Schlagwort: Legenden

  • Göttin mit Löwenfellkappe – Artemis Italica, 

    Auch nachdem die Diskussion um die Bezeichnung „Artemis Bendis“ für die unteritalische Göttin mit Löwenfellkappe weitgehend abgeschlossen war[1], feiert die irrige Ausdrucksweise weiterhin fröhliche Urständ[2]. Daher darf eine Anhängerin der Italischen Artemis vielleicht auf Nachsicht hoffen, wenn sie  wieder einmal Wasser ins Meer tragen will.

    Die Italische Artemis mit der Löwenfellkappe[3]

    Bekanntlich trägt die Italische Artemis eine spitze „phrygische“ Mütze mit einem Überzug aus Löwenfell. Dieser wird manchmal als „Skalp“ bezeichnet, doch ein Skalp besteht aus der Kopfschwarte vom Schädeldach[4]. Die Kappe der Göttin dagegen ist mit dem oberen Abschnitt des Löwengesichts, unter Einschluss der Nase und der Oberlippe bzw. des Oberkiefers geschmückt[5]. Der Ausdruck „Maske“, der bisweilen  begegnet[6], wird dem Sachverhalt eher gerecht. Löwentatzen fallen wie Tänien[7] von oben auf die Schultern herab (Abb. 1).

                                 Abb. 1: Artemis Italica, Gießen Inv. T I-14

                           Aufnahme: M. Recke, Gießen/Frankfurt am Main

    Gesicht im Löwenrachen: Herakles, Omphale? Artemis

    Im Anschluss an die erste der kanonischen Taten zeigt sich Herakles gern mit dem Fell des nemeischen Löwen, wobei das Gesicht des Heros aus dem  aufgesperrten Löwenrachen herausschauen kann, sodass Stirn und Wangen vom Kiefer des überwundenen Gegners gerahmt werden[8]. Ähnlich erscheinen auch weibliche Versionen wie „Omphale“ (Abb. 2) oder die Göttin Artemis[9].

                Abb. 2: Aus Kakopetria/Zypern, Omphale? Mitte des 5. Jhs. v. Chr.

                                Nach Karageorghis 1977, 186 Nr. 53 Taf. 64 

    Zur Ikonographie der Italischen Artemis

    Im Gegensatz zur gerundeten Tierkopfmütze des Herakles endet die Löwenkappe der Göttin in einer Spitze. Meist ist Artemis stehend dargestellt, in kurzem Gewand und mit hohen Stiefeln, weniger oft in einem langen Gewand. Darüber trägt sie einen symmetrisch auf den Rücken fallenden Fellmantel mit Löwentatzen, die vorn auf der Brust verknotet sind[10] oder ein nach Art des Schrägmantels drapiertes Fell, das entweder ebenfalls von einem Löwen stammt[11] oder aus der Decke eines Hirschkalbs besteht ( Nebris). In der freien Hand hält die Göttin einen Bogen, manchmal auch einen Köcher[12] (Abb. 3). Tiere sitzen oder stehen zu ihren Füßen und schmiegen sich in ihre Arme[13]. Eines ihrer weniger häufigen Attribute ist die Schale[14]. Weibliche Figuren mit Kreuzfackel und Ferkel, die aus demselben Kontext stammen, weisen auf die Nähe zu den chthonischen Göttinnen Demeter und Kore/Persephone hin. An die Stelle der Löwenfellkappe tritt bei ihnen eine polosartige Kopfbedeckung[15]

    Aus den Werkstätten von Tarent, Metapont, Herakleia und anderen koroplastischen Zentren Großgriechenlands und Siziliens gingen Hunderte von Artemis-Statuetten hervor[16]. Die Vorderseiten der Figuren stammen aus Matrizen, während die Rückseiten gewöhnlich offen belassen sind (Abb. 1b).

                      Abb. 3: Aus der Sammlung C. W. Lunsingh Scheurleer

                                                 AA 1932, 318 Abb. 1[17]

    Artemis in Thrakien

    Neben der genuin thrakischen Göttin Bendis ist auch die griechische Artemis keine Unbekannte in Thrakien. Für Herodot (4, 33. 5, 7) gehört Artemis zu den dort verehrten Gottheiten. Archäologische Zeugnisse für ihre Präsenz in Thrakien stammen jedoch aus späteren Jahrhunderten. Ein marmornes Relief in Sofia zeigt die Göttin auf einer Hirschkuh reitend, ein Typus, der mit der Ikonographie der Bendis nichts zu tun hat[18]. Die Weihinschrift ist in griechischen Buchstaben der römischen Kaiserzeit an die „Herrin Artemis“ gerichtet[19].

    Bendis die Fremde aus Thrakien im griechischen Kernland

    Während für Bendis in Thrakien Belege aus vor-hellenistischer Zeit fehlen[20], ist ihr Kult in Attika mehrfach nachgewiesen. Sie besaß ein Heiligtum in Laurion, wo man seit dem 5. Jh. v. Chr. thrakische Bergleute als Arbeiter im Silberbergbau beschäftigte[21]. Vor allem aber verehrte man „die Fremde“ im Hafenbezirk  von Athen. Zu Beginn der „Politeia“ schildert Platon die beiden feierlichen Prozessionen, die, getrennt für Thraker und für attische Bürger vom Athener Prytaneion ausgingen und zum Bendis-Heiligtum im Piräus führten[22]. Dieses lag nahe beim Heiligtum der Artemis Munichia[23]. Die Legitimierung des fremden Kultes erfolgte durch die Göttin Themis, deren Name inschriftlich neben dem der Bendis, der Artemis und des Jägers Kephalos auf einem attischen Skyphos erscheint[24].

    Artemis und Bendis – zwei Göttinnen mit gemeinsamen Aspekten

    Im Piräus wurden Bendis und Artemis zusammen verehrt[25]. Nach einer Scholie zu Platon sei die Bendis der Thraker gleichzusetzen mit der griechischen Artemis[26]. Hesych schließt seine Glosse zu den Thrakerinnen („Thrattai“) des Kratinos[27] mit den Worten: „und sie bezeichnen die MondgöttinalsBendis und Artemis“[28]. Derartige Gleichsetzungen kulminieren im Synkretismus späterer Zeiten, als man die thrakische Bendis bald mit Artemis Tauropolos, bald mit Hekate, sogar auch mit Kybele identifizierte[29].       

    Gemeinsame ikonographische Aspekte sind neben den begleitenden Tieren das kurze Gewand mit den hohen Stiefeln, die Nebris und eine phrygische Mütze[30],  freilich ohne  Löwenfell-Überzug, im Grunde also wenig spezifische Merkmale[31]. Die für Bendis charakteristische Kopfbedeckung, Alopekis, konnte dagegen in besonderen Situationen auch einmal von Artemis getragen werden. Das zeigt die Darstellung eines Satyrspiels zu „Iphigenie auf Tauris“ in der Umzeichnung einer heute verschollenen apulischen Amphora. Aus den Kulissen taucht links ein junger Satyr auf, rechts erscheint „Artemis Taurica“ in kurzem Gewand, hohen Stiefeln und einer Fellmütze mit langen Laschen. In einer Hand hält sie eine Fackel, in der anderen den Doppelspeer[32]. Iphigenie ist als Artemis-Priesterin festlich geschmückt und durch einen großen Schlüssel als Amtsperson ausgewiesen. Die beiden jungen Männer, Orest und Pylades, halten ebenfalls Doppelspeere bzw. eine Lanze mit zwei Spitzen in Händen. Hesych verleiht der Bendis zwar den Beinamen „dilonchos“, die mit den zwei Lanzen, doch ist das Attribut nicht Bendis-spezifisch. Göttliche und  heroische Gestalten wie Artemis und Kephalos[33], Orest und Pylades, können ebenfalls Doppellanzen tragen. Bisweilen gelten Terrakotta-Gruppen von Artemis mit einem Tier als Bendis[34], eine Folge der gemeinsamen Jägerinnen-Tracht, in Verbindung mit der phrygischen Mütze.

    Artemis und Bendis – zwei ganz verschiedene Gottheiten

    Wie die beiden Seiten des genannten Tübinger Skyphos[35] zeigen, unterschied man in Attika trotz der gemeinsamen Aspekte sorgfältig zwischen den beiden Göttinnen. Die Namen, „Artemis“ auf der einen und „Bendis“ auf der anderen Seite des Gefäßes sind wohlweislich beigeschrieben[36]. Bendis trägt ihre Fuchspelzmütze, Alopekis, Artemis dagegen ein zierliches Diadem.

    Auch im Umgang mit Tieren verhalten sich die beiden Göttinnen unterschiedlich. Auf den Bendis-Reliefs in Kopenhagen und London sind Tiere gar nicht angegeben[37]. Der Tübinger Skyphos zeigt neben Bendis ein Reh und auch zu Füßen der Marmorstatue in Mariemont sitzt ein kleines Tier[38]. An Artemis kommen die Vierfüßler, vor allem in großgriechischen Darstellungen, viel näher heran[39]. Sie hängen an ihr und hocken auf ihr. Sogar stehend wiedergegebene Begleittiere schmiegen sich eng an die Herrin[40], deren Art und Weise ein Rehkitz im Arm zu halten, nur mit der Souveränität einer Potnia Theron zu vergleichen sei[41].   

    Zahlreiche Zeugnisse belegen die Verehrung der Artemis auf italischem Boden[42]. Für die thrakische Bendis dagegen ist auf der Apenninen-Halbinsel literarisch nirgendwo ein Kult nachgewiesen[43]. Der Löwe, dessen Kopf und Fell das Bild der Italischen Artemis bestimmen, hat nicht das Geringste mit der Bendis- Ikonographie zu tun[44]. Gleichwohl ist vor allem für Tarent, Metapont, Herakleia und Santa Maria d’Anglona ein Bendiskult postuliert worden. Man  nahm dafür einfach die zahlreichen seit dem letzten Viertel des 5. Jhs. v. Chr. entstandenen Artemis-Statuetten mit phrygischer Mütze und darüber gezogener Löwenmaske in Anspruch. C. W. Lunsingh Scheurleer drückte sich noch einigermaßen vorsichtig aus, indem er von  „Vermutung“ und „Annahme“ sprach, ohne jedoch eine tragfähige Basis für die Anwesenheit der Bendis in Süditalien zu liefern[45]. Rüdiger, der sich sogar auf das Jahr 404 v. Chr. als angeblichen Zeitpunkt der Einführung des Bendiskultes in Tarent festlegte[46], blieb ebenfalls den Beweis für diese Behauptung schuldig.

    Phrygische Mützen auf Vasenbildern als Zeugnis für die Präsenz der Bendis in Unteritalien?

    In seiner ausführlichen Studie zu diesem Thema betrachtet Schauenburg[47] acht mögliche Bendis-Darstellungen auf unteritalischen Vasen. Meist hält die Göttin ein bis zwei Speere in der Hand und trägt eine phrygische Mütze[48]. Die übrige Bekleidung ist inhomogen[49] und stimmt mit dem Bild der Bendis, „wie es gesicherte Wiedergaben vermitteln“, so wenig überein, dass die „geläufige Deutung“ [als „Artemis Bendis“] ernsthaft bezweifelt werden muss[50]. Der Autor erläutert, warum er in den weiblichen Göttergestalten der besprochenen Vasenbilder durchweg Artemis erkennt, selbst dann, wenn sie als Taurika im Rahmen des Satyrspiels mit einer Alopekis geschmückt ist[51]. Zudem macht er darauf aufmerksam, dass die phrygische Mütze auch von Männern getragen werden kann, wenn sie als Nicht-Griechen gekennzeichnet werden sollen, und dass diese Kopfbedeckung in ihrer gezackten Form seit dem späten 5. Jh. v. Chr. zur Tracht des Herrschers gehört[52].   

    Artemis und ihre traditionell enge Beziehung zum Löwen

    „Da dich …zur Löwin Zeus gemacht“ heißt es bei Homer, Il. 21, 483. Aischylos, Agam.140, nennt sie die Gottheit, die Löwen zittern macht. Pindar sagt in dem für die Thebaner verfassten Dithyrambos:

    „Sie aber schreitet auf leichten Sohlen einher,
    Artemis, die ihre heimlichen Gründe verließ und in bukolischer Lust
    für Bromios[53] anschirrt‘ die Brut der reißenden Leuen…“[54];

    und Pausanias IX, 17. 2 berichtet vom steinernen Löwen vor dem Tempel der Artemis Eukleia in Theben.

    Zu den archäologischen Zeugnissen außerhalb Westgriechenlandsmüssen  wenige Stichworte genügen: Artemis-Hekate als Herrin der Tiere auf einer großen böotischen Amphora; Artemis mit Löwenfell aus einem Löwenrachen herausschauend, mit gespanntem Bogen, das Gesicht weiß bemalt und mit „weiblichem“ Auge; als Potnia Theron mit Hirsch und Löwen auf dem Klitias-Krater in Florenz; Perirrhanterion aus Samos in Berlin, um 650 v. Chr., mit der „dreigestaltigen Artemis-Hekate als Löwenbezwingerin“[55]; Terrakotta-Statuetten der Artemis als Löwen-Herrin aus Korfu[56]

    Funde aus dem Heiligtum der Artemis Orthia in Sparta, der Mutterstadt von Tarent: Terrakottafiguren hoheitsvoller Frauen, vor denen sich Löwen aufrichten[57]. Kleinformatige lakonische Bleigruppen mit geflügelten Frauen und gebändigten Löwen[58] erinnern an entsprechende, ebenfalls in archaischer Zeit entstandene Statuetten aus Metapont[59]. In Sizilien wurde die Verbindung von Artemis mit dem Löwen ebenfalls thematisiert[60]. Aus Calvi in Kampanien[61] kommt die ungewöhnliche Darstellung einer vierfach geflügelten Artemis mit zwei antithetisch aufgerichteten Löwen. Die beiden unter dem Peplos-Überschlag hervortretenden Flügel sind zur Stütze für die Hinterbeine der Tiere geworden. Während die Löwen der Herrin eine Vorderpranke an die Schulter legen, hält diese die jeweils andere Vorderpfote in erhobenen Händen. Das Relief verbindet eine in Kampanien beliebte und verbreitete Form tönerner Architekturplastik mit der Ikonographie der archaischen Potnia Theron und den stilistischen Merkmalen des 1. Jhs. v. Chr.[62].

    Löwenkappen als Kopfschmuck nicht-göttlicher anthropomorpher Wesen

    Von allen Göttern ist es nur die Italische Artemis, die eine Kopfbedeckung aus Löwenfell trägt (Abb. 1. 3); aber die einzige Gestalt mit einer derartigen Mütze ist sie nicht. Seit Anfang des 4. Jhs. v. Chr. werden in Großgriechenland auch nicht-göttliche, übermenschliche Wesen und sogar gewisse Sterbliche mit einem gleichartigen Kopfschmuck ausgezeichnet[63]. Ohne die Vermittlung durch spitze Mützen zieren Löwengesichter die Köpfe dämonischer Gestalten. An den Seiten treten kleine gebogene Flügel aus dem Lockenhaar hervor[64] (Abb. 4). Dieser Typus von Terrakotta-Antefixen wurde im Tarent des 4. Jhs. v. Chr. besonders häufig reproduziert.

                            Abb. 4: Tarentiner Antefix in Basel, ca. 325 v. Chr.

                                         Nach Herdejürgen 1983, 51 Abb. 5

    Zu den Eigenarten Tarentiner Koroplastik gehören auch die Darstellungen sterblicher Männer mit Löwenkappen (Abb. 5). Als Angehörige einer höheren Gesellschaftsschicht heben sich die Honoratioren der Stadt mit anspruchsvollen Attributen deutlich vom schlichten Bürger ab, vor allem wenn sie sich als Teilnehmer am Bankett auf Klinen lagern. Tänien und Rosetten an der ausgefallenen Kopfbedeckung unterstreichen ihre enge Vertrautheit mit der elitären Welt des Symposions[65].                      

                             Abb. 5: Bärtiger Symposiast mit Löwenfellmütze

                                       Nach Herdejürgen 1982, 57 Nr. 133

    Die Italische Artemis und ihre Kappen 

    Die Bandbreite der von Artemis getragenen Mützen reicht von „spitz“ bis „phrygisch“. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Kappenarten gibt Hinweise auf Typen, Varianten und Stilisierungen[66].

    Eine Lücke schließt sich

    Die beachtliche Lücke, die zwischen den archaischen Darstellungen der Löwenherrin einerseits und den Löwenfellkappen des 5./4. Jhs. v. Chr. andererseits zu klaffen schien, hatte dazu beigetragen, im Auftreten der phrygischen Mütze mit Löwenfell-Überzug einen Beleg für das „Erscheinen“ der thrakischen Bendis auf italischem Boden zu sehen[67]. Nur fehlt, wie mehrfach festzustellen war, hierfür die Bestätigung[68]. Aus den Grabungsergebnissen in der Umgebung von Metapont geht indessen eine Kontinuität der Artemis-Verehrung zwischen dem 6. und dem 4. Jh. v. Chr. hervor[69]. Eine im 4. Jh. v. Chr. entstandene Artemis-Statuette aus Tarent mit Löwenfellkappe und Bogen reflektiert das Potnia Theron-Motiv: an der linken Flanke der Göttin sitzt ein kleines vierfüßiges Tier (Hirschkalb?), ein anderes zu ihrer Rechten am Saum des Gewandes[70]. Ähnliches zeigt eine im 5. Jh. v. Chr. in Tarent geschaffene Statuette. „Die fast zärtliche Art, mit der sie [Artemis] den Panther gegen sich andrückt und dazu den Hirsch im Arm hält“, weist sie ebenso als Schützerin und Hegerin vor allem der kleinen Tiere aus wie als deren Herrscherin[71]. An einer anderen aus Tarent stammenden Artemisfigur mit Löwenfellkappe, Nebris und Bogen springen zwei kleine Vierfüßler empor. Von der Kline, auf der die Göttin lagere, ist nicht viel erhalten. R. A. Lunsingh Scheurleer beschreibt ein Polster, das den linken Arm stütze[72]. Auch die von C. W. Lunsingh Scheurleer vorgeschlagene Deutung der Unterlage (?) als Felsen, auf dem die Göttin sitze, wäre motivisch sehr ungewöhnlich[73].

    Artemis Bendis in Italien?

    Fragt man nun nach dem Grund der ebenso beliebten wie im Fall der Italischen Göttin mit Löwenfellkappe irreführenden Namens-Verbindung „Artemis Bendis“[74], so bleibt abgesehen von unkritischen Übernahmen aus früheren Publikationen immer ein und dieselbe Antwort: die Jägerinnen-Tracht in Kombination mit der phrygischen Mütze. Dabei wird der Löwenfell-Überzug, bei dem es sich um ein unabdingbares Detail, geradezu um das ‚Leitmotiv‘ in der Ikonographie der Artemis Italica, handelt, geflissentlich übersehen.                 

    Die Löwenfellkappe ist aber nicht nur Ausdruck einer ganz eigenständigen großgriechischen Artemisvorstellung[75], sondern – wie die Tarentiner Symposiasten mit gleichartigen Kopfbedeckungen zeigen – m. E. auch ein Merkmal spezifisch großgriechischer Ikonographie. Mag also die  Namensverbindung „Artemis Bendis“ für Attika und benachbarte griechische Landschaften hingehen[76], so muss sie im Hinblick auf die Italische Göttin mit der Löwenkappe schlicht als abwegig bezeichnet werden.  

    Abgekürzt zitierte Literatur und Abbildungsnachweis:

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    Vafopoulou – Richardson 1991: C. E. Vafopoulou – Richardson, Ancient Greek Terracottas (Oxford 1991)

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    Wamser-Krasznai 27.03.2013: Italische Artemis, uni-giessen.terrakotten, Tarentiner Köpfe      Abb. 1 und 2  (Bild-Bearbeitung H. Zühlsdorf, Gießen)

    Wamser-Krasznai 22018: W. Wamser-Krasznai, Artemis italica, die Göttin mit der Löwenfellkappe, in: dies. Scholien und Spolien (Filderstadt 22018) 39-56

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    Wuilleumier 1939: P. Wuilleumier, Tarente des origines a la conquète romaine (Paris 1939)


    [1] „Artemis del tipo definito forse erroneamente come Bendis“, Lippolis 1982, 115; Lettta 1968, 306-312; ders. 1972, 122; Schauenburg 1974, 180; Schürmann 1989, 55; R. A. Lunsingh Scheurleer distanziert sich von der  Bezeichnung Artemis „Bendis“-Typ durch Verwendung von Anführungszeichen, ders. 1986, 71-73 Abb. 72. 73.

    [2] Bergamasco 2006, 135-152; Curti 1989, 23; Frizzi 1996, 153-155; Muller – Aubry 2016, 88 f. 91 Abb. 4-7; Osanna – Bertesago 2010, 451 f.; Poli 2010, 368-386.

    [3] „leontê“, Letta 1972, 121-123.   

    [4] Anzenberger 2001, 120 f.; Schürmann 1989, 54-56. 61 f.

    [5] Harden 1927, 93 f.  Abb. 1. 2. Der Autor meint wegen der fehlenden Mähne von Löwinnen sprechen zu müssen; dem ist kaum zu folgen, da es sich ja eben nicht um den Skalp, sondern um den oberen Abschnitt des Löwengesichts handelt. 

    [6] Anzenberger 2001, 17 f., eigentlich ‚Teilmaske‘ oder ‚unvollständige Maske‘.

    [7] Letta 1968, 308.

    [8] z. B. LIMC IV (1992) 734 Nr. 5. 11. 12 Taf. 444 f. s. v. Herakles (J. Boardman); Hermary – Mertens 2014, 226-239, Cat. 300-320); Karageorghis 1977, 186 Nr. 54 Taf. 64 f.; ein sehr ähnliches Bild bietet ein Terrakottakopf aus einem Votivdepot in Tarent, von Iacobone als Kopf der Artemis mit Löwenfellkappe ohne phrygische Mütze bezeichnet, dies. 1988, 30 f. Taf. 24 c. Indessen gleicht das Gesicht den bartlosen Männern vom Typ des zyprischen Herakles.  

    [9] Fragment von einem Dinos des Lydos, um 550/540 v. Chr., Simon 31985, 172. 174 Abb. 157.

    [10]Anzenberger 2001, 29 f. Abb. 2-5. 7 f. S. 34 Abb. 16-19; Letta 1968, 309 Taf. 1; Miller-Ammermann 1990, 40 f. Abb. 28;  Neutsch 1967, 167 Taf. 28, 2; Rüdiger 1967, 350 f. Abb. 22 a. b. Abb. 23 b. Abb. 24 c.

    [11] Letta 1968, 306;  C. W. Lunsingh Scheurleer 1932, 315 f. Abb. 2; Osanna – Bertesago 2010, 452 Abb. 10 d.

    [12] C. W. Lunsingh Scheurleer 1932, 315 f. Abb. 1 und 2; R. A. Lunsingh Scheurleer 1986, 72 f. Abb. 73.    

    [13] Reh, Hase, Hund, Panther? Frizzi 1996, 153 f.; Lo Porto 1961, 138 f. Abb. 13; Rüdiger 1967, 350 Abb. 23 b.

    [14] Rüdiger 1967, 350 f. Abb. 22 c. 24 a.

    [15] Curti 1989, 23 f.; Neutsch 1967, 134-136. 167-169. 191 Abb. 45 Taf. 28; Otto 1996, 97-123; Rüdiger 1967, 351 Abb. 24 d.

    [16] In Herakleia z. B. mehr als 2000 und in Santa Maria d’Anglona weitere 1000, Bergamasco 2006, 145-147; Metapont: „numerosi i frammenti“, Letta 1971, 121; Harden 1927,  93; Neutsch 1967, 167 Taf. 28; Rüdiger 1967, 348 f.

    [17] Ebenso Bergamasco 2006, 137 Abb. 1 a. b. 141 Abb. 2; Kopf: LIMC II (1984) 691 Nr. 925 Taf. 515 s. v. Artemis (L. Kahil); ebenso Deoudi 2015, 59 Abb. 10 , versehentlich „aus Laurion“.

    [18] LIMC II (1984) 771 Nr. 1 Taf. 577 s. v. Artemis in Thracia (A. Fol).

    [19] 2./3. Jh. n. Chr.; Deoudi 2010, 139  Nr. S 32  Taf. 36.

    [20] Die archäologischen Zeugnisse sind durchweg griechisch, LIMC III 1986, 95-97 Taf. 73 f. s. v. Bendis (Z. Gočeva – D. Popov); DNP 1997, 558; Curti 1989, 24.

    [21] Goette – Hammerschmidt 2004, 95. 280 f.; LIMC III (1986) 97 Nr. 8. Im Minendistrikt von Laurion sollen zwei Statuetten der Bendis gefunden worden sein, Hartwig 1897, 16 f.; Nilsson 1942, 170. M. Deoudi, die mir umgehend die Hartwig’sche Arbeit von 1897 mit einer Abbildung der rundplastischen Bendis-Statuette aus Laurion zugänglich machte, bin ich für ihre kollegiale Liebenswürdigkeit zu großem Dank verpflichtet. Dies. 2015, 49-59; Nilsson 1942, 142 f.

    [22] Plat. pol. 327 a. b; Xen. hell. II, 4, 11; Bergamasco 2006, 139; Simon 2016, 41.

    [23] Xenophon, Hellenika II, 4, 11; Curti 1989, 24. Hinweise auf weitere Kultstätten der Bendis in Griechenland: Deoudi 2010, 53 f.; Hartwig 1897, 2 f.

    [24] Watzinger 1924, 59 Taf. 41;  CVA Tübingen (5) Taf. 21 f.; Bergamasco 2006, 140 f. Abb. 2; Deoudi 2015, 58 Abb. 3 (nur die Seite mit Themis und Bendis); dies. 2003-2004, 46-51; Simon 2016, 40 f. 

    [25] Goette – Hammerstaedt 2004, 280 f. 

    [26] Hartwig 1897, 2; Deoudi 2003/2004, 53 Anm. 19, Scholia in Platonem (vetera) R 327 a.

    [27] Attischer Komödiendichter, Zeitgenosse des Aristophanes. Seine „Thrakerinnen“ entstanden  ca. 442 v. Chr.

    [28] Curti 1989, 24. Für Hilfe bei Übersetzungen aus dem Griechischen habe ich G. Bidmon, Butzbach, sehr zu danken..

    [29] Hartwig 1897, 3.

    [30] LIMC III (1986) 96 f. Nr. 3. 7. 9 Taf. 73 s. v. Bendis (Z. Gočeva – D. Popov).

    [31] Letta 1968, 308.

    [32] Schauenburg 1974, 184; Curti 1989, 26 f. Taf. 3, 2; Pickard-Cambridge 1956, 86 Abb. 14.

    [33] Watzinger 1924, 59 Taf. 41;  CVA Tübingen (5) Taf. 21 f.

    [34] Deoudi 2010, 58 Abb. 12; „aus Laurion“, dies. 2015, 59 Abb. 9; .“un grand chien de chasse“, Mollard-Besques 1954, 89 Nr. C 39 Taf. 62; „un jeune cerf“, LIMC II (1984) 690 f. Nr. 921 Taf. 515 s. v. „Artemis du type dit Bendis“ (L. Kahil); Winter 2, 163, 3 b. „Aus Tanagra“, irrtümlich:“das Fell auf der linken Schulter geknüpft“. Eine enge Parallele in London, angeblich aus  Korinth, wurde von Higgins wegen seiner Tonfarbe für attisch gehalten[34]. Die Gruppen unterscheiden sich kaum von einander. Das Tier wendet sich jeweils nach außen. Die Plinthe der Pariser Ausfertigung ist profiliert. Beide Gruppen dürften von derselben Matrize abhängen. Ähnlich ein Exemplar in Frankfurt am Main, das ebenfalls aus Korinth stammen soll. Hier steht Artemis mit einer Schale in der rechten Hand auf einer höheren rechteckigen Plinthe. Der neben ihr sitzende Hund wendet sich der Göttin zu.  

    [35] Watzinger 1924, 59 Taf. 41;  CVA Tübingen (5) Taf. 21 f.

    [36] Der Skyphos entstand Ende des 5. Jhs. v. Chr., Simon a. O. 40 f.

    [37] LIMC III 1986, 96 Nr. 3. 4.

    [38] Hartwig 1897, 4-15 Taf. 1 und 2; LIMC III (1986) 96 f. Nr. 3. 4. 7 Taf. 73 s. v. Bendis (Z. Gočeva – D. Popov).

    [39] Neutsch 1967, 167 f. Taf. 28, 1. 2; Rüdiger 1967, 350 Abb. 23 b.

    [40] Ein kleiner Vierfüßler an der linken Flanke, ein anderer am Gewandsaum rechts, De Juliis 1982, 295 Taf. 47 a und b; Lippolis – Garaffo – Naffissi 1995, 59 f. Taf. 19, 4; C. W. Lunsing Scheurleer 1932, 315 f. Abb. 1, unser Bild 3.

    [41] Letta 1968, 306. 315 Taf. 1..

    [42] Tarent: Harden 1927, 96; Lippolis – Garraffo – Nafissi 1995, 174-177 Taf. 48. Herakleia: Lo Porto 1961, 138-140 Abb. 14. 15. Metapont: Olbrich 1979, 80 f. 85; Simon 31985, 154.

    [43] Curti 1989, 29; Letta 1968, 311; Lippolis 1982, 114 Anm. 130; Schauenburg 1974, 178.

    [44] Letta 19 68, 308 f.; Wuilleumier 1939, 484.

    [45] C. W. Lunsingh Scheurleer 1932, 327-331; danach z. B. Schneider-Herrmann 1970, 53 f.

    [46] Rüdiger 1967, 351.

    [47] Schauenburg 1974, 181-186.

    [48] Ders. a. O. 185; Hartwig 1897, 6 f. Abb. 1.

    [49] Schauenburg 1974, 148 Abb.13: kurzes Gewand, hohe Stiefel, gezackte phrygische Mütze, zwei Speere; S. 149 Abb. 14: mit einfacher phrygischer Mütze; S. 159 Abb. 28: im langen geschürzten Gewand und mit hoher spitzer, ornamentierter Mütze, Schild und zwei Speeren; S. 170 Abb. 41: mit kurzem Gewand und Sandalen, zwei Speeren und kegelförmiger Mütze, S. 175 Abb. 44: in kurzem Gewand, Mantel und hohen Stiefeln mit zwei Speeren, Mütze mit Laschen und hoher nach hinten gebogener Spitze, vor dem sitzenden Kithara spielenden Orpheus, der eine Kappe mit nach vorn fallender Spitze trägt. Zweite weibliche Figur in ähnlicher Kleidung; S. 177 Abb. 45; geflügeltes weibliches Wesen mit phrygischer Mütze und ähnlicher Kleidung, Thymiaterion; S. 182 Abb. 46: Speer, kurzes Gewand, nackte Beine, gezackte phrygische Mütze; 182 Abb. 47: zwei Speere, kurzes Gewand, phrygische Mütze.

    [50] Schauenburg a. O. 184.

    [51] Curti 1989, 26 f. Taf. 3, 2; Letta 1968, 309; Schauenburg ebenda.

    [52] Dareios, Volutenkrater in Neapel, Trendall 1989, 89 Abb. 203..

    [53] = Dionysos.

    [54] Simon 2016, 86 f.

    [55] Simon 31985, 172 Abb. 157. S. 159 Abb. 144; S. 151 Abb. 139. S. 172 Abb. 157; S. 169 f. Abb. 153; S. 158 f. Abb. 144.

    [56] Lechat 1891, 25 Taf. 2,2 und S. 66 Nr. 64 Taf. 2,4 mit hängendem Löwen, der den Kopf zurückwendet; Dawkins 1929, 149 Abb. 108 Taf. 32, 1-3; Preka-Alexandri 2016, 229. 234 Abb 8.

    [57] Farrell 1907/08, 63 Abb. 6 a. b; Preka-Alexandri 2016, 234 Abb. 7. 8.

    [58] Dawkins 1929, 260 f. Abb. 119-121. 149 Abb. 108 Taf. 69; Thompson 1909, 293 f. Abb. 10.11.

    [59] Metapont, eine achäische Gründung in unmittelbarer Nähe von Tarent, Olbrich 1979, 79 f. B 54 b Taf. 44; A 125 Taf. 31. S. 76 A 122 Taf. 29; zur stilistischen koinè der Achäer s. Croissant in: E. Greco (Hrsg.), Gli Achei e l’identità etnica degli Achei d’Occidente, Coll. Paestum  Fevrier 2001 (2002) 397-413.

    [60] Terrakottafigur einer Artemis, die ihre rechte Hand auf den Kopf eines Löwen legt, Kekulé 1884, 66 f. Taf. 24, 3; Ferner Harden 1927, 97 f. 100 f.; Lippolis – Garaffo – Nafissi 1995, 174-177.

    [61] Vafopoulou – Richardson 1981, 42 Abb. 45; dies. 1991, 55 Abb. 66..

    [62] s. die Form der langen, eng gewundenen Korkenzieherlocken auf den Schultern der Göttin.

    [63] Letta 1971, 122 f. mit Anm. 378 f.

    [64] Borriello 1996, 106 f. Abb. 9.76; Letta 1968, 307;  Lulof 2007, 58-61 Nr.58-61 Taf. 18 f. und Farbtaf. V c; Herdejürgen 1982, 111 f. 132-135 Abb. 176. 177; dies. 1983, 48-55 Abb. 5; Schauenburg 1974, 179. 

    [65] ähnlich Hamdorf  2014, 274 Abb. D 384; Hübinger – Menninger 2007, 136 f. Abb. 64; ferner Sammlung  Lunsingh Scheurleer und Vergleichsstück aus Berlin, Antiquarium, ders. 1932, 330-334 Abb. 10. 13; Wamser-Krasznai 2013, 119.

    [66] s. Wamser-Krasznai 22018, 49 f.

    [67] Ein Typus ohne Vorläufer, bei dem es sich schlicht um eine Neu-Erscheinung handele, Bergamasco 2006, 136. 143; „Bendis è stata importata a Taranto …nel 404 av. Cr.“, Rüdiger 1967, 351.

    [68] Schauenburg 1974, 178. Letta 1971, 122-124 Anm. 375; Lippolis 1982, 114 Anm. 130.

    [69] Osanna – Bertesago 2010, 448-453 Abb. 8-10.

    [70] De Juliis 1982, 295 Taf. 47 a.

    [71] Schneider-Herrmann 1959, 55-57.

    [72] „Aanliggende“ = gelagerte Artemis, R. A. Lunsingh Scheurleer 1986, 71 f. Abb. 72. ; G. Jurriaans-Helle, Amsterdam, der ich für ihre freundliche Information zu großem Dank verplichtet bin, mahnt bis zum Auftreten einer vollständiger erhaltenen Parallele mit Recht zur Vorsicht.   

    [73] Ders. 1932, 319 f. Abb. 6; ebenso LIMC II, 1 (1984) 692 Nr. 933 s. v. Artemis (L. Kahil); G. Jurriaans-Helle, Amsterdam, der ich für ihre freundliche Information zu großem Dank verplichtet bin, mahnt bis zum Auftreten einer vollständiger erhaltenen Parallele mit Recht zur Vorsicht.

    [74] A. Muller – Chr. Aubry 2016, 88 f. 91 Abb. 4-7; Poli 2010, 368-387 Abb. 619-687; Bergamasco 2006, 135-152.

    [75] Stähler 1985, 96 f. Taf. 44 d.

    [76] s. auch „Bendis in Kleinasien“, Deoudi 2015, 49-59.

  •  

    A swan is the symbol of wisdom, sincere love, fidelity to the partner, innocence, purity, strength, and courage.

    They are in close relationship with the luminous gods and a sacred possessor of magical powers linked to music and singing, combined with the therapeutic powers of sun and water.

    The swan also represents the inner light and harmony of the human spirit, the divine spark in man.

    The flight of swan is compared to the return of the spirit to its source. The swan represents the part of the man who tends to develop the good to himself in perception and spirituality,

    This symbolism arises from the transformation of the ungainly chick into a majestic swan, whose look can push beyond the world of appearances and see in the future.

    The swan song is a metaphorical expression for the final artistic effort of a musician or poet. It refers to an ancient credence that swans sing a beautiful song before they are to die, having been silent during their lifetime.

    Dr. med. André Simon © Copyright

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Der Schwan

    Ein Schwan ist das Symbol von Weisheit, echter Liebe, Treue zum Partner, Unschuld, Reinheit, Stärke und Mut. Sie stehen in enger Beziehung mit den leuchtenden Göttern und sind heilige Eigentümer magischer Kräfte, die mit Musik und Gesang verbunden sind, kombiniert mit der therapeutischen Kraft von Sonne und Wasser.

    Der Schwan stellt auch das innere Licht und die Harmonie des menschlichen Geistes dar, den göttlichen Funken im Menschen.

    Der Flug des Schwans wird verglichen mit der Rückkehr des Geistes zu seiner Quelle. Der Schwan steht für den Teil des Menschen, der dazu neigt, das Gute bei Wahrnehmung und Spiritualität für sich zu entwickeln.

    Dieses Symbol entsteigt aus der Veränderung des unbeholfenen Kückens zu einem majestätischen Schwan, dessen Blick uns jenseits der Welt der Erscheinungen schickt und in die Zukunft sehen kann.

    Der Schwanengesang ist ein bildhafter Ausdruck für die letzte künstlerische Anstrengung eines Musikers oder Dichters. Er bezieht sich auf einen althergebrachten Gauben, dass Schwäne ein wunderbares Lied singen, bevor sie sterben sollen, nachdem sie ihr Leben lang still waren.

  • Im Grunde sind wir reich an Zeit; wir haben mehrere Arten davon.

    Da ist Chronos, die Zeit im absoluten Sinne, als Weltprinzip, lateinisch tempus. Das um 130 v. Chr. datierte römische Marmorrelief mit beigeschriebenen Namen zeigt Chronos als jugendlichen geflügelten Genius, in den Händen Buchrollen (Abb. 1). Neben ihm steht Oikoumene mit einer hohen Mauerkrone, die Personifikation der bewohnten Erde. Sie bekränzt den vor ihnen beiden thronenden Dichter Homer. Es ist zu vermuten, dass die beiden Schriftrollen auf die berühmtesten Epen Homers, Ilias und Odyssee, hinweisen[1]. „Solange Menschen auf Erden leben, sagt die Szene aus, ehren sie die Werke Homers“[2].

       Abb. 1: Apotheose Homers, Relief des Archelaos, Ausschnitt. Um 130 v. Chr.  
                                          Nach Pinkwart 1965, 57 Taf. 29 

    Spätestens seit dem Mittelalter wird der Gott greisenhaft dargestellt[3] und mit den Attributen Sanduhr und Sense (oder Sichel) versehen. Schon im Altertum setzte man ihn gleich mit dem Titanen Kronos, der seine Kinder, die Jahre, verschlingt. Im Hymnos „An Schwager Kronos“ meint Goethe zwar den Gott der Zeit, doch beginnt er den Namen konsequent mit dem Anfangsbuchstaben K (Kappa):

    Spute“ dich, Kronos, fort den rasselnden Trab…   

    Zurück zum lateinischen Aequivalent Tempus. In ihrem großen Zeit-Monolog im „Rosenkavalier“ setzt sich die Marschallin mit der endlichen Zeit auseinander[4]:

    Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.

    In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie.
    In meinen Schläfen, da fließt sie.

    Lautlos wie eine Sanduhr.

    Manchmal steh ich auf  mitten in der Nacht
    Und lass die Uhren alle, alle steh’n.
    Dann, versöhnlich:
    Allein man muss sich auch vor ihr nicht fürchten.
    Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters, der uns alle erschaffen hat.

    Harald Weinrich geht in seiner ebenso instruktiven wie fesselnden Abhandlung „Knappe Zeit“ der philologisch-philosophischen Verbindung zwischen Zeit: tempus und  Schläfen: tempora ausführlich nach[5]. Jeder Mediziner kennt das Schläfenbein, Os temporale und die Schläfenarterie, Arteria temporalis, wo man den Puls mindestens ebenso gut wie am Handgelenk ertasten kann. In heutigen lateinischen Wörterbüchern findet man für das Wort tempus außer „Zeit“ auch „Schläfe, Gesicht, Haupt“, die drei letzteren meist vom Plural „tempora“ abgeleitet.     

    Nahezu synonym mit Chronos[6] wird Aion gebraucht. Er vertritt die mit dem Menschen zusammen geborene Lebenszeit, symphytos aion[7]. Euripides nennt ihn des Chronos‘ Sohn[8]. Beide ähneln sich auch in ikonographischer Hinsicht. Wäre dem Relief eines sinnenden älteren Mannes nicht der Name beigeschrieben[9], könnte man ihn auch für Chronos halten. Ảιών verkörpert besonders lange Zeitspannen[10] und ist Herr über „Leben“ und „Lebenszeit“. In seinen letzten Augenblicken beschwört Goethes Faust selbstbewusst den heute wenig gebräuchlichen, von Aion abgeleiteten Ausdruck „Äonen“:

    …Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehen…[11]

    Seit Platon identifiziert man Aion mit dem Wort Ewigkeit, seit Cicero mit dem lateinischen Äquivalent aeternitas. Als dem „Erzeuger“ der Zeiten fügt er dem „Χρόνος“ nicht nur … „ein in Zahlen fortschreitendes bewegliches Abbild der Ewigkeit, Ảιών, hinzu sondern auch die  zyklische Auffassung von der Zeit, ἐνιαυτός[12]. Durch die Gliederung in Tage und Nächte, Monate und Jahre, in der engen Verbindung zum Zodiakos und zum Kreis der Jahreszeiten lassen sich die Zeit-Personifikationen, Χρόνοι, kaum von einander trennen[13].

    Ein Mosaik in Paphos gibt den durch ein goldenes Diadem und den Nimbus hervorgehobenen Aion als Richter in einem Schönheitswettbewerb wieder. Er und die Konkurrentinnen Kassiopeia und die Nereiden Thetis, Doris und Galathea sind namentlich gekennzeichnet[14].    

    Eniautós klingt im lateinischen annus wieder und steht, wie wir bereits wissen, für die „kreisenden Jahre“, eine zyklische Zeit-Auffassung[15], die den Menschen des Altertums bis in die Spätantike hinein geläufig war. Der große Zyklus, mégas eniautós, umfasst die Periode zwischen zwei Festzyklen. Sie beträgt acht Jahre.  Vier Jahre, die Hälfte davon, entsprechen dem Abstand zwischen zwei olympischen Spielen, der Olympiade. Das einzelne Jahr gliedert sich in die wiederkehrenden Jahreszeiten, die Horen[16]. Selbst der Tag „kreist“ zwischen dem Aufgang der Sonne und dem des Mondes.

    Zur Zeit Ptolemaios‘ II Philadelphos war die riesige Gestalt des Eniautós in Alexandria Teil der Prozession zu Ehren des Gottes Dionysos. Er wurde von einem Tragödien-Schauspieler auf hohen Kothurnen dargestellt. Auf einer apulischen Loutrophoros[17] dagegen erscheint er als beinahe nackter Jüngling, der ein Füllhorn mit Getreideähren im Arm trägt. Neben ihm thront die

    Ortspersonifikation von Eleusis mit einer Kreuzfackel, einem Attribut der Korngöttin Demeter/Ceres (Abb. 2).

              Abb. 2: Eniautòs und Eleusis, 330/320 v. Chr. Malibu, Getty-Museum.
                                           Nach Simon 1988, 68. 82 Taf. 7

    Beide Namen sind beigeschrieben.

    Von den drei bisher besprochenen Zeit-Personifikationen setzt sich Kairos, der junge Gott der qualitativen Zeit,deutlich ab. In einer Spanne von äußerster Kürze, dem flüchtigen Augenblick, drängt sich die ganze Fülle einer Lebens- und Welterfahrung zusammen[18], lateinisch occasio, auch fortuna. Als geflügelter Jüngling balanciert er eine Wage auf Messers Schneide. Wem es nicht gelingt, ihn vorn am Schopf zu packen, hat das Nachsehen[19]. Der kurz geschorene glatte Hinterkopf gleitet unter den Händen weg (Abb. 3). Jede weitere Aktion kommt dann παρὰ καιρὸν, zur Unzeit, wie es bei Platon heißt[20].

    Wer jedoch schnell reagiert und die günstigen Umstände zu nutzen versteht – carpe diem[21] –  hat gewonnen.

                                         Abb. 3:  Relief Turin, 2. Jh. n. Chr.
                                    Nach LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597

    Marie von Ebner-Eschenbach fasste den Sachverhalt in einen treffenden Aphorismus:

    Wenn die Zeit kommt, in der man könnte,
    ist die vorüber, in der man kann.

    Daher rät Goethes Mephisto auch dem Schüler:

    Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen,
    doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen[22].

    So lange aber das Werk über die Zeit, le Temps[23] noch nicht in einem Buch in Sicherheit gebracht ist, mis en sȗreté, besteht die Gefahr, dass le temps, die Zeit, nicht ausreicht. Es ist also höchste Zeit, grand temps. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Wir schreiben schließlich für uns selbst. Schiller hat das in  einem 1797 verfassten Brief an Goethe formuliert: …da es einmal ein festgesetzter Punkt ist, dass man nur für sich selber philosophiert und schreibt, so ist auch nichts dagegen zu sagen; im Gegenteil, es bestärkt einen auf dem eingeschlagenen guten Weg …Seien wir geizig mit dem kostbaren Gut, denn: 

    die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont[24] . Trotzdem ist    nicht gesagt, dass in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt[25]

    Abgekürzt verwendete Literatur und Bildnachweis:

    Bemmann 1994: K. Bemmann, Füllhörner in klassischer und hellenistischer Zeit (Frankfurt am Main 1994)

    Brommer 1967: F. Brommer, Aion, MarbWPr 1967, 1-5 Taf. 1-3

    Daszewski – Michaelidis 1989: W. A. Daszewski – D. Michaelidis, Führer der Paphos Mosaiken (Nicosia 1989)

    Fränkel 1968: H. Fränkel, Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur, in: F. Tietze (Hrsg.), Wege und Formen frühgriechischen Denkens (München 1968) 1-22

    LIMC I, 1981: LIMC I, 1981, 399-411 Taf. 312-319 s. v. Aion (M. Le Glay)

    LIMC V 1990: LIMC V, 1990, 922 Nr. 4 Taf. 597 s. v. Kairos (P. Moreno)     Abb. 3 

    Pinkwart 1965: D. Pinkwart, Das Relief des Archelaos von Priene, AntPl  IV, 55-65   
    Abb. 1

    Simon 1983: E. Simon, Zeitbilder der Antike, in: Feier zur Verleihung des Ernst Hellmut Vits-Preises (Münster 1983) 17-41. 

    Simon 1988: E. Simon, Eirene und Pax (Wiesbaden1988)      Abb. 2

    Simon 2012: E. Simon, Die Apotheose Homers, in: dies., Ausgewählte Schriften IV (Wiesbaden 2012) 131-139 

    Wamser-Krasznai 2016: W. Wamser-Krasznai, Kairós – den rechten Augenblick ergreifen…in: dies. Beschwingte Füße (Budapest 2016) 117-121

    Weinrich 2008: H. Weinrich, Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens (München 2008)


    [1] Pinkwart 1965, 57 Taf. 29; LIMC  III (1986) 277 Abb. 1 Taf. 222, s. v. a. Chronos  (M. Bendala Galán); Simon 1983, 25.

    [2] Simon 2012, 134 Abb. 1.

    [3] RE 1899 ND, 2481 f.; Simon 1983, 17 f.

    [4] Text: Hugo von Hofmannsthal (1911), Komposition: Richard Strauss.  

    [5] Weinrich 2004, 229-238.

    [6] Simon 1983, 18.

    [7] Aischyl. Ag. 107.

    [8] Eur. Heraklid. 900; RE I, 1 (Stuttgart 1893) 1042.

    [9] Brommer 1967, 3 Taf. 3; LIMC I, 1981, 401 Nr. 7 Taf. 312 (M. Le Glay).

    [10] Hes. theog. 609.

    [11] Goethe, Faust II, 60, Großer Vorhof des Palasts.

    [12] Plat. Tim. 37 d-38 e.

    [13] s. LIMC I, 1981, 400 Nr. 2  Taf. 311; Simon 1983, 28-31 Abb. 15.

    [14] Daszewski – Michaelidis 1989, 67-70 Abb. 48.

    [15] Hom. od. 16.

    [16] Simon 1988, 78 f. (28 f.); LIMC VIII,1, 1997, 573.

    [17] Das Gefäß, in dem man das Wasser für das Brautbad transportierte, Simon 1988, 68 (18) Taf. 7.

    [18] Weinrich 2008, 54.

    [19] Wamser-Krasznai 2016, 117.

    [20] Politeia 546 b.

    [21] Hor. carm. 1, 11. Auf dem Mosaik in Paphos, Haus des Aion, Daszewski – Michaelidis 1989, 69 Abb. 48.sind zwei Formen der Zeit, Aion und Kairos, dargestellt, beide durch Beischrift gekennzeichnet.

    [22] Goethe, Faust I, Studierzimmer.

    [23] M. Proust, A la Recherche du temps  perdu, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit; dazu ausführlich Weinrich 2008, 147-150.

    [24] I. Bachmann, Die gestundete Zeit, 1953.

    [25] M. L. Kaschnitz, Nidda, Fragment 1928/29. 

  • Weihnachten 2019

     

    Als ich ein Kind zu Weihnacht war
    Von sechs bis sieben Jahren
    Wäscht Mutter mir mein schwarzes Haar
    Sagt, du wirst heut erfahren

    Kalt in der Scheune schreit ein Kind
    In Bethlehem geboren
    Dir Menschensorgen in den Wind
    Laut, einsam und verloren.

    Sie legte es zu mir ins Bett
    Es schlief, ich war am träumen
    Wir träumten beide im Duett
    von Weihnachtslichterbäumen.

    Von der Mutter, die so lieb
    Für uns beide sorgte.
    Die auch in Träumen bei uns blieb
    Uns ihre Morgen borgte.

    Heute, jetzt, im Leben spät
    In den Rentnerjahren
    Träume ich, was sie gesät
    Was ihre Träume waren.

    Ich trinke aus dem Lebenswein
    Bin traurig um die Lieben
    Und danke Gott,  sie sind doch mein
    Gedanken mir geblieben.

    So wasche ich mein graues Haar
    Und färbe meine Seele.
    Das Kind singt mir Halleluja
    Wenn ich von ihm erzähle.

  •                                          The JUDGE LION

     

    In those remote times, in the great forest, the animals declared an elderly lion to be a judge. In the quarrels the Lion gives the judgment and passes the sentence. The sentence is always the same. The loser receives twenty hits on his butt, from the Lion himself.

    Once, one donkey sighted a lawn and started to eat the grass. One wolf passing, approached to the donkey and said.: „Why do you eat this dried grass? The donkey replied, that the grass was greenish and continued to eat. The wolf continued to repeat, that the grass was dry. The donkey didn’t change his opinion. So, they came to an argument.

    Consequently, they decided to ask the Judge Lion for his ruling.  The verdict was: „This grass is partly dry and partly yellowish, and the donkey is the loser. However, the Lion started to strike the wolf. Between two strikes the wolf asked: “Why me? ». And the Lion gave of the Judge’ teaching:

    Never, ever try to persuade a donkey. 

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Richter Löwe

    In alten Zeiten im großen Wald ernannten die Tiere einen älteren Löwen zum Richter. Bei Streitereien gibt der Löwe sein Urteilung ab und bestimmt die Strafe. Die Strafe ist immer  gleich: Der Verlierer erhält vom Löwen selbst zwanzig Schläge auf sein Hinterteil.

    Einmal erblickte ein Esel einen Rasen und begann, das Gras zu fressen. Ein vorbeikommender Wolf näherte sich dem Esel und sagte: „Warum frisst du das vertrocknete Gras?“  Der Esel antwortete, das Gras sei grünlich und fraß weiter. Der Wolf wiederholte immer wieder, das Gras sei trocken. Der Esel änderte seine Meinung nicht. So kam es zu einem Streit.

    Schließlich entschieden sie, Richter Löwe um sein Urteil zu bitten. Der Richterspruch lautete: Dieses Gras ist teils trocken und teils gelblich, und der Esel ist der Verlierer.“

    Aber der Löwe begann, den Wolf zu schlagen. Zwischen zwei Schlägen fragte der Wolf: „Warum mich?“. – Und der Löwe erteilte eine richterliche Belehrung: „Versuche nie, niemals einen Esel zu überreden.“

     

     

  • Once, in the great China Empire in the province of Shandong, there lived a left-handed boy Sev Lin, who had an extraordinary ability of painting. His father brought him for apprentice in the private school of a renowned painter. The master-painter recognized in short time the boy’s talent, and became envious.

    „No, that is not the way to do it!“ he would shout. „You will do better painting walls than drawing.“ Slowly the boy’s confidence receded. No matter how hard he tried, the painter found faults, and humiliated Sev Lin in front of the other students.

    One day, the assignment was “Draw  a goldfish!” Sev Lin closed his eyes and tried to visualize a splendid fat fish from his grandfather’s aquarium, and created an astonishing painting. „No. No. No!“ screamed the teacher and threw the boy’s painting into the nearby pond. Once in water, to everyone’s amazement, the painted fish miraculously converted in alive goldfish and proceeded to swim away.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Wunderschön

    In dem großen chinesischen Imperium in der Provinz Shandong lebte einmal ein linkshändiger Junge namens Sev Lin, der außergewöhnlich gut zeichnen konnte. Sein Vater brachte ihn als Lehrling in die Privatschule eines bekannten Malers. Der Meistermaler erkannte ganz rasch das Talent des Jungen und wurde neidisch.

    „Nein, so darf man das nicht machen!“, rief er. „Du solltest lieber Wände anstreichen als Bilder zu zeichnen!“ Langsam verlor der Junge sein Selbstvertrauen. Auch wenn er es noch so hart probierte, fand der Maler Fehler und demütigte Sev Lin vor allen anderen Schülern.

    Eines Tages hatten die Schüler die Aufgabe, einen Goldfisch zu malen. Sev Lin schloss die Augen und versuchte, sich einen prächtigen dicken Fisch im Aquarium seines Großvaters vorzustellen und schuf ein erstaunliches Bild.

    „Nein, nein, nein!“, schrie der Lehrer und warf die Zeichnung des Jungen in den nahe gelegenen Teich. Zum Erstaunen aller verwandelte sich der gezeichnete Fisch wunderbarerweise in einen lebendigen Goldfisch und schwamm davon.

     

     

  • A PROMISE

     

     

    Once in the time of great drought, a peasant Xiang had no rice to nourish his family, and even no money to buy it. He went to the feud ruler of Wu ( who was also a river keeper) to borrow four sacks of rice.

    The feud ruler said: “Soon, I would collect my taxes from my subjects, and after I would loan to you 96 tóngbì (copper coins) to buy four sacks of rice.

     Would that suit to you?

    The exasperated Xiang told him the following story:

    – Yesterday, I visited, through the drought devastated, field of mine, and I heard a voice calling me. I looked around and saw the big carp lying in a dry.  “How did you get here?”, I asked.

    “The strong winds pushed me here. Do you have a barrel of water to save my life?”, muttered the carp under its breath.

    „We’ll do it“, I said. – “Soon, I will visit the ruler of Wu, and I will make sure, that he releases the water from the East River. Would that suit to you?”

    The carp was terribly bitter.

    „It’s not my environment, I am desperate and unable to breath « mumbled the carp. One barrel of water would save my life, and instead you give me only the promise. After it, you will find me at a fish market.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Ein Versprechen

    Während der Zeit der großen Dürre hatte der Bauer Xiang keinen Reis, um seine Familie zu ernähren, er hatte nicht einmal Geld, welchen zu kaufen. Er ging zu dem Lehnsherrn von Wu, der auch Besitzer eines großen Flusses war, um vier Säcke Reis zu leihen.

    Der Lehnsherr sagte: „Bald werde ich die Steuern meiner Untertan eintreiben, und danach würde ich dir 96 Tongbi (Kupfermünzen) leihen, um vier Sack Reis zu kaufen. Wäre dir das so recht?“

    Der entnervte Xiang erzählte ihm die folgende  Geschichte.

    Gestern besuchte ich mein durch die Dürre verwüstetes Feld, und ich hörte, wie eine Stimme mich rief. Ich schaute umher und sah einen großen Karpfen auf dem Trockenen liegen.

    „Wie bist du hierher gekommen?“, fragte ich.

    „Ein starker Wind hat mich hierher geworfen. Hast du einen Eimer Wasser, um mein Leben zu retten?“, murmelte der Karpfen außer Atem.

    „Machen wir“, sagte ich. – „Bald gehe ich den Lehnsherr von Wu besuchen, und ich werde sicherstellen, dass er Wasser aus seinem East River fließen lässt. Wäre dir das recht?“

    Der Karpfen war schrecklich erbittert:

    „Ich bin nicht in meinem Element. Ich bin verzweifelt und kann nicht mehr atmen“, murmelte der Karpfen. „Ein Eimer Wasser würde mein Leben retten, und stattdessen gibst du mir nur ein Versprechen. Danach wirst du mich auf einem Fischmarkt finden.“

     

     

     

     

  •          

    Life is made up of the small simple things. Therefore, only the petty and simple-minded people lacking of subtlety, and the people with narrow interests, perform well and realize all goals through their lives.  They do observe all trifles and perceive every stone in their path, exploiting every opportunity.  

    On the other hand, those enlightened spiritual people with high moral principles, bigger views and noble thoughts, observe the world like the eagles.

    Consequently, these people do not see a thousand minor obstacles in front of them. The whole life long, they hesitate at every step, and trip at every stone. These people, badly injured with broken bones, and wounds in their souls accomplish their life’ path. 

    Dr. med.André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Lebenswege 

    Das Leben entsteht aus den kleinen einfachen Dingen.

    Deshalb bringen nur die Menschen gute Leistungen und verwirklichen ihre Ziele während ihres Lebens, die kleinkariert und geistig einfach strukturiert sind, denen es an Feingefühl fehlt und die einen engen Interessenhorizont haben.

    Sie beobachten wirklich alle Kleinigkeiten und nehmen jeden Stein auf ihrem Weg wahr und nützen jede Gelegenheit aus.

    Andererseits betrachten jene erleuchteten und spirituellen Leute mit hohen moralischen Grundsätzen, größerem Überblick und edlen Gedanken die Welt wie Adler.

    Folglich sehen diese Menschen die tausend winzigen Hindernisse vor ihnen nicht. Das ganze Leben lang zögern sie bei jedem Schritt und stoßen an jeden Stein. Diese Menschen vollenden ihren Lebensweg mit gebrochenem Herz und Wunden in ihrer Seele,

     

     

  •  

    Wenn jemand vom Vorstand des BDSÄ mich anruft, ein E-Mail sendet oder auch eine SMS, spüre ich jene Unruhe, von der ich meine, dass sie weder von Helga, Dietrich, Eberhard, Jürgen noch von mir kommt. Ich bewundere meine Vorstandskollegen. Sie melden sich, und alle, die ich kenne, spüren diese Unruhe, fühlen sich zu ihr hingezogen, als ob man in eine der vielen Dellen des Lebenslaufs fiele. Dennoch fühlen wir uns stark und lebenslustig.

    Es ist eine Weise, sich auf allen Schlachtfeldern der Gegenwart zu bewähren – in Familie, Beruf oder Ruhestand, im ungebremsten ökonomischen Wachstum und in der digitalen Reformwut, mit der die Politik die Abschaffung von Geist und Seele rechtfertigt. Alles geschieht ohne Freizeitgarantie, die nur der Individualisierung  dienen würde.

    Gleichwohl sind wir vom Vorstand nie die Besten, denn wir bessern uns stän-dig, ohne damit inne zu halten. Wir hängen uns hinein, richtig hinein, bearbeiten und überbieten uns, bis der BDSÄ in einer Talk Show zum besten Verein gekürt wird!

    Helga sagt dazu: „So gehört sich das, aber nicht für uns.“

    Ja, es gehört sich so, weil die Besseren es wollen und die ewig Guten eigentlich nicht. Erlebnissuche, Fortschritt und Abenteuer lassen die unbehagliche Unruhe von der Leine, erhöhen die Spannung zwischen dem Zwang und der Furcht, das Zusammenleben scheitern zu lassen und den BDSÄ dazu.

    Erinnern wir uns an die Zeit, in welcher der Verband in einen Lebensbund mit dem unruhigen Hojo geriet! Was wäre, wenn es diese Zeit nicht gegeben hätte? Gäbe es uns, den organisierten Medicus poeticus, die Geschäftsstelle und die Bibliothek überhaupt?

    Fragte man Dietrich, würde er sagen: „Unruhe ist die Norm; Punkt.“ Er meint damit nicht den normierten Power Point Punkt. Hätte ich die Ehre, dass mir Jürgen ein Interview gäbe, fragte ich ihn zuerst: „Ist Unruhe die selbstverständliche, nicht zu hinterfragende Lebensweise?“

    „Hingezogen fühlen“, würde er antworten, „gesteigerte Arbeitslust und Stark-sein tauchen überall auf, in der Welt der Arbeit, der Wirtschaft, ja sogar der Freizeit – nicht als das Beste, sondern als das Bessernde, als das Zugehen auf sich selbst überbietende Forderungen …“

    Würde ich Eberhard fragen „Was wäre, wenn es keine Unruhe gäbe?“, höbe er den Finger: „Wollen wir das überhaupt, keine Unruhe mehr? Wir leben doch eine hemmungslose Unruhe, das Unbehagen, den Zwang und die diffuse Angst, die Zukunft nicht mehr organisieren zu können. Nur sehr wenige würden eine Muße auf Dauer ertragen …“

    „Ist nun Unruhe eine Erfindung der Moderne, oder nicht?“, würde ich Helga an dieser Stelle fragen.

    „Der wesentliche Unterschied zwischen heute und früher liegt“, höre ich Helga sagen, „in der Haltung zur Unruhe. Sie beschränkte sich früher auf Krisen, Schicksalsschläge oder Katastrophen. In der Breite selbst gestaltend tätig zu werden, das eigene Leben in die Hand nehmen und etwas daraus machen, dazu kam es nach der Reformation. Erst im Lauf der letzten beiden Jahrhunderte nehmen Untertanen das eigene Leben in die Hand und machen eine eigene Geschichte daraus.“

    Da beschleicht mich die Frage: „Kam die Unruhe als unerwünschte Begleitwirkung des Glaubens an den Fortschritt auf?“ „Ja natürlich“, würde Eberhard sagen. „Schaut auf die technischen und die Naturwissenschaften, nein, auf alle Wissenschaften! Sie sind die Triebwerke der Unruhe, weil sie prinzipiell niemals bei dem stehen bleiben, was man schon weiß.“

    „Da hat Eberhard recht“, gäbe Dietrich zu bedenken, „es muss ständig etwas passieren. Ärzte und Psychologen codieren digital und wollen dann mit Algorithmen therapieren. Für mich sind solche Krankheitsbilder aber nur die Oberflächenstruktur eines Zeitgeistes, der viel tiefer wurzelt.“

    „Ich muss jetzt los,“ wirft Jürgen ein. „Du willst schon abhauen?“ Der tadelnde Blick Eberhards trifft ihn kompromisslos. „Lass mich ausreden“, fordert Jürgen, „und hör erst zu! Die Aussage ‚ich muss jetzt los‘ bedeutet heute nicht loslassen von der Arbeit oder Hektik, sondern bedeutet losrennen, weil man dringende Ter-mine hat. Sportsendungen und Casting Shows machen es uns täglich vor.“

    „Das hätte meine Großmutter als schlechtes Benehmen empfunden“, erklärt Dietrich, „heute halten es die meisten für gut: Klar, die Leute haben eben Wichtigeres zu tun. Wer beschäftigt ist, darf schnell verschwinden, darf ständig Wohnort und Partner wechseln: die Unruhe hat Priorität. Dahinter steckt die ganze Ethik eines neuen Zeitgeistes, eine Ethik des von vornherein flüchtigen Zusammenlebens mit Familie oder Firma.“

    Helga schüttelt den Kopf: „Wie ihr mit der Unruhe umgeht! Als Psychotherapeutin habe ich es da leichter. Das Aufschreiben von Erzähltem ermöglicht es mir, alle Dinge zu ordnen. Damit rücken die Dinge auf Distanz, verlieren das Dämonische und kommen unter Kontrolle. Darin liegt meiner Ansicht nach die Aufgabe der Schriftsteller: Die Dinge und die Fantasien  beschreiben, wie sie sind. Das hat, als gewünschte Nebenwirkung, etwas sehr Beruhigendes.“

    Die Stimme Eberhards erhebt sich, sein Finger deutet auf sein Smartphone: „Das habe ich alles aufgenommen, soll das alles ins Protokoll? Ich hätte schon gern etwas von der Tagesordnung aufgenommen, zum Beispiel, ob wir Schweizer Kollegen aufnehmen.“

    „Aber Eberhard“, entrüsten sich alle, „wir haben schon abgestimmt, das ist schon beschlossen! Wenn Schweizer eintreten wollen, sind sie willkommen, und wir nehmen sie wie jedes andere Mitglied auf.“

    „Hast Du es aufgenommen, Eberhard?“, fragt Dietrich vorsorglich nach.

    „Also deine letzte Frage, Dietrich“, trotzt Eberhard, „nehme ich nicht auf!“

    ( 2019 )

  •  

    Ich stehe am Ufer der Stepenitz und schaue in das leicht getrübte Wasser. Eben noch war ich am neuen Kreisverkehr vorbei gekommen. Nun sind wir also mit zwei Kreisen ausgestattet. Als Kreisstadt eigentlich etwas wenig, hatte ich noch so gedacht. Andererseits reicht das auch wieder aus, es dreht sich ja sowieso oft genug alles im Kreise.

    Ich schaue also in das Wasser. Und was sehe ich? Gesichter von lauter Nixen. Welch entzückende Wesen! Nun gucke ich genauer hin. Alle kommen mir bekannt vor. Ja, richtig, es sind die Gesichter meiner früheren Geliebten.

    Das waren durchweg erlesene Schönheiten. Ihr Charakter war vom Feinsten, eine tugendhafter als die andere. Und alle aus Perleberg.

    Die erste Geliebte, sie trug blonde, lange Haare, Spielte Klavier, war immer voller Hoffnung. Sie erfreute sich am Heute und erwartete neue Freuden im Morgen. Es machte ihr nichts aus, Lasten zu tragen. Durch das Verbreiten von Hoffnung machte sie die Schwachen, auch mich, stark. Sie besaß auch Wagemut und Geduld.

    Die zweite Geliebte, sie spielte hervorragend Cello, war von dem Glauben an Liebe erfüllt. Glauben, sagte sie, sei leichter als Denken. Und Liebe, sagte sie, die sich nicht überwinden lässt, überwindet alles. Ein Leben ohne Liebe ist kein Leben. Liebe ist weise gewordene Begierde. Wo Freude wachsen soll, da muß man Liebe säen.

    Die dritte Geliebte hatte kurze schwarze Haare und war deutlich älter als ich. Sie spielte Blockflöte und wirkte sehr weise. Ihre Maxime war ein Sprichwort aus Mosambik: Die Weisheit ist wie ein Affenbrotbaum, man kann sie nicht umfassen. Und sie liebte das deutsche Sprichwort: An drei Dingen erkennt man den Weisen: Schweigen, wenn Narren reden. Denken, wenn andere glauben. Handeln, wenn Faule träumen. Und mit gütigem Lächeln sagte sie: Wo einer weise ist, sind zwei glücklich.

    Die vierte Geliebte, sie spielte mit Hingabe Querflöte, vertrat vordergründig die Gerechtigkeit, denn wo keine Gerechtigkeit ist, ist kein Friede. Und wo Gewalt Herr ist, da ist Gerechtigkeit Knecht.

    Die fünfte Geliebte, sie trug kastanienbraunes Haar und spielte Geige, war tapfer in ihrer Genügsamkeit. Sie meinte, den Mutigen gehöre die Welt. Und wie sagte sie so treffend? Fleiß ist des Glückes rechte Hand, Genügsamkeit die linke.

    Die sechste Geliebte hörte gerne klassische Musik und hatte häufig die entsprechenden Partituren dabei, um zu vergleichen, ob das Orchester auch richtig spielte. Sie hielt es besonders mit der Wahrheit. Ehrlich währt am längsten. Aufrichtigkeit überwindet alle Hindernisse.

    Die siebente Geliebte, sie hatte ihre Haare an den Schläfen grünlich gefärbt und sang ein wunderbares Alt, übte insbesondere Barmherzigkeit, denn diese ist größer als das Recht. Dabei sei zu differenzieren: Barmherzigkeit gegenüber den Wölfen ist Unrecht gegen die Schafe. Verbunden mit der Barmherzigkeit war bei dieser Frau ihre Friedfertigkeit. Sie ging davon aus, dass ein friedlicher Strom blühende Ufer hat.

    Die achte Geliebte, sie spielte Orgel und hatte ihre Haartracht mit kleinen falschen Zöpfchen verschönert. Sie ging davon aus, dass Güte mehr als Gewalt tut. Wer Güte erweist, kann Güte erwarten. Gleichzeitig war diese Frau voller Demut und sagte einmal: Besser demütig gefahren als stolz gegangen.

    Dann sah ich, wie sich die Geliebten alle auf der Wiese im Hagen  versammelten, ihre Masken vom Gesicht nahmen und darüber schmunzelten, dass ich ihnen all ihre Tugenden geglaubt hatte.

    Ah, dachte ich, es ist also nicht alles echt, die Frauen tragen Masken.

    Ich ging rasch nach Hause zu meiner Frau und wollte ihr die Maske vom Gesicht reißen. Doch sie trug keine.