Schlagwort: Heilschlaf

  •    Die Inkubation, Heilschlaf, griechisch Enkoimesis, ist eine tragende Säule in der Medizin des antiken Hellas. Der Hilfesuchende hofft auf nächtliche Traumgesichte, in denen ihm die Gottheit erscheint und ihn in den  Möglichkeiten zur Linderung der Leibes- und Seelennöte unterweist.

    Dafür muss sich der Patient gründlich vorbereiten, Enthaltsamkeit üben,  kultische Waschungen vornehmen und natürlich Opfer bringen (De Abstinentia II 19, zit. nach Krug 1985, 130). Beim Kommen und Gehen sind Gebühren in einen Tresor, Thesauros, zu entrichten, adressiert z. B.  an Asklepios und Apollon bzw. deren Priester.

        Aufschlussreich für die Gepflogenheiten der Letzteren ist ein Bericht in  Aristophanes‘ Komödie „Plutos“. Nachdem dieser im Meer gebadet hat, begibt er sich mit seinen Begleitern in den heiligen Bezirk des Asklepieions von Athen[1], wo die Opfer, Honigkuchen und anderes Backwerk, am Altar deponiert werden. Dann legt er sich mit seinen Begleitern dort in der Nähe nieder. Sie werden von den Tempelaufsehern, die das Licht löschen, zur Ruhe aufgefordert. Doch statt zu schlafen beobachten sie, wie der Priester alle nahrhaften Gaben einsammelt und in seinen Sack steckt[2]. Diese einträgliche Gewohnheit ging nach der Einführung des Christentums natürlich nicht verloren. Der Bischof Tychon aus Zypern berichtet im 5. Jh. u. Z., dass die Eltern eines taubstummen Knaben Tage und Stunden in der Kirche eines Heiligen verbrachten, „auf dem Boden schliefen, fasteten und Tränen vergossen“ (Chr. Markschies, Heil und Heilung in der Spätantike, in: Wunderheilungen in der Antike. Von Asklepios zu Felix Medicus, Oberhausen 2006, 17-23). Auch die Opferpraxis ist ungebrochen, denken wir nur an Goethes Mephisto im Faust:

    die Kirche hat einen guten Magen, hat ganze Länder aufgefressen
    und doch sich niemals übergessen.
    Die Kirch` allein, ihr guten Fraun,
    kann ungerechtes Gut verdaun.

        Während des rituellen Mahles im Heiligtum werden die geopferten Tiere, oft sind es Widder, verzehrt. Das Fleisch darf den heiligen Bezirk nicht verlassen. Auch Votivgaben wie Statuen, Reliefs und kleine Figuren aus Bronze oder Terrakotta verbleiben als immerwährendes Eigentum der Gottheit im Heiligtum (Strabon 8 6, 15; 14 2, 19; Plin. n. 29, 4).

        Wie aus den antiken Schriften hervorgeht, legten sich die Bittflehenden zum Heilschlaf auf den Boden, der höchstens von einer Strohmatte oder einem Fell bedeckt war. Man glaubte nämlich, dass die Erde während des Schlafs Kräfte freisetze, weshalb man „ipsi terrae incubatum est“, sich auf die Erde selbst niederlegte (L. Deubner, De incubatione, Diss. Giessen 1891. Eur. Hec. 70 ff.). Im Gegensatz dazu stellt die antike Bildkunst die Kranken gewöhnlich auf einem bequemen Bett, einer Kline, dar.

         

     Abb. 1: Weihrelief an Asklepios. Aus dem Piräus, Anf. 4. Jh. v. Chr.  
    Aufnahme der Verfasserin

        In Abb. 1 ist der am Kopfende stehende Gott gerade dabei, ‚Hand an die Patientin zu legen‘.

        Von Weihreliefs und Heilinschriften kennen wir den Gebrauch tragbarer Betten (Abb. 2). Demosthenes von X., gelähmt an den Beinen. Dieser kam in das Heiligtum auf einer Bahre und ging auf Stöcke gestützt herum. Als er sich im Heilraum zum Schlaf gelegt, sah er ein Gesicht: er träumte, der Gott verordne ihm, vier Monate im Heiligtum zu bleiben…Hierauf kam er…, als er an den letzten Tagen mit zwei Stöcken in den Heilraum hineingegangen war, gesund heraus (Iama C 64)[3].

       Oft brachten die Kranken Diener und Lasttiere für den Gepäck-Transport mit. Iama C 45[4]: Melissa kam mit einem Geschwür an der Hand. Als die Diener das Lager für die Frau von dem Saumtier abluden, nistete sich eine Viper…ein und kroch in die Laubfüllung der Matratze; als nun Melissa sich darauf legte, öffnet sie [die Schlange] durch  einen Biss das Geschwür an der Hand und darauf wurde sie gesund.

                      

     Abb. 2: Weihrelief, Chalkidiki, 1. Hälfte 4. Jh. v. Chr.
    Abguss Erlangen. Aufnahme der Verfasserin

       Dem Tempel gegenüber ist der Ort, wo die den Gott um Hilfe Bittenden schlafen (Paus. II 27.2) nämlich die Inkubationsräume, griechisch Enkoimeterien oder Abata (= die Unbetretbaren). In Epidauros fanden sich bei einer lang gestreckten Halle im Nordwesten des inneren Bezirks steinerne Stelen mit Heilinschriften, Iamata. Darauf… sind die Namen von Männern und Frauen verzeichnet, die von Asklepios geheilt wurden, und dazu die Krankheit, an der jeder litt, und wie er geheilt wurde (Paus. II 27, 3). Die Buchstabenform weist in die zweite Hälfte des 4. Jh. v. Chr.[5]

        An die Halle schließt das Bad des Asklepios an (Paus. II 27, 6) das der kultischen Reinigung vor dem Betreten der Heilräume dient.

        Eine außergewöhnliche Terrakottafigur (Abb. 3) aus dem Asklepieion von Nora/Sardinien zeigt einen von der heiligen Schlange umwundenen nackten Jüngling im therapeutischen Schlaf.                          

     Abb. 3:  Schlafender Jüngling, 2. Jh. v. Chr. 
    Nach Bernardini – Santoni – Tronchetti 2016, 109 Abb. 166

        Manche Patienten sind den euphemistischen Heilinschriften gegenüber skeptisch und müssen sich zunächst eines Besseren belehren lassen, wie wir z. B. aus Iama A 3[6] erfahren: Ein Mann, der die Finger der Hand nicht rühren konnte bis auf einen, kam zu dem Gott als Bittfleher. Als er die Weihetafeln in dem Heiligtum sah, war er ungläubig gegen die Heilungen und machte sich über die Aufschriften lustig. Als er im Heilraum schlief,  träumte ihm…es sei…der Gott erschienen und ihm auf die Finger gesprungen und habe ihm die Finger ausgestreckt…als es Tag geworden, kam er gesund heraus.

        Die Inkubation fand im Tempelbezirk statt[7], doch in der übrigen Zeit hielten die Heilung-Suchenden sich außerhalb des Temenos auf, etwa an Orten der Zerstreuung wie in den Theatern (Epidauros, Pergamon u. a.) bzw. in Herbergen mit fest installierten Klinen. Arzthäuser verfügten über Ordinationsräume, Iatreia, in denen möglicherweise kurzfristig auch „stationär“ behandelt wurde[8]. Jedenfalls – so berichtet Plinius – soll die Heilkunde getreu nach der von Hippokrates eingeführten Weise, die wir „die klinische nennen“ ausgeübt worden sein [9].

    Zusätzliche Literatur und Bildnachweis:

    P. Bernardini – V. Santoni – C. Tronchetti, Il Museo Archeologico Nazionale di Cagliari (Sassari 2016)    Abb. 3

    A. Burford, The Greek Temple Builders at Epidauros (Liverpool 1969)

    E. J. und L. Edelstein, Asclepius. A Collection and Interpretation of the Testimonies (Baltimore 1945)

    K.-V. von Eickstedt, Das Asklepieion im Piräus (Athen 2001)

    G. Harig, Zum Problem „Krankenhaus“ in der Antike, Klio 53, 1971, 179-195.

    R. Herzog, Die Wunderheilungen von Epidauros. Ein Beitrag zur Geschichte der Medizin und Religion (Leipzig 1931) 

    E. Holländer, Plastik und Medizin (Stuttgart 1912)

    A. Krug, Heilkunst und Heilkult (München 1985)

    Th. Schnalke, Asklepios. Heilgott und Heilkult. Ausstellungskatalog Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg 12. Juli- 30. September 1990  (Nürnberg 1990)

    W. Wamser-Krasznai, Wie man sich bettet…Lager und Lagern in antiken Heil-Heiligtümern, in: Les Études classiques 80 (Namur 2012) 55-72

    G. Welter, Troizen und  Kalaureia (Berlin 1941)


    [1] Außer dem Stadtheiligtum in Athen gibt es „das andere im Piräus“ (Scholia in Aristophanum, Ad Plutum, 621, T. 722), E. J. und L. Edelstein, Asclepius (ND 1975) Band I, 212-218, 375-377.

    [2] Aristoph. Plut. 655-683.

    [3] Herzog 1931, 33.

    [4] Herzog 1931, 27.

    [5] Herzog 1931, 2 und 6.

    [6] Herzog 1931, 9-10.

    [7] s. dazu Harig 1971, 182.

    [8] Galen, De antidotis I. 2. XIV,7, s. Harig 1971, 185 f. Anm. 41.

    [9] Nach dem Brand des Asklepiostempels auf Kos: „instituisse medicinam hanc, quae clinice vocatur“, Plin. nat. 29, 1 (2), 4, E. J. und L. Edelstein 1945, 401-402, Nr. 795. Hygin, Fabulae 274,9, E. J. und L. Edelstein 1945, 186, Nr. 360. Habig 1971, 180 und 182.