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Pfingsten 1987: Wir wollen uns ein wenig umsehen in Thüringen und Sachsen. Das Auto ist frisch gewartet, die Route genehmigt, (Inter-) Hotels sind festgelegt, Papiere und Pässe in Ordnung. Los geht’s. An der Grenze bei Herleshausen müssen wir natürlich warten. Aber dann schießen unsere Pässe über das Förderband zu uns zurück. In Gotha setzen wir zum ersten Mal den Fuß auf den Boden des nahen, fremden Landes. Der kleine Opel mit dem Mainzer Kennzeichen ist schnell bekannt und wird überall angestarrt. Keine Hindernisse, nur, dass wir eine Arabeske im Sinn haben: Ekkehard und Uta in Naumburg, außerhalb unserer sanktionierten Route. Und wie der Teufel sein Spiel macht: Verkehrskontrolle. Herzklopfen. Führerschein und Kraftfahrzeugschein sind zur Stelle. Bremsen, Lichter, alles funktioniert wie am Schnürchen. Dann wird unser Reiseplan visitiert, wir fürchten Schlimmes. Doch wir bekommen unsere Papiere zurück mit den freundlichen Worten: Gute Fahrt, meine Damen!
Ein anderes Glanzlicht: Die Drei Gleichen. Wir erklimmen alle drei Burgberge, genießen viel Grün und, anders als erwartet. intakte Wälder. Die Sage vom Grafen von Gleichen mit den zwei Ehefrauen geriet in das Goethe-Drama Stella, an das der Dichter, nachdem das Publikum gegen das tragische Finale protestiert hatte, einen zweiten versöhnlichen Schluss anfügte. Da heißt es dann: Und Gott im Himmel freute sich der Liebe und sein heiliger Statthalter sprach seinen Segen dazu. Und ihr Glück und ihre Liebe fasste selig e i n e Wohnung, e i n Bett und e i n Grab.
Von Dresden ist es nicht weit nach Radebeul, wo mir, einer alten Karl-May-Leserin, im gleichnamigen Museum das Herz höher schlägt. Bautzen an der Spree, Görlitz an der Neiße, auch schon vor der grundlegenden Restaurierung eine schöne Stadt. Die Friedensbrücke. Da drüben liegt Polen, für uns Westdeutsche damals noch unsagbar fern.
Bei der Ausreise falle ich mit meinen beiden Fotoapparaten, einer für Diapositive, der andere für Negative, Papierabzüge, auf. Es sind zwei Praktika, VEB Pentacon, eine vorzügliche Marke, die zu dieser Zeit zwar exportiert, aber im eigenen Land nicht verkauft wurde. Ich rede und rede und kann den Zöllner schließlich daran hindern, meinen belichteten Film herauszureißen. Das Auto wird gründlich untersucht, auch der Benzintank. Sie lassen uns ungeschoren ziehen, wir müssen auch nichts bezahlen, haben nur mehr als eine Stunde verloren.
Pfingsten 1989: Diesmal geht es in den Norden der Deutschen Demokratischen Republik. Die erste Station ist Wismar mit der Insel Poel, wo wir Freunde besuchen. Am Pfingstsamstag sind wir nicht die einzigen, die von Schlutup aus nach Osten wollen. Die Grenze hält uns so lange auf, dass wir zu spät zu einem Stapellauf kommen, schade. Aber Wismar ist schön, auf der Insel blüht der Raps, es duftet. Dicke Kastanienbäume stehen direkt an der Straße. Wir genießen den geräuchertem Aal, von unseren Gastgebern selbst gefangen und zubereitet. Weiter über Rostock und Schwerin, Stralsund und Rügen, Greifswald und Usedom, es klappt alles, wir sind begeistert. Auf der Rückfahrt treffen wir unsere Freunde noch einmal, in Grevesmühlen bei den beeindruckenden Megalithen. Als wir uns verabschieden, fließen Tränen. Wann werden wir uns wiedersehen? Ein halbes Jahr später ist die Grenze weg. Die Freunde waren inzwischen sicher schon zehnmal bei uns, wir wenigstens fünfmal auf ihrer Insel. Der Raps und die Kastanien blühen immer wieder. Dicke alte Laubbäume begleiten die Straßenränder, so dicht an der Fahrbahn wie sie bei uns schon lange nicht mehr stehen dürfen. Eine kluge Entscheidung hält den Massentourismus fern, Hochhäuser dürfen nicht gebaut werden. Unsere Freundin kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort dieser Welt zu leben als auf ihrer kleinen Insel.
Oktober 1989. Familien-Besuch im Erzgebirge, Annaberg-Buchholz. Ich habe eine Tempo-Automatik für meinen Wagen bekommen, um die erlaubte Geschwindigkeit leichter halten zu können. Meine schwerbehinderte Tante muss Geld tauschen; für mich als Begleitperson entfällt der Zwangsumtausch, erstaunlich. Da wir privat wohnen, melden wir uns auf der Polizei an. Wir haben einen Obstkorb mit frischer Ananas, Zitrusfrüchten und Bananen dabei, natürlich auch Kaffee. Aber wir sind es, die verwöhnt werden, mit Köstlichkeiten aus einem privaten Delikatessenladen. Am nächsten Tag kriege ich “frei”, meine Tante gibt mir ihre Mark der DDR, und ich ziehe los, an der Zschopau entlang, vorbei an der Augustus-Burg, weiter nach Freiberg. Von der Stadt weiß ich nicht mehr viel, nur dass es im Ratskeller vorzügliche Rouladen mit Rotkraut gab. Natürlich keinen Wein dazu – Null Promille.
Einen Tag später ist schon wieder alles vorbei. Auf der Rückfahrt muss ich nach der richtigen Auffahrt fragen. Der nette ältere Sachse fleht mich förmlich an: “Ach bleiben Sie doch hier, was für eine Praxis könnten Sie haben! Uns laufen ja die Ärzte alle weg!” Für einen Moment bin ich nachdenklich, aber wenn ich mich jetzt nicht beeile, stehen meine Patienten zu Hause bis auf den Marktplatz. Um 16.00 Uhr beginnt die Sprechstunde, und es ist leider schon 11.00 Uhr. Das wird knapp, aber wir schaffen es[1].
1996 Klassentreffen in Berlin: Wir laufen immer und immer wieder durch das Brandenburger Tor, hinüber und herüber wie die kleinen Kinder; wohnen im Grunewald im wilden Westen und genießen Kabarett im Osten, die „Stachelschweine“ in der Friedrichstraße. Das literarische Quartett wird gründlich auf die Schippe genommen. Eine Kahnpartie auf der Spree muss natürlich auch sein, mit Gurken versteht sich. Aber was ist das alles gegen die Museumsinsel und den offenen Vorhang!
[1] W. Wamser-Krasznai, Gehen oder bleiben? in: dies. Scholien und Spolien (2018) 103-105.