Tag: Medizingeschichte

  •     Aristodemos führt im zweiten Buch seiner spaßigen Erinnerungen aus: Dem Musiker Dorion, der einen Klumpfuß hatte, kam bei einem Symposion der Schuh des behinderten Fußes abhanden. Da sagte er, Ich will dem Dieb nichts Schlimmeres wünschen, als dass ihm der Schuh passt.
    Athenaios, Gelehrtenmahl 8, 338 a. ( 2./3. Jh. n. Chr.)

    Der angeborene Klumpfuß manifestiert sich in ein- bis drei Fällen auf 1000 Geburten, in ca. 50 % doppelseitig. Jungen sind mehr als zweimal so häufig betroffen wie Mädchen. Die Fehlbildung setzt sich aus den Komponenten Pes equinovarus et adductus, supinatus et excavatus zusammen, d. h. aus Spitzfuß, Innendrehung und-Kippung, Sichel- und Hohlfuß. Eine familiäre Häufung war frühzeitig aufgefallen, doch konnte ein klarer Erbgang bis heute nicht nachgewiesen werden. Wie oft bei ungewisser Ätiologie weicht man auf die  sog. multifaktoriellen Ursachen mit exogenen und endogenen Faktoren aus[1]. Die fehlerhafte Entwicklung beginnt anscheinend in den ersten sechs Embryonalwochen[2]. Knöcherne Deformierungen und pathologische Gelenk-und Weichteilveränderungen sind die Folge. Im Rahmen der muskulären Imbalance kommt vermutlich dem Musculus tibialis posterior eine besondere Rolle zu[3].  

    Die Theorie des Verharrens der embryonalen Skelettanlage auf einer frühen Entwicklungsstufe, also einer Hemmungsmissbildung, wurde im Kern bereits 1592 formuliert[4]. Um 1652 hielt man ein “Versehen” der Mutter, französisch envie[5], bzw. eine starke “Einbildung” für ursächlich. Gegen 1782 dominierte die Vorstellung von einem Platzmangel im Mutterleib[6].

    Für die Therapie gelten heute ähnliche Richtlinien wie zur Zeit des Hippokrates: sie soll möglichst rasch nach der Geburt einsetzen. Mit dem Schlagwort “zuerst behandeln, dann abnabeln” wurde diese Forderung auf die Spitze getrieben.

        Bei denjenigen, welche von Geburt an einen  krummen Fuß haben, ist dieser Zustand in den meisten Fällen zu heilen, es müsste denn die Verbiegung eine sehr bedeutende sein. Am besten ist es demgemäß, wenn man derartige Zustände möglichst rasch ärztlich behandelt…Die Gänge des Verbandes lege man in derselben Richtung, in welcher auch die Einrichtung des Fußes durch die Hände stattgefunden hat, damit der Fuß eher etwas auswärts gekehrt erscheint [d. h. in Überkorrektur]. Man muss, um es mit einem Worte zu sagen, wie ein Wachsbildner die in widernatürlicher Weise verbogenen und verzerrten Teile in ihre richtige natürliche Lage zurückzuführen suchen, indem man einerseits mit den Händen, andererseits mit dem Verbande, und zwar in ähnlicher Art, die Einrichtung bewirkt. Man darf dabei aber nicht gewaltsam zu Werke gehen, sondern muss es behutsam machen.

    (Hippokratische Schriften, Band 3, Abschnitt 4 De articulis/περὶ Ἂρθρων[7])

                            

    Abb. 1:  Klumpfuß und Behandlung um 1768 . Nach Valentin 1961, 75 Abb. 57
                                   

    Vorsichtig redressierend nutzt man die noch vorhandene biologische Plastizität des Gewebes, um eine Korrektur zu erzielen, die man anschließend bei gebeugtem Knie in einem Oberschenkel-Gips fixiert[8]. Der Wechsel des Gipsverbandes erfolgt anfangs ein- bis zweimal wöchentlich. Nach fünf bis achtmaligem Redressement und Umgipsen wird eine Schiene angelegt, die in den ersten drei Monaten ganztägig, bis zum 4. Lebensjahr nur noch nachts zu tragen ist. Die Spitzfußkomponente bleibt zunächst bestehen, soll jedoch möglichst noch vor dem Erlernen des Laufens durch eine Achillotenotomie korrigiert werden.

    Die Zeitspanne zwischen Hippokrates von Kos und dem Beginn des 16. Jahrhunderts ist weitgehend dunkel. Um 1500 entstehen die ersten korrigierenden Schienen, zunächst aus Holz, dann aus Eisen. Den Rat zum behutsamen Vorgehen hat man nicht immer befolgt. So weist Franciscus Arcaeus (ca. 1493-1573) das Hilfspersonal an, den Knaben von einem kräftigen Kerl auf die Knie nehmen zu lassen, die Hände und Beine hinter sich gebunden. Danach gehe der Wund-Artzt hinzu und ziehe den Fuß mit großer Gewalt aus und bemühe sich denselben wieder einzurichten[9]. Doch der starke Druck des blockierten Talus, des Sprungbeins, auf die Knöchelrolle verursacht schwere Knorpelschäden[10]. Gewaltsame Repositions-Manöver mit anschließender brutaler Apparate-Versorgung des rechten Beines musste auch der 1788 geborene Lord Byron über sich ergehen lassen. Der Knabe litt Qualen, ohne dass Besserung erfolgte[11]. Die später von seinem Reisegefährten Trelawny beschriebene Deformität beider Füße und eine postmortale Untersuchung der Beine sind nicht bestätigt[12]. Byron hat die Vorteile der seit 1837 zunächst in London praktizierten Achillotenotomie um 13 Jahre verpasst[13].

    Wie hilflos man noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts vielerorts dem Klumpfuß  gegenüber stand, schildert der orthopädische Chirurg  L. Strohmeyer, der 1830 an einer Tagung der Naturforscher in Hamburg teilnahm. Unter allgemeiner Zustimmung der vorzüglichsten deutschen Chirurgen wurde ein mit Klumpfuß behaftetes Mädchen von 20 Jahren trotz Strohmeyers Vorschlag, es doch erst mit weniger radikalen Eingriffen zu versuchen, amputiert[14].    

    Strohmeyer übernahm die zuerst in Frankreich praktizierte subcutane Form der Achillotenotomie und publizierte sie in deutschen und erneut in französischen Zeitschriften. Nach 1835 konzentrierte sich V. Duval ganz auf die erfolgreiche operative Therapie der Spitzfußkomponente. Sein 1839 erschienenes Buch, “Traité pratique du pied bot”, Praktische Behandlung des Klumpfußes, veranlasste den Arzt Dr. Charles Bovary in Flauberts berühmtem Roman “Madame Bovary” zur Achillotenotomie an einem behinderten Knecht. “Charles stach in die Haut; man hörte ein kurzes Knacken. Die Sehne war durchtrennt, die Operation war beendet.”[15] Wie die Leser des Romans wissen blieb leider der gewünschte Erfolg aus. Es kam zur Gangrän und der Hausknecht musste amputiert werden.

    Während meiner operativen Ausbildungszeit erlebte ich einen vergleichbaren besonders unseligen Fall. Eine Tänzerin litt berufsbedingt an einer ausgeprägten Paratenonitis achillea, einer schmerzhaften Entzündung der Weichteile in der Umgebung der Achillessehne. Nach wiederholten konservativen Therapieversuchen, zu denen damals noch die Infiltration mit Cortico-Steroiden gehörte, und ebenso zahlreichen Rezidiven entschloss sich der behandelnde Oberarzt, das entzündete, verquollene Gewebe um die Achillessehne herum operativ anzugehen. Eine schwere Eiterung war die Folge. Stück für Stück ging die gesamte Achillessehne der Tänzerin verloren. Am Ende blieb nur eine Unterschenkelamputation. “Da musste dann schon das ganze   Wiedergutmachungs-Repertoire aufgefahren werden”, war der gemütvolle Kommentar der lieben Kollegen. Ich konnte froh sein, meine eigenen Finger nicht in der Wunde gehabt zu haben.      

    Zurück zum Klumpfuß und in den Olymp. wo der klumpfüßige Künstler-Gott Hephaistos dringend erwartet wird, um den Bann zu lösen, der seine Mutter Hera auf dem von ihm geschmiedeten Thronsessel fixiert[16].

        Mein Sohn freilich, Hephaistos, den selbst ich gebar, ist ein Schwächling
    …mit krummen Füßen[17].
    Einst packt ich ihn grad an den Händen und warf ihn ins weite Meer;
    doch Thetis, die silberfüßige Tochter des Nereus,
    Fing ihn auf und versorgt ihn im Kreis ihrer Schwestern.
    (Homerischer Hymnos an Apollon, 316-320)

    Verständlich, dass Hephaistos sich für die Lieblosigkeit seiner Mutter ein wenig rächt.

                    

    Abb. 2: Rückführung des Hephaistos, 600-580 v. Chr..  Nach: Simon 31985, 219 Abb. 204

    Man erkennt die nach hinten gekrümmten Füße, die ihm den Beinamen κυλλοποδίων, der Krummfüßige, eingetragen haben[18].

    Nach dem Ende der hocharchaischen Zeit stellt man die Behinderung des Hephaistos weniger drastisch dar. Sie wird allenfalls angedeutet, beispielsweise durch einen unter die Achsel gestützten Stab (Abb. 3[19]) oder sie bleibt ganz außer Acht. 

                      

    Abb. 3: Athena und Hephaistos, Ostfries des Parthenon.   Nach Simon 31985, 228 Abb. 217

                                      

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Brommer 1978: F. Brommer, Hephaistos. Der Schmiedegott in der antiken Kunst (Mainz 1978)

    Goebel – Gille – Löhr 2005: E. Goebel – J. Gille – J. F. Löhr, Lord Byrons Klumpfuß. Historische Vignette, Der Orthopäde 34/ 2005, 75 f. 

    Laser 1983: S. Laser, Medizin und Körperpflege, ArchHom S (Göttingen 1983)

    Loeschcke 1894: G. Loeschcke, Korinthische Vase mit der Rückführung des Hephaistos, AM 19, 1894, 510-525 Taf. 8

    Michler 1963: M. Michler, Die Klumpfußlehre der Hippokratiker. Eine Untersuchung von De Articulis Cap. 62. Mit Übersetzung des Textes und des Galenischen Kommentars (Wiesbaden 1963) 

    Rössler – Rüther 2007: H. Rössler – W. Rüther, Orthopädie und Unfallchirurgie (München 2007)

    Simon 31985: E. Simon, Die Götter der Griechen (München 31985)       Abb. 2. 3

    Trelawny 1986: E. J. Trelawny, Letzte Sommer. Mit Shelley und Byron an den Küsten des Mittelmeeres (Berlin 1986)

    Valentin 1961: B. Valentin, Geschichte der Orthopädie (Stuttgart 1961) 6. 67-106      Abb. 1

    Wamser-Krasznai 2012/2013: W. Wamser-Krasznai, Hephaistos – ein hinkender Künstler und Gott, in: dies., Auf schmalem Pfad. Grenzgänge zwischen Medizin, Literatur und den schönen Künsten (Budapest 22012/2013) 72-82

    Wright 1986: D. Wright, Einleitung zu Edward John Trelawny, Letzte Sommer. Mit Shelley und Byron an den Küsten des Mittelmeeres (Berlin 1986)


    [1] Für entsprechende Informationen danke ich den Humangenitiker*innen  Prof. Dr. Ursel Theile, Mainz, und Prof. Dr. Ulrich Zechner, Frankfurt am Main.

    [2] E. Wrage-Brors, Ergebnisse chirurgischer Klumpfußversorgung…Diss. Hannover 10.10.2006.

    [3] Rösler – Rüther 2007, 322-324; Valentin 1961, 79; T. Chr. Grünewald, Mittel-bis langfristige Ergebnisse bei Pat. mit Klumpfußrezidiv…Diss. Köln 29.7.2009;  L. M. J. von Pfister, Der Klumpfuß, Diss. München 9.7.2014.

    [4] Hieronymus Fabricius ab Aquapendente, Valentin 1961, 71.

    [5] Valentin 1961, 74. 77.

    [6] P. Camper, Abhandlung über den besten Schuh, Valentin 1961, 81.

    [7] Hippokrates (ca. 460-370 v. Chr.) Hippokratische Schriften, Band 3, Abschnitt 4 “De articulis”,  München 1900, 152; Valentin 1961, 5 f.; Michler 1963, 5-16.

    [8] Besser: Gipsverband des ganzen Beines. Rösler – Rüther 2007, 324; erste Erwähnung der Gipsbehandlung im 10. Jahrhundert durch arabische Ärzte, Valentin 1961, 8.

    [9] Valentin 1961, 67 f.

    [10] Rössler – Rüther 2007, 324.

    [11] George Gordon Noel Lord Byron. Goebel – Gille – Löhr 2005, 75 f.

    [12] Wright 1998, 14. 25. 32; Trelawny 1998, 190-192.

    [13] Goebel – Gille – Löhr 2005, 76.

    [14] Valentin 1961, 94.

    [15] Gustave Flaubert (1821-1880), Madame Bovary.

    [16] Apul. Amphora, 330/320 v. Chr., LIMC (1988) 639 Nr.126 Taf. 392.

    [17] ῥικνὸς πόδας, Laser 1983, S 18 und Anm. 34.

    [18] Loeschcke 1894, 512 Taf. 8; Laser 1983, S 18 Anm. 34. Mit der Bezeichnung ist die Varusstellung des Fußes gemeint.

    [19] Parthenon-Fries, ca. 440 v. Chr., s. Brommer 1978, 242 Taf. 50,2; Wamser-Krasznai 2012/13, 73 Abb. 3.