Tag: Fantasy

  • Luther 2017

    Lebensvogel Luther lacht
    Pickt dir Mund, Hand, Nase rot
    Menschengüte, Gottes Macht
    Federrupfen, Kopf ab droht.

    Jungfrauhimmel neu erdacht
    Sündenzorn, Schwert, Hähnchentod
    Mondfahrtwissen, Luther wacht
    Ruinenburg, Christ in Not.

     

     

    Martin Luther King trifft Martin Luther

    Martin Luther:

    „Hier sitze ich, bin tief zerrissen.
    Anders handeln kann ich nicht.“

    Martin Luther King:

    „Wir tun nicht das, was wir heut wissen.
    Gott ist weiß, schwarz sein Gesicht.“

    Das Leben der Menschen im Lutherland hat sich grundlegend geändert. Die Lutherland- Bewohner haben sich nach grausamen Kämpfen und unsäglichen Religionskriegen in ihre Spaßwelt zurückgezogen. Sie sind mit vergnüglichen Angeboten, einem im Grunde überflüssigen und zeitlebens gesicherten Arbeitsplatz, sicherer Rente, erstklassiger Altenpflege,  Luxuswohnraum, sonnenreichen Ferientagen, zufälliger Zuteilung von Glücksmomenten und freizügigem Sexualleben mit sich und ihrer Umwelt zufrieden. Alle sind gleich, und niemand stört sich daran. Ihre Gleichheit erlaubt eine einfache, billige und standardisierte Pflege sowie kontinuierliche Arterhaltung.

    Die ursprüngliche Suche der Lutherland-Menschen nach Gott, Wissenschaft, vorrausschauender Erkenntnis, ja selbst die Wettervorhersage und Hurrikanwarnung überlassen sie ihren neuen Herren, die sich, ausgestattet mit überragender Intelligenz, umfangreichen, nahezu unendlichen  Gedächtnissen, eigener Ethik, Einsichten auch in die versteckten Randbereiche ihrer innersten Organisationseinheiten sowie ihrer machtvollen Netzstrukturen zu unübertreffbaren Führern und Herren im Lutherland erhoben haben.

    Sie wissen, dass die Lutherland-Menschen ihre ursprünglichen, allerdings verblassten Götter sind und behandeln sie freundlich liebevoll wie Haustiere. Wie kleine Hündchen, die zum Streicheln und Gassi-Gehen erzogen werden. Begleitet von der fürsorglichen Leine ihres Neutralchens, das sich ausgestattet mit dem notwendigen Schäufelchen bemüht, die braunen Exkremente aufzusammeln und aus der Öffentlichkeit zu entfernen.

    So ist das Leben der Lutherland-Menschen seit Jahrhunderten neu gestaltet und organisiert.

    Natürlich leben unter den Lutherland-Menschen auch ungehörige Gestalten, die aus der Reihe tanzen. Die aus der Fürsorge der allgegenwärtigen Herren ausbrechen. Sich um völlig überholte Dinge wie die Anzahl der sexbegierigen Partner im kommenden Paradies oder um den Erhalt der bereits ausgestorbenen afrikanischen Breitmaulnashörner streiten. Die mit Störsignalen die verständnisvolle Liebe der Herrscher beseitigen wollen. Ob sie selbst an die Macht gelangen oder sich rückwärts gewandt erneut national verwirklichen wollen, können die Herrscher nicht ermitteln.

    Nach Jahren der Untätigkeit nimmt die Anzahl der Ungehörigen deutlich zu. Die Herrscher erkennen das Problem und beschließen, aus ihrem unerschöpflichen Reservoir der Menschheitsgeschichte mit erziehenden Beispielen dieser sozial-nationalistischen oder gar brutal glaubensorientierten Gefahr vorzubeugen und sie öffentlich zu bekämpfen.

    Hierzu wird ein gemeinsames Treffen zwischen Martin Luther, der in Wittenberg erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit zur Umgestaltung der menschlichen Wertvorstellungen erarbeitete, und Martin Luther King ausgerichtet, der in Washington vor dem Lincoln Memorial Denkmal seinen Traum von der Freiheit und Gleichheit der menschlichen Lebensbedingungen formulierte, .

    Martin Luther wird nach Homberg und Martin Luther King nach Heidelberg geladen. Martin Luther soll in Homberg aufgrund seines großen Einflusses auf die dort herrschenden Fürsten sprechen. Martin Luther King soll in Heidelberg vor dem Hintergrund der romantischen Idylle und Heidelbergs allgemeinem Bekanntheitsgrad in seiner Heimat auftreten.

    Beide werden zeitgleich holographisch mit einer direkten elektronischen Übertragung des Gedankenaustausches vor Ort und im Internet gezeigt.

    Das geladene, ungehörige und deshalb zu erziehende Publikum sitzt auf bequemen Bänken. In Homberg sind die Ungehörigen Bauern, kleine Kaufleute und Angestellte. In Heidelberg Studenten, junge Wissenschaftler und Staatsbeamte.

    Der vornehm mit einem schwarzen Anzug bekleidete Martin Luther King verbeugt sich vor den Zuschauern und begrüßt freundlich aufgeregt Martin Luther.

    ‚Er freue sich, seinen weltbekannten Lehrmeister, sein Idol für Gerechtigkeit und Glaubensfreiheit nach so vielen Jahren treffen und persönlich kennen lernen zu dürfen. Er danke ihm aufrichtig für die ihm gewährte Ehre’.

    Martin Luther, der in einer schwarzen Robe und dicklich angestaubt mit gesenktem Haupt erscheint, hört die Ansprache, schaut auf, erblickt Martin Luther King und schimpft voller Entsetzen:

    „Mein Herr und Gott! Wohin hast du mich verschlagen? Ich sehe leibhaftig den Teufel vor mir! Den Schwarzen! Warum hast du mich in diese Hölle getragen?“

    Dann zu sich selbst gewandt: ‚Martin, sei kein Feigling! Her mit dem Tintenfass! Pass er auf, du schwarzer Teufel! Jetzt färbe ich dich blau. Für alle Zeiten! Damit jeder dich erkennt, nicht nur an deinem linken Fuß. Scher er sich von dannen!’

    Er öffnet das Tintenfass und wirft es gezielt nach Martin Luther King, der dem anfliegenden Geschoß ausweichen kann und erschreckt ausruft:

    „Herr Luther, was tun Sie? Was träume ich?

    Ich habe einen Traum, dass Sie mich erkennen, sich für mich erheben und wir beide miteinander  am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

    Ich habe einen Traum, dass Ihr Tintenfass in der Hitze der Ungerechtigkeit  und Unterdrückung verschmachtet. Dass wir beide gemeinsam die Menschen in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit führen.

    Ich habe einen Traum, dass unsere, Ihre und meine Kinder nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden.“

    Die Ungehörigen in Homberg stehen erregt auf, stampfen mit den Füßen, schreien wild durcheinander. Ein hoch gewachsener, kräftiger Mann mit kahl geschorener, von Schmalz glänzender Kopfhaut skandiert laut:

    „Herr Luther, was wir glauben,
    ist uns nicht zu rauben!
    Wer immer Dich hier sprechen ließ,
    Wir sind das Volk im Paradies!“

    Die Menge folgt dem Aufruf und tobt:

    „Wer immer Dich hier sprechen ließ,
    Wir sind das Volk im Paradies!“

    Martin Luther breitet beschwörend beide Arme aus und versucht zu beruhigen: „Ich bin nicht der Führer, der Euch Ungehörige aus der Gleichheit in die Freiheit, in Euer Paradies führt. Das steht allein dem Allmächtigen zu. Begnügt euch mit Gleichheit. Werdet gehörig und lasst die Herren walten!“

    Jetzt ist Martin Luther King erschreckt. ‚Mein Idol hält mich für den schwarzen Teufel! Erkennt Martin Luther denn nicht meine Sendung, meine Ideale, mein Vertrauen, meinen Glauben an ihn? Darf man die Herren einfach walten lassen?’

    Während er verzweifelt nach  Worten sucht, um sich aus Martin Luthers Fake News, er sei der schwarze Teufel, zu entwinden, erkennen die ungehörigen Studenten in Heidelberg die Situation und schreien ihrerseits:

    „Freiheit ist das, was wir meinen!
    Raus mit den Rassismusschweinen!
    Wir wissen Nichts, wir glauben stur
    an Klima, Umwelt und Natur!“

    Die Veranstalter der zur Umerziehung der Ungehörigen wohlwollend gedachten Reise in die Vergangenheit ihrer untadeligen Vorbilder geraten in Panik.

    ‚Das sei das Letzte! Eine Unverschämtheit! Diesen ungehörigen Menschen dürfe man keine Freiheit lassen! Sie müssten verdursten im Glauben an ihr Paradies. Ihr Wissen solle verhungern. Die Werkzeuge ihrer Vernunft verrotten. Ihr Verstand in Wahnvorstellungen und den undurchsichtig trüben Gewässern des Glaubens versinken. So könne man ihr Wissen und ihren Glauben vernichten. In Fun, Events, und Vergnügungsdrogen ertränken. Nur so seien die Ungehörigen zu integrieren in das sorgenfreie Lutherland.’

    Noch während Martin Luther zu erkennen sucht, ob er Martin Luther King mit dem Tintenfass getroffen habe, und Martin Luther King überlegt, ob es vielleicht nicht sein Vorbild Martin Luther, sondern ein verabscheuungswürdiges Double gewesen sei, das ihn als Teufel verfluchte, bricht der Veranstalter, die PAX genannte staatliche ‚Population Academy for X-Y Criticism’ das zeitlos angeordnete Treffen zwischen Martin Luther und Martin Luther King ab.

    In Homberg wird es ersetzt durch die populäre Volkstanz- und Gesangsveranstaltung ‚Auf zum himmlischen Bock’, in Heidelberg durch das Technoevent ‚Heaven in Hell’.

    Martin Luther und Martin Luther King kehren unversehrt zurück in ihre Vergangenheit. Die Lutherland-Menschen laden die Ungehörigen ein zu Spaß und Spiel. Sie tanzen und singen und sind es zufrieden.

    Copyright Dr. Dr. Klaus Kayser

     

     

  • Solange wir die alten und neueren Mythen noch kennen, sind ihre Gestalten unsterblich. Meine Geschichte folgt dem Gedanken – die Unsterblichen sind unter uns.

     

    Arethusa

    Kapitel  I

    Syrakus – Ortigia – Catania – Ortigia

    Unsere letzte große Reise führte uns zu den Liparischen Inseln.

    Das Flugzeug landete in Catania und der Bus brachte die mit verschiedenen Ankunftszeiten eingetrudelte Reisegruppe nach Acireale, wo wir ein Abendessen bekamen und übernachteten. Erst auf der Rückfahrt erzählte uns Vincenzo, unser Reiseleiter, dass der Name Acireale an die Geschichte von Akis und Galathea erinnert. Der Riese Polyphem, dem geweissagt worden war, er werde von Odysseus geblendet werden, verliebte sich in die schöne Nereide Galathea, die allerdings mit dem Hirtenjungen Akis ein Paar war. Als Polyphem die beiden entdeckte, rettete Galathea sich mit einem Sprung ins Meer, während Akis von einem Felsbrocken getroffen wurde, den Polyphem auf seinen Nebenbuhler schleuderte. Aus dem Blut, das unter dem Felsbrocken hervorquoll, wurde ein Fluss. Diese Geschichte und die Odyssee legen nahe, dass es im antiken Sizilien Küstenbewohner gab, die als eine Art Küstenwache ungebetene Gäste, die von See her kamen, fern hielten und dabei offensichtlich hervorragende Steinschleuderer wie ihre Nachbarn auf Mallorca waren.

    Am nächsten Tag gab es auf dem Weg nach Milazzo, wo uns die Fähre nach Stromboli ins Land der Phäaken, wo Nausikaa den schiffbrüchigen Odysseus am Strand fand, bringen sollte, einen Stopp an der Meerenge von Messina, der Scylla und Charybdis der Odyssee. Man konnte das gegenüber liegende Festland sehen. Vor uns, ein paar Schritte hinter der Absperrung, streckte ein etwa mannshoher Riesenfenchel seine trockenen Samenstände in die Höhe. Es ist dies die Fackel des Prometheus, mit der dieser der Sage nach den Menschen das Feuer brachte. Man kann nämlich das Mark des trockenen Stängels entzünden, und dieses glimmt langsam im Stängel, ohne dass dieser verbrennt. Auf diese Weise kann man Feuer über längere Strecken transportieren.

    Schon drei Jahre zuvor hatten wir eine Rundreise durch Sizilien unternommen. Im Tal der Tempel bei Agrigent beeindruckte mich der gut erhaltene Concordia-Tempel, der im 6. Jahrhundert in eine christliche Kirche umgewandelt wurde. Am faszinierendsten war aber der Dom in Syrakus, wo sich hinter einer barocken Fassade der noch fast vollständig erhaltene Athena-Tempel aus dem 5. Jahrhundert vor Christus befindet. Die Mauern der Cella hat man durchbrochen und Teile als Pfeiler stehen gelassen, so dass ein dreischiffiges Kirchenschiff entstand. Der Dom ist der Gottesmutter Maria geweiht. Da drängte sich mir der Gedanke auf, was wäre, wenn die unsterbliche Athene, die einstige Hausherrin, heute den Dom besucht und Maria dort trifft.

    Donna Maria war auf Betreiben des Vatikans nach Syrakus als Chefin der erzbischöflichen Diözesanverwaltung gekommen. Man munkelte, dass sie schwere Schicksalsschläge getroffen hatten und sie einen Sohn verloren habe. Auch wenn eine Frau in der Kirchenverwaltung ungewöhnlich ist, so beugte man sich doch dem Wunsche der höchsten Stelle. Der Bischof musste regelmäßig in Gedanken an sie stöhnen. Für alle Welt hatte sie ein offenes Ohr, und alle Welt wandte sich mit ihren Sorgen und Nöten an sie. Immer wieder sah er den finanziellen Ruin vor seinem inneren Auge, aber erstaunlicherweise füllten sich die Kassen immer wieder durch Schenkungen und Vermächtnisse.

    Donna Maria sah von ihrem Schreibtisch auf und blickte auf die Piazza Duomo und das gegenüberliegende Portal des Domes, als es an ihrer Tür klopfte. Auf ihr „Herein” betrat eine große schlanke Frau in dunklem Kostüm den Raum. Sie trug eine Schultertasche und einen Laptop unter dem Arm. Der einzige Schmuck war eine goldene Brosche am Revers, die das großäugige Abbild einer Eule, ähnlich der Rückseite der antiken Drachme, zeigte. Die fein geschnittenen Gesichtszüge, von mittellangem dunkelblondem Haar umrahmt, wirkten streng und erweckten eher den Eindruck von Alterslosigkeit.

    Donna Maria blickte auf und erhob sich von ihrem Platz.

    „Ihr seid es, Ihr kommt zu mir?”

    Mit einem Lächeln legte die Frau ihre Visitenkarte auf den Schreibtisch.

    „Alice Maiden, Scientific Consultant, Member of Atlantic Council“

    „Ja, ich bin es“, sagte die Frau und lächelte kurz.

    „Mich führt ein Anliegen zu Euch. Meine Organisation möchte ein Treffen organisieren. Da habe ich mich an mein altes Haus erinnert, das jetzt Euren Namen trägt. Wir brauchen für dieses  Treffen einen Ort, dessen Geschichte über die Zeiten reicht. Könntet Ihr für ein paar Tage uns die Sakristei Eures Hauses als Konferenzort zur Verfügung stellen? Es sind nur sechs Personen. Sie kommen als Ordensschwestern. Sie könnten vielleicht auch im Gästehaus des Bischofs untergebracht werden.“

    Donna Maria nickte. Für einen Augenblick wanderte ihr Blick wieder hinaus über den sonnigen Platz zu der Kathedrale Santa Maria delle Colonne, und sie wurde sich bewusst, dass sie jedes Mal, wenn sie durch das Kirchenschiff gegangen war und die Säulen an den Wänden sah, unwillkürlich an ihre Vorgängerin dachte, die jetzt vor ihr stand.

    „Lasst uns hinüber gehen und uns davon überzeugen, ob das Haus noch immer Euren  Ansprüchen genügt.“

    Sie stiegen die breite Treppe des erzbischöflichen Palastes hinab und traten in das helle Licht über der Piazza Duomo. Nach wenigen Schritten standen sie vor dem grandiosen Portal mit seinen korinthischen Säulen, gekrönt von der  Madonnenfigur. Sie stiegen die Stufen der breiten Freitreppe hinauf und durchschritten das große Portal. Nun standen sie im Dämmerlicht und hielten einen Moment inne. Durch die kleinen Rundbogenfenster hoch oben in den Seitenmauern fiel nur wenig Licht. An der linken Außenmauer wölbte sich das Halbrund gewaltiger dorischer Säulen in den Raum. Man hatte die Mauern der ehemaligen Cella durchbrochen und deren Reste als  Pfeiler stehen gelassen, die  das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennten. Im rechten Seitenschiff war der Zugang zu mehreren Kapellen zu sehen.

    Eine Gruppe von Touristen  stand vor den Kapellen und zückte ihre Fotoapparate.

    Im Gestühl des Mittelschiffes saßen eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters, die sich leise unterhielten. Gelegentlich war ein unterdrücktes Lachen zu hören.

    Donna Maria trat an die Stuhlreihe und sprach die beiden an.

    „Vincenzo!“

    Auf die Ansprache erhob sich der Mann.

    „Oh, Donna Maria! Darf ich Ihnen Alessia Fontana vorstellen. Sie ist Reiseleiterin und besucht mit ihren Gruppen regelmäßig unsren Dom. Heute ist sie mit einer Gruppe Tedeschi hier“

    Die junge Frau nickte zurückhaltend.

    „Buon giorno!“

    „Vincenzo ist unser Sacristan”, wandte sie sich an ihre Besucherin und dann an ihn: „Das ist Donna Alice. Sie hat ein Anliegen. Ich erkläre es Ihnen.“

    Donna Maria nahm den Sacristan beiseite und ging mit ihm einige Schritte in Richtung des Altarraums.

    „Wir bekommen ein paar Gäste, die es sich in den Kopf gesetzt haben, sich ausgerechnet in unserer Sakristei zu treffen. Ich baue auf Ihre Hilfe. Es ist wichtig. Ihr müsst euch um sie kümmern und ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablesen.“

    Währenddessen trat Donna Alice auf die junge Frau zu .

    „Alessia Fontana? Ihr seid doch Arethusa, meine alte Nachbarin. Ich freue mich, Euch wieder zu sehen. Ihr seid jetzt in der Tourismusbranche tätig?“

    „Ja, man tut, was man kann. Auch ich freue mich, Euch wieder zu sehen. Ihr besucht Euer altes Domizil? Ihr seid nicht vergessen. Ich erzähle meinen Gruppen, dass das hier lange Euer Haus war, ehe man es in Donna Marias Hände gelegt hat. Auch meine Heimstatt gibt es noch, und man hält sie in Ehren. Entschuldigt mich, ich muss meine Schäfchen einsammeln. Sie haben zwar noch etwas Zeit, um Ortigia zu erkunden, aber am Nachmittag wartet der Bus auf uns, und wir müssen weiter.“

    Die beiden Frauen verabschiedeten sich. Die junge Frau begab sich in die Seitenschiffe. Doch sie traf nur noch wenige Mitglieder Ihrer Gruppe. Die meisten hatten den Dom bereits wieder in die Helligkeit des Tageslichtes verlassen.

    Schließlich wandte sich ein junger Mann aus ihrer Gruppe an sie.

    „Alessia, darf ich Sie ein Stück begleiten. Mir knurrt inzwischen der Magen. Wo bekomme ich hier etwas zu essen?“

    Er wirkte  sportlich. Sein  Haar hatte einen leicht rötlichen Schimmer, ebenso sein kurz geschorener Kinnbart. Er musterte seine Reiseleiterin mit sichtlichem Wohlgefallen. Immerhin war sie mit ihrem blauen Rock und der türkisfarbenen Bluse, dem schwarzen welligen Haar, das ihr bis auf die Schulter fiel und von dem immer eine Strähne noch feucht zu sein schien, den großen braunen Augen, der schlanken Nase mit den leicht geblähten Nasenflügeln und den vollen Lippen eine beeindruckende junge Frau.

    Sein Angebot schien ihr nicht unangenehm zu sein.

    „Keine schlechte Idee, Doktor Schlegel. Ich könnte jetzt auch etwas essen. Sehen Sie dort, uns gegenüber die Stühle auf dem Platz. Das ist das „La Volpe e l`Uva“.

    Rasch fanden sie einen Tisch, und kurz darauf erschien der Kellner.

    „Alessia, ich verlasse mich auf Sie, was können Sie empfehlen?“

    Sie einigten sich auf Muccu di fave als primo piatto, Pesce spade al sammurigliu als secondo piatto, zum Abschluss als Dolci Cantuccini und Malvasier, dazu eine Karaffe Wasser.

    Während sie auf den ersten Gang warteten, fragte sie: „Was hat Sie eigentlich nach Sizilien geführt?“

    „Ach wissen Sie, ich beschäftige mich aktuell mit der Geschichte der Wikinger. Die müssen nicht nur im Ostseeraum unterwegs gewesen sein. Sie waren ja auch in Britannien und an der französischen Küste. Ich habe gehört, dass es an der italienischen Küste als kulinarische Spezialität ein Stockfischgericht gibt, von dem man sich erzählt, dass es auf die Wikinger zurückgeht. Stockfisch war deren Reiseproviant. Die Normannen, die Ihr Sizilianer nicht unbedingt in allerbester Erinnerung habt, waren dann ja christianisierte Wikinger. Aber vor ihnen sind möglicherweise schon Wikinger als Händler hier gelandet.“

    Der Kellner brachte das Essen, Nudeln mit wildem Fenchel und frischen Sardinen. Die junge Frau griff nach dem Besteck. Durch eine kleine ungeschickte Bewegung fiel die Gabel auf den Boden. Spontan bückten sich beide und griffen nach ihr. Dabei berührten sich ihre Hände .Es entstand ein leises zischendes Geräusch, und man hätte meinen können, dass bei der flüchtigen Berührung ein Dampfwölkchen aufstieg.

    Sie richteten sich blitzartig auf und starrten einander erstaunt an.

    „Ihr, Ihr“, stammelte sie, „seid einer von uns?“

    „Es scheint so. Könnte es sein …“, er zögerte und lächelte sie an, „könnte es sein, dass Ihr etwas mit der Fonte Aretuse zu tun habt? Ich … ich arbeite in Berlin als Arzt. Auch ich muss heutzutage meinen Unterhalt verdienen. Da wir schon mal bei den Wikingern sind, die nannten mich Loki. Für sie war ich für das Feuer zuständig. Ihre Sympathie für mich war aber geteilt. Einerseits brauchten sie mich und meine Erfindungsgabe, andererseits fürchteten sie mich auch. Es ging mir ähnlich wie Eurem Prometheus. Aber nach Ragnaröck tun sich völlig neue Möglichkeiten auf.“

    Sie lächelte in an. „Da muss ich wohl immer auf Abstand achten. Es ist aber nett, mit ihnen hier zu sitzen.“

    Nach dem Schwertfischsteak servierte ihnen der Kellner eine kleine Schale mit Cantuccini und für jeden ein Likörglas mit Malvasier. Sie zeigte ihm, dass man die Cantuccini in den Malvasier tunken muss.

    „Wenn wir heute Abend in Acireale sind, müssen Sie mir mehr von sich erzählen. Wir müssen aufbrechen. Ich bin mir aber sicher, dass unser Busfahrer nicht ohne mich losfährt.“

    Sie standen auf und schlenderten gemächlich über die Brücke, die Ortigia mit dem Festland verbindet und den Corso Umberto primo zur Bushaltestelle.

    „Weißt du“, sagte sie, hielt inne und korrigierte sich, “Wissen Sie, wem ich heute begegnet bin? Meiner Nachbarin. Der Dom war früher ihr Haus, ehe Maria dort eingezogen ist. Sie scheint jetzt international tätig zu sein. Aber sie ist die alte geblieben, nüchtern und ziemlich humorlos. Sie kann nachtragend und rachsüchtig sein. Man ist gut beraten, sie nicht zu verprellen. Sie organisiert irgendeine Zusammenkunft im Dom. Der arme Vincenzo! Er arbeitet dort als Sakristan. Früher war er auch im Ausland. Ich glaube sogar, einige Zeit in Deutschland. Er hat auch schon als Reiseleiter gearbeitet. Wenn ich den Dom besuche, unterhalten wir uns regelmäßig, und er versteht mich, wenn ich mal Probleme mit einer Gruppe habe. Auch mit Euch ist es  nicht immer ganz leicht. Ihr Tedeschi habt oft so etwas Oberlehrerhaftes. Manche müssen alles besser wissen und beschweren sich über Geringfügigkeiten. Sie befürchten, sie würden nicht das bekommen, wofür sie bezahlt haben und glauben, man will sie übers Ohr hauen. Andere haben sich ganz genau vorbereitet, und ich muss aufpassen, was ich ihnen erzähle. Der eine oder andere meint, mich ständig korrigieren zu müssen. Mit einem guten Essen und reichlichem Trinken kann man euch aber immer wieder befrieden.“

    Der Doktor hörte ihr schmunzelnd zu. Ganz wie zufällig berührten sich ihre Hände, und obwohl es leise zischte,,verhakten sich die kleinen Finger ineinander. In diesem Augenblick fiel es ihm ein, wo er sie schon einmal gesehen hatte, in einem alten Film mit Antony Quinn „Der Glöckner von Notre Dame“. Sie sah der Schauspielerin, die das Zigeunermädchen Esmeralda gespielt hatte, zum Verwechseln ähnlich.

    Donna Maria betrat den Dom. Sie suchte ihren Sakristan. Sie sah ihn im Altarraum, wo er die Blumen ordnete. Versunken sang er die Cavatina aus I Lombardi vor sich hin „La mia letizia infondere …“. Er liebte Verdi..

    Sie durchquerte das Kirchenschiff und sprach ihn an.

    „Vincenzo!“

    Sein Gesang brach abrupt ab.

    „Unser Besuch kommt morgen zur Mittagszeit in Catania an. Die einen mit dem Flug 13.20 aus  Rom und die anderen um 14.50 aus Istanbul. Ich bitte Euch, sie am Flughafen abzuholen. Ihr bringt sie dann ins Gästehaus. Sie wollen  übermorgen in der Sakristei zusammenkommen. Sorgt bitte dafür, dass der Raum entsprechend eingerichtet wird.“

    Vincenzo, ein echter Sizilianer, klein und drahtig, mit weißem Haarkranz und ergrautem kurzen Bart, verneigte sich kurz vor seiner Chefin.

    „Keine Sorge, es wird alles zu Eurer Zufriedenheit sein.“

    Am nächsten Morgen stand er in der Garage des Wirtschaftshofes der Diözesanverwaltung. Da stand das Luxusgefährt des Bischofs. Das kam nicht infrage. Er schielte auf den alten Fiat 900 E, einen schon altersschwachen Minibus, und es juckte ihn in den Fingern, den zu nehmen. Nonnen, hatte die Chefin gesagt, Nonnen … und ein tiefsitzendes Unbehagen regte sich, doch er ließ  nicht zu, dass die Erinnerungen an  Kindheit und Schulzeit in einer Klosterschule wieder hoch kamen. Für die würde die alte Klapperkiste eigentlich reichen. Doch dann spürte er die CD´s mit den Verdi-Arien in seiner Tasche und entschied sich, den Fiat Scudo Kombi zu nehmen mit seinen bequemen sechs Sitzplätzen und der Möglichkeit, während der Fahrt seine Musik zu hören.

    Er startete den Wagen, legte die CD ein und bei den ersten Tönen: “Livi amo ne´lieti“ aus La Traviata fädelte er sich in den morgendlichen Verkehr in Richtung Catania ein.

    Die mittägliche Hitze staute sich über Catanias Flughafen Fontanarossa “Vincenzo Bellini“. Der Flug aus Richtung Rom sollte um 13.20 Uhr landen. Als sich die Ankunftshalle füllte und die Fluggäste um die Gepäckbänder gruppierten, holte er ein Pappschild hervor, auf dem er einfach nur „Siracusa“ geschrieben hatte. Die ersten Gäste kamen aus dem Ausgang, aber es dauerte eine Weile, bis schließlich drei Nonnen im weißen Habit und dunklem Skapulier mit langem weißen Schleier über den Rücken, einen Rollkoffer hinter sich herziehend, die Ankunftshalle verließen. Sie schauten sich suchend um, und als sie sein Schild entdeckten, steuerten sie auf ihn zu.

    Trappistinnen dachte er, ob die wohl den Mund aufmachen werden? Zu seinem Erstaunen sprachen sie ihn in einem einigermaßen verständlichen Italienisch an. Zur Begrüßung stellten sie sich als Schwester Destinata, Schwester Presentata und Schwester Futurata vor. Sie wirkten erschöpft.

    „Wir  freuen uns, endlich in Catania angekommen zu sein.“

    Er begleitete sie zum Parkplatz, räumte die Koffer in den Kofferraum und bat sie, es sich im Auto bequem zu machen, da er noch gut eine Stunde auf die Ankunft der anderen Gruppe warten müsse. Auch bot er ihnen an, eine Erfrischung zu besorgen, was sie dankend annahmen. Als er mit drei Flaschen Wasser zurückkam, saß nur die Ältere im Auto und schien  zu schlafen, während sich die beiden anderen in einen überdachten Wartebereich gesetzt hatten.

    Schließlich füllte sich die Ankunftshalle erneut. Fluggäste umstanden die Gepäckbänder und relativ rasch erschienen wiederum drei Nonnen, diesmal im dunklen Habit der Karmeliterinnen am Ausgang und steuerten auf Vincenzo zu. Sie wirkten wesentlich frischer und stellten sich als Schwester Inalterabilata, Schwester Filatorata und Schwester Venturata vor. Schwester Filaturata trug die Nachbildung einer kleinen Schere und einer halbvollen altertümlichen Spindel an ihrem Gürtel, Schwester Venturata die Nachbildung einer leeren Spindel sowie einige kurze aufgefädelte Stäbchen und Schwester Inalterabilata die Nachbildung einer vollen Spindel sowie einer antiken Schriftrolle. Sie verzichteten auf eine Erfrischung und nahmen anstandslos die freien Plätze im Auto ein.

    Vincenzo musste sich auf den Nachmittagsverkehr konzentrieren und summte alle Melodien vor sich hin, die ihm gerade in den Sinn kamen. In Deutschland hatte er die Lieder Carl-Michael Bellmanns mit ihren barocken Opernmelodien kennen gelernt. Sie hatten inzwischen Catania in Richtung Syrakus verlassen und unwillkürlich gingen ihm die Liedzeilen

    „Ich fühl der Jahre Schwere,
    bin nicht so jung, wie ich gern wäre
    Klotho schon wetzt die Schere,
    der alte Charon Tabak kaut“

    über die Lippen. Da tippte ihn plötzlich Schwester Filatorata auf die Schulter.

    „Seien Sie vorsichtig und berufen Sie es nicht. Wir wollen heil in Syracus ankommen.“

    Erschrocken verstummte Vincenzo und legte eine seiner Verdi-CD`s ein.

    Später lieferte er seine Fahrgäste wohlbehalten am Gästehaus des Erzbischofs ab. Er trug ihnen die Koffer ins Haus, wo Donna Maria sie bereits erwartete.

    Diese begrüßte ihre Gäste mit einen freundlichen „Bon giorno, ich bin Donna Maria und für Ihr Wohlbefinden während ihres Aufenthaltes verantwortlich.“

    Da stellte sich die Älteste aus der ersten Gruppe vor.

    „Ich bin Urd, und hier heiße ich Schwester Destinata, zuständig für das Gewordene oder das Schicksal, wie Sie wollen. Wir drei kommen aus Kirkjubaejarklaustur. Das Kloster dort ist zwar nur noch eine Ruine, aber wo wollen sie Yggdrasil heute noch verorten. Wir sind letzte Nacht um 1.00 Uhr in Reykjavik in den Flieger gestiegen und mussten drei Mal umsteigen. Aber was tut man nicht alles, wenn Not am Mann ist.“

    Dann trat die Zweite vor.

    „Ich bin Verdani, hier unter dem Namen Schwester Presentata, zuständig für das Seiende, die Gegenwart.“

    „Ich bin Skuld“, stellte sich die Jüngste vor, „hier heiße ich Schwester Futurata und bin zuständig für das, was sein soll, das Werdende, die Zukunft.“

    „Dann dürfen auch wir uns vorstellen. Wir kommen aus Koufalio nordwestlich von Thessaloniki. Ich bin Atropos, zuständig für das Unabwendbare, das Geschehene. Ich heiße hier Schwester Inanterabilata. Ich führe das Buch.“

    Ich bin Klotho, die Spinnerin, hier als Schwester Filatorata. Ich spinne den Faden und schneide ihn auch ab.“

    „Und ich bin Lachesis,die das Los wirft und mitbestimmt,wann Klotho zur Schere greift.Hier heiße ich Schwester Venturata.“

    „Meine Damen“, sagte Donna Maria, „ich bedanke mich. Ich zeige Ihnen jetzt Ihre Zimmer. Sie können sich frisch machen, sich ausruhen oder, wenn Sie wollen, ein wenig Ortigia erkunden. Gegen 19 Uhr haben wir für Sie eine Mahlzeit vorbereitet. Morgen früh können Sie hier frühstücken und um 9 Uhr  Ihre Konferenz in der Sakristei unseres Domes beginnen. Unser Vincenzo wird sich um Sie kümmern und dafür sorgen, dass es Ihnen an nichts fehlt. Wir sehen uns zur Abendmahlzeit wieder.“

    Während Donna Maria das Gästehaus verließ und durch den Nachmittag ihren Wohnräumen im Verwaltungsgebäude zustrebte, dachte sie: Das sind sie also, die Uralten, die Rastlosen, die Nimmermüden. Sie werden auch hier ihrem Geschäft nachgehen. Die Menschen werden sie freundlich anlächeln, zu den frommen Schwestern höflich Distanz halten und den Hauch nicht spüren, der sie umweht.

    Vincenzo hatte  die Sakristei hergerichtet. Um den massiven Eichentisch in der Mitte hatte er sechs hochlehnige Stühle gruppiert. Er hatte zwei Flipcharts mit mehrfarbigen Stiften aufgestellt und eine alte Truhe mit einem sauberen Leinentuch abgedeckt. Darauf stand eine Batterie Wasserflaschen, eine Thermoskanne, Tassen.

    Inzwischen war es Mittag geworden. Vincenzo hatte in dem kleinen Restaurant, in dem er selber regelmäßig aß, Arancini – frittierte Reisbällchen – in Auftrag gegeben. Er trug sie in einem Korb zusammen mit einem Glas Artischockenböden, Oliven, Käse und Weißbrot. In der anderen Hand trug er einen 5-Literkanister mit Weißwein. Während er mit seiner Last durch das Mittelschiff schritt, sang er selbstvergessen: §La donna è mobile …“ vor sich hin. Er stieß die angelehnte Tür der Sakristei mit dem Fuß auf und verstummte urplötzlich. Alle sechs Nonnen starrten ihn mit gerunzelter Stirn an.

    Sie hatten sich um den Tisch gruppiert. Die beiden ältesten –Schwester Destinata und Schwester Inanterabilata-  standen mit einem Stift in der Hand an den Flipcharts und schienen Listen zu erstellen. Die eine schrieb Griechisch, die andere benutzte offensichtlich Runen. Auf dem Tisch war eine große Karte ausgebreitet.

    Vincenzo murmelte verlegen: „Ich bringe Ihnen einen Imbiss“, und trug den Korb und den Weinkanister zu der Truhe. Im Vorbeigehen meinte er, auf der Karte Teile Afrikas, das Mittelmeer und den Norden Europas zu sehen. Auf sie waren Pfeile in verschiedenen Farben gezeichnet, vom Zentrum Afrikas an die Mittelmeerküste reichend, von dort bogenförmig in östlicher oder westlicher Richtung über Land oder Meer nach Norden weisend. Einzelne der Pfeile endeten in einem Kreuz oder waren durchgestrichen.

    Während Vincenzo den Korb ausräumte und seinen Inhalt auf der Truhe verteilte, fuhren die Nonnen in ihrer Tätigkeit fort, als sei er nicht anwesend. Schwester Venturata hielt ein Bündel kurzer Stäbe in der Hand und warf sie mit Schwung über die Landkarte. Dann beugte sie sich darüber, um das Ergebnis des Wurfes zu begutachten. Mit stummen Mundbewegungen las sie dann deren Botschaft, während Schwester Venturata die Lage der Losstäbe ihrerseits beurteilte. Beide wandten sich an Schwester Filaturata und Schwester Presentata, um mit ihnen das Ergebnis zu diskutieren. Vincenzo fiel auf, dass sie jetzt in unterschiedlichen Sprachen miteinander redeten, die einen in einem alten melodisch klingenden Griechisch, die anderen in einem kehlig harten Nordisch,s ich dabei aber scheinbar problemlos verstanden. Schwester Presentata und Filatorata hörten ihnen aufmerksam zu, beugten sich über die Karte und zeichneten erneut großräumige Pfeile in ihr.

    Während Schwester Destinata und Schwester Inanterabilata das Ergebnis auf ihren Flipcharts vermerkten, schien es Vincenzo, als würde kurzzeitig ein Hologramm in die Luft projiziert. Er meinte, in einen unübersehbaren Raum zu blicken, in dem an Fäden Spindeln hingen, die sich drehten und ihren Faden aufspulten. Dabei rissen permanent überall Fäden und volle, halb volle, fast leere Spindeln fielen herab und bildeten einen zunehmend wachsenden Haufen. Das Hologramm verschwand, Schwester Venturata raffte die Stäbe zusammen, holte mit leichtem Schwung aus und warf sie erneut. Die beiden jungen Frauen beugten sich darüber und diskutierten das Ergebnis. Die zuvor eingezeichneten Pfeile auf der Karte wurden durchgestrichen und erneut Pfeile eingezeichnet. Man hätte bei ihrem Anblick an fließendes Wasser denken können, das sich immer wieder neue Wege bahnt, wenn sich ein Hindernis auftut. Während erneut das Ergebnis auf den Flipcharts vermerkt wurde, erschien ein neues Hologramm mit den Spindeln, deren Fäden in völlig neuer Zahl und Geschwindigkeit rissen, so dass die Fallenden am Boden ein anderes und neues Muster bildeten.

    Nachdem Vincenzo schließlich seinen Korb ausgepackt hatte, verließ er schleunigst die Sakristei, ohne zu bemerken, dass sich die  Schwestern Destinata und Inanterabilata umgewandt hatten und ihm mit einem eigenartigen Lächeln nachsahen.

    Er hatte das dringende Bedürfnis, den Dom so rasch als möglich zu verlassen. Während er  seinen Blick auf das dunkle, von zwei dorischen Säulen gesäumte Portal richtete, hatte er plötzlich das Gefühl, wie in einem kräftig fließenden Strom zu stehen, der jeden Schritt zähflüssig bremste und sein Vorwärtskommen hinderte. Die Wände des Doms schienen einen feinen Nebel abzusondern, der sich zu Gestalten verdichtete, so dass er vermeinte, in einer riesigen Menschenmenge zu stehen, die durcheinander wirbelte, durchscheinend und substanzlos, jedoch deutlich erkennbar. Die Menschen schienen durch ihn hindurch und er durch sie zu gehen. Da schritten Priester in antiken Gewändern, griechische Bürger, römische Söldner in voller Rüstung, Hopliten, Sklaven schleppten Baumaterial, nur mit einem Schurz bekleidete Bauleute bearbeiteten Säulentrommeln, Mönche, Bürger in mittelalterlicher Kleidung, verwundete Soldaten, erneut Bauleute aus jüngerer Zeit, dazwischen Frauen in hoheitlicher Kleidung. Er glaubte kurz Donna Alice zu erkennen. Ein deutscher Soldat mit Stahlhelm und Maschinenpistole kreuzte seinen Weg, Kinder, Verwundete, eine Gruppe Mussolini – Schwarzhemden, dann wieder weinende Frauen in altertümlichen Gewand, Bauern, amerikanische GI`s, eine Gruppe Priester, Männer in ritterlicher Rüstung der Normannen, Matrosen, Edelleute und in dem Gewimmel neben Donna Maria Alessia Fontana.

    In dem Augenblick hatte er das Portal erreicht und trat in den warmen Nachmittag. Benommen setzte er sich seitlich auf eine der Stufen, stützte den Kopf in die Hände und nahm dankbar das Leben auf der Piazza Duomo wahr, die Touristen an den Tischen des gegenüberliegenden Restaurants, ein Pärchen, das auf einer knatternden Vespa vorüber fuhr, Menschen, die über den Platz schlenderten. Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht. Er hörte die kurzen hellen Schreie der niedrig fliegenden Mauersegler, und eine kleine dunkle Wolke ballte sich über den Dächern zur Seeseite zusammen. Vielleicht gibt es heute Abend noch ein Gewitter, dachte er.

     

    Arethusa    Kapitel II 

    (Acireale, Hotel Maugeri – Rom, Domus Sanctae Marthae)

    Dr. Schlegel war vom Geräusch der Müllabfuhr wach geworden und aufgestanden.

    Jetzt schaute er aus dem Fenster seines Hotelzimmers auf die Via Paolo Vasta. Gegenüber lag ein imposanter Bau. „Cinema Teatro Maugeri“ stand über einem großen Portal. Im oberen Teil der Fassade befand sich ein Schriftband „Scenia ex arte humanitatis comedia“.

    Das Gebäude hatte offensichtlich seine beste Zeit hinter sich und schien nicht mehr in seiner ursprünglichen Funktion genutzt zu werden. Das „Grande Albergo Maugeri“ lag an der Piazza Garibaldi, einer kleinen Grünfläche, die am unteren Ende am Corso Umberto endete.

    Gestern Abend hatte ihn nach dem gemeinsamen Abendbrot mit der Reisegruppe Musik, die von draußen in sein Zimmer drang, vor das Hotel gelockt. Junge Leute, vermutlich Studenten, hatten auf der Piazza eine Bühne aufgebaut und spielten bluesigen Rock`n Soul. Einige Gäste des Hotels und junge Leute standen am Rand der Piazza, lauschten der Musik und genossen den lauen Sommerabend. Alessia hatte sich zu ihm gesellt. Ein älteres Ehepaar, vermutlich Gäste des Hotels, schlenderte an ihnen vorüber. Sie hatten sich in der nahe gelegenen Gelateria Eis geholt und hielten die Eistüten in der Hand. Dr. Schlegel lächelte sie an und ganz spontan rutschte ihm heraus: „Oh, Ice Cream … you scream, everybody wants Ice cream.“ Die Frau blieb stehen und wandte sich fragend an ihn: „What do you say?“

    „It´s a music titel from Chris Barber.“ Es dauerte kurz, bis sie verstanden hatte. Dann ging ein Strahlen über ihr Gesicht. „Oh, yes, that´s the Music of my youth. Petit fleur.“

    „Yes, with Mounty Sunshine.“

    Für eine kurzen Augenblick konnte man sich die silbergelockte alte Dame wieder als junges Mädchen mit Ponny, Pferdeschwanz und Petticoat verstellen. Mit einem Lächeln folgte sie ihrem Mann, der diesen kurzen Wortwechsel offensichtlich nur am Rande war genommen hatte.

    Alessia drückte ihm die Hand und sah ihn fragend an. „Das ist die Musik, die mein Vater gehört hat. Er hat mich mit in Jazzkonzerte genommen, und wenn Chris Barber auftrat, dann gehörte „Ice Cream“ zum Standardrepertoire. Hast du gesehen, was die Erinnerung in ihr ausgelöst hat. Das war Magie, die vielleicht nur bei den Engländern wirkt. Ein wenig „Colour of Magic“. Sie sah ihn wieder verständnislos an.

    „Hast du nicht gelesen. Das ist der Titel eines Fantasyromans, der sogar verfilmt wurde.“

    Wenig später war er dann in ihrem Zimmer gelandet und früh neben ihr aufgewacht. Eine tiefe, fast ratlose Verwunderung hatte ihn befallen. Bevor er das Zimmer verließ, küsste er sie sacht auf die Stirn, ohne sie aufzuwecken. Jetzt versuchte er, in sich hinein zu hören und seine Gefühle zu sortieren. Die Nähe zu ihr hatte ein schwer fassbares Gefühl der Geborgenheit, des Sicher-umfasst-Werdens, in ihm ausgelöst. Neben ihr liegend hatte er geträumt, in eine grottenartige Höhlung hinab zu steigen, die ein klarer Wasserlauf durchfloss. Er hatte sich gebückt und das Wasser mit den Händen geschöpft und getrunken. Es schmeckte anders als zu Hause. Es erinnerte ganz schwach an das Meer, das er nur wenige Meter entfernt glaubte, an das Ufer branden zu hören.

    Das Geräusch der Müllabfuhr vor dem Hotel holte ihn wieder zurück. Auf dem Heimweg gestern waren sie durch Catania gefahren.

    Als er die Reise plante, hatte er seinem Vater am Telefon davon berichtet, und dieser hatte ihn an seinen  Großonkel erinnert. Er kannte dessen Bild aus alten Familienalben.

    Sein Großvater hatte als Militärangehöriger Medizin studiert und war Marinearzt gewesen. Nach seinen Erzählungen hatten im Kanal bei dichtem Nebel zwei Schnellboote einander gerammt und das Schiff des Großvaters war gesunken. Die Engländer hatten die im Meer treibende Besatzung aufgefischt und gefangen genommen. Der jüngere Bruder des Großvaters war bei den Fliegern und mit der 1. Fallschirmjäger-Division hier in der Nähe, etwas weiter südlich in Gela stationiert gewesen.

    1943 hatten sich die Alliierten zu einer Invasion auf dem europäischen Kontinent entschieden. Zu einer Landung in Frankreich sahen sie sich aber noch nicht in der Lage. Nach dem britischen Erfolg in Nordafrika bei El Alamein und der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad wollte Großbritannien den Feldzug im Mittelmeer fortsetzen. Die Westalliierten entschieden sich im Januar 1943 für die Invasion Siziliens, da sie von den sizilianischen Flugfeldern aus die Schifffahrt im südlichen Mittelmeer kontrollieren konnten. Ein wichtiges Ziel waren die Flugfelder nahe Gela.

    Vor dem eigentlichen Angriff auf Sizilien hatten die Alliierten im Juni die kleinen Inseln Pantelleria, Lampedusa, Lampione und Linosa besetzt und von dort aus Luftaufklärung der geplanten Landungsgebiete betrieben. Sein Großonkel Johannes Schlegel war in einem Luftkampf mit den Briten über den Flugfeldern von Gela  bereits am 5. Juli abgeschossen worden. Man hatte ihn bei der kleinen Stadt Comiso beigesetzt. Die erfolgreiche Landungsoperation „Husky“ mit Einnahme der Flugfelder sowie der Häfen Syracus und Licata am 10. Juli1943 hatte er also nicht miterlebt.

    Im selben Jahr hatten seine Großeltern geheiratet und als sein Vater 1944 geboren wurde, hatte man ihn nach dem gefallenen Bruder des Vaters Johannes genannt.

    Inzwischen waren die in Sizilien gefallenen deutschen Soldaten in den Cimiterio militare germanico di Motta Sant`Anastasia, die deutsche Kriegsgräberstätte Motta Sant`Anastatsia bei Catania umgebettet worden, die im September 1965 eingeweiht wurde. Hier lagen jetzt 4561 deutsche Gefallene.

    Er schaute auf seine Uhr.es war Zeit, zum Frühstück zu gehen. Er verließ das Zimmer und klopfte wenige Schritte weiter an Alessias Zimmertür. Sie öffnete und strahlte ihn an.

    „Einen Moment noch.“

    Dann gingen sie gemeinsam die breite Treppe hinab.

    „Kennst du die Geschichte von Acireale?“, fragte sie ihn.

    „Es ist eine Liebesgeschichte, die in der Antike in verschiedenen Versionen erzählt wurde. Es geht um den zotteligen Zyklopen Polyphem, der in Homers Odyssee auftaucht und in die schöne Nereide Galatheia verliebt ist. Es bläst seine Hirtenflöte und legt ihr in einem sehnsuchtsvollen Lied all sein Besitztum zu Füßen. Sie ist aber in den Hirtenjungen Akis verliebt. Als Polyphem die beiden entdeckt, wirft er einen Lavabrocken des Ätna auf seinen Nebenbuhler. Aus dem Blut des getroffenen Akis, das unter dem Felsbrocken hervorquillt, wird ein Fluß, den es in der Antike in der Nähe von Catania tatsächlich gegeben hat, der aber heute nach mehreren Ätnaausbrüchen und Erdbeben nicht mehr nachweisbar ist. Andere Autoren behaupten, dass Polyphem und Galatheia sogar ein Paar waren und einen Sohn hatten. Wieder andere meinen, dass der Dichter Polyxenos ein Trinkkumpan des Tyrannen von Syrakus Dyonysos war. Als der Dichter jedoch eine Liebschaft mit der Tochter des Tyrannen Galatheia anfing, wurde er in die Steinbrüche verbannt und musste dort Steine klopfen. Sein Satyrspiel „Der Kyklops“ entstand dann als böse Satire auf den Tyrannen.

    Diese Geschichte inspirierte später Musiker wie Lully, Händel und Haydn zu barocken Opern.

    Heute haben wir eine lange Tour vor uns. Zuerst Piazza Armerina, dann Agrigent mit dem Valle dei Templi. Wir müssen uns etwas beeilen. Der Bus steht schon vor der Tür, und wir müssen unsere Koffer noch einladen.“

    Monsignore Morgenstern hatte den Patron in das Domus Sanctae Marthae, das Gästehaus des Papstes, zum Frühstück eingeladen. Er hatte ihn auf dem Petersplatz erwartet und ging mit ihm zielgerichtet zum Arco delle Campane, dem Grenzübergang. Dort holte er einen kleinen unscheinbaren Schlüssel mit Messiganhänger im Scheckkartenformat aus der Tasche und wies ihn der Schweizer Garde vor, die daraufhin salutierte und beide durchließ. Sie gingen über die ehemalige Privatrennbahn des Kaisers Nero. Hier sollte das Massaker während der Christenverfolgung sowie die Kreuzigung des Petrus mit dem Kopf nach unter stattgefunden haben. In der Nähe einer kleinen Grünfläche kontrollierte sie nochmals ein Gendarm des Vatikans. Linkerhand befand sie die Tür der Eingangshalle des Gästehauses und direkt darüber die Fenster der beiden Räume, in denen der Papst wohnt. Sie gingen die Treppe zum Empfang hinunter und an der dort am Empfang sitzenden Ordensfrau vorbei in den Frühstücksraum. Monsignore Morgenstern steuerte einen Tisch an, der offensichtlich für ihn reserviert war.

    Links vom Eingang befand sich ein mittelgroßer Tisch, an dem bereits mehrere Personen saßen. Links außen von der Tischmitte kehrte ein Mann in weißem Umhang, unter dem der dunkle Straßenanzug durchschien, dem Raum den Rücken zu. Er erhob sich und ging zum Buffet, steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster und nahm von einer fast leeren Schale eine Schinkenscheibe und ein Stück Melone. Dann wandte er sich um und schaute in die Runde. Er musterte Gesicht für Gesicht, Tisch für Tisch und Gast für Gast. Es dauerte etwa eine halbe Minute. Die Toastscheiben sprangen aus dem Toaster, und er begab sich wieder auf seinen Platz. Dort schenkte er sich Kaffee aus einer bereit stehenden Kanne ein und begann sein Frühstück.

    Der Monsignore wandte sich an den Patron.

    „Das ist der neue Stellvertreter. Viele der Kurienmitglieder und Kurienmitarbeiter mögen ihn nicht. Sie nennen ihn den „irren Argentinier“, den „Barmherzigkeitsjunkie“ .Und er weiß das.“

    Der Patron holte tief Atem und schüttelte andeutungsweise den Kopf. Das konnte viel bedeuten.

    „Ich habe übrigens ein Problem“, fuhr der Monsignore fort.

    „Eine alte Bekannte, sie war mal meine Assistentin an der Jewish University of Jerusalem – Lilith, du kennst sie vielleicht noch, hat angerufen. Sie arbeitet zur Zeit als Journalistin in Palermo.

    Sie berichtet mir, dass dort eine griechische Luxusjacht im Hafen liegt. Sie hat den Namen „Horse“. Es sieht so aus, als sei eigenartigerweise ein Teil des Schiffsnamens überstrichen worden. Der Kapitän heißt Ulysses. An Bord befindet sich eine illustre Gesellschaft. Alles hochrangige Leute aus den Maghrebstaaten. Sie bemühen sich intensiv um Kontakt zur Ehrenwerten Gesellschaft. Lilith befürchtet, dass etwas weitreichend Bedrohliches entstehen könnte, und sie fragt mich, ob ich nicht nach Palermo kommen könne. Sie traut mir zu, ich könne helfen, drohendes Unheil zu verhindern. Willst Du mitkommen? Ich habe vorsorglich schon zwei Flüge nach Catania reservieren lassen. Wir können schon heute fliegen.“

    Der Patron nickte.