattens ins Spiel bringen, können wir darüber nachdenken, wem die Tötung als Mord gegolten hat, also wen die zerstörerische Energie tatsächlich hätte töten sollen, nachdem Zweig ein Leben lang pazifistisch überzeugt seine Aggressionen nie „mit Biss“ nach außen leben konnte. So mussten seine angestauten Aggressionen zu Autoaggressionen werden. Weil er den Angriff nicht gegen die eigentlichen Verursacher der Aggressionen richten konnte, wendete der so lange ver-zweifelte Zweig den letzten Angriff ent-zweifelt gegen sich selbst. Er hegte keine Zweifel mehr und fühlte sich plötzlich ruhig über den Entschluss! Und er hatte dabei die Hoffnung auf die Morgenröte!
Mit wie viel Würde, Entschlossenheit, Konsequenz und Mut hat er den Suizid geplant und vollzogen! Er hat sein Leben bis ins kleinste Detail aufgeräumt, alle wichtigen Menschen mit geradezu liebevollen Briefen bedacht, um dann, wie er schrieb, sein Leben „abzuschließen“.
Stefan Zweig wusste: Wir ändern erst etwas, wenn der Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung. Wie groß muss der Druck auf ihn gewesen sein und wie vergleichbar klein seine Angst vor dieser allerletzten aktiven Veränderung seines Lebens, nämlich es mit Würde und klarem Willen zu beenden!
Uns bleibt nach der Lektüre dieses Buchs wie bei jedem Suizid die Frage: Hätte dieser Mensch seine enorme Energie und Entschlossenheit, die ihn zum Suizid fähig machte, nicht besser dazu verwenden können, weiterzuleben und eine andere Lösung aus der Krise zu finden? Ich glaube, es steht uns nicht zu, hier zu urteilen, schon gar nicht, zu verurteilen.
Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mit dem Buch meinen inneren Kulturschatz bereichert haben.
Copyright Dr. Dietrich Weller
Diesen Brief habe ich beim BDSÄ-Kongress 2010 in Schwerin in der Lesung über „literarische Briefe“ vorgetragen und im Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte 2012 veröffentlicht.
PS: Interessierte mögen noch den Beitrag lesen André Simon: Meaningful coincidences -Bedeutungsvolle Zufälle, der auch in dieser Homepage veröffentlicht ist und den ich auf Wunsch von André Simon übersetzt habe. Hier beschreibt André Simon seine persönliche Verbindung zu dem österreichischen Schriftsteller Robert Neumann, der ein Wegbegleiter von Stefan Zweig war.