Schlagwort: in memoriam

  • Tschüß, süßes Mädchen!

    Gestern waren wir in Bremerhaven und haben uns von der „Seuten Deern“ verabschiedet.

    Sie sieht erbärmlich aus.

    Sie war im Hafenbecken gesunken, dann hat man sie ausgepumpt und mit Luftsäcken und Leinen wieder hochgehoben. Zwei  Millionen Liter Wasser müssen pro Stunde aus dem Schiffsrumpf gepumpt werden, damit sie nicht wieder absäuft.

    Das Absaufen der Seuten Deern ist ein Menetekel.

    Es zeigt, was passiert, wenn man sich nicht kümmert, wenn man den Dingen ihren Lauf, wenn man alles verrotten läßt.

    Wir wird bange um die „Deutschland“, um die Alexander von Humboldt.

    In die Schulen in Bremen, die Universität, überall regnet es hinein.

    Die Krankenhäuser und der Flughafen, alle haben Aufsichtsräte, die das Absaufen gar nicht bemerkt haben. Die Bremer Landesbank hatte gar die Finanzsenatorin als Aufsichtsratsvorsitzende. Nun steht von der Bremer Landesbank nur noch das Gebäude auf dem Domshof, die Bank selber ist weg.

    Lothar Probst, Politikwissenschaftler aus Bremen, schreibt im Weserkurier über den Kampf um die Schwarze und die Grüne Null.

    Es ist schon klar, was er damit meint. Der fiskalischen Sparpolitik steht das Klimaschutzpaket gegenüber.

    Aber die Politik der grünen Null besteht darin, zur Weltklimakonferenz zu fahren und anschließend an den Leichtathletikmeisterschaften in Katar teilzunehmen, wo die Sportler um Mitternacht Marathon laufen müssen, und selbst dann noch reihenweise umkippen.

    Es ist ein schönes Wortspiel, und es ist ein schönes Farbenspiel, der Kampf um die grünen und schwarzen Nullen.

    Trotzdem gibt es noch andere Nullen.

    Es gibt auch viele Standpunkte.

    Es gibt Menschen mit einem geistigen Horizont mit dem Radius von Null, die genau das als ihren Standpunkt bezeichnen.

    Und so geben wir unser Geld dafür aus, pro Stunde 2 Millionen Liter Wasser aus dem Bauch der Seuten Deern in das Bremerhavener Museumshafenbecken zu pumpen, und unser CO2-Abdruck entsteht durch das Klimatisieren einen Leichtathletikstadions in der Wüste von Katar. Wir sind dafür mitverantwortlich, weil wir da mitmachen.

    Erich Kästner schrieb:

    Allein ging jedem alles schief.
    Da packte sie die Wut.
    Und man bildete ein Kollektiv
    Und meinte, nun sei’s gut.
    Addiert die Null zehntausend Mal,
    rechnet‘s nur gründlich aus,
    multipliziert‘s mit jeder Zahl:
    Steht Kopf, es bleibt Euch keine Wahl:
    Zum Schluss kommt Null heraus.

    Bitte: Stellt die Pumpen ab und gebt der Seuten Deern ihren Frieden.

    30.9.2019

  • Die Saalach

    (1.9.2019)

     

    Andreas Peglau gewidmet*

     

    Gestern waren im Fluss
    drei Stein-Stränge erkennbar
    auf der einen Seite
    oben mit Moos bekleidet
    unten vom Wasser umspült
    in der Mitte
    tief im Wasser schimmernd
    auf der anderen Seite
    im Trockenen die Sonne anbetend
    Heute nach einer regnerischen Nacht
    im tosenden Fluss
    sind die drei Stein-Stränge nicht mehr sichtbar 

    Mitten in dieser verzaubernden Gestaltung
    werde ich vom Zifferblatt der Armbanduhr
    erschütternd daran erinnert
    dass die Vorfahren meiner Landsleute
    vor achtzig Jahren begannen
    ihre verbrämten Verbrechen
    gnadenlos auszuweiten 

    Voller Sehnsucht nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit
    frage ich mich gerührt
    wie viel Menschen auf der Erde
    das faschistische Gedankengut
    bewusst oder unbewusst
    noch in sich beherbergen
    und wie viel Generationenwechsel nötig sind
    damit diese verbrecherische Denkweise
    bedacht bearbeitet
    und schöpferisch beseitigt werden kann

    ֎֎֎

     

  • Lichte Momente

    (28.4.2019)

     

    für Margret und Christoph

     

    Wenn ich in Rotenburg früh aufwache
    und das Fenster im Bad weit öffne
    schaue ich nach Süden
    wo die Fulda meine Stadt durchquert
    Nicht selten ist es diesig
    einer warmen Beleuchtung bedürftig
    Dann denke ich dankbar
    an die hauchzarten Blätter
    in des Frühlings Sonne
    pistazienkerngrün und granatapfelrot schimmernd
    umgeben von den vielen Gesängen
    sichtbarer und verborgener Vögel
    Vom Glück durchströmt
    diese hellen, lichten Momente
    im Leben wahrgenommen zu haben
    spüre ich strahlend
    wie die über der Stadt schwebende Feuchte
    zärtlich  mein Gesicht küsst
    und eine Sonne in meinem Herzen
    unbeschwert wie kleine Kinder tanzt

    ֎֎֎

  • Wie viele Freundinnen habe ich schon verloren, auf die eine oder andere Weise. Ich gehe ihren Spuren nach.

    B., die Schwierige

    Mit dem Aufsätzchen „Spaziergang mit schweren Folgen“ habe ich ihr schon ein kleines, wie ich finde durchaus positives, Denkmal zu Lebzeiten gesetzt (W. Wamser-Krasznai, Mäander, Filderstadt 2018, 39 f.). Bald darauf wurde unsere Beziehung wirklich schwierig. Da ist ihre Sprechweise mit einer Menge höchst überflüssiger Füllwörter, die sie selbst gar nicht als solche registriert wie „und-und-und“,  „wie gesagt“ (wenn sie es noch gar nicht gesagt hat), „und so weiter und so fort“, „pi pa po“, oder mit Phrasen wie „vom Feinsten“. Wenn man das einmal gemerkt hat, kann man es kaum noch ertragen.

    Dass wir in weltanschaulicher Hinsicht nicht übereinstimmen, fand ich weniger schlimm. Die Beschäftigung mit Politik überlasse ich weitgehend meinem sehr informierten Mann, mit dem sie deshalb ebenfalls schon mehrfach zusammengestoßen ist. Eine wirkliche Last sind mir ihre pessimistische Weltsicht, ihre depressive Gemütslage und die negative Stimmung, mit der sie in aller Regel von ihren vielen, vorher geradezu hektisch betriebenen Fernreisen zurückkommt.

    An das Thema unseres letzten, entscheidenden Streitgesprächs kann ich mich kaum erinnern, es war etwas Banales und gipfelte in dem gegenseitigen Vorwurf „Du lässt mich ja nie ausreden“. Nun muss ich zugeben: es kann mir schon passieren, dass ich jemanden nicht ausreden lasse, in dem Gefühl sonst selbst nicht mehr zu Wort zu kommen. Wir saßen zu zweit in einer Kneipe, einem Familienbetrieb – alle sind meine ehemaligen Patienten – wo die immer lauter, am Ende fast schreiend ausgetragene Debatte coram publico, aber glücklicherweise ohne weitere Gäste, stattfand.

    Die Situation war etwa seit einem Jahr eskaliert. Es hatte sich eingespielt, dass B. bei uns nächtigte und ihren Wagen solange bei uns einstellte, während sie mit dem Zug weiter zum Flughafen und zu ihren Fahrten in die Welt aufbrach. Wir hatten ihr einen Hausschlüssel gegeben. Im Jahr 2018 nahm sie die Möglichkeit bereits siebenmal in Anspruch, revanchierte sich meist mit einer Einladung zum Abendessen oder mit einem Mitbringsel. Wenn mir auch unsere zunehmend aggressiven Gespräche langsam zu viel wurden, bekam ich doch kurz darauf immer Mitleid und ein schlechtes Gewissen, weil ich zwei Beine habe und sie nur eines. Deshalb meinte ich, ihr trotz allem etwas Gutes tun zu müssen. Am Morgen nach dem dramatischen Abend kam von ihr so etwas wie eine halbe Entschuldigung, wir gingen aber nicht mehr darauf ein und wünschten ihr nur gute Reise.

    Inzwischen entschloss ich mich, diese Sache im Hinblick auf meine Seelenruhe zu beenden. Das Dumme war, dass ich bei ihrer Rückkehr nicht da sein würde, und auch mein Mann wollte sie lieber nicht treffen. Ich schrieb ihr also einen „Scheidebrief“, der mir ganz gelungen schien. Jede Schuldzuweisung vermeidend – zu einem Streit gehören ja immer mindestens zwei – bat ich sie, den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen. Überhaupt bin ich ja besser mit dem geschriebenen Wort bei der Hand als mit dem gesprochenen. Petúr informierte mich telefonisch über den Fortgang. Sie deponierte den Schlüssel richtig im Briefkasten und schrieb dazu, sie habe schon länger darunter gelitten, unsere Gastfreundschaft so oft in Anspruch genommen zu haben. Sie meine aber, zwei alte Leute wie wir sollten sich trotz aller Verschiedenheit lieber vertragen und ich könne sie jeder Zeit besuchen, wenn ich in ihre Gegend komme. Alle Achtung, ein nobler Brief, sie hat ja aristokratischen Wurzeln. Lassen wir die Angelegenheit erst einmal auf sich beruhen und sehen dann weiter.

    Vier Wochen später: Ich habe den Eindruck, dass wir sehr gut ohne einander auskommen.

    A., die Kämpferin.

    Sie ist an Brustkrebs gestorben, ein handfestes Frauenzimmer, Kollegin, ihrem Mann, mit dem sie eine Gemeinschaftspraxis betrieb, weit überlegen. Als er ihr gegenüber im Suff einmal tätlich wurde, überlegte sie, ihn zu verlassen und besprach das mit mir. Von meinem damaligen Rat bin ich heute noch überzeugt: trennt euch innerhalb des Hauses und bezüglich der Freizeitaktivitäten, bleibt aber im Übrigen zusammen, für die Praxis und wegen der Familie. Bald danach wurde sie krank. So weit ich das beurteilen kann, war er ihr eine verlässliche Stütze auf dem Weg zu den verschiedenen Therapieversuchen, ein Beistand in Verzagtheit und Schmerz. Manchmal suche ich nach Spuren der Familie. Sie sind für mich nicht mehr auffindbar.

     

    H., die Handfeste.

    Eine verlässliche Gefährtin, auf Reisen und auch sonst, immer dann wenn Hilfe gebraucht wurde. Sie ging „nur“ zu einer Routine-Untersuchung, wäre am liebsten selbst mit dem Auto dorthin und auch wieder zurück gefahren. Aber sie kam nicht zurück. Der Schreck war furchtbar. Er übertraf sogar den Schmerz über den Verlust, er hält heute noch an. Mit ihr konnte ich singen; sie kannte dieselben Lieder und mochte dieselben Gedichte wie ich. Manchmal hat sie mich etwas zu sehr bewundert, aber ein bisschen Bewunderung kann man ganz gut vertragen. Mit ihrer Familie stehen wir in freundschaftlicher Verbindung.

     

    M., die Fromme.

    Um M. musste ich richtig kämpfen. Sie war meinen Altvorderen zu „einfach“, mir aber viel lieber als die feinen Honoratiorentöchter, mit denen meine Großmutter mich lieber gesehen hätte. Wir haben nebeneinander die Schulbank gedrückt bis sie den Schulort verließ. Die Freundschaft bestand weiter. Einmal besuchte ich sie, um mit ihr zusammen zu lernen, es war wohl kurz vor dem Physikum. Sie behandelte ihre Mutter schlecht, was mich ebenso störte wie ihre immer stärker hervortretende Frömmigkeit. Sie fing an, mich zu katechisieren. Ich habe mir Mühe gegeben, sie zu verstehen. Einmal nahm ich sogar an einer wie mir schien sektiererischen Gruppenveranstaltung teil. Man stand im Kreis, einzelne Teilnehmer traten vor („aus sich heraus“?) und erzählten etwas von sich. Das sollte einen oder sie selbst wohl näher an ein angestrebtes Ziel heranführen. Nun, ich entzog mich, geriet nicht in dieses Fahrwasser, hielt das Missionieren aber noch einige Jahre lang aus. Schließlich schrieb ich ihr einen Abschiedsbrief . Gelegentlich habe ich ein wenig ihren Werdegang verfolgt, und auch den ihres Mannes, der es zu einer Chefarztstelle brachte. Die Trennung war richtig, nur hätte ich mich schon früher dazu entschließen sollen.

     

    E., die Verhängnisvolle.

    Mit ihr war es viel schlimmer, eine richtig unangenehme Geschichte. Während des Krankenpflege-Praktikums lud mich eine Schwester zum Kaffee ein. Als ich mich nach diesen acht Wochen verabschiedete, bat sie mich um das Du. Wir korrespondierten. Sie war Gast bei meiner Hochzeit Nr. 1. Inzwischen hatte sie zu anderen Krankenhäusern gewechselt, wurde irgendwann Oberin, bewarb sich dann aber (!) in meiner ersten Praxis als Assistentin! Ich hätte jemanden Tüchtiges und Loyales gebrauchen können und machte einen meiner großen Fehler. Wie naiv kann man bloß sein? Mit „Freunden“ macht man doch keine Geschäfte! Vor allem war es unmöglich durchzuhalten, dass wir privat per Du waren, sie mich in der Praxis aber siezte und mit Frau Doktor anredete. Sie war häufig krank geschrieben, oft aus orthopädischen Gründen, also auch von mir selbst. Ein Krankenstand dauerte so lang, dass sie wieder in ihre Heimat wechselte. Eines Abends erhielt ich den Anruf ihres Bruders, der mir in wohlgesetzten Worten ihre Opiat-Sucht verriet. Man hatte entsprechende Einstiche an ihren Armen gefunden.

    Glücklicherweise wurde es dann nicht ganz so fatal wie es klingt, denn das Mophin stammte nicht aus meiner Praxis, konnte es gar nicht, da ich überzeugt war, als Orthopädin weder Opiate noch Giftschrank nötig zu haben. Immerhin kam es zu einer außerordentlichen Kündigung und einer schmerzhaften Abfindungs-Zahlung.

    Später schrieb sie einen langen Entschuldigungsbrief und wollte die Sache wieder begradigen. Das habe ich abgelehnt. Während dieser Affäre hat mich mein Ehemann Nr. 1, das muss ich ihm lassen, beraten und moralisch unterstützt. Gerade habe ich nach ihren Spuren gesucht. Auf der Traueranzeige zum Tod ihres wenig jüngeren Bruders ist sie nicht genannt. Entweder war sie vor ihm gestorben oder er hat sich ebenfalls von ihr distanziert.

    Ende der Geschichte.

     

    F., die Besondere

    Sie hat mir von allen vielleicht am nächsten gestanden, un‘ amicizia particolare. Wir reisten zusammen, lernten Italienisch zusammen, studierten Orchideen-Fächer zusammen. Ich habe sie oft zum Heulen gebracht, indem ich sie ablehnend behandelte, da ich allzu viel Nähe schwer ertrage. Auch die Heulerei stieß mich ab. Dann „verließ“ sie mich, indem sie vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausschied. Sie sagte kein Wort, stellte mich vor die vollendete Tatsache. Damit rächte sie sich für die Zurückweisung, die sie allzu oft von mir erfahren hatte. Natürlich fühlte ich mich allein gelassen im täglichen Kampf, was aber kein Grund zum Aufgeben war. Jetzt erst recht! Bald ereilte sie eine tödliche Krankheit. Ich habe sie getreulich begleitet, abgesehen von einer Ausnahme, die ich mir heute noch übel nehme. Täglich war ich bei ihr, oft zwei- bis dreimal, nur am Abend vor ihrem Tod nicht. Ein nicht wieder gut zu machendes Versäumnis.

    Einmal habe ich ihr richtig schlecht geraten. Wir waren mit ihrem Wagen zusammen in Apulien unterwegs. Jeder weiß, dass anständige Autos dort keine Minute sicher sind. Unser Quartiergeber riet, den Wagen in eine verschließbare Scheune zu stellen. In meiner Verblendung hielt ich den Parkplatz vor dem Haus für sicher genug. Der Wagen wurde sozusagen vor unseren Augen entführt, auf Nimmerwiedersehen. Wir fuhren mit der Bahn zurück, von Bari aus dauert das eine Weile. Meine Zerknirschung war groß, nützte aber nichts. Sie war  großzügig und nachsichtig. Es blieben nur eine völlig zwecklose Anzeige gegen Unbekannt, die Versicherung und ein verlustreicher Neukauf. Auch das geht mir  heute noch nach.

     

    T., die Pragmatische.

    Sie hatte hoch begabte Geschwister, einen Schauspieler, einen Professor, eine Sängerin, gehörte selbst zu den „ganz Normalen“, zu ihrem Glück, wie ich meine. Ihre Mutter war eine interessante, tüchtige, aparte Frau, allzu früh verwitwet. In der Oberstufe verbrachte ich viele Nachmittage dort, wurde in die Familie integriert, aß Marmeladenbrot und trank Zichorienkaffee mit ihnen. Die Mutter war oft mit ihrer Schwiegermutter, die ihre Wurzeln in unserer kleinen Stadt hatte und für alle sorgte, unterwegs, und die beiden standen allem Anschein nach im besten Einvernehmen. Dann trat ein Mann hinzu, ein entfernt Verwandter. Er und die Mutter gewöhnten sich an einander, was von den Familienmitgliedern, auch von der Schwiegermutter, offenbar wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Nach einem kleinen Autounfall, der für das ältere Paar glimpflich ausging, veränderte sich ihr Wesen (wie ich sehe, meine ich die Mutter wenn ich „sie“ sage und von „ihr“ schreibe; so muss ich meine Freundin konsequent mit ihrem Kürzel bezeichnen). Wahrscheinlich hatte sie primär eine depressive Veranlagung, die nun durchschlug. Sie ging in Therapie, zu Schlafkuren, war aber weiterhin, wenn sie konnte, beruflich tätig. Was zu dem gewaltsamen Ausbruch führte, wurde nie ganz klar. Jedenfalls fand die jüngere Tochter eines Tages die beiden Leichen, die Schwiegermutter erschlagen und die Mutter erhängt. Das junge Mädchen erholte sich nie mehr von dem Schock, wurde ihrerseits depressiv. Eine Zeitlang kam sie in meine Praxis, immer mit orthopädischen Symptomen, hinter denen die psychosomatische Grundstruktur leicht zu erkennen war. Die Tragödie ging natürlich durch den Blätterwald.

    T. führte mit Mann, Kindern und Beruf ein „normales“ Leben. Wir sahen uns regelmäßig bei Klassentreffen und bei anderen Gelegenheiten. Dann bekam sie ein Sarkom, ein sehr aggressives, das sie ganz schnell dahinraffte. Ich hielt telefonisch Kontakt mit ihr. Das Sprechen fiel ihr schwer, aber sie wollte doch immer von mir angerufen sein. Ihre Spuren verblassen.

     

    S., die „Weibliche“.

    Wieder war die Mutter in der fünfköpfigen Familie bei Weitem die Interessanteste, auch, mit Verlaub, die Klügste. Ich hätte sie mir als meine Ersatz-Mutter vorstellen können, aber meine Großmutter biss alle Kandidatinnen weg, die sich ihrem Schwiegersohn nur zu nähern wagten. Diese  Mutter, von mir Tante genannt, war diplomatisch und hielt das aus, benahm sich reizend zu meiner Großmutter und blieb meinem Vater gegenüber ausreichend distanziert. Ich war oft und gern dort. S., ein weiteres Mädchen und ich hatten zusammen ein „Kränzchen“, rauchten die ersten Zigaretten miteinander und veranstalteten gemeinsam kleine Theateraufführungen.

    S. war graziös, ein wenig kokett, hatte im Gegensatz zu mir „Verehrer“. Ihre Ehe blieb lange kinderlos. Schließlich überredete sie ihren Mann, ein Sohn kam, vom Vater nicht gewollt, es ging auch alles schief mit dem Jungen. Trotzdem überlebte er beide Eltern, die kurz hintereinander an malignen Tumoren verstarben. Zur Familie haben wir weiterhin gute Beziehungen.

     

    Maren, die Tapfere.

    Dem „Requiem für eine Kommilitonin“, Homepage des BDSÄ, Bundesverband Deutscher Schriftsteller-Ärzte 2017,  ist nichts mehr hinzuzufügen.

     

    U., die Erfolgreiche.

    Obwohl wir beide das Physikum in Marburg absolviert hatten, lernten wir einander erst in Freiburg richtig kennen. Wir siezten uns, nannten uns „Fräulein“, wie es damals Brauch war. Doch das änderte sich bald, als wir uns bei der Sportmedizin trafen. Sie machte Karriere, legte eine ansehnliche experimentelle Promotion hin, habilitierte sich, wurde Oberärztin, Professorin, Institutsleiterin. Männer an sich heran zu lassen, fiel ihr schwer. Einmal lernten wir jemanden kennen, der sich sehr um sie bemühte; das ging aber schnell zu Ende als er, wie ich vermute, „mehr“ wollte. Ihre Prüderie war vielleicht auf das von der Familie missbilligend und nur mühsam ertragene Doppelleben ihres Vaters zurückzuführen.

    Ich nahm an allen ihren Auszeichnungen und Festlichkeiten teil. Wir hatten gemeinsame Liebhabereien, Musik, Literatur, antike Kunst, reisten ein paarmal zusammen. Anfangs war ich ein bisschen eifersüchtig auf ihre Lebensgefährtin – wie weit das geht, haben wir nie vertieft – aber dann lernte ich diese näher kennen und schätzen. U. und ich standen ständig in Verbindung, wenn es  persönlich nicht möglich war, dann brieflich und telefonisch, später per E-Mail.

    Seit etwa drei Jahren lässt das alles nach. Es geht nicht von mir aus, ich habe nachgefragt, nachgebohrt, meinerseits geschrieben und telefoniert. Einmal machte die Gefährtin eine Andeutung zum Thema „Gedächtnis“. Da hatte ich es auch schon gemerkt. Sie vergisst, was besprochen oder schriftlich mitgeteilt wird. Neulich bekam ich gleichzeitig vier nahezu inhaltsgleiche E-Mails von ihr. Sie sagte kürzlich selbst einmal von sich, dass sie nicht mehr so könne, wie sie gern wolle. Ihren Fachbereich und ihre Steckenpferde hat sie nach wie vor im Griff, spricht dann lebhaft und interessant. Aber die Kommunikation lässt nach; die Initiative geht fast immer von mir aus. Ich fürchte, dass ich sie eines Tages ganz an das, sagen wir: abnehmende Gedächtnis, verlieren werde. Aber wer kann schon in die Zukunft schauen?

     

     

  • zum Weltkrebstag 2019

    Theodor Storm und der Magenkrebs

     

    Theodor Storm war –wie viele von uns – bekennender Norddeutscher:

    „hin gen Norden zieht die Möwe,
    hin gen Norden zieht mein Herz;
    fliegen beide aus mitsammen,
    fliegen beide heimatwärts.

    Ruhig, Herz! Du bist zur Stelle;
    flogst gar rasch die weite Bahn-
    und die Möwe schwebt noch rudernd
    überm weiten Ozean.“

    1817 wurde Theodor Storm in Husum geboren. Also in die Zeit der Aufklärung, Goethe war da schon 20 Jahre alt.

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  • Die bessere Welt

    (1973)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wenn man mich fragt,
    was das Leben ist,
    werde ich sagen,
    stets auf der Suche sein,
    eine bessere Welt ersehnen … 

    Heute bin ich aufmerksamer denn je,
    in der Wachheit bin ich voller Gedanken,
    im Schlaf bin ich wach.
    Ich würdige die Zeit,
    ich liebe die Erde.
    Im Anblick eines jeden hellen Morgens werde ich so sehnsüchtig,
    als wäre dies mein erster Tag,
    als wäre dies mein letzter Tag.
    In dieser verzaubernden Aufruhr
    bin ich unruhig wie die Frühlingsvögel.
    Mich bedrückt das Heim,
    mich bedrücken sorglose Gedanken
    und auch papageienhafte, sinnlose Gespräche.
    Mich bedrücken die Tagesnachrichten,
    wenn sie sich mit dem blühenden Markt des Einen
    und dem kalten Krieg des Anderen beschäftigen
    und nicht mit dem Geheimnis des Aufblühens menschlicher Kräfte.
    Ich möchte einen offenen Raum,
    der wie der Himmel grenzenlos ist …
    und eine Welt,
    die von dem Menschen weder Tod noch Opfer verlangt.

    ֎֎֎

  • Weil die Schönheit der Rose überwältigend ist
    Ihre Form
    Ihre Farbe
    Ihr Duft

    Auch das leise lautlose Lied
    beim Entfalten der Knospe…

    Die überwältigende Schönheit und all das
    was sie weckt in dir…
    So muss es im Paradies gewesen sein

    Vergiss nicht
    die Rose ist wie das göttliche Kind
    in jedem Menschen
    Die Rose…

    Versuch zu werden wie sie
    Sie ist dein Spiegelbild in Zukunft

    26.10.18

    Heute wäre der 99. Geburtstag meiner Mutter

  • Prof. Dr. med. Horst Joachim Rheindorf

    Ehrenpräsident des BDSÄ
    geboren am 06. Mai 1922, verstorben am 07. Mai 2018

    Am 6. Mai 2018, seinem 96. Geburtstag, kämpft Horst Joachim Rheindorf in der Klinik um sein Leben.

    Geboren am 6. Mai 1922 in Kassel, dient Horst Joachim Rheindorf zurzeit des Krieges als Infanterist im Sanitätsdienst der Wehrmacht. Er studiert an der Medizinischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg von 1943 bis 1950. Mit der Promotion zum Dr. med. schließt er das Studium ab. Bis 1953 arbeitet er in der Frauenklinik und Medizinischen Klinik.

    Die hessische Ärztekammer, in jenen Tagen ein Verein, ab 1956 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, wirbt ihn von der wissenschaftlichen Laufbahn ab. Der Einsatz für die Rechte jüngerer Ärzte beeindruckt die ärztlichen Standesvertreter. Erinnern wir uns: Die vergütungsfreie Mitarbeit zu Beginn der klinischen Tätigkeit ist nahezu üblich.

    Horst Joachim Rheindorf wird als Ehrenmitglied auf Landes- und Bundesebene in den Marburger Bund aufgenommen. Die Ärztekammer Hessen beruft ihn zum ärztlichen Geschäftsführer, von 1956 an zum Hauptgeschäftsführer.

    Er setzt sich auf allen Ebenen bis in den Weiterbildungsausschuss der Bundesärzte-kammer für die Weiter- und Fortbildung ein, arbeitet an der Musterberufsordnung mit: Qualifikation unter Wahrung ärztlicher Normen ist das Anliegen. Er fördert die Carl-Oelemann-Schule: Qualifizierung des Assistenzpersonals ärztlicher Praxen in überbetrieblicher Ausbildung.

    Die Akademie für Ärztliche Weiterbildung und Fortbildung, Themen wie Gesundheitserziehung bzw. Prävention fesseln Rheindorf. Von Anbeginn sitzt er der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung stellvertretend vor. Er treibt den Ausbau des berufsständischen Versorgungswerks voran, um den Alters-unterhalt der Ärzte zu schützen.

    Im Hessischen Landesgesundheitsrat leitet er den Krankenhausauschuss; er initiiert die Gründung der Hessischen Akademie für Arbeits-, Betriebs- und Sozialmedizin, an der er lehrt. Als Mitglied mehrerer Ständiger Konferenzen und Ausschüsse auf Bundesebene sowie des Großen Senats organisiert, moderiert, referiert er in nationalen und internationalen Fortbildungskongressen.

    Die Pensionierung 1987 setzt der mitreißenden Energie kein Ende. Er bleibt Vor-sitzender der Deutschen Akademie für medizinische Fortbildung und Umwelt-medizin. Das korrespondierende Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Allge-meinmedizin gilt als Pionier der hausärztlichen Qualifizierung.

    Mit Prof. Dr. Wilhelm Theopold, Mitbegründer des Marburger Bundes, ehemaliger Präsident der Hessischen Landesärztekammer und der Bundesärztekammer, bahnt sich eine Freundschaft an. Als aktueller Schriftleiter des Hessischen und des Deutschen Ärzteblatts leitet Präsident Theopold ab 1982 den BDSÄ. Er beruft 1986 in weiser Voraussicht Rheindorf zum Ehrenmitglied, das bald die Kasse führt.

    Theopold kandidiert 1992 nicht mehr; die Verbandführung mit Diskussionen um niveauorientierte Aufnahmekriterien reizt zu Widerspruch. Er überzeugt Rheindorf, der Richtige zu sein, und schlägt vor, den Freund zum Präsidenten zu wählen.

    Rheindorf lobt ihn für den hohen Stand der Mitgliederzahl. Zur Einrichtung der Bibliothek, zum regelmäßigen Rundbrief und die anhaltende Präsenz in den Medien gratuliert er. Ärztliche Körperschaften oder Mitteilungsblätter stehen dem organi-sierten Phänomen „Doktor und Poet dazu“, so der Titel des 1987 erschienenen Buchs Theopolds, aufgeschlossen gegenüber.

    Präsident Horst Joachim Rheindorf erklärt beim Amtsantritt das mit dem soziokulturellen Strukturwandel kompatible Ziel: Zusammenhalt im Verband ohne Distanzierung einzelner Gruppen. Das Stichwort „wir sind eine große Familie“ klingt in unseren Ohren.

    Sucht bisher Theopold Diskussionen mit Kritikern, Pressereferenten und Öffentlichkeit, lässt Rheindorf bei Medienauftritten Vorsicht walten. Bald überrascht es ihn, bei Mitgliedern und Standesorganisationen Anerkennung zu ernten. Sitz, Geschäftsstelle, Bibliothek des BDSÄ verlegt er in die Fortbildungsakademie der Hessischen Landesärztekammer in Bad Nauheim. Dem Rundbrief stellt er turnusmäßig den persönlichen Brief voran. Er beschäftigt stundenweise eine Bürokraft, anfangs Frau Walter, danach Frau Näther. Den Rundbrief redigiert seine Frau Gabrielle, von Beruf Journalistin, in rechtlichen Angelegenheiten des Verbands berät Sohn Axel.

    Niemand befürchtet eine oligarchische Familienherrschaft: Familie Rheindorf bewältigt in der Spätzeit klassischer Nachrichtentechnik die wachsende Summe der Verbandsnachrichten. Die Mitglieder erfahren alles aus den Lesungen der Landesverbände und des Bundesverbands, zu Publikationen, Ehrentagen, Aus-zeichnungen ebenso wie Bibliothekszugänge. Die Familie waltet mit Handarbeit, mit viel Liebe zum Verband und Mitgliedern. Bei der Drucklegung des Rundbriefs und der Pflege des Mitgliederverzeichnisses hilft unermüdlich Frau Jutta Näther, Sekretärin der Geschäftsstelle bis heute.

    1993 findet der 36. Kongress des Weltverbands der Schriftstellerärzte (UMEM) in Fulda statt, zugleich der Jahreskongress in Bad Nauheim mit Verleihung der Schauwecker-Plakette an Wilhelm Theopold. Die „Ärzte Zeitung“ berichtet darüber. Die Schauwecker-Medaille ist die höchste Auszeichnung des BDSÄ, benannt nach seinem ersten Präsidenten.

    Gleichwohl sinkt die Mitgliederzahl. Das Bayerische Ärzteblatt setzt die Doppelspalte „Äskulap und Pegasus“ ab. Der allgemeine Wandel soziostruktureller Gewohnheiten kündigt sich im Verbandsleben an. Rheindorf besucht die Lesungen der Landesgruppen möglichst oft.

    Die Bereitschaft zu Sponsoring durch Firmen, Verlage oder deutsche Ärzteblätter schwindet, obwohl die Arbeit des Verbands gemeinnützig anerkannt ist: Der BDSÄ stellt wirksame Spendenbescheinigungen aus. Das Interesse öffentlicher Medien schrumpft mit dem Wachsen der neuen Medien.

    Die Aktivitäten verlagern sich auf private Initiativen der Mitglieder. Präsident Rheindorf ruft zur Aufmerksamkeit gegenüber der ärztlichen Schriftstellerszene in den neuen Bundesländern auf. Die Integration gelingt mit der Darstellung des Verbands als eine Familie.  Mitte der Neunziger Jahre steigen die Mitgliederzahlen.

    Vorstandsmitglieder kommen, gehen oder wechseln die Ämter, Präsident Rheindorf bleibt. Vor jeder Vorstandswahl fragt er, ob jemand das Amt übernehmen mag. Die Versammlung wählt ihn stets einhellig. Vier Mal erscheint die offizielle Verbands-anthologie „Edition deutscher Schriftsteller-Ärzte“.

    Gabrielles Idee „Neues aus der Redaktionsstube“ fördert die Zusammengehörigkeit. Sie betont, neben den aktiven Mitgliedern auch von anderen Mitgliedern Beiträge anzunehmen, um das Schaffen von Erfahrenen und Anfängern gleichermaßen zu dokumentieren.

    Die Beltzmühle in Altenstadt, ländliches Anwesen der Familie Rheindorf, dient mehrmals organisierten Lesungen. Weitere Landesverbände der neuen Bundesländer treten ab 2000 dem BDSÄ bei. Die Aktivitäten regen das Verbandsleben an, Ältere und Jüngere finden zusammen.

    2002 beginnt Harald Rauchfuss den Aufbau einer Webseite. Rheindorf begrüßt es, den Verband in neuen Medien zu präsentieren, um Interesse zu wecken. Der Rundbrief schwillt zu einem vielseitigen Publikationsorgan an. Die Herstellungs-kosten wachsen zwar, aber er ist ein Ausgleich für jene, die nicht an den Treffen teilnehmen können. Darüber freut sich Präsident Rheindorf im Dezember-Rundbrief 2004. Im Sinne der klassenlosen Gemeinschaft verzichtet er seit Beginn der Amtszeit darauf, Titel und Ehrenauszeichnungen der Autoren zu wiederholen.

    2005 stiftet Rheindorf auf dem Kongress in Bad Schandau den Literaturpreis, dem die Mitgliederversammlung den Namen Horst-Joachim-Rheindorf-Literaturpreis gibt. Das Hauptmotiv der Stiftung ist, den Verband für Interessenten attraktiv zu machen, zumal nach 1998 die Bundesärztekammer keinen Literaturpreis mehr ausschreibt. Der Literaturpreis des BDSÄ wird in der Regel auf dem Jahreskongress verliehen, ein Turnus ist nicht vorgegeben. Wie der Präsident befürchtet, öffnet der Preis eine Tür für Gefühle, übergangen zu sein.

    Der Präsident bereitet 2008 Harald Rauchfuss auf die neue Amtszeit vor. Nach der Wahl muss die Mitgliederversammlung den emeritierten Präsidenten drängen, der Ernennung zum Ehrenpräsidenten zuzustimmen. Rauchfuss würdigt Rheindorf, den Verband vor jenem Zeitgeist bewahrt zu haben, der im allgemeinen Literaturbetrieb das absolut individuelle Stilmittel beanspruche. Damit sei es ihm gelungen, einen Tiefpunkt des Verbands in den Neunziger Jahren zu überwinden.

    Hojo Rheindorf führt mit der Übernahme  der Präsidentschaft einen damals neuen Stil im Verband ein. Die vorher etwas steife Atmosphäre verwandelt er durch seine väterliche Art in eine freundschaftlich-familiäre, in der sich neue Mitglieder schnell angenommen und wohl fühlten. Als fortwirkendes Vermächtnis ist das bis heute so geblieben. Gleichwohl vermeidet er die Rolle des Übervaters: er kann loben, anerkennen und andere neben sich gelten lassen.

    Eine spontane Ehrung überrascht Familie Rheindorf am Abschiedsabend auf der Havel-Insel Lindenwerder. Barbara Kromphardt und Harald Rauchfuss komponieren eine mehrstimmige vielstrophige Abschiedshymne für „Hojo“, in die alle Kongress-teilnehmer einstimmen. Sie verklingt im besonnten Abend der Berliner Luft.

    Horst Joachim Rheindorf hat eine Tradition hervorgebracht, die Stabilität garantiert. Sie hilft, die Turbulenzen eigenwilliger poetischer Ausdrucksweisen und der modernen Medien zu steuern. Es gilt für die nachfolgenden Präsidenten Harald Rauchfuss und Dietrich Weller, über den Wandel der Poesie und der ärztlichen Tätigkeit im Sinne Rheindorfs nachzudenken.

    Am 8. Mai 2018 endet ein Leben im Dienst des ärztlichen Berufsstands, der Schriftsteller-Ärzte und der eigenen Familie. Von den zahlreichen Auszeichnungen seien genannt:

    Ernst-von-Bergmann-Plakette der Bundesärztekammer 1971
    Bundverdienstkreuz Erster Klasse 1972
    Bernhard-Christoph-Faust-Medaille des Landes Hessen 1982
    Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft 1997
    Großes Verdienstkreuz mit Stern 2002.
    Schauwecker-Medaille 2009

    Es ist Rheindorfs wegweisendes Vermächtnis, unsere Satzung zu leben mit »Förderung der Volksbildung, nicht nur in Fragen der Gesundheit, mit Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur, des Völkerverständigungsgedankens und der Humanität.« Es obliegt uns »die Pflege des literarischen Schaffens und dessen Förderung sowie die Hebung des gegenseitigen Verstehens und kulturellen Zusammengehens der Nationen zusammen mit der Union Mondiale des Écrivains Médecins (UMEM).«

    Die Satzung klingt mit Horst Joachim Rheindorfs Worten verständlicher: »Wir sind eine große Familie.« Wir gedenken seiner Worte auf Dauer und danken ihm für seine treue und hingebungsvolle Arbeit.

    Harald Rauchfuß und  Dietrich Weller

  • Langer Atem

    (18.4.2018)

     

    In meinem Arbeitszimmer
    im sechsten Stock angekommen
    öffne ich weit die Tür zum Balkon
    Das zarte Frühlingsgrün
    bis zum Horizont ausgebreitet
    zeigt hier und da wunderbare
    rosa-weiße, gelbe
    rot-bräunliche Muttermale
    Die Sonne
    selbst nicht sichtbar
    schickt unverkennbar
    ihren hellen Gruß
    Vögel sind betriebsam, brünstig unterwegs
    Ich atme diese Sanftmut tief ein
    denke bewegt unter anderem
    an Gaza, Syrien, Libyen
    Irak, Yemen und Afghanistan
    denke an mein Ursprungsland Iran
    und bin mir dabei bewusst
    dass ich Verdunklungen wahrnehmend
    weiterhin vom Licht sprechen werde
    von der Geborgenheit in Gerechtigkeit
    von der Verbundenheit mit der Schönheit
    von langem Atem fürs Leben

    ֎֎֎

  •  

     ARS  MEDICI

     

             

    In an amazing colourful dream, two legendary masters of the healing arts appeared to me. Longing for enlightenment, I humbly asked them to share their knowledge with me. In front of the complex patients’ problems, what should be taught a student of the healing arts?

    Qi: The young practitioner of the healing arts finds only basic answers in the books. However, a more successful method is to attempt to learn from many sources. The practitioners of the healing arts start by searching the clarity and decency in their heart. Subsequently, they improve their techniques and enhance their skills. Our lives are limited, but knowledge is not.

     Hi: Life is short, and art is long. A learned physician must not only be prepared to do what he knows is right, but the art of healing involves gaining the trust and cooperation of the patient. How can a student of the healing arts find the best teacher ever?

    Qi: We cannot grow in medicine until we grow in experience. From the ancient times on, students of the healing art have travelled great distances in order to reach teachers who are able to impart their knowledge based on their experiences.

    Hi: Living on an island, students are used to travel over the sea only to attend my lectures. If you are thirsty, isn’t it best to drink closest to the source of water? Likewise, students are keen on learning here ashore, close to the source of medical science. The teaching of healing arts is possible in many places. Why should the students consider attending particularly your lecture?

    Qi: Only one thread pulled out of a silk gown, has no meaning at all. However, woven with other threads into to gown, it is transformed on the whole. Each patient is unique, but the treatment requires more than taking care of various singular components.

    Hi: The curative approach is based on the healing power of the nature. The diseases are regarded as a whole and have natural causes. What are fundamentals of medical practice?

     Qi: We regard medicinal herbs and the food as the highest, most serious of matters. This is an aspect of our culture – to understand the power that herbs and food hold in our medicine.

    Hi: An illness may require to keep to a strict diet until the complete healing. Medicine should be kind to the patient and treatment gentle.

    Awaken from the dream, I realized, that the legendary masters in my dream were: Hippocrates (Hi) and QiBo 岐伯 (Qi). According to the Chinese Mythology, Qi-Bo was enlightened by an ethereal being from heavens with knowledge of traditional medicine.

    The amazing dream provided me with a glimpse into the legendary master’s insights, and opens an imaginary door between classical and traditional Chinese medicine.

     

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Ars Medici  –  Die Kunst des Arztes

    In einem überraschend bunten Traum erschienen mir zwei legendäre Meister der Heilkünste. Weil ich mich nach Erleuchtung sehnte, bat ich sie demütig, ihr Wissen mit mir zu teilen. Was sollte angesichts der komplexen Patientenprobleme einem Student der Heilkünste gelehrt werden?

    Qi: Die jungen Ausübenden der Heilkünste finden nur grundlegende Antworten in den Büchern. Eine erfolgreichere Methode ist jedoch, aus vielen Quellen zu lernen. Die Anwender der Heilkünste beginnen, indem sie nach Klarheit und Anstand in ihren Herzen suchen. Danach verbessern sie ihre Techniken und steigern ihre Fähigkeiten. Unsere Leben sind begrenzt, aber das Wissen nicht.

    Hi: Das Leben ist kurz, die Kunst währt lang. Ein ausgebildeter Arzt muss nicht nur vorbereitet sein, das zu tun, wovon er weiß, dass es richtig ist, sondern die Heilkunst schließt auch ein, das Vertrauen und die Mitarbeit des Patienten zu gewinnen. Wie kann ein Student der Heilkünste den allerbesten Lehrer finden?

    Qi: Wir können erst im Wissen wachsen, wenn wir an Erfahrung wachsen. Von altersher sind Studenten der Heilkünste große Entfernungen gereist, um Lehrer zu erreichen, die fähig sind, ihr Wissen zu teilen, das auf ihren Erfahrungen basiert.

    Hi: Wenn Studenten auf einer Insel wohnen, sind sie gewöhnlich über das Meer gereist, nur um meine Vorlesungen zu hören. Wenn du durstig bist, ist es dann nicht am besten, aus der nächsten Wasserquelle zu trinken? Ganz ähnlich sind Studenten begierig, hier an Land zu lernen, nahe an der Quelle der medizinischen Wissenschaft. Heilkünste zu lehren ist an vielen Orten möglich. Warum sollten die Studenten in Betracht ziehen, ausgerechnet deine Vorlesungen zu besuchen?

    Qi: Wenn man nur einen Faden aus einem Seidenmantel zieht, hat das überhaupt keine Bedeutung. Aber weil er mit anderen Fäden in den Mantel hinein verwoben ist, wird das Ganze umgeformt. Jeder Patient ist einmalig, aber die Behandlung erfordert mehr, als sich um verschiedene einzelne Bestandteile zu kümmern.

    Hi: Der heilenden Ansatz begründet sich auf der Heilkraft der Natur. Die Krankheiten werden als Ganzes betrachtet und haben natürliche Ursachen. Welches sind die Grundlagen der medizinischen Praxis?

    Qi: Wir betrachten medizinische Kräuter und Nahrung als die höchste und ernsthafteste Materie. Das ist ein Gesichtspunkt unserer Kultur – die Kraft zu verstehen, die Kräuter und Nahrung in unserer Medizin enthalten.

    Hi: Eine Krankheit mag erfordern, bis zur vollständigen Heilung eine strikte Diät einzuhalten. Die Medizin sollte freundlich zum Patienten sein und die Behandlung sanft.

    Als ich aus dem Traum erwacht war, erkannte ich, dass die legendären Meister in meinem Traum Hippokrates (Hi) und QiBo岐伯 (Qi)waren. Der chinesischen Mythologie entsprechend war Qi-Bo mit Wissen um die traditionelle Medizin durch ein ätherisches Wesen erleuchtet.

    Der erstaunliche Traum bescherte mir einen kleinen Einblick in die legendären Einsichten der Meister und öffnet eine bildhafte Tür zwischen klassischer und traditioneller chinesischer Medizin.