Schlagwort: Geschichte

  • (28.2.2022)

    Das geschichtliche Gedächtnis zahlreicher Zeitgenossen
    gleicht in mancher Hinsicht
    einer leeren Nussschale
    in den spielerischen Händen des Windes
    mit dem entscheidenden Unterschied
    dass leere Nussschalen in der Regel
    keine Katastrophen verursachen können

    ֎֎֎

  • (3.10.2021)

    Zwanzig Jahre nach den Verbrechen vom 11.9.2001
    trotz einer Fülle von Untersuchungen, Hinweisen
    wissenschaftlichen Betrachtungen und berechtigten Fragen
    trotz der verheerenden Folgen des nicht endenden Krieges
    wiederkäuen viele Publizisten und Politiker bis zum Erbrechen
    die offizielle, erlaubte Darstellung der damaligen Geschehnisse
    Was erwartest du von solchen Kräften
    in dem gegenwärtigen, vielschichtig gestalteten Verbrechen?

    ֎֎֎

  • (21.5.2021)

    Jahrhundert alte Bäume
    den Himmel auf den Armen tragend
    kleine Kinder
    auf den Wiesen Ball spielend
    langschwänzige Papageien
    die Brunstzeit besingend
    Des Lebens Rad dreht sich

    ֎֎֎

  • Frühjahrsputz

    (8.3.2021)

    in Erinnerung an Jaleh Esfahanai (1921-2007)

    Mit der Sonne als Wegweiser
    bin ich wach unterwegs
    Auch wenn die klare Kälte
    noch die Oberhand hat
    berichten der bunte Krokusteppich
    und das betriebsame Rabenpaar
    dass der farbenfrohe Frühling
    fröhlich vor der Tür steht

    Angesichts des Aufstands der Blümchen
    des wieder erwachten Grüns
    des berauschenden Gesangs der Bäche
    und der bezaubernden Gemälde der Wolken
    werde ich im Gebäude meiner Gedanken
    dem Frühjahrsputz die Ehre erweisen

    Dann werde ich voller Liebe
    ausgewählte Düfte meiner Visionen
    als berufene Botschafter der Lebensfreude
    wie friedliche fleißige Vögel
    weit, weit, weit fliegen lassen

    ֎֎֎

  • Der Hutewald

    (4.3.2021)

    Julian Assange gewidmet

    Das Verteidigungsministerium verteidigte umfassend
    die Interessen der Kriegsindustrie
    das Gesundheitsministerium
    die Interessen der Krankheitsunternehmen
    das Bildungsministerium
    die Interessen der Verblödungsfirmen
    das Finanzministerium
    die Interessen der Verelendungsgesellschaften

    In der hochgezüchteten Spezialisten-Kultur
    gedieh die verrechtlichte Korruption
    und der Blick für das große Ganze
    galt als gefährlicher Schädling

    Die Marionetten gestikulierten geschäftig
    zogen die Menschen in ihren Bann
    und verschleierten vielfältig
    die fatalen verbrecherischen Verhältnisse

    Die erstickende Stille
    hallte betäubend
    im Getöse der blendenden
    Banalitäten und Belanglosigkeiten

    Meine weisen Wegbegleiter
    die uralten Bäume
    mit ihren sprießenden Knospen
    und frohlockenden Trieben
    erzählten geduldig
    die große Geschichte
    des fließenden Lebens

    Der befreiende Frühling war wieder
    auch unter diesen Umständen
    unaufhaltbar unterwegs

    ֎֎֎

  • Antikes und Antikisierendes in Goethes Werk

        Das Antike in Goethes Werk ist ein so weites Feld, dass nur eine bescheidene subjektive Auswahl getroffen werden kann. Die verwendete Sekundärliteratur orientiert sich im Wesentlichen am Alter der Verfasserin; für die neuere fehlt ihr manchmal das Verständnis, doch wir versuchen das Mögliche. Goethe-Worte und-Texte erscheinen in Kursivschrift, andere wörtliche Zitate sind in Anführungszeichen gesetzt.

    1. Löwen am Arsenal in Venedig:

    …zwei ungeheure Löwen von weißem Marmor vor dem Thore des Arsenals; der eine sitzt aufgerichtet, auf die Vorderpfoten gestemmt, der andere liegt – herrliche Gegenbilder, von lebendiger Mannichfaltigkeit. Sie sind so groß, dass sie alles umher klein machen, und dass man selbst zu nichte würde, wenn erhabene Gegenstände uns nicht erhüben. Sie sollen aus der besten griechischen Zeit und vom Piräus in den glänzenden Tagen der Republik hierher gebracht sein[1]. Eines dieser prächtigen Thiere, welcher bloß auf den beyden Hinterpfoten sitzt, wird in der Höhe wohl 10 Fuß haben, und ist das Thier aus einem Stücke.

    Ruhig am Arsenal stehn zwei altgriechische Löwen;
       Klein wird neben dem Paar Pforte, wie Turm und Kanal.
    Käme die Mutter der Götter herab, es schmiegten sich beide
        Vor den Wagen, und sie freute sich ihres Gespanns[2].
    Aber nun ruhen sie traurig; der neue geflügelte Kater
        Schnurrt überall, und ihn nennet Venedig Patron.

    Venezianisches Epigramm XX

        Nicht zwei Löwen sind es sondern vier, mit dem „geflügelten Kater“ sogar fünf, die den Eingang zum Arsenal rahmen und bewachen. Links neben der Pforte sitzt bloß auf den beyden Hinterpfoten[3] majestätisch aufgerichtet ein etwa um 360 v. Chr. entstandener mehr als drei Meter hoher Löwe. Admiral  Morosini, berühmt-berüchtigt durch die Zerstörung des Parthenon[4], hatte ihn 1688 von Piräus nach Venedig überführt, ebenso wie den ruhenden Löwen (um 320 v. Chr. entstanden), der an der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, nahe am Dipylon Tor, aufgefunden worden war. Er liegt hier rechts vom Tor (Abb. 1). Sein Kopf stellt nach Vermeule eine „schauderhaft naturalistische Restaurierung“ dar[5].

                Abb. 1: Am Arsenal in Venedig. Löwe vom Athener Kerameikos.
                        Im Giebel der „geflügelte Kater“, nach Ruetz 1993, 32.

        Weiter nach rechts folgt ein hocharchaischer Vierfüßer-Torso des frühen 6. Jhs. v. Chr., der 1715 importiert worden war und dann einen „sehr italienischen Barock- Kopf“ erhielt… Ein Blick genügt, um ihn als einen der archaischen Löwen von der Löwenterrasse in Delos zu identifizieren“[6]. Dieses „königliche Tier“ ist zwar überlebensgroß[7], wirkt aber zierlich und schlank neben den beyden ungeheuren Löwen, die das Tor flankieren. Sie stammen nach Goethe aus der besten griechischen Zeit , was für ihn allemal die klassische Epoche  – bis hin zum Klassizismus[8] bedeutet, nicht die archaische. Daher konnte der langgestreckte spannungsvolle Körper  des delischen Löwen nicht mithalten. Der Dichter muss ihn allem Anschein nach schlicht ignoriert haben[9]. Ganz rechts schließt ein wesentlich kleinerer (hellenistischer?) Löwe an, von dem selten die Rede ist.

        Kybele, die Mutter der Götter, wurde von den Römern als Mater Deum Magna Idaea, Große Göttermutter vom heiligen Berg Ida, verehrt (Abb. 2). Ihr Kult war vom Euphrat über Phrygien an die kleinasiatische Westküste gelangt und hatte  ihre Spuren auch auf den ägäischen Inseln und in den griechischen Kernlanden hinterlassen. Auf Weisung der sibyllinischen Bücher wurde er von Pergamon nach Rom überführt, wo  die Göttin 191 v. Chr. in ihr Heiligtum auf dem Palatin einzog. Augustus rühmt sich in seinem Tatenbericht, den Tempel, der mehrfach durch Brände, zuletzt 3 n. Chr., zerstört worden war, wieder aufgerichtet zu haben[10].

                Abb. 2: M D M I: Der Großen Göttermutter vom Ida und dem Attis,
                                295 n. Chr. Aus: Imperium der Götter 2013, 95.

    2. ‚Der Tänzerin‘ Grab:

        Das dreiteilige, später offenbar zerstörte Stuckrelief war 1809 in einer Grabkammer bei Cumae in Kampanien entdeckt worden. Goethe, der die Reliefs 1812 in einer kleinen Abhandlung besprach, fasste die drei Teilbilder zyklisch auf,  als eine Trilogie vom Leben und Sterben einer vortrefflichen Tänzerin[11]. Sowohl an der Deutung als auch an der zyklischen Auffassung wurden Zweifel geäußert. Es bleibt aber die Tatsache, dass auf allen drei Szenen der überlieferten Umzeichnungen jeweils eine tanzende Figur den Mittelpunkt bildet, zweimal eine Frau im Gewand und einmal ein nacktes Gerippe, von  Goethe als dieses gegenwärtige lemurische Scheusal bezeichnet.

    „Wie eine Unterschrift zu diesem Bild“ wirkt nach Wegners Ansicht „die Aufrufung der Lemuren durch Mephistopheles bei Faustens Tod“[12]. Das ist heute nicht jedem selbstverständlich. Goethe relativiert die gelehrten Kommentare auch seiner späteren Interpreten, indem er sich auf die unter dem Namen Philostratos bekannten Sophisten des 3. Jhs. n. Chr. beruft[13]:

          Abb. 3: Umzeichnung der Reliefs aus einem Grab bei Cumae (Ausschnitt)
               1. Jh. n. Chr. (Datierung Goethes).  Nach: Szanto 1898, 98 Abb. 39.

        Jener lemurische Scherz will mir nicht echt griechisch vorkommen; vielmehr möchte ich ihn in die Zeiten setzen, aus welchen die Philostrate ihre Halb- und Ganzfabeln, dichterische und rednerische Beschreibungen hergenommen[14]AlsLemuren werden bekanntlich auf Madagaskar lebende Primaten bezeichnet. Für einen Römer mit mythischen und mystischen Kenntnisse der Antike aber waren es abgeschiedene Seelen, zu deren Versöhnung alljährlich eine nächtliche Feier veranstaltet wurde[15].

       Kommt uns beim Anblick der Abb. 3 b (unten) nicht eher der Gedanke an Goethes 1813 entstandene Ballade vom Totentanz[16]?

    …nun hebt sich der Schenkel, nun wackelt das Bein
    Gebärden da gibt es vertrackte
    Dann klipperts und klapperts mitunter hinein
    als schlüg man die Hölzlein zum Takte
    …Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins,
    Die Glocke sie donnert ein mächtiges Eins –
    und unten zerschellt das Gerippe.

        Die  Umzeichnung des oberen Reliefs (Abb. 3) hat ein Symposion zum Gegenstand, wo die Bankett-Teilnehmer nach römischer Sitte auf einer „sigma-förmigen“ Kline lagern. Das Sigma der römischen Kaiserzeit entspricht  unserem lateinischen C. Trank und Speise stehen bereit. Eine Tänzerin trägt zur Unterhaltung bei.

    3. Statuette einer Victoria

        „Die jugendliche Göttin …wiederholt fast Zug um Zug eine schwebende Victoria aus Fossombrone [Prov. Pesaro-Urbino, Region Marken] im Museum zu Kassel, von dem Goethe einen Abguss besaß“[17]. Das kleine Original (Abb. 4) kam eben, wie ich da war, …von Dresden für ihn anEr .meinte, beim Essen und Trinken sei am besten von der Kunst zu sprechen…zuletzt hatte er das Glas Wein in der einen Hand und die Victoria in der andern[18]. Der Fundort ist nicht bekannt. Es ist eine Figur von Bronze, 7 Zoll hoch, mit der Kugel aber worauf sie steht und der kleinen Platte in welcher die Kugel eingelassen ist, mit den Flügeln, die in die Höhe gerichtet sind, ist sie accurat einen Leipziger Fuß hoch [etwas mehr als 24 cm]. Das ganze zeigt sich mit der größten Leichtigkeit, ganz en face…eine unglaublich anmutige Bewegung in allen Theilen der Figur. Goethe hebt die Eleganz des Kunstwerks hervor, das zu den vorzüglichsten gehört die wir besitzen [19]

    Vorbild für die Victorien in Weimar und Kassel war vermutlich die Statue in der römischen Kurie, dem Sitz des Senats, wo Octavian/Augustus sie aufstellen ließ, nachdem er 31 v. Chr. bei Actium über Marc Anton und Cleopatra gesiegt hatte. In den erhobenen Händen hielten die beiden Statuetten vermutlich einen Schild, ähnlich den Victoria-Statuen auf  den Giebelecken des Antoninus Pius- und Faustina-Tempels auf dem Forum Romanum[20].

              

       Abb. 4: Victoria. Stiftung Weimarer Klassik, 140-160 n. Chr.
                                 Nach Wegner 1949, 86-88 Abb. 46

    4. Die Medusa Rondanini

    In Rom wohnte ich im Corso [Via del Corso], dem Grafen Rondanini gegenüber, schreibt Goethe an Zelter. So sah er die Maske noch im gleichnamigen Palazzo, bevor Ludwig von Bayern sie für die Glyptothek in München erwarb. Diesen Anblick, der keineswegs versteinerte, sondern den Kunstsinn höchlich und herrlich belebte, entbehrte ich nun seit vierzig Jahren[21]. 1826 schenkt ihm der König einen guten Abguss[22].

    Rom, 29. Juli 1787…war ich mit Angelica [Kaufmann] in dem Palast Rondanini. …Nur einen Begriff zu haben, dass so etwas in der Welt ist,…macht einen zum doppelten Menschen…Wie schäme ich mich alles Kunstgeschwätzes, in das ich ehmals einstimmte[23].

         

      Abb. 5. Medusa Rondanini, München. Hadrianische Kopie nach Original   
                          des späteren 5. Jhs. v. Chr. Aufnahme der Verfasserin. 

        Goethes Begeisterung gilt der Schönheit. Das Medusenhaupt, sonst wegen unseliger Wirkung furchtbar, erscheint mir wohltätig und heilsam[24] ein wundersames Werk, das, den Zwiespalt zwischen Tod und Leben, zwischen Schmerz und Wollust ausdrückend, einen unnennbaren Reiz …über uns ausübt[25].

    Das in den archaischen Gorgo-Bildnissen dargestellte Grässliche beeindruckt  Goethe weniger[26]. In seiner Dichtung spielt er jedoch darauf an, wie vor der Erkennungsszene zwischen Iphigenie und Orest:

    Schleicht, wie vom Haupt der gräßlichen Gorgone,
    Versteinernd dir ein Zauber durch die Glieder?[27]
    Oder im Faust:
    …Dabei wirds niemand wohl.
    Es ist ein Zauberbild, ist leblos, ein Idol.
    Ihm zu begegnen ist nicht gut:
    Vom starren Blick erstarrt des Menschen Blut,
    Und er wird fast in Stein verkehrt;
    Von der Meduse hast du ja gehört[28].

    Sie kann das Haupt auch unterm Arme tragen;
    Denn Perseus hats ihr abgeschlagen[29].

        In Faust II greift der Dichter auf die Schrecknisse im 9. Gesang von Dantes Inferno zurück. Indem er das Vernichtungspotential der Medusa auf die Schlachtfelder der Geschichte verlagere und die zerstörerische Kraft der Gorgo dort immer weiter wachsen lasse, werde sie auch für spätere Jahrhunderte leichter fassbar[30]. In der darstellenden Kunst entwickelt sich bekanntlich das Bild der Medusa vom Grässlichen, mit offenem Mund, heraushängender Zunge und Reißzähnen, zum Menschlicheren mit einzelnen monströsen Zügen, endlich zum schönen, glatten, kühlen Frauengesicht, dessen Wildheit sich auf die lebhaft bewegten Locken beschränkt. Unter dem Kinn verknoten sich die Leiber der aus dem Haar hervor züngelnden Schlangen[31] (Abb. 5). Für Goethe sei die rätselvolle Maske der Medusa Rondanini zur „Ästhetik des Schrecklichen“ geworden, deren „eisige mitleidlose Schönheit“ kristallklare ebenmäßige Züge angenommen habe[32].  

    5. Das „Urpferd“

       Abb. 6: Pferdekopf vom Gespann der Selene, Parthenon-Ostgiebel, London
                                           Aufnahme der Verfasserin

        Einen Abguss des Pferdekopfes vom Parthenon sah Goethe im Osteologischen Institut der Universität Jena[33].

    An dem Elgin’schen Pferdekopf, einem der herrlichsten Reste der höchsten Kunstzeit, finden sich die Augen frei hervorstehend und gegen das Ohr gerückt, wodurch die beiden Sinne, Gesicht und Gehör, unmittelbar zusammen zu wirken scheinen und das erhabene Geschöpf durch geringe Bewegung sowohl hintersich zu hören als zu blicken fähig wird. Es sieht so übermächtig und geisterartig aus, als wenn es gegen die Natur gebildet wäre, und doch jener Beobachtung gemäß hat der Künstler eigentlich ein Urpferd geschaffen, mag er solches mit Augen gesehen oder im Geiste verfasst haben; uns wenigstens scheint es im Sinne der höchsten Poesie und Wirklichkeit dargestellt zu sein[34].

        Außer dem Elgin’schen Pferdekopf  stand im osteologischen Kabinett zu derselben Zeit eines der venetianischen Rosse von San Marco, in Gyps versteht sich. Damit wurde dem Vergleich zwischen beiden erneut Vorschub geleistet[35]. Obwohl Goethe sein Urpferd eindeutig bevorzugt, empfiehlt er den Kunstrichtern…zu bedenken,…  daß, um das Vortreffliche zu preisen, keineswegs nöthig sei, andern ebenfalls guten Werken Fehler aufzubürden…Wer gründlich die Kunst versteht, wird…jedem Verdienst, es äußere sich nun in welcher Form es wolle, Gerechtigkeit widerfahren lassen[36]. Diesem ebenso souveränen wie maßvollen Kommentar eines Autodidakten auf dem Gebiet der antiken Kunst ist nichts weiter hinzuzufügen. 

    6. Die Apotheose Homers

        Das figurenreiche Marmorrelief, das an der Via Appia gefunden worden war, gelangte bereits zu Goethes Zeiten aus dem Palazzo Colonna nach London in das Britische Museum[37].

    Homer sitzt, wie wir sonst den Zeus abgebildet sehen, auf einem Sessel, jedoch ohne Lehnen, die Füße auf einem Schemel ruhend, den Scepter in der Linken eine Rolle in der Rechten. Ihn bekränzt Oikoumene, die Personifikation des Erdkreises. Wie Goethe auf Eumelia kommt ist unklar; die Figuren sind inschriftlich gekennzeichnet[38].

     Abb. 7: Apotheose Homers, Relief des Archelaos (Ausschnitt). Um 130 v. Chr. 
                                         Nach Pinkwart 1965, 57 Taf. 29

        Auch der Künstler, Archélaos von Priene, hat sich auf seinem Werk verewigt. Zu der namentlich nicht bezeichneten Statue am rechten Bildrand – außerhalb unserer Abb. – stellte der Dichter weiter führende Betrachtungen an. In dem hohen Dreifuß hinter der Männerfigur vermutet er einen Siegespreis, mit dem ein antiker Dichter-Kollege für seinen Erfolg im musischen Wettbewerb ausgezeichnet worden sei. Zum Dank dafür könne er das Relief gestiftet haben. Nach einem anderen Vorschlag komme der pergamenische Astronom und namhafte Homer-Interpret Krates von Mallos[39] als Empfänger des Dreifußes in Betracht.    

    7. Die Dioskuren auf dem Quirinalsplatz in Rom

        Unter vielen köstlichen Sachen haben mich vorzüglich ergötzt zwei Abgüsse der Köpfe von den Colossalstatuen auf dem Monte Cavallo. Man kann sie bei Cavaceppi in der Nähe in ihrer ganzen Größe und Schönheit sehn. Leider dass der beste durch Zeit und Witterung fast einen Strohhalm dick der glatten Oberfläche des Gesichts verloren hat und in der Nähe wie von Pocken übel zugerichtet aussieht[40].

                             

      Abb. 8: Dioskur vom Montecavallo, severisch.
                                       Nach: Castores 1994, 201-205 Taf. 9.

        Die Gruppe stand vermutlich vor den Thermen des Konstantin. Unter Papst Sixtus V wurde sie zwischen 1589 und 1591 restauriert. Sie steht heute neben dem Obelisken, der vom Augustus-Mausoleum auf die Piazza Quirinale verbracht und dort 1786 aufgerichtet worden war[41]. Aus päpstlicher Zeit stammen auch die Inschriften, nach denen Kastor und Pollux von den  griechischen Bildhauern hochklassischer Zeit, Phidias und Praxiteles [dem älteren] geschaffen worden seien. Diese Angaben waren für den Parthenon-begeisterten Goethe maßgebend. Heute gilt die Gruppe als klassizistisches Werk der römischen Kaiserzeit[42].      

    …auf dem Monte Cavallo an einem heißen Tag. Ich ließ meine Blicke über den Quirinalsplatz hingehen…In der Mitte des Platzes bäumten sich die Pferde der Dioscuren, den Inschriften nach Werke des Phidias und des Praxiteles, aber gewiss in Italien entstanden, Castor und Pollux, weiß und ein wenig fett, wie sie die Rosse bändigen, aber weil die bronzenen Zügel fehlen, sieht es so aus, als stiegen die Götterpferde, von ihrer Gebärde magisch beschworen, so steil gen Himmel empor[43].

    Antikisierendes, Faust II:

    Goethe lässt eine große Schar griechischer und römischer Gottheiten und Dämonen auftreten, von denen die meisten einem etablierten Götterhimmel  oder einem Aequivalent wie dem Hades oder den Weiten der Ozeane angehören. Aber auch nicht-göttliche Wesen wie Heroen oder Menschen mit außerordentlichen Fähigkeiten spielen in der Tragödie eine beachtliche Rolle. Wir wollen drei davon herausgreifen: Seismos, Homunculus und Euphorion.

    Seismos:

    „DerSeismosist der Personifikation des Erdbebens nachgebildet, auf einem Gemälde nach einer Beschreibung des Philostrat unter dem Kerker des Petrus in den Raffaelischen Tapeten“[44].       

    Das hab ich ganz allein vermittelt,
    man wird mir`s endlich zugestehn,
    und hätt ich nicht geschüttelt und gerüttelt,
    wie wäre diese Welt so schön?
    Wie ständen eure Berge droben
    im lichten reinen Ätherblau,
    hätt ich sie nicht empor geschoben
    zu malerisch entzückter Schau?
    [45]

    Dieser Monolog des Seismos wirkt wie ein Bekenntnis zum Plutonismus.

    Für seinen Gegner, den Neptunisten Thales, ist alles Gestein Sedimentgestein. Im Feuchten ist Lebendiges erstanden[46],

    Goethe war selbst Anhänger des Neptunismus und könnte, so wird gern argumentiert, den verbal wie ’seismisch‘ beeindruckenden ‚Vulkan-Ausbruch‘  nur ironisch gemeint haben, denn: Ohne Wasser ist kein Heil![47] heißtes auch imGesang der Sirenen am oberen Peneios. Aber nicht von ungefähr stellt der Dichter in Anaxagoras dem Thales einen Plutonisten gegenüber:

    Hast du, o Thales, je in einer Nacht
    Solch einen Berg aus Schlamm hervorgebracht?…Plutonisch grimmig Feuer,
    Durchbrach des flachen Bodens alte Kruste
    Dass neu ein Berg solgleich entstehen musste[48].

    Goethe – ein Neptunist reinsten Wassers? Heute ist an die Stelle von Plutonismus und Neptunismus die Evolutionstheorie getreten; Schicht folgt(e) auf Schicht.

    Homunculus,ein auf chemische Weise erzeugtes Menschlein, sei nach Paracelsus durchsichtig und körperlos aber mit wunderbaren Kenntnissen und besonderem Kunstsinn ausgestattet[49]. Eine gläserne Phiole, ohne die er nicht lebensfähig ist, umschließt ihn:

    Natürlichem genügt das Weltall kaum;
    Was künstlich ist, verlangt geschlossnen Raum[50].

    Ich schwebe so von Stell‘ zu Stelle
    Und möchte gern im besten Sinn entstehn,
    Voll Ungeduld, mein Glas entzweizuschlagen[51]
    Zwei Philosophen bin ich auf der Spur!
    …Von diesen will ich mich nicht trennen,[52]

    Ihnen, den PhilosophenThales und Anaxagoras, schließt Homunculus sich an[53].  Seine unersättliche Neugier aber bringt ihn dazu, dass er sich selbst zerschellt, „um…in den Prozess des Lebens einzugehen“[54].

    Euphorion ist nach Ptolemaios Chennos (1. Jh. n. Chr.), der die Figur  erfunden habe[55], der geflügelte Sohn des Achilleus und der Helena, als sie auf der Insel der Seligen [Leuke] leben[A1] . In Goethes Drama sind Helena und Faust seine Eltern.

    Durch eines Knaben Schönheit elterlich vereint
    Sie nennen ihn Euphorion so hieß einmal
    Sein Stief-Stiefbruder, fraget hier nicht weiter nach.
    Genug, ihr seht ihn, ob es gleich viel schlimmer ist
    Als auf der brittischen Bühne wo ein kleines Kind
    Sich nach und nach heraus zum Helden wächst.
    Hier ist’s noch toller kaum ist er gezeugt so ist er auch geboren[A2] 
    Er springt, und tanzt und ficht schon tadeln viele das
    So denken andre dies sey nicht so grad
    Und gröblich zu verstehen, dahinter stecke was
    …spinnt der Dichtung Faden sich immer fort
    Und reißt am Ende tragisch!…[56]

    Die Verse, in denen der Tod Euphorions beklagt wird, sind zugleich eine Huldigung an den 1824 als Teilnehmer an den griechischen Freiheitskämpfen in Missolunghi  noch allzu jung verstorbenen Lord Byron[57]:

    Ach, zum Erdenglück geboren,
    Hoher Ahnen, großer Kraft,
    Leider früh dir selbst verloren,
    Jugendblüte weggerafft![58]

    Wenn aber Goethe die Äußerung tut, Byron allein lasse ich neben mir gelten, dann mag sogar einem Enthusiasten für einen Augenblick der Atem stocken[59].

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Bieber 1915: M. Bieber, Die antiken Skulpturen und Bronzen des königlichen Museum Fridericianum in Cassel (Marburg 1915) 60 ff. Nr. 153 Taf. 41

    Brommer  21982: F. Brommer, Die Parthenon-Skulpturen (Mainz 21982) 50 Taf. 143

    Goethe ca.1950: Goethe Werke (Müller und Kiepenheuer Ansbach o. J.)

    Grumach 1949: E. Grumach, Goethe und die Antike (Berlin 1949)  2 Bände

    Homer 2008: Homer. Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst (München 2008)

    Imperium 2013: Imperium der Götter. Isis-Mithras-Christus. Kulte und Religionen im Römischen Reich (Karlsruhe 2013)

    Martini 1994: W. Martini, Die Magie des Löwen in der Antike, in: Chloe, Beihefte zu Daphnis 20, 1994, 51 f. Abb. 27

    Osterkamp 2007: E. Osterkamp, Die Rückkehr der Medusa, in: Gewalt und Gestalt: die Antike im Spätwerk Goethes (Basel 2007) 50-66

    Pavan 1982: M. Pavan, Die Pferde von San Marco in Klassizismus und Romantik, Ausstellung Berlin 1982, 73-76

    Pinkwart 1965: D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene, AntPl  IV, 55-65      

    Ruetz 21993: M Ruetz, Goethes Italienische Reise  >Auch ich in Arkadien<  (Stuttgart  21993)

    Siegesgöttin 2004: Siegesgöttin in Kaisers Diensten. Die Victoria von Fossombrone (Kassel 2004)

    Szanto 1898: E. Szanto, Archäologisches zu Goethes Faust, ÖJh 1, 1898, 93-105

    Vermeule 1972: C. Vermeule, Greek Funerary Animals, 450-300 B. C., AJA 76, 1972, 49-59

    Wegner 1949: M. Wegner, Goethes Anschauung antiker Kunst (Berlin 1949) 

    Wickhoff 1898: F. Wickhoff, Der zeitliche Wandel in Goethes Verhältnis zur Antike dargelegt am Faust, ÖJh 1, 1898, 105-121


    [1]  Venedig 8.Oktober 1786 (Ital. Reise 30, 135).

    [2]  Abb. 2.

    [3]  Grumach 1949, 561.

    [4]  Vermeule1972, 53.

    [5] „A horribly natural  restoration“, Vermeule ebenda.

    [6] Vermeule 1972, 54; der delische Löwe mit dem Kopf aus dem italienischen Barock erscheint der Verfasserin so ungemein scheußlich, dass sie auf die im Übrigen wie immer ausgezeichneten Wiedergaben durch H. Zühlsdorf, Gießen, in diesem einen Fall verzichten zu müssen glaubt.

    [7] Wegner 1949, 33; Martini 1994, 51 f. Abb. 27. 

    [8] Osterkamp 2007, 11. 14. 65.

    [9] Anders Wegner 1939, 33; 142. 146.

    [10] DNP 7, 998 f.

    [11] Schriften zur Kunst, Weimarer Ausgabe Band 48; Grumach 1949, 585-590; Osterkamp 2007,  16 f.; Wegner 1949, 81-83 Abb. 5. Szanto 1898, 97-101 Abb. 39.

    [12] Goethe, Faust II, 5; Grumach 1949, 589; Wegner 1949, 81.

    [13] s. u. den Beitrag zur Personifikation des  Seismos.

    [14] DerTänzerin Grab (1812) I 48, 150; Grumach 1949, 880 unten.

    [15] Szanto 1898, 97.

    [16] J. W. Goethe, Der Totentanz.

    [17] Wegner 1949, 86.

    [18] Charlotte v. Stein, 16.5.1796; Grumach 1949, 566.

    [19] Goethe an Heinrich Meyer [den sog. Kunschtmeyer oder Goethe-Meyer] Jena, 20. Mai 1796 (IV 11, 72 ff). Wegner 1949, 87.

    [20] Siegesgöttin 2004, 20-23.

    [21] Weimar, 21. Januar 1826  (IV 40, 255 f.) Wegner 1949, 53 f.

    [22] Wegner 1949, 53 f Osterkamp 2007, 51-56..

    [23] Ital Reise 32, 39. Nach Wegner 1949, 53.

    [24] Weimarer Ausgabe IV, S. 195, Osterkamp 2007, 58.

    [25] Ital. Reise 32, 322; Grumach 1949, 540.

    [26] Osterkamp 2007, 54.

    [27] Iphigenie auf Tauris Vs. 1162 f.

    [28] Faust I, Vers 4189-94.

    [29] Faust I, Vs. 4207-4208.

    [30] Faust II, 2; Osterkamp 2007, 56 f.

    [31] LIMC IV 1988, 285-362 Taf. 163-207, hier 347 f. Nr. 25 Taf. 196 (I. Krauskopf; G. Paoletti)

    [32] Osterkamp 2007, 64 f. Wegner 1949, 53. Mir will das, mit Verlaub, als Überinterpretation erscheinen.

    [33] Wegner 1949, 43 Abb. 18.

    [34] J. W. Goethe, Über die Anforderungen an naturhistor. Abbildungen im Allgem. und an osteologische insbesondere II 12, 147, nach Brommer 21982, 50; Grumach 1949, 510; Wegner 1949, 43.

    [35] Briefe, Tagebücher, Grumach 1949, 506-509. 561; Pavan 1982, 73-76.   

    [36] Kunst und Altertum II 2, 88-98 (1820) Grumach a. O. 509.

    [37] Grumach 1949, 572-576; Wegner 1949, 67 f. Abb. 33

    [38] Pinkwart 1965, 57.

    [39] Krates verstarb um 150/140 v. Chr. T. Lochman, in: Homer 2008, 297 f . Abb. 11; ferner E. van der Meijden Zanoni ebenda, 21 Abb. 1.

    [40] Ital. Reise 32, 291; Grumach 1949, 512; Wegner 1949, 77.

    [41] Nista 1994, 193-208 Taf. 8-16; F. Coarelli, Rom (Darmstadt 2019) 301.

    [42]Hadrianisch, Wegner 1949, 77; severisch, Nista 1994, 200; constantinisch, LIMC III 619  Nr. 77 (F. Gury).

    [43] Marie Luise Kaschnitz, Besser als Rohrdommelruf, Engelsbrücke 51983, 180-182; Wamser-Krasznai —2020–

    [44] Wickhoff 1898, 16 mit Anm. 32.

    [45] Faust II, 2 V. 7550-7557.

    [46] Faust II, 2 V. 7855

    [47] Faust II, 2 V. 7499.

    [48] Faust II, 2 V. 7857 f. und 7862-7864 f.

    [49] Faust II, 2 V. 6879; Erläuterungen Goethe 420 f.  

    [50] Faust II, 2 V. 6881 f.

    [51] Faust II, 2 V. 7830-7832.  

    [52] Faust II, 2 V. 7836. 7840.

    [53] Faust II, 2 V.7856. Osterkamp kapriziert sich auf Thales allein, ders. 2007, 36 f.

    [54] Osterkamp 2007, 37.

    [55] DNP 4, 1998, 265

    [56] Faust, Paralipomenon Nr. 176, Grumach 1949, 719 f.

    [57] Goethe ca. 1950 Bd. 6,  Hrsg. Rudolf Alexander Schröder, 429.

    [58] Faust II, 3 V. 9915-18.

    [59] Am 2.10.1823, Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von  Müller. hrsg. v. Carl August Hugo Burkhardt (Stuttgart 1870) 65..


     [A1]

     [A2]

  • (15.5.2020)

    Jens Wernicke gewidmet

    Gerade in diesen Tagen
    Mutter Erde
    brauche ich deine tröstende Wärme
    Wenn ich schmerzhaft beobachte
    Mutter Erde
    wie bei meinen Mitmenschen
    in dieser weltweit inszenierten Belagerung
    durch Angst und Panik
    Wahrnehmungsstörungen
    Denkblockaden
    und Lähmungen entstehen
    wenn ich wahrnehme
    Mutter Erde
    wie in Windeseile
    sich Auflösungsprozesse ereignen
    wie die gesellschaftlichen Errungenschaften
    der Jahrzehnte langen Kämpfe
    für Weisheit und Gerechtigkeit
    tiefgreifend verletzt werden
    brauche ich deinen belebenden Atem
    Mutter Erde
    gerade in diesen Tagen

    ֎֎֎

  • (14.5.2020)

    G wie Gier
    Gier nach Geld
    Gier nach Macht
    G wie global
    globale Beherrschung
    globale Überwachung
    und auch
    G wie Gesundheit

    Gesundheit wird von den Regierenden
    falls sachdienlich
    großgeschrieben
    gigantisch groß

    Wenn sie in fernen Ländern
    das Völkerrecht brechen
    machen sie sich großmächtige Gedanken
    um die Gesundheit ihrer Söldner
    Deshalb brauchen sie dringend
    bewaffnete Drohnen

    Wenn sie im eigenen Lande
    die Verfassung vergewaltigen
    machen sie sich gewaltige Sorgen
    um die Gesundheit ihrer Handlanger
    bei aufkommenden Aufständen
    Deshalb brauchen sie zwingend
    bewaffnete Drohnen

    G wie Gesundheit
    Gesundheit wird von den Regierenden
    falls sachdienlich
    großgeschrieben
    gigantisch groß

    ֎֎֎

  •  

    A swan is the symbol of wisdom, sincere love, fidelity to the partner, innocence, purity, strength, and courage.

    They are in close relationship with the luminous gods and a sacred possessor of magical powers linked to music and singing, combined with the therapeutic powers of sun and water.

    The swan also represents the inner light and harmony of the human spirit, the divine spark in man.

    The flight of swan is compared to the return of the spirit to its source. The swan represents the part of the man who tends to develop the good to himself in perception and spirituality,

    This symbolism arises from the transformation of the ungainly chick into a majestic swan, whose look can push beyond the world of appearances and see in the future.

    The swan song is a metaphorical expression for the final artistic effort of a musician or poet. It refers to an ancient credence that swans sing a beautiful song before they are to die, having been silent during their lifetime.

    Dr. med. André Simon © Copyright

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Der Schwan

    Ein Schwan ist das Symbol von Weisheit, echter Liebe, Treue zum Partner, Unschuld, Reinheit, Stärke und Mut. Sie stehen in enger Beziehung mit den leuchtenden Göttern und sind heilige Eigentümer magischer Kräfte, die mit Musik und Gesang verbunden sind, kombiniert mit der therapeutischen Kraft von Sonne und Wasser.

    Der Schwan stellt auch das innere Licht und die Harmonie des menschlichen Geistes dar, den göttlichen Funken im Menschen.

    Der Flug des Schwans wird verglichen mit der Rückkehr des Geistes zu seiner Quelle. Der Schwan steht für den Teil des Menschen, der dazu neigt, das Gute bei Wahrnehmung und Spiritualität für sich zu entwickeln.

    Dieses Symbol entsteigt aus der Veränderung des unbeholfenen Kückens zu einem majestätischen Schwan, dessen Blick uns jenseits der Welt der Erscheinungen schickt und in die Zukunft sehen kann.

    Der Schwanengesang ist ein bildhafter Ausdruck für die letzte künstlerische Anstrengung eines Musikers oder Dichters. Er bezieht sich auf einen althergebrachten Gauben, dass Schwäne ein wunderbares Lied singen, bevor sie sterben sollen, nachdem sie ihr Leben lang still waren.

  • Dieser Text war (ursprünglich vorgesehen für die Lesung Streifzüge, Moderation Dietrich Weller, Stralsund 2020)

    Eigentümlich faszinierend sind Bach und Fluss. Es darf das kleinste Rinnsal sein, etwa in Freiburg die „Bächle“ oder die Dreisam, die, weil sie ein wenig zum Ausufern neigte, durch eine endlose Folge von Stufen gebändigt wurde.  Hauptsache es fließt! Andere Wasser haben auch ihre Schönheiten, stille Wasser wie Teiche, Seen, Maare, und wilde Wasser wie die Nordsee oder der Atlantik. Aber was ist das schon gegen einen Fluss?

    Die Wetter entspringt im Hochmoor am Rande des Vogelsbergs und mündet  über die Nidda in den Main. Um schwimmen zu lernen ging man, bevor sich die Landräte durch den Bau von Bädern und Kreiskrankenhäusern zu profilieren begannen, an die Wetter, in das von uns so genannte „Bad Griedel“ bei Butzbach, zu dem es heute längst gehört. Das Wasser war warm und schlammig, gemütlich und ungefährlich. Auch später behielt die Wetter ihre Anziehungskraft. An einem Flussbogen in Trais Münzenberg begründeten wir ein Wasserheiligtum, wo wir den Nymphen Opfer in Form von Kupfermünzen darbrachten.     

    Der Sommer 1952 war so heiß und trocken, dass die Fluss-Schifffahrt vorübergehend eingestellt werden musste. Für die Ferien hatten wir Streifzüge an und auf der Weser vorgesehen. Unser Schiff setzte wegen des Niedrigwassers so häufig auf, dass wir zwischen Höxter und Hameln ausgebootet und auf kleinere Wasserfahrzeuge umgeladen wurden. Mutige machten sich einen Spaß daraus, den Fluss trotz der beachtlichen Strömung als Fußgänger zu überqueren.

    Östlicher Quellfluss der Weser ist bekanntlich die Werra – zwei Namen, ein und derselbe indogermanische Wortstamm. Beides bedeutet „fließen“.

    Wo Werra sich und Fulda küssen,
    sie ihre Namen büßen müssen.
    Und hier entsteht durch diesen Kuss
    deutsch bis zum Meer der Weser Fluss.

    Das aus einer sehr anderen Zeit stammende Verslein ist auf dem Weserstein in Hannoversch Münden oberhalb des Zusammenflusses zu lesen. Werra-aufwärts wechselte der mäandernde Fluss 40 Jahre lang von einem der beiden deutschen Staaten in den anderen, dass es nur so eine Art hatte. In Bad Sooden-Allendorf, wo man beim Passieren der Werra-Brücke den westlichen Teil des Landes nicht zu verlassen brauchte, erfanden wir ein Wortspiel mit französischen Wurzeln: Qui viverà verrà (die Zeit wird’s lehren) wurde zu: qui viverà Werra (der wird leben, dem es vergönnt ist an der Werra zu weilen). Jetzt verbindet sie wieder!                  

    Die Donau ist bekanntlich alles andere als „schön blau“, aber ihre Entstehungsgeschichte fasziniert. Als Ursprungsort gilt der dekorativ gefasste Quelltopf in Donaueschingen. Das überfließende Wasser sammelt sich in der Brigach, bevor diese sich mit der Breege vereinigt, um dann als Donau bei Immendingen im Karst des Weißen Jura zu versinken. Ein Teil des Wassers tritt im sprudelnden Aachtopf wieder an den Tag, fließt nach Westen über den Bodensee zum Rhein und damit in die Nordsee. Andere Quellbäche füllen das alte Flussbett auf und die neue Donau macht sich auf ihren langen Weg nach Osten zum Schwarzen Meer. Eine Wasserscheide? Ja, doch sie ist auch ein Bindeglied zwischen Norden und Osten. Nicht genug damit; bevor sie sich ins Schwarze Meer ergießt, teilt sie sich in viele Mündungs-Arme und gibt sich alle Mühe, die vier heutigen Nachbarstaaten miteinander zu verbinden. Einmal wurde ich gebeten, für jemanden von der Budapester Kettenbrücke herunter ins Wasser zu spucken; davor habe ich mich gedrückt, der Fluss war mir dreckig genug. Trotzdem ist die Donau ein majestätischer Anblick, wie sie mitten durch das schöne Budapest strömt, dessen Stadtteile sie allerdings heute, trotz der wunderbaren Brücken, faktisch trennt. Zu Stoßzeiten nämlich werden die Brücken zu Nerven-zerfetzenden Verkehrs-Fallen. Vom hoch gelegenen Buda in das geschäftige Pest ist man weit länger als eine Stunde unterwegs, gleich welches Fortbewegungsmittel man benutzt; auch die Straßenbahn kann nicht wie sie sollte. Es gibt keine Rettung außer dem Zweirad oder der U-Bahn, und die bringt einen nicht überallhin.

    Meine erste Begegnung mit der Elbe hatte ich 1942 in Dresden und im Elbsandsteingebirge, dessen Anwohner nicht alle etwas von der aufgezwungenen „Verbindung“ hielten. Das verstand ich damals noch nicht, aber an die mächtigen Felsen kann ich mich erinnern und vor allem an die rote Brauselimonade, die ich dort bekam. 1990 war endlich Gelegenheit, von Osten her über die Elbe nach Westen zu blicken. Wie lange hatte ich mir die Nase am Zaun plattgedrückt und von einem Aussichtsturm, der am Westufer errichtet war, auf die andere Seite hinüber gespäht. Noch waren die Dömitzer Brücken nicht wieder hergestellt, aber es gab genügend Fähren in beide Richtungen. Der Fluss verbindet wieder, wie es sich für ein fließendes Wasser geziemt.

    In Rom, im Tiber nahe der Cloaca maxima, beim Tempel des Asklepios liegt mein Carneol-Ring. Leider hat dieses kleine Opfer meine Freundin nicht vor schwerer Krankheit retten können.

    Der älteste Kult auf der Tiberinsel galt dem Flussgott Tiberinus. Als aber Rom 293 v. Chr. von einer schweren Seuche heimgesucht wurde, benötigte man die Hilfe eines Größeren, des Heilgottes Asklepios. Eine Gesandtschaft machte sich zu Schiff auf den Weg nach Epidauros, dem wichtigsten Kultort des Gottes. Auf der Rückfahrt hatte sie eine heilige Schlange an Bord, die bei der Tiberinsel in den Fluss tauchte. So bezeichnete sie den Ort, an dem der Asklepios-Tempel  errichtet werden sollte. Heute steht da die Kirche S. Bartolomeo. Hospitäler der Israeliten und der Barmherzigen Brüder setzen die Kontinuität der antiken Heilstätte fort. „Zu Bestrahlungen und Behandlungen wandern die Römer über die beiden kurzen Brücken ins uralte Hospital. Dort geht es…sauber zu, da wird der alten Heilüberlieferung noch immer Genüge getan“, schrieb Marie Luise Kaschnitz 1962[1]. Die Ostspitze der Insel erinnert an den Bug des Schiffes, mit dem die heilige Natter nach Rom gebracht wurde. Eine wohl auf das Jahr 62 v. Chr. zurück gehende Travertin-Verkleidung zeigt ein Relief des Äskulap mit seinem Schlangenstab und verbindet so den Tiber mit dem saronischen Golf, aber auch mit den vielen fließenden Brunnen, die zu einem Asklepios-Heiligtum gehören; denn „rein muss sein, der in den duftenden Tempel tritt…“[2].     

    Übrigens sind es von der Tiberinsel nur wenige Schritte zur Giudecca, und dort isst man die allerbesten Artischocken!


    [1] Schlange des Äskulap, in: Engelsbrücke (München 51983) 71 f.

    [2] Porphyrius, De Abstinentia II 19, zit. bei A. Krug, Heilkunst und Heilkult (München 1985) 130.