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Sind wir denn alle
Beugend beten Demokraten
im heiligen Saal.
Influenzer flüstern, raten:
Ruft auf Gott zur Wahl
Hört auf zu Zittern.
Lest, was wir twittern.
Sind wir denn alle
verrückt geworden?Gott weiß es nicht.
Schmelzen die Gletscher
im hohen Norden?
Nicht seine Sicht.
Muss Gott denn heute
auch demonstrieren?
Er schwenkt den Hut.
Ist schwitzen schlimmer
als zu erfrieren?
Das tut Gott gut.
Muss er denn allen
die Wahrheit sagen?
Wenn niemand hört.
Ist nicht das Klima
cool zu ertragen?
Wir sind empört.
Sind wir jetzt alle
verrückt geworden?
Das liegt bei Gott.
Vergibt er Berlin
die Brandschutzorden?
Dann ist er tot. -
Trauer Tag
Dunkel sind ihre Wasser
Und zerfliessen im Nichts
Sie bergen den steten Verlust
Und zerbersten im Licht
Kalt sind ihre Tiefen
Und überfluten das Sein
Sie greifen nach Wirklichkeiten
Und verschütten die Hoffnung
Stark sind ihre Fluten
Und versprechen welchen Trost?All Das
All das
das rinnt
die Gassen
herab
ein Strom
trockener Tränen
ihre Spur
eingemeisselt
wofür
die Zweifel
schwarzer Entbehrung
für all das
das Unvorstellbare
lauert in jeder Sekunde
beherrschend die Welt
Unverständnis
für all das
weht in Zweigen
bricht den Baum
fallend auf Stein
der Gassen
verborgen ist all das
unter dem Schleier der UnwissenheitDas Zeichen
Flutend durch Wolkenberge schwarz- geblähtes Segel
Ziellos im weiten Raum, einer Aufgabe gehorchend- mit verborgenem Sinn
Schneidend die Erkenntnis in Lichtreflexen der Furcht
Widersprüchlich im zwingenden Strahl eines dunklen Warum
Aufblitzend- im fernen Wissen Gehorsam fordernd
Ahnen über jenes Unverfügbare der Zeiten unerklärlich im Jetzt -
NOTRE-DAME DE PARIS
Il canto accarezza
le volte immortali
del tempio.
Nubi d’incenso
s’alzano,
compagne
all’umana preghiera.
Al cuore s’abbraccia,
caldo,
un canto di donna,
melodia dell’infinito.
Dello spartito
il tronco silenzio
lascia sulle navate
un’ultima eco
nel duomo deserto.Commento :
La basilica, dopo l’incendio, è diventata
nel mondo ancora piu’ importante, fascino
delle pietre, dell’incenso che sale, del
canto che rapisce.NOTRE-DAME DE PARIS
Der Gesang liebkost
das unsterbliche Gewölbe
des Tempels.
Wolken von Weihrauch
erheben sich,
und begleiten
das menschliche Gebet.
Das Herz umarmt,
warm,
der Gesang einer Frau
eine unendliche Melodie.
Das plötzliche Schweigen
der Noten
lässt auf den Kirchenschiffen
ein letztes Echo
im menschenleeren Dom.
Kommentar :
Die Basilika ist nach dem Brand für die Welt
noch wichtiger geworden. Die Faszination der
Steine, des Weihrauchs, der nach oben steigt,
der Gesang, der uns ganz in seinen Bann zieht. -
Spürst du
wirklich nicht
die Nähe deines Engels?
Nimmst du seine
Spuren nicht wahr?
Das glitzernde Funkeln
auf Wasser Schnee
und Blütenblättern?
Der Duft der Blumen
der selbst im Herbst
noch im Erinnern wirkt?
Die leisen Abschiedslieder
der Vögel
das sanfte Rascheln
der Blätter im Windhauch
Doch
du nimmst sie wahr
aber erkennst sie nicht
als Spuren deines EngelsDu erkennst auch nicht
den Blick deines Engels
wenn er dich
mit den Augen
eines anderen Menschen
betrachtet
Du wunderst dich nicht
über das leichte Glücksgefühl
so wunderst du dich
auch nicht
über die unerklärliche Trauer
die dich manchmal befällt
Oh, würdest du doch erkennen
dass es die Trauer deines Engels ist
auch er
möchte wahrgenommen werdenHelga Thomas
12.12.2019Der neue Tag beginnt
Rosa Sonnenaufgangslicht
und weißer Raureifschleier
verschönen unsre Welt
lassen Hässliches verschwinden
Der neue Tag beginnt
mit ihm beginnt
das neue Jahr
das wiederum den Reigen eröffnet
von einem neuen Jahrzehnt!
Rosa Sonnenaufgangslicht
und weißer Raureifschleier
scheinen ein Versprechen
zu verkünden
Ob wir es entschlüsseln?
Die nächsten Stunden
Tage Jahre
was werden sie uns bringen?
Lasst uns versuchen
gutes tun in Schönheit vollendet
unserer Welt einzufügen
Helga Thomas
1. Januar 2020Wir müssen heimatlos
werden damit
wir die Heimat
suchen und finden
in uns
die Heimat
die Spiegelbild ist
der wahren Heimat
dort haben auch
Liebe und Frieden
Heimat gefundenHelga Thomas
8.1.2020Sind Bäume nicht
aufrechte Spiegelbilder
von Lebensströmen
die im Verborgenen fliessen?
Wähle den Baum
der Bild ist für
dein augenblickliches Leben
Vielleicht verstehst du so
besser den Sinn
von Hindernissen
und Umwegen
Und noch eins…
Hast du bemerkt?
Der Fluss
gradlinig und zielgerichtet
hat viel Kraft aber
er musste die Schönheit opfern!Helga Thomas
8.1.2020
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Alle Sterne unserer Welt
am Himmel und auf Erden
als Stein Blüte Frucht und Schneekristall
sind Teil der göttlichen Schöpfung
Aus den Augen
des göttlichen Kindes
(und seinem Spiegelbild in den Kindern der Erde)
leuchten und strahlen sie
Folge ihrem Licht
Wie der Stern die Könige
führte so führen sie dich
ins eigene Innere
wo im Dunkel
das göttliche Kind wartet
… auf unsWas waren die Worte,
mit denen Ihr das Kind begrüßtet,
das Kind und seine Mutter?
Welche Wesen entschwebten
Eurem in Liebe sprechenden Mund?
Wenn ich Euch
das frage, lautlos,
und anderen
mit begeisterndem Feuer
davon erzähle,
welche Kinder werden geboren
aus dem Schoß meines Mundes?
Dürfen sie einst
die Schüler oder Gefährten
Eurer heiligen Kinder sein?Die Luft vereinigt in sich
das wärmende Feuer
als Licht,
das kühlende Wasser
als Feuchte.
Das Wort lebt in der Luft,
sein feuriges Erkennen
steigt als Licht empor,
erleuchtet den Raum.
Die Wogen des Fühlens
tropfen zur Erde,
münden dort
im Strome der Zeit.
Einander durchdringend
bilden sie den Stern,
der dich führt
auf dem Wege des Königs
zum Kind,
geboren durch dich
in dir.Schweigen kann heißen:
Hören
auf die Worte der Engel,
Schweigen kann heißen:
Warten
auf das Wort des Du.
Beide Wege des Schweigens
sind Wege des Königs,
der beim Kind
das Gefäß seiner Hände
öffnet
zum Streicheln
und,
um das Wort zu empfangen.Das Wort der Drei Könige
Was habt Ihr gesagt,
als ihr Euch gefunden,
was habt Ihr gefragt,
als der Stern verschwunden?
Was war Euer Wort,
als ihr den Raum betratet,
in dem sich
die Welt zu ändern begann?
Euer Wort,
es wirkt fort
durch alle Welt
bis ans Ende der Zeiten
und doch
ist es verstummt,
weil unsere Herzen
nicht hören.Der Schatten der drei Könige
Wo blieb Euer Schatten,
als ihr Euch beim Kinde verneigtet,
Eure Geschenke der Mutter zu Füßen legtet?
In was hat er sich gewandelt,
am Boden liegend,
vom Kinde fliehend,
zum Weg werdend
IHM
zum Dunkel der Menschen.
Er folgte Euch nicht,
als ihr wieder gingt,
er blieb
bei Mutter und Kind
und sang leise
das Lied vom Verzeihen.Einst
führte uns der Stern
und unsere Füße fanden
den Weg.
Heute,
suchen unsere Augen
den Stern.
Vielleicht
wird er nur
im Dunkel sichtbar?Dunkel
liegt über dem spurlosen Weg,
den Ihr einst gegangen.
Schweigen
erfüllt den Raum,
als Euer letztes Wort verklungen.
Aber Euer Stern
erhellt die Winternacht
und Sommers
blüht die Blume
über dem dunklen
schweigenden See.Der König
mit dem Kelch in der Hand
aus Gold, rot wie sein Gewand,
sprach fordernd zu mir:
Gib mir Dein Chaos,
ich nehme es auf
in meinen ordnenden Kelch
und bewahre es und bewahrend
ordnet es sich.
Dann geb ich es Dir zurück übers Jahr,
damit Du geben kannst,
allen
die Deiner Gabe bedürfen.Ich gehe
und folge
den Weisen,
folgend dem Weg weisenden Stern.
Die Töne
Eurer Taten
klingen im Glockenklang
uns entgegen.
Unsere Schritte
bilden den Rhythmus,
Gedanken
die Melodie.
Wer komponiert das Werk,
zu dem dein Herz singen soll?
fragte mich einer der Weisen.In der Mitte von Ende und Anfang
stiegen die Sterne nachts herab
und geleiteten Menschen,
die ihren Weg suchten.
Zum Neubeginn erblühen sie nun tags
und weisen den Suchenden
den Blick wieder nach oben.Und wenn wir sternenähnlich geworden sind
und wir dem neu geborenen Kinde leuchten,
werden unsere drei Könige kommen
und die Schätze aus unserer Vergangenheit uns geben
und dann wird ein vierter bei ihnen sein.Hoffnung
Ich bin die Mutter, die das Kind gebiert
und das Kind, das geboren wird.
Ich bin der Stern, der leuchtet
und die drei Könige, die ihm folgen,
und ich bin der vierte König,
der Mensch, der alles dieses ist.Der Ruf erging an Euch,
aufzubrechen.
Ihr folgtet ihm und dem Stern
wie die anderen
dem Lichte des Engels folgten.
Nacht –
dunkel und kalt,
doch Euch
schützt und wärmt und führt
das Licht der Himmel.
Ich aber sitze hier,
bei meinem eigenen winzigen Licht
und warte,
bis er kommt,
einzukehren
in meinen
engen Raum.Auch ich war einst ein König
wie Ihr,
ich aber scheute die Mühe des Aufbruchs.
Auch ich war einst ein Hirte,
furchtsam und dumm wie diese,
ich aber konnte nicht glauben.
So blieb ich immer zurück
mal traurig, mal zornig,
Einer muss bleiben.
Denn wer empfängt sonst
das Kind,
bereitet ihm Wohnung
und Nahrung den Eltern?Wo sind sie,
die drei Weisen,
die einst
am Tage der Tage
den Stern sahen und ihm folgten.
Wo sind sie heute?
Wer folgt heute dem Stern?
Wem leuchtet der Stern heut?
Wann wird der Sucher
erleuchtet,
wann der Erleuchtete
zum König?
Wenn er sich auf den Weg gemacht hat,
dem Stern seiner Erleuchtung zu folgen!
Ich bin auf dem Weg,
ich bin aufgebrochen
in finsterer Nacht,
denn ich weiß,
der Stern leuchtet,
auch wenn ich ihn nicht seh.Gute Gedanken – liebevolles Tun,
harmonisch übereinstimmend,
rhythmisch wiederholt,
sind die Melodie,
die aus den Schritten
der drei Menschen ertönt,
die seit Geburt des Kindes
unterwegs sind,
sich Nacht für Nacht
ihm langsam, aber stetig nähern. -
Taufspruch
(26.10.2019)
Lasst uns auch sie wahrnehmen
die Sprachlosen ohne würdige Fürsprecher
Kinder auf der Flucht
vor Krieg und Zerstörung
Straßenkinder, Kinder in Not
Lasst uns sie wahrnehmen
und für sie würdige Fürsprecher sein֎֎֎
-
1.
Einem Pik gleicht dieser Baum
einsam am dunklen Übergang,
im Abendschimmer steht der Übergang
Dorthin, dorthin wolltest du gehen
zum Nachtlager verbrüdert
mit erdiger Mutter
verbrüdert
mit Windspiel und RehDie narbige Fläche
hat den Frieden geteilt
am gradlinigen Wandel
zur tiefrauschenden Macht
Alles lag offen
alles lag bar
unter den besten SternenkindernAls die Schatten vergingen
und erste Gesänge uns riefen
betrat ich die herrliche Pracht
Denn immerzu konnte sie trösten,
denn keiner wurde verstoßen
den Kummer umgab2.
Fremd blieb mir jener
der dies bezeugte
doch nicht bestaunte
wie der neue Tag trotzig hervorbrach
wie er die Schöpfung zornig bedrängte
immerzu um Anerkennung ringend
der Durchtränkte,
im einstimmigen Neigen
der belaubten Phalanx
im ungewohnten Grollen
dumpf und unersättlich
jähzorniger Elemente -
Weihnachten 2019
Als ich ein Kind zu Weihnacht war
Von sechs bis sieben Jahren
Wäscht Mutter mir mein schwarzes Haar
Sagt, du wirst heut erfahrenKalt in der Scheune schreit ein Kind
In Bethlehem geboren
Dir Menschensorgen in den Wind
Laut, einsam und verloren.Sie legte es zu mir ins Bett
Es schlief, ich war am träumen
Wir träumten beide im Duett
von Weihnachtslichterbäumen.Von der Mutter, die so lieb
Für uns beide sorgte.
Die auch in Träumen bei uns blieb
Uns ihre Morgen borgte.Heute, jetzt, im Leben spät
In den Rentnerjahren
Träume ich, was sie gesät
Was ihre Träume waren.Ich trinke aus dem Lebenswein
Bin traurig um die Lieben
Und danke Gott, sie sind doch mein
Gedanken mir geblieben.So wasche ich mein graues Haar
Und färbe meine Seele.
Das Kind singt mir Halleluja
Wenn ich von ihm erzähle. -
Was ist Prägen?
E. Grundmann 23.01.2019Zuerst frage ich gern die Etymologie, denn ἔτυμος (ἔτυμον, ἐτύμη) heisst wahr, echt, wirklich – und bedeutet hier der wahre Wortsinn.
Prägen geht auf das Alt- und Mittelhochdeutsche zurück und bedeutet pressen, einpressen, vielleicht auch in die Oberfläche einbrechen. Wenn mich also etwas prägt, dann wirkt etwas von aussen auf mich ein und hinterlässt einen Eindruck, einen bleibenden nämlich, wenn von Prägung die Rede sein soll. Da fällt jedem sofort ein, dass ihn Eltern, Familie, Lehrer geprägt haben, dann natürlich auch beeindruckende Erlebnisse. Das ist uns geläufig und bedarf keiner weiteren Ausführung. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass alles und jedes jedes und alles prägt, id est aufeinander Einfluss nimmt, und, wenn man es auf die Spitze treiben will, in einem kosmischen Zusammenhang steht. In den letzten Feinheiten ist das dann so gering, dass zwar nicht mehr von wesentlicher Prägung gesprochen kann – aber es ist vorhanden! Auch in der unbelebten Natur finden Prägungen statt, etwa wenn geologische Schichten aufeinanderpressen oder auch nur Molekül- und Kristallstrukturen sich aneinanderlagern.
Alles, was ist, wechselwirkt, um so mehr, je näher die Beteiligten und je stärker der Impuls. Es gibt keine vollständige Inertia, Trägheit, insofern, als auch der Schwächste mitwirkt, nämlich im Passivum, indem er sich beeinflussen lässt.
Auch wir prägen uns hier gegenseitig in unserem schönen BDSÄ, selbst wenn wir das typische Prägealter doch schon mehr oder weniger überschritten haben. Aber so lange wir ein Sensorium besitzen und einen Hauptrechner, der das alles verarbeiten kann, spielen die Eindrücke hin und her.
Die Überlegung gibt Anlass, über die Verantwortung nachzudenken, die mit einem solchen Einflussgespinst einhergeht. Wir als Sprachschöpfer spüren die Prägungen, welche die öffentliche Sprachkultur auf die Völker ausübt. Wir sehen den Zusammenhang von Verrohung der Sprache und Verfall der Sitten bis hin zur Straftat. Wir sehen die Verführbarkeit der Massen. Victor KLEMPERER hat in seiner LTI[1] bezeugt, wie die Nazi-Propaganda sogar bei ihm, dem Opfer und Gegner der Nazis, in die Oberfläche einbrach und zu prägen versuchte. Ja, es gibt sie, die Prägung wider Willen, die Prägung mit Gewalt, mit List, mit Überredung: Wenn teuflische Ideologien Köpfe verführen, selbst hochgebildete, wenn katastrophale Kindheiten Seelen verbiegen.
Achten wir wachsam auf das, was uns prägen will. Hinterlassen wir selbst möglichst einen guten Eindruck. Die Naturschützer sagen: Leave nothing but your footprints. Ich erweitere: Leave nothing but good footprints in history! Freunde, prägt euch das ein!
Prägen 1. Etymologie
1.1. KLUGE < 9. Jh mhd præch(en), bræchen, ahd brähhen – vergleichbar ae abracian einpressen, ostfr. prakken pressen. Verwandtschaft zu brechen besser offen lassen – wictionary: Belege fehlen.
1.2. WAHRIG < ahd prahhen, brahhen «brechen machen, gebrochene Arbeit hervorbringen» < germ *brahhjan -> brechen
1.3. Wiktionary mhd bræchen, præchen „einpressen, abbilden“ < ahd giprāhhan, prāhhan „indem die Oberfläche eingebrochen wird, etwas einpressen, einritzen“
[1] Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam jun., 1978
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Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Bad Herrenalb
Lesung zum Thema „Freie Themen“, Moderation: Eberhard Grundmann
Samstag 22. Juni 2019, 20 h
Wir erinnern uns an den Schreck, als am 15. April dieses Jahres die Nachricht um die Welt raste, dass eine der berühmtestes Kathedralen der Welt, ein Wahrzeichen von Paris, ein Nationaldenkmal religiöser Baukunst und Touristenmagnet für etwa 13 Millionen Besucher jährlich und ein UNESCO-Weltkulturerbe lichterloh brannte, der Holzdachstuhl einbrach und einer der Spitztürme kurz nach Beginn des Brandes einstürzte. Dieses Feuer riss eine große und brennende Wunde in das Alltagsleben der Pariser und machte die kulturbewussten Menschen weltweit tief betroffen. Die Beileidsbekundungen aus aller Welt bestätigten, dass dieses Bauwerk ein Symbol völkerverbindender Kultur darstellt.
Noch während der Löscharbeiten erklärte Präsident Macron, die Kirche werde wieder aufgebaut, eine groß angelegte Sammlung solle das Geld zusammentragen. Bereits nach 48 Stunden waren 700 Millionen Euro beisammen. Wenn in dieser kurzen Zeit schon so viel Geld bereitsteht, wird über die nächsten Jahre eine sehr große Summe zusammenkommen, die eine Rekonstruktion von Notre Dame ermöglicht. Zum Vergleich: Der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche kostete 183 Mio. Euro. Allein diese Geschichte zeigt, wie sehr Kunstwerke, die aus dem Glauben an einen Gott entstanden sind, die Wertschätzung von Gläubigen prägen.
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Und ich habe mir überlegt, wie ich selbst von religiösen Werken beeinflusst wurde.
Ich bin zwar evangelisch konfirmiert, aber später aus Zorn über die Heuchelei in den christlichen Kirchen und aus tiefen Zweifeln an der Existenz eines Gottes aus der Kirche ausgetreten. Nichts in dem Apostolischen Glaubensbekenntnis glaube ich. Meine Wut über die vielfältigen Verbrechen innerhalb der katholischen Kirche mit deren Billigung und Tarnung hält an. Der Widerspruch zwischen dem enormen ideellen, spirituellen und finanziellen Wert der Kunstwerke und der angeblich unantastbaren Integrität und moralisch-ethischen Kompetenz, die von der katholischen Kirche propagiert werden, zeigt die Scheinheiligkeit offen.
Unabhängig davon fühle ich mich intensiv angesprochen von den großartigen religiösen Kunstwerken, die aus tiefer Gläubigkeit entstanden sind. Aber ich glaube nicht, dass diese Kunstwerke ein Beweis für die Existenz eines Gottes sind, sondern bestenfalls Versuche darstellen, dem Ideal einer Wunschvorstellung Ausdruck zu verleihen.
Als meine Großmutter mich anlässlich meiner Konfirmation zu einer zweiwöchigen Reise nach Florenz und Rom einlud, kannte ich schon die Grundzüge der römischen Geschichte, die Grundlagen von Latein und einige sehr wichtige klassische Musikwerke von Bach wie das Weihnachtsoratorium, die Matthäus-Passion und Händels Messias.
Ich werde nie vergessen, wie mir vor den Uffizien in Florenz Michelangelos David-Statue zeigte, dass Anmut und Schönheit kein Gegensatz zu Wucht sein müssen. Als ich dann am Ostersonntag 1961 auf dem Petersplatz in der Menschmenge stand und anschließend durch den Petersdom ging, war ich nicht nur von der Andacht vieler Menschen, sondern besonders von der grandiosen Architektur der Kathedrale und ihrer Kunstwerke tief berührt. Ich stand lange vor der Pieta, die Michelangelo aus einem perfekten Marmorblock gemeiselt und 1499 als 25-Jähriger fertiggestellt hatte. Noch heute kann ich mich erinnern, wie ich von der Schönheit der Statue und der Trauer der Maria betroffen war. Allein der monumentale Faltenwurf in Marias Kleid und ihr verklärtes Gesicht sind unübertreffbare Meisterstücke für sich. Ähnlich erging es mir, als ich in der Sixtinischen Kapelle das Deckengemälde auf mich wirken ließ. Viele Jahre später fuhr ich extra nach Mailand, um dort im Dom die zweite Pieta Michelangelos anzuschauen, die auch sein letztes Werk war und unvollendet blieb.
Wenn ich erklären soll, was zeitlose Schönheit für mich bedeutet, fallen mir sofort zwei Kunstwerke ein: diese Römische Pieta und eine singuläre Aufnahme von Arturo Benedetti Michelangeli von Galuppis 5. Klaviersonate: eine absolute Harmonie von Form, Material und spiritueller Aussage, eine nicht steigerbare Perfektion, eine absolut reine Darstellung.
Bewegend ist für mich, mit welch kreativer Kraft, Fantasie und physischer Stärke Menschen ausgestattet werden, wenn sie mit tiefer Gläubigkeit Kunst planen und diese meisterlich, unverkennbar persönlich und zeitlos schaffen – für ihren Gott, dem sie dienen und sich und ihre Gaben als Kunstwerk zurückschenken.
Über wie vielen Kunstwerken steht das S.D.G.! Das Soli deo gloria! Johann Sebastian Bach hat es oft benutzt, und Anton Bruckner schrieb demütig und wie ein kleines Kind über seine ultimative, seine Neunte Sinfonie „Dem lieben Gott“.
Die Welt-Liste der malerischen Kunstwerke mit religiösen Themen ist unendlich lang.
Nur ein paar persönliche Beispiele: Schon mehrfach bin ich in Colmar vor dem Isenheimer Altar gestanden, und im April habe ich wieder die Stuppacher Madonna bei Bad Mergentheim besucht, diese wunderbaren Werke von Matthias Grünewald.
In der Kathedrale von Liverpool habe ich als Schüler einen Konzertabend von Simon Preston an der weltgrößten Orgel erlebt.
Ich sehe mich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin vor dem großen blauen modernen Glasfenster, das nach dem Wiederaufbau von dem französischen Glaskünstler Gabriel Loire geschaffen wurde und heute als Gegenstück zu den noch sichtbaren Mauerschäden an die Zerstörung im 2. Weltkrieg dient. Ich erinnere mich an das Freiburger und das Ulmer Münster, an den Hamburger Michel und an den Kölner Dom, der nach dem Vorbild der Notre Dame entworfen wurde.
Die vielen Konzerte in der schlichten Kirche von Saanen im Berner Oberland, die ich als Student beim Yehudi-Menuhin-Festival über mehrere Jahre besuchen durfte, sind ein prägender Bestandteil meiner kulturellen Erfahrungen.
Ich erinnere mich an zwei Stunden in der Westminster Abbey, und für mich als Musikliebhaber war es ein besonderes Erlebnis, die Kirche St. Martin-in-the–Fields am Trafalgar Square in London zu besuchen, aus der das weltberühmte Orchester Academy of St. Martin in the Fields stammt, das Neville Marriner gegründet hatte. –
Obwohl Johann Sebastian Bach nicht katholisch war, schuf er nach seinem Kosmos an Passionen, Oratorien und Kantaten noch seine H-Moll-Messe, für mich eines der größten Musikwerke der Geschichte. Und Mozart beendete sein Leben mit dem Requiem. Auch Verdi komponierte mit seiner Missa da Requiem ein zeitloses und erschütterndes Dokument tiefster Gläubigkeit. Die Schöpfung und Die Vier Jahreszeiten von Haydn, die Requien von Pergolesi, Dvorak und Fauré gehören für mich zu eindrucksvollen Werken der religiösen Kunst. Am Ostermontag 1969 erlebte ich in Wien Beethovens Missa solemnis mit den Wiener Philharmonikern unter Leonard Bernstein. Und das Deutsche Requiem von Brahms zeigt, wie gut deutsche Texte zu religiösen Kompositionen passen.
Ich erinnere mich an die vier Passionen, die Hellmut Rilling in Auftrag gab zu seinem Bach Musikfest 2000 in Stuttgart: Tan Dun komponierte seine Water Passion nach Texten von Matthäus und leitete auch die Uraufführung. Eine Markus-Passion wurde von Osvaldo Golijov komponiert, Sofia Gubaidulina schuf eine Johannes-Passion, und Wolfgang Rihm steuerte seine Messe Deus passus nach Texten von Lukas bei. Ich bin glücklich, dass ich die Uraufführungen besuchen konnte.
Denken wir auch an die Schreibkunst, die seit Menschgedenken den religiösen und spirituellen Gedanken Form gab und den verschiedenen Glaubens- und Machtinteressen Ausdruck verlieh. Die Bibel gehört hierher und Dantes Comedia divina, die Thora und der Koran. Und machen wir uns bewusst, wie viele Menschen Gebete, religiöse und spirituelle Texte, Romane und Gedichte verfasst und künstlerisch gestaltet haben. Die Bibliotheken und Museen weltweit sind voll davon!
Auch die Baumeister aller Jahrhunderte wollten ihrem Gott Denkmäler und Kirchen aller Art und in allen Größen schaffen. Jedes Land, das religiös geprägt ist, hat seine berühmten Kirchen. Ich erinnere mich noch an meinen Besuch in der Al Aqsa Moschee in Jerusalem und in der Hagia Sofia in Istanbul. Der Asakusa-Schrein in Tokio, die Pyramiden von Gize und die Pyramiden der Azteken und Maja, und Tempelanlagen wie in Angkor Wat sind ebenso zeitlose Werke höchster Baukultur, die nur durch religiöse Kraft möglich waren und den Menschen alle Opfer, oft auch das Leben, abgefordert haben.
In diese Reihe der unverzichtbaren Kulturdenkmäler gehört auch Notre Dame. Ich denke, es ist nur folgerichtig, dass sie wieder aufgebaut wird. Auch die Dresdener Frauenkirche wurde mit vereinten Kräften neu geschaffen und ist heute wieder ein Haus Gottes, in dem ihm mit Musik und Sprache, mit Stille und Glauben gedient und ein mahnendes Zeichen für Frieden und Versöhnung gesetzt wird.
Vielleicht gibt es diesen Gott ja. Wenn es ihn nicht gibt, haben sich die Menschen mit der Vorstellung, Gott existiere, etwas geschaffen, das ihnen in und aus tiefster Verzweiflung helfen und schöpferische Kraft ohne Ende mobilisieren kann.
Eine kleine Geschichte will ich als Beispiel anfügen.
Drei Maurer, die an derselben Mauer arbeiteten, wurden gefragt, was sie da gerade tun.
Der erste sagte: „Ich verdiene meinen Tagelohn.“
Der zweite antwortete: „Ich verdiene Geld, um meine Familie ernähren zu können.“
Der dritte strahlte: „Ich helfe beim Bau einer Kathedrale!“