Schlagwort: Nachruf

  • (16.4.2022)

    in Erinnerung an meinen guten Freund Elias Davidsson (23.01.1941 – 07.04.2022)

    Es gibt zerstörerische Zeiten
    in denen belebende Blicke
    besonders vonnöten sind
    warme Worte
    und aufrichtige Freunde

    Wenn der Sturm der Ereignisse
    trügerisch das Bild darbietet
    das Leben sei ein altes Schiff
    tief auf den Grund gelaufen
    unweigerlich zum Verfall verurteilt
    wenn sternenlose Nächte
    qualvoll andauern
    und die Orientierung
    hoffnungslos verloren erscheint
    wenn die Beklemmung in der Brust
    dunklen Wolken ähnelt
    die auch durch tagelangen Regen
    sich nicht auflösen lassen
    wenn viele Spiegel zerbrochen sind
    so dass kräftige, blühende Bäume
    alle kläglich krumm vorkommen
    dann sind aufrichtige Freunde vonnöten
    die über die Berggipfel hinwegblicken
    sich auch hinter dem Horizont bewegen
    ihr gewaltiges geschichtliches Gedächtnis
    mit klarem Quellwasser der Liebe tränken
    im Herzen schöpferisch tausend Sonnen tragen
    sich wie Flüsse umgeben von Felsen verhalten
    und sich gegenseitig vielfältig unterstützen
    um dem Leben tiefgründig treu zu bleiben

    ֎֎֎

  • Jürgen Rogge bei unserem letzten Jahreskongress im Juni 2019 in Bad Urach

    Dr. sc. med.  Jürgen Rogge, *10.10.1940   † 02.10.2021

    „Wenn ihr an mich denkt, seid nicht traurig. Erzählt von mir und traut euch zu lachen. Lasst mir einen Platz zwischen euch, wie ich ihn im Leben hatte.“, lautet auf der Traueranzeige der Familie der Ruf unseres Kassenwarts Dr. sc. med. Jürgen Rogge. Seine literarischen Kreationen begeistern uns mit jenem literarischen Kniff, der über Bedenklichkeit zur überraschenden Einsicht führt. Dabei wendet er uns das nordische Gesicht zu, das zu lächeln beginnt, wenn der Funke überspringt.

    Geboren und aufgewachsen in ländlichen Verhältnissen des mecklenburgischen Altkreis Hagenow, legt er das Abitur in Ludwigslust ab. Er studiert Medizin an der Humboldt-Universität zu Berlin, erwirbt die Promotion A (Dr. med.) 1970 und 1988 die Promotion B (Dr. sc. med. bzw. Habilitation). An Berliner Kliniken bildet er sich zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie aus, um an Kliniken in Wismar und Leipzig arbeiten zu können. Nach der Vereinigung der westlichen und östlichen Bundesländer wirkt er mit seiner Frau Karin Rogge von 1991 bis 2005 in eigener Praxis in Perleberg, im folgenden Ruhestand als ambulant tätiger Gutachter. Im Januar 2021 gibt seine Frau Karin Rogge die Praxis an eine Nachfolgerin ab.

    Trotz Familie mit drei Kindern und Berufstätigkeit schreibt und publiziert Jürgen Rogge nicht nur in hochdeutscher Sprache, z.B. „Das Narrenflugzeug“, sondern auch in Plattdeutsch, z.B. „Geschichten ut Kauhstörp“ oder „Brägenjogging“. Jürgen Rogge ist neben dem Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte Mitglied der John-Brinckman-Gesellschaft, die das Werk dieses niederdeutschen Dichters pflegt, bewahrt, erforscht und neu entdeckt, der Johannes Gillhoff-Gesellschaft, die dessen literarisches Erbe pflegt und verbreitet, sowie der Fritz-Reuter-Gesellschaft, die Leben und Werke des Klassikers der niederdeutschen Literatur in Erinnerung ruft.

    2012 verzichtet Jürgen Rogge auf den Johannes-Gillhoff-Preis für niederdeutsche Literatur. Denn ein Blogger verbreitet in kaum nachvollziehbarer Schriftflut seine vernichtungswütige Kritik über Jürgen Rogge und gerät infolge der Strafanzeige eines Verlags in Konflikt mit der Justiz. Zugleich melden sich andere, denen Jürgen Rogge helfen konnte. Er steht während der Tätigkeit in der Haftanstalt Leipzig-Meusberg unter der Leitung eines Ärztlichen Direktors. In der Jugend mag Jürgen Rogge ein überzeugter Sozialist gewesen sein. Dennoch erkennt er die andere Seite des sozialistischen Systems. Nachweislich nutzt er Nischen der Systemstruktur, um Inhaftierten zu helfen.

    Die Johannes-Gillhoff-Gesellschaft bittet Jürgen Rogge, die Laudatio für den Preisträger 2013 für dessen Verdienste um die norddeutsche Kultur zu halten. Für den Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte organisiert er den Bundeskongress 2010 in Schwerin und 2018 in Wismar.

    Wir sind ihm dankbar für seine heiteren Lesungen und Moderationen, für die Verwaltung unserer Kasse und dafür, von ihm erzählen zu dürfen.

  • Vorbemerkung
    Durch einen Anruf von Helga Thomas erfuhr ich von dem Tod unserer Kollegin Pauline Abt am 01. Mai 2021. Helga hatte einen intensiven schriftlichen Nachruf von Frau Abts Tochter, Frau Dr. Dorothea Zitzmann, erhalten. Da ich Pauline Abt nur ganz am Anfang meiner BDSÄ-Mitgliedschaft (also Ende des vergangenen Jahrhunderts!) einmal persönlich getroffen und später nur vereinzelt telefonisch gesprochen hatte, und Helga einen dauerhafte und freundschaftliche Beziehung zu Frau Abt gepflegt hatte, schlug ich vor, dass Helga einen Nachruf für unsere Homepage schreibt. Sie war damit gern einverstanden, schrieb sofort einen liebevollen und freundschaftlichen Brief und schlug ihrerseits vor, dass wir Frau Zitzmanns Nachruf ebenfalls veröffentlichen. Da Frau Zitzmann freundlicherweise diesen Nachruf mit den Bildern jetzt zur Verfügung gestellt hat, will ich gern die Wünsche erfüllen und hoffe, dass wir hiermit Pauline Abt einen letzten respektvollen und freundlichen Dienst erweisen und uns angemessen für ihre Jahrzehnte lange Mitgliedschaft und ihre Beiträge zu unserem Verband bedanken.

    Dietrich Weller

     

     

    Dr. med. Pauline Theresia Abt, geb. Rauch

    Geboren am 13. November 1922 in Göppingen
    gestorben am 1. Mai 2021 in Burgheim

    Meine Mutter, Frau Dr. Pauline Theresia Abt, geborene Rauch, kam am 13. November 1922 in Göppingen zur Welt. Sie war die Tochter von Franz–Josef Rauch und seiner Ehefrau Dorothea. Er war Bahninspektor in Göppingen, zog aber 1924 zurück in seinen Heimatort Berg bei Friedrichshafen, wo noch mehrere Geschwister lebten. Johann, der älteste Bruder führte ein Café in Berg. Er konnte besonders gut malen und hat die Brandmalereien auf der Vertäfelung im Berger Häuschen angefertigt. Sohn Hermann bekam die Mühle, Sohn Wilhelm das Sägewerk.

    Die Mutter, Dorothea, war das 17. und letzte Kind ihrer Eltern, sie hatte eine Hauswirtschaftsschule besucht.
    Die Kindheit meiner Mutter muss sehr glücklich gewesen sein, wie sie auch in ihrem Buch „Der Fritzle, der Hermann und ich“ beschreibt. Sie war ein umhegtes und geliebtes Einzelkind, durfte ihren Vater auf der Jagd begleiten und mit ihrer Mutter Kastanienbier brauen.
    Alles änderte sich, als ihr Vater an einem Nasenkarzinom erkrankte. Im Frühjahr 1933 verstarb er schließlich, tief betrauert von seiner Frau, die zeitlebens nur noch schwarze Kleidung trug, und seiner Tochter.
    Pauline machte 1942 ihr Abitur in Friedrichshafen. Sie wollte Medizin studieren, musste aber zuvor den Reichsarbeitsdienst absolvieren. Danach hoffte sie nach Hause zu kommen, wurde aber noch zum Kriegshilfsdienst eingezogen. Sie arbeitete als Straßenbahnschaffnerin in Heilbronn. In ihrem Heimaturlaub zu Weihnachten wurde sie von einem Hund gebissen und musste nicht wieder zu ihrem Dienst erscheinen, was sie später als ihr großes Glück bezeichnete, da viele Mädchen zum Funkdienst abkommandiert wurden und aus dem Krieg nicht wiederkamen.
    1943 bekam sie einen Studienplatz in München und bezog ein kleines Zimmer in der Heßstraße. Im Sommer 1944 wurde sie bei einem Bombenangriff verschüttet, ihr Zimmer bestand nur noch aus rauchenden Trümmern. Aber sie konnte bei einem Bekannten und seiner Schwester unterkommen und ihr Studium beenden. Während des Studiums lernte sie auch ihren zukünftigen Mann Rudolf Abt aus Burgheim kennen.
    Nach dem Krieg aber musste sie zunächst ihre Assistenzarztzeit absolvieren. Sie tat dies in Markdorf bei Friedrichshafen. Dort lernte sie zwei tüchtige Frauen kennen, „Prezele“, zeitlebens ihre Freundin, und „Käthchen“, die mit ihr nach Burgheim zog und als Haushälterin die Familie versorgte.   1954 schließlich heiratete sie Dr. Rudolf Abt und zog zu ihm

    nach Burgheim.
    Pauline und Rudolf bekamen zwei Kinder, meinen Bruder Andreas und mich, die  nach ihrer Großmutter benannt wurde. 1960 bekam meine Mutter die Kassenzulassung und baute ihre eigene Praxis auf. Sie war mit Leib und Seele Ärztin, liebte es, ihre Patienten nicht nur in medizinischen, sondern  in allen Lebensfragen zu beraten. Ihre Patienten dankten es ihr mit großer Treue, Anhänglichkeit und Respekt. Ich glaube, dass meine Eltern ein sehr erfülltes, glückliches Leben führten. Oft waren Freunde bei uns zu Besuch, meine Eltern bereisten zusammen viele Länder der Welt und konnten, trotz starker beruflicher Anspannung, auch ihren Alltag genießen.
    In den siebziger Jahren begann sich meine Mutter für den Umweltschutz zu interessieren und leitete einige Zeit den Bund Naturschutz in Neuburg. Sie interessierte sich zeitlebens für Flora und Fauna, liebte Tiere und hatte großes Wissen über die heimische Pflanzen-und Tierwelt. Schützenswerte Gebiete versuchte sie durch Anpachtung vor der Zerstörung zu bewahren. Für ihre Verdienste erhielt sie noch im Herbst 2020 in München den Bayerischen Umweltpreis verliehen. Sie hat diesen  Tag sehr genossen,.

    1989 übergab sie ihre Praxis an mich und meinen Ehemann Sebastian. Noch in den Folgejahren unterstützte sie uns bei Erkrankungen der Kinder oder sonstigen Notfällen immer gerne und mit großem Engagement in der Praxis. Auch für unsere Kinder war sie stets eine liebevolle und fantasievolle Großmutter, die sich viel Zeit für sie nahm.
    Einen tiefen Einschnitt in ihrem Leben bedeutet der Tod meines Vaters im Jahre 1997. Lange Zeit zog sie sich völlig zurück. Sie beendete ihre Tätigkeit im Pfarrgemeinderat, und ihre schriftlichen Beiträge für das Pfarrblatt wurden eingestellt. Nur ihre Kurzbeiträge für den „Burgheimer Zwoaring“ schrieb sie weiter.

    Allmählich begann sie, sich ein neues Leben ohne ihren Ehemann aufzubauen. Sie trat dem Kreis der Neuburger Lyrikerinnen bei und schloss dort intensive neue Freundschaften, sie schrieb etliche Bücher, Gedichte, Kindheitserinnerungen und Märchen.
    Bis ins hohe Alter war sie stets an anderen Menschen interessiert und nahmen regen Anteil an ihren Sorgen und Nöten. Ihre Ratschläge waren stets gefragt und jeden Abend telefonierte sie ausgiebig mit der einen oder anderen Freundin. Auch schrieb sie sehr gerne liebevolle Briefe.
    Sie konnte bis vier Wochen vor ihrem Tod alleine in ihrer Wohnung leben, unterstützt von ihren Kindern und Freundinnen.
    Am Karfreitag März 2021 erlitt sie einen Sturz, infolge dessen sie ins Krankenhaus  eingeliefert werden musste. Dort erlitt sie am Ostersonntag einen Schlaganfall mit linksseitiger Lähmung. Sie erholte sich zunächst wieder etwas und wurde im Pflegeheim Straß liebevoll versorgt. Am 1. Mai 2021 verstarb sie am frühen Morgen, nachdem sich ihr Zustand deutlich verschlechtert hatte. „Ich nehme alles an, was auch kommt“, sagte sie noch im Krankenhaus zu mir. Ihr offenes, liebevolles Wesen und ihr kluger Rat werden uns fehlen!

    Dr. Dorothea Zitzmann

    Jetzt folgt der Brief von Helga Thomas an Pauline Abt.

    Liebe Pauline

    Das ist der erste Brief von mir an Dich, den Du nicht in Händen halten wirst. Aber ich bin davon überzeugt, Du kannst ihn trotzdem lesen. Das war eines unserer Themen; der Kontakt mit Verstorbenen, durch unsere Erinnerung, in uns, in unserem Unbewussten; sind sie dort oder ist das der Zugang zur realen Welt der Toten? Wir haben die Antworten offen gelassen und meinten, wir müssten da sehr wachsam sein und genau beobachten.
    Sicherlich ist jetzt der Brief, wenn ich mit Dir rede, mehr mit Deinem Bild, was ich von Dir in mir trage, aber es ist vielleicht die Brücke für die Zukunft. Gestern kam mir die Idee, dass ich Dir den Brief schreiben muss. Gestern, 8. Mai, Kriegsende, Kapitulation, in der SBZ nannten sie es den Tag der Befreiung. Ich glaubte beides nicht als Kind, ich war davon überzeugt, der Krieg geht immer noch weiter.
    Das ist eines der Themen, über die wir fast kaum geredet haben, Du hast nur meine Erzählungen, die Erinnerungen aus der Zeit sehr einfühlsam und sehr schön gefunden und meintest, das sei gut für meine Enkelkinder. Damals hatte ich noch keine, da waren sie noch in weiter Ferne.
    Wie fing unsere Beziehung an? Du, ich weiß es nicht. Das ist etwas, was ich Dich auch immer noch fragen wollte. Ich weiß, von Anfang an, als ich in den BDSÄ eintrat, warst Du und Deine Freundin da, die so schöne Skulpturen machte. Ich mochte euch beide, aber ich wollte euch in eurem Beisammensein nicht stören. Wahrscheinlich habt ihr´s gemerkt, denn immer dann, wenn wir eh zu mehreren waren, hattet ihr unauffällig mir einen Platz freigehalten. Das war Deine empathische, feinfühlende, im Hintergrund wirkende Art; die war so wohltuend in unserer lauten Zeit, in der oft Effekthascherei wichtiger ist als echtes Gefühl. Du hast mir unauffällig den Rücken gestärkt. Wie das so ist bei Lesungen, gibt es immer Leute, die begeistert von einem sind, ob die Sachen nun gut sind oder nicht; andere, die neutral bleiben, oft noch das beste Publikum; und wieder andere, die zeigen wollen, dass sie gute Lehrer sind, die einen belehrten oder Ja-aber sagten und Warum-nicht usw. usf. Mich störte das, mich verunsicherte das, aber andererseits war ich über jede Kritik froh, und wer sagte mir, dass der andere recht hat?
    Da kamst Du und meintest, warum ich mich denn so verunsichern lasse, wir hätten doch oft genug über schöpferische Prozesse geredet, und so wie ich schreibe, sei das doch sehr mütterlich. Heute denke ich, ja, Du hast von Dir gesprochen. Bevor ich ein Gedicht niederschreibe, ist es lange in mir gewachsen, manchmal parallel zu anderen. Und irgendwann einmal kann ich sie aufschreiben, und dann kann ich auch geringfügige Verbesserungen vornehmen, aber eigentlich ist es fertig. Und Du meintest, das ist eben das Zeichen, dass das Gedicht mein Kind ist; ich gehe mit ihm schwanger, und dann lasse ich es in die Welt, aber ich muss es weiter beschützen. Und als mal jemand kam von unseren Teilnehmern, der inzwischen auch nicht mehr unter den Lebenden ist, und einige Kritik äußerte und warum fragte, meinte Pauline, ganz schnell sich dazwischen schaltend: weil sie es so mag! Außerdem mag ich das Gedicht auch so, und das weiß die Helga. Und damit war das Thema erledigt.
    Ich versuch mich zu erinnern, welche von Deinen Sachen mir besonders gefallen haben, es war doch sehr vieles. Und das Viele hat jetzt etwas wie einen tragfähigen Teppich geschaffen; einen Teppich, der nicht nur von unten her wärmt und den Boden bedeckt, sondern der einen auch durch die Lüfte tragen kann. Irgendwann war ich so eingespannt, dass es nicht viel Zeit neben den Treffen für private Kontakte gab, auch weil die Arbeit in Bulgarien mich forderte, aber dann änderte es sich wieder. Und irgendwann kamst Du nicht. Und dann kam Deine E-mail, dass Du eigentlich austreten wolltest, worauf ich ganz bestürzt war und Schuldgefühle hatte, weil ich dachte, ich hätte doch längst Dir mal schreiben müssen und fragen, wie es Dir geht. (Damals waren wir noch per Sie, ich weiß auch das nicht mehr, wann wir zum Du übergegangen sind, ich glaube das war irgendwann mal ganz automatisch, ohne Feier, ohne Brüderschaft, einfach so: Pauline und Helga.) Und dann hattest Du aber überlegt, dass unser Verband das Geld vielleicht brauchen könnte, und Du bleibst drin. Und das fand ich so toll, dass ich Dir gleich ganz spontan schreiben musste. Und dann entwickelten sich diverse Gespräche, per Telefon, per Brief. Und ich hatte die Idee, beim nächsten Treffen solltest Du unbedingt Texte von Dir auswählen und einreichen – ich würde sie dann für Dich vorlesen. Ich weiß nicht mehr, warum es nicht dazu kam. Kam dann Deine Krankheit dazwischen? Oder war da schon der Lockdown? Ich weiß es nicht mehr.
    Deine Krankheit war erschreckend, aber es war bewundernswert, wie Du damit umgingst. Du teiltest mir mit, dass man ein kleines Mamakarzinom entdeckt hat, dass Du aber jetzt in dem Alter bist, dass Du denkst, es ist besser, nichts mehr zu machen; ich soll das nur zur Kenntnis nehmen und mich nicht wundern, wenn ich vielleicht mal keine Post mehr bekomme. Das hat mich natürlich sehr erschreckt, aber ich konnte ja schreiben.
    Aber wie gesagt, irgendwann kam der Lockdown, und da ging es mir sehr schlecht. Und das war ein Grund, warum ich Dir zwar noch schrieb, aber Dich nicht anrief. Wenn Du mich dann liebevoll fragst, wie es mir geht und ich auch ohne technische Hilfsmittel Deinen liebevollen Blick aus Deinen warmen Augen auf mir ruhen fühle, dann wusste ich, dann kann ich mich nicht mehr beherrschen, da muss ich weinen und muss dir klagen, was mir nicht gut geht; und dir gings doch schlechter! ich musste doch schließlich Rücksicht auf Dich nehmen.
    Und irgendwann wuchs ein neuer Gedanke in mir, was unsere Beziehung betraf. Es betraf nicht nur Dich, es betraf auch eine befreundete Kollegin in Bayern und eine junge Kollegin in Österreich, die sehr tapfer kämpft gegen die Vorurteile mancher Analytiker. Ich entschloss mich, irgendwann muss der Lockdown zu Ende sein, und dann reise ich! Ich mache eine Rundreise: zu Dir, nach München, bzw. an den Starnberger See und nach Wien. Ich wusste nur noch nicht welche Reihenfolge und in welcher Zeit. Ich teilte Dir das nie mit, weil ich Dir keinen Zeitpunkt sagen konnte und weil ich ja auch noch nicht so sicher war, ob Dich das wirklich freuen würde, ob Du nicht erschrecken wirst und Dich vielleicht als Gastgeber verpflichtet fühlst, obwohl ich dann sicher war, dass das dann doch nicht der Fall ist.
    Ja, das ist etwas, was ich Dir sehr gerne hatte sagen wollen, und dazu ist es nun nicht gekommen. Es ist aber nicht nur Dein Weggang, dass es jetzt nicht dazu kam, sondern immer noch dieser verdammte Lockdown.
    Du hast auch mit Deiner ruhigen, mütterlich-freundlichen und doch sehr klugen Art manchmal Streithähne auseinander gebracht, ohne dass Du billige Kompromisse vorgeschlagen hast. Du hast die Meinung eines anderen respektiert, aber hast ihm trotzdem die eigenen Grenzen aufgezeigt, auch das war immer sehr wohltuend.
    Ja, und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich alles sagen wollte. Über Dich, über unsere Beziehung. Ich weiß auch gar nicht, ob ich für meine lieben Freunde im Verband Dich richtig habe in Erinnerung rufen können.
    Ein weiteres Thema, was uns sehr beschäftigte, neben den künstlerischen Prozessen, war überhaupt das Wachsen, das Sich-Entwickeln, von Tieren und von Pflanzen, ein unerschöpfliches Thema. Und drum hat es mich doppelt gefreut, als ich jetzt las, dass Du noch letztes Jahr den Preis für Umweltschutz von Bayern bekommen hast.
    Am 1. Mai ging es mir nicht gut, ich war furchtbar müde. Und ich verstand es nicht, aber ich bin in letzter Zeit öfter müde. Es hat sicherlich verschiedene Ursachen, die hier keine Rolle spielen. Jedenfalls wartete ich darauf, ob sich Kopfschmerzen einstellen, denn dann hätte ich gewusst, dass ein mir nahestehender Menschen stirbt, das ist bei mir manchmal so. Aber die Kopfschmerzen waren nur ganz schwach, so dass alles sehr unsicher war. Und eine Woche später, bzw. nicht ganz eine Woche später, es war schon der Freitag, wollt ich nicht nach Hause. Es fiel mir immer was ein, warum ich das Nachhausegehen hinauszögere, obwohl da Arbeiten auf mich warteten, angenehme Arbeiten. Ich hatte ja inzwischen Dir meine letzten Gedichte geschickt. Und dann kam ich nach Hause, und der sehr schöne Nachruf Deiner Tochter erwartete mich. Ich dachte, dass ich jetzt daraus einiges zitiere, aber ich weiß nicht; der ist so schön, dass ich ihn eigentlich nicht auseinander reißen möchte, und vielleicht wäre es gut, wenn man ihn an meine persönlichen Erinnerungen anfügt. Ich werde Deine Tochter fragen, ob sie damit einverstanden ist.

    In Gedanken umarme ich Dich so, wie wir uns immer zum Abschied umarmt haben.

    Deine Helga

  • am 05. Mai 2016 in Würzburg beim BDSÄ-Kongress mit seiner Frau Hadie (Hadwiga),
    am 26. Juni 2019 in Bad Herrenalb beim BDSÄ-Kongress
    beide Fotos von Dietrich Weller

    aus alter Schweizer Familie stammend – geb. am 25.05.1931 in Berlin-Charlottenburg –unerwartet verstorben am 03.01.2021 in Marburg

    Horst Ganz verkörperte einen willensstarken und gleichwohl lustigen Kollegen, stets einem lebhaften Dialog zugeneigt. An einer ungewöhnlichen Lebenskarriere hielt er bis zum Schluss fest. Seine Gedanken boten dem hartnäckigen Wandel zur technisierenden Lebensweise die Stirn.

    1942 erlangte die Familie Ganz die deutsche Einbürgerung. Horst Ganz besuchte das humanistische Gymnasium zu Regensburg. Nach dem Abitur 1950 absolvierte er das vorklinische  Medizinstudium in Regensburg, die klinischen Semester in Heidelberg. Dort schloss er 1955 das Studium mit dem medizinischen Staatsexamen und der Promotion ab.

    Nach der Medizinalassistentenzeit an den Städtischen Krankenanstalten in Mannheim begann er 1957 die Fachausbildung in der HNO-Universitätsklinik Heidelberg bei Prof. Kinder und in der Praxis mit Beleg-Klinik bei Dozent Uffenorde. 1961 erhielt er die Anerkennung als HNO-Facharzt. Danach verbrachte er in der HNO-Universitätsklinik Marburg bei Prof. Berendes fünfzehn Jahre, davon drei dienstliche Monate in den USA, neun Jahre als Oberarzt und drei Jahre als leitender Oberarzt. Er wird 1964 mit einer biochemischen Arbeit zur Atmungs- und Stimmfunktion des Kehlkopfes habilitiert.

    Dennoch ließ Horst Ganz sich 1974 in Marburg nieder, ist seitdem Honorarprofessor, unterhält Belegbetten und erwirbt die Zusatzbezeichnung „plastische Operationen“.1988 empfängt er den „Friedrich-Hofmann-Preis“ der Deutschen Gesellschaft HNO-Heilkunde. Friedrich Hofmann war der Erfinder des Hals-Nase-Ohren-Spiegels; der nach ihm benannte Preis wird „zur Anerkennung und Förderung in freier Praxis niedergelassener Mitglieder der HNO-Gesellschaft verliehen, die sich durch besondere wissenschaftliche Leistungen hervorgetan haben.“

    Als Praktiker und als Hochschullehrer war Horst Ganz von der Entwicklung eines Gerätes begeistert, mit dessen Hilfe die Richtung des Lichts in die Körperöffnung und des untersuchenden Sehens, also Blick und Lichtstrahl übereinstimmen. Er legt großen Wert darauf, dass die Studierenden Respekt vor dem HNO- und Augenspiegel gewinnen. Achtunddreißig Spiegelkurse hat er während seiner Lehrtätigkeit gegeben.

    Natürlich entwickelt sich schon in seiner Zeit die Beleuchtungstechnik weiter, z.B. als Stirnlampe, Kaltlichtlampe oder Operationsmikroskop. Aber keine dieser Konstruktionen kommt ohne Elektrizität aus, während man mit dem Hofmannschen Reflektor jede Lichtquelle nutzen kann! In den sechziger Jahren rief man Horst Ganz einmal in die alte Marburger Nervenklinik, um einen dringenden Luftröhrenschnitt auszuführen. Als er am Bett des Patienten stand, fiel die Stromversorgung aus. Notaggregate gab es damals nicht. Glücklicherweise schien die Sonne hell durchs Fenster herein. Als er schließlich die Luftröhrenkanüle eingeführt hatte, war mit Hilfe der Sonne und Hofmanns Reflektor der Eingriff fehlerfrei gelungen.

    Horst Ganz hat 135 wissenschaftliche Arbeiten publiziert, sich an Lehrbüchern und Nachschlagewerken beteiligt, zwei belletristische Prosa-Bände herausgegeben („nebenbei“ und „nebenbei zwo“) und liebte es, sich als scharfzüngiger Redner zu offenbaren. Daher arbeitete er in Gremien der Berufsverbände mit, der Hochschule, Ärztekammer, Kassenärztlichen Vereinigung und des BDSÄ, sei es als Vorstandsmitglied, Vorsitzender oder Beratender.

    Die Universität Marburg ehrte ihn deshalb 1996 mit der Ehrenpromotion im Fachbereich Medizin. 2011 empfing er als bislang Letzter die Ehrung mit der Schauwecker-Medaille des BDSÄ.

    Auf unseren Kongressen moderierte er folgende Themen: Essay (Seminar); der literarische Brief; kurz und treffend; Nonsens – Lachen ist gesund; Harmonie und Dissonanz; Erotik. Im nächsten Kongress  wäre er Moderator des Themas „Eigene Gedanken und eigene Taten“ gewesen. Dabei war  ihm das Wort eigene besonders wichtig! An den Diskussionen nahm er mit überraschenden Anmerkungen teil.

    Das sagte er beim Empfang des Friedrich-Hofmann-Preises zu seiner beruflichen Zugehörigkeit:

    „Ich behaupte nämlich: Der Hals-Nasen-Ohrenarzt ist der populärste Mediziner! Sie glauben das nicht? Dann sehen Sie sich einmal die Arztkarikaturen in den Medien an. Was sehen Sie? Nichts als Ohrenärzte! Jedenfalls hat ein Jeder den so eindrucksvollen Hofmann‘schen Reflektor auf dem Kopf. Wenn das Ideal der Engländer auch das unsere ist, dass nämlich eine Karikatur in einer bekannten satirischen Zeitschrift den Gipfel der Popularität bedeutet, dann sind wir HNO-Ärzte der Gipfel! Auch dafür danken wir Friedrich Hofmann, und ich danke Ihnen fürs Zuhören.“

    Seiner Frau Hadie und den Söhnen sprechen wir unsere tiefe Anteilnahme aus; Hadie berichtete uns voller Dankbarkeit für die zahlreichen Anrufe. Wegen der pandemischen Umstände findet das Begräbnis im engsten Familienkreis statt. Wir werden Horst Ganz nicht nur auf dem nächsten Kongress vermissen.