Schlagwort: Sprache

  • Ich meine
    dass ich sage
    was ich meine
    aber ich weiß
    das ich nicht immer
    meine
    was ich sage
    und auch nicht sage
    was ich meine
    Manchmal erkenne
    ich erst wenn ich etwas sage
    was ich wirklich meine…
    In der Kluft zwischen
    meinen und sagen
    erscheint mein Spiegelbild
    ich erkenne mich
    wie sich Narziss erkannte
    – wenn er sich denn wirklich erkannte –
    beim Blick in das Wasser
    Ich hoffe nur
    dass sich das was ich sage
    aber nicht meine
    nicht zur echten Lüge entwickelt

    Das ist gar nicht so einfach, habe ich inzwischen durch die Duplizität eines Vorfalles erkannt. Ich muss dazu etwas ausholen. Also: ich nehme an zwei Arbeitsgruppen teil, die sich regelmäßig treffen. Inhalt und Art der Arbeit ist fast identisch, die TeilnehmerInnen sind es nicht. Auf eine Gruppe freue ich mich schon im Voraus, was mich nicht hindert, fernzubleiben, wenn ich zu müde oder anderweitig beschäftigt bin. Die andere Gruppe: reine Pflichterfüllung, auch wenn ich einzelne Teilnehmer gerne sehe und hinterher immer etwas „herauskam“. Ich weiß nicht, warum das so ist und anscheinend habe ich deshalb ein schlechtes Gewissen. Einmal wurde es schlussendlich ganz stark, als nämlich das Treffen abgesagt wurde. Ich… freute mich! Wahrscheinlich, um das schlechte Gewissen zu kompensieren, sagte ich: “Oh je, wie schade!“ Ich dachte, ich höre nicht richtig! Der Ton, in dem ich es sagte, war pure Heuchelei! Ich habe nicht nur nicht gesagt, was ich meine, sondern… ich habe gelogen. Lügen finde ich schlimm! Ich muss besser wahrnehmen, was ich eigentlich meine, wenn ich etwas sage! Ich benutzte meine gerne-bei-ihr-sein-Gruppe als Übungsfeld. Auch hier passierte es, dass ein Treffen verschoben wurde. Was sagte ich? „Toll, dass ihr als neuen Termin einen ausgesucht habt, wo ich schon besetzt bin. So habe ich einen Abend frei!“ Alle verstanden es nicht nur, sondern waren im Gegenteil froh, dass mein Bedauern nicht so groß war, dass wir nun neu auf Terminsuche gehen mussten. Und sie meinten wirklich, was sie sagten!

     

    Helga Thomas

  • Wenn das Gestern
    und der Tag davor
    noch zu meinem Jetzt gehören
    wie auch das Morgen
    und der Tag danach
    dann ist das meine Gegenwart

    Wenn ich mich an vorgestern erinnere
    und wieder das Jetzt von dort
    betrachte
    und die Zukunft von damals
    die inzwischen schon vergangen ist
    dann spüre ich
    den Hauch der Ewigkeit
    und im gedanklichen Tun
    kann mein Engel
    sich mir nahen

    ***

    Ein Tropfen
    auf dem Boden des Zimmers
    ein Tropfen aus Wasser
    kein Tautropfen
    kein Regentropfen
    ein Tropfen vom Giessen der Pflanzen
    oder…

    Sichtbar gewordene Träne
    eines unsichtbaren Wesens?

    ***

    Gedichte sind …

    Gedichte –
    gewandeltes Leid

    Erkenntnisfrucht
    nach langer Suche

    Antwort der Engel
    auf die ungestellte Frage

    Botschaft aus fremden Welten
    Auftrag
    Von wem?

    Ruf deines Du
    oder der Ruf nach ihm?

    Strandgut am Morgen
    aus dem Nachtmeer

     

     

  • Die Münze auf dem Weg

    Heute Morgen
    auf dem gewohnten Weg
    (nur das Ziel in der Ferne
    war nicht alltäglich)
    gingen meine Füße von selbst
    wussten wohin
    meine Augen halfen
    die Hindernisse im Voraus
    zu beseitigen

    Ich blickte innerlich
    weder voraus
    noch zurück
    ich  …  entwirrte Gedankenfäden
    – habe ich ein inneres Katzenwesen
    das mit den geordneten Gedankensträngen
    spielte? –

    Viele Fäden
    hatten ihren Ursprung im Wesentlichen
    wie zum Beispiel:
    was ist das Böse?
    Kann ich es überwinden?
    Gemeinsam mit anderen?
    Können wir es angstfrei betrachten?
    Wo liegt der Sinn?
    Ist Wandlung möglich?
    Wie?

    Noch konnte aus den Gedankenfäden
    kein brauchbares Gewebe entstehen
    ( brauchbar
    nichts Künstlerisches)
    da fragte ich mich
    – oder wer war es?–
    was willst du erreichen?
    Ich möchte
    Mut machen
    helfen Ängste zu überwinden
    ohne irgendwas
    zu verniedlichen
    ohne der Illusion
    einer heilen Welt zu verfallen
    Da
    mein Auge sah ein kleines Blinken
    der Fuß stoppte
    eine Münze
    verloren?
    Achtlos fallen gelassen?

    Der Wert ist gering
    und doch…
    Die fünf Eichenblätter
    die beiden Eicheln …
    Bevor Zweifel
    mein Wollen stören konnten
    bin ich ermutigt worden
    Welchen Wert
    kann eine kleine
    Ein-Cent Münze besitzen!

    Helga Thomas

    11.3.2017

  •  

    Jaleh Esfahani

    Dichterin der Zuversicht und Hoffnung

     

    Am 29.12.2011 wurde in Zusammenarbeit mit Herrn Andreas Schmidt im Rahmen der Schriftenreihe „Bilder gegen den Krieg. Momentaufnahmen aus dem Iran“ bei der FriedensTreiberAgentur (FTA) ein Text über die iranische Dichterin Jaleh Esfahani veröffentlicht. Bei der vorliegenden Schrift handelt es sich um eine verkürzte Version.

    Rotenburg an der Fulda, den 6.1.2017

    Afsane Bahar

    ۞۞۞

    Die iranische Dichterin Etel Soltani, die ab ihrem 13. Lebensjahr unter dem Pseudonym Jaleh Gedichte verfasste und auf dem ersten Kongress der iranischen Schriftsteller im Jahre 1946 in Teheran als Jaleh Esfahani vorgestellt wurde (1), gehörte zu den Menschen, die trotz vielfältiger Schicksalsschläge und der augenscheinlichen Macht der Gegner einer gerechten Welt trotzend aus gesellschaftlicher Verantwortung den Sinn für Ästhetik und Zuversicht schärften. Zur Anfertigung des vorliegenden Textes dienten unter anderem ihre Autobiographie „Schatten der Jahre“, die 1999 in London fertig gestellt und im Jahr 2000 in Deutschland veröffentlicht wurde, sowie ihre Gedichtsammlung „Abbildung der Welt“ aus dem Jahre 1981 (2,3).

    ۞۞۞

    Jaleh wird in den 1920-er Jahren in Isfahan in einer wohlhabenden Familie geboren. Jalehs Mutter hat nach dem tragischen Tod ihres ersten Ehemannes wieder geheiratet und betreut neben ihren eigenen Kindern zusätzlich ihre verwaisten Geschwister. Ihr zweiter Ehemann, ein reicher Großgrundbesitzer, verbringt die meiste Zeit auf dem Lande, während die Familie in Isfahan wohnt. Jaleh beschreibt ihre Mutter als eine liebenswürdige, sehr beschäftigte, traurig gestimmte Frau mit Sinn für gesellschaftliche Gerechtigkeit, die oft keine ausreichende Zeit für ihre Kinder findet.

    In der Nachbarschaft lebt eine alleinstehende, arme Frau, die ihren Lebensunterhalt unter anderem durch Rezitieren von Koranversen auf privaten Trauerveranstaltungen und während religiöser Zeremonien bestreitet. Während einer dieser Veranstaltungen wird Jaleh von der lieblichen Stimme dieser Frau so angezogen, dass sie einige Koranverse auswendig lernt. Diese alleinstehende Frau betreut tagsüber stundenweise die Kinder berufstätiger Eltern, die hauptsächlich aus den unteren Schichten stammen und bringt ihnen mündlich Koranverse bei. Jalehs Familie beschließt, sie vormittags zu dieser Frau zu schicken. So wird Jaleh Zeuge gesellschaftlicher Klüfte zwischen den Kindern und lernt die Verachtung, Ungerechtigkeiten und Feindseligkeiten kennen, denen ihre Betreuerin ausgesetzt ist.

    Zusammen mit ihren Altersgenossen aus der Verwandtschaft und Nachbarschaft wächst Jaleh als spielerisches, neugieriges Kind auf und entdeckt früh ihr Interesse und ihre Liebe für Tiere und Pflanzen. Diese Begeisterung für die Natur wird sie lebenslang begleiten.

    Als ihre Mutter Jaleh für die Grundschule anmeldet, kommt es zu ausgeprägten Streitigkeiten mit ihrem Vater. Gegen den Widerstand ihres Vaters besucht Jaleh die Schule. Unterstützt und gefördert durch ihren Großvater mütterlicherseits schließt sie die zweite und dritte Klasse innerhalb eines Schuljahres ab. Es handelt sich um eine moderne Schule (Grundschule und Gymnasium), die von einer Christin geleitet wird. Die Schulleiterin stammt von einer englischen Mutter und einem im Iran lebenden Armenier ab. Sie versucht den Unterricht sowie den Umgang mit den Schülerinnen und deren Familienangehörigen nach neuen pädagogischen Methoden zu gestalten. Die Schule genießt einen sehr guten Ruf, so dass Kinder reicher Familien aus anderen Landesteilen nach Isfahan geschickt werden, um in den Genuss der neuen Lehrmethoden zu kommen.

    Einen besonderen Einfluss auf Jaleh übt eine ihrer iranischen Lehrerinnen aus, die sich für Astronomie, Erdkunde und Biologie interessiert und versucht, ihre Zöglinge anstelle von Aberglauben mit Hilfe von Wissen und logischem Denken zu erziehen. In Zusammenarbeit mit der Schulleiterin macht sie Jaleh und ihre Klassenkameradinnen durch karitative Unternehmungen und Krankenbesuche mit dem Leben außerhalb der Wände der wohlbehüteten Schule vertraut. So entwickelt sich bei Jaleh das Mitgefühl für andere Menschen und daraus folgend ein tief verwurzelter Sinn für gesellschaftliche Gerechtigkeit, der ihr Leben nachhaltig verändert.

    Ein weiteres beeindruckendes Ereignis ihrer Kindheit ist die bittere Tatsache, dass ihre Schwester aufgrund mangelnder medizinischer Informationen und Möglichkeiten durch eine banale Erkrankung ihr Augenlicht verliert. Die ungebrochene Lebenslust und der Sinn für die Schönheit ihrer Schwester trotz dieses schweren Schicksalsschlages ist eine bleibende Lehre für Jaleh, die später selbst zu einem Fanal der Hoffnung und Zuversicht unter einschränkenden, zermürbenden Lebensumständen wird.

    Durch Unterstützung und dank des heftigen Widerstandes ihrer Mutter kann sie als Grundschulkind einer traditionellen Ehe mit einem ihrer Verwandten väterlicherseits entgehen. Im Rahmen dieser Streitigkeiten und Auseinandersetzungen wird ihr ein Personalausweis ausgestellt, der bewusst als Geburtsjahr 1921 ohne Angabe eines Geburtstages ausweist, damit sie formal älter erscheint und heiratsfähig wirkt. Aus Sympathie zu einer Krankenschwester, die in einem englischen Krankenhaus arbeitet, wählte ihr Vater für Jaleh den Vornamen Etel. Etel Soltani und ihre Mutter bevorzugen jedoch den persischen Namen Mastane (‚berauscht‘; ‚betrunken‘; im weitesten Sinne auch ‚entzückt‘ bzw. ‚bezaubert‘). So nennt sich Jaleh auch in ihrer Autobiografie (4).

    Im Sommer lebt Jaleh zeitweise auf dem Lande. Auch hier wird sie Zeuge der zum Himmel schreienden gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und Unterschiede. Unter anderem erfährt sie Einzelschicksale der Frauen aus armen Familien in ländlichen Gebieten.

    Neben dem Schulunterricht lernt Jaleh zusammen mit einer ihrer Freundinnen in Isfahan das Geigespiel. Zweimal pro Woche fahren die beiden Freundinnen mit der Kutsche in den armenischen Stadtteil von Isfahan, Jolfa, um dort von einer französisch-armenischen Lehrerin im Tanzen unterrichtet zu werden. Ab dem 13. Lebensjahr verfasst Jaleh Gedichte und Aufsätze, die durch gesellschaftskritische, die Natur verehrende, tiefgründige Gedanken ausgezeichnet sind. Gleichzeitig weisen diese Texte auf ihr wiederkehrendes Gefühl der Einsamkeit, begleitet von tiefer Trauer, hin.

    Nach Abschluss des Gymnasiums arbeitet Jaleh gegen den Widerstand ihres Vaters, die Unterstützung ihrer Mutter genießend, als eine der ersten Frauen in Isfahan bei der Nationalbank (banke melli). In dieser Zeit besucht sie die Stadt Shiraz, wo ein früheres Gedicht von ihr über die mangelhafte Pflege der altpersischen Residenzstadt Persepolis in einer örtlichen Zeitschrift veröffentlicht wird. Diese Veröffentlichung verschafft ihr den Auftritt in einem Shirazer Dichter- und Schriftstellerverein. In den Folgejahren erscheinen ihre Gedichte in weiteren Zeitschriften sowohl in Isfahan als auch in Teheran.

    Am 25. August 1941 marschieren die Streitkräfte der Alliierten zur Sicherung der iranischen Ölfelder und Einrichtung einer Nachschublinie für die Sowjetunion in den Iran ein. Der Gründer der Pahlavi-Dynastie muss abdanken und sein Sohn, Mohammad Reza Shah, wird zum neuen Herrscher auf dem Pfauenthron erkoren. Die Besatzungszeit stellt eine bedrückende Phase für die iranische Bevölkerung dar und ist von Unsicherheit, Unruhen und Hungersnöten begleitet. Jalehs Gedichte sind in dieser Zeit patriotisch geprägt. In diesen Jahren wird sie von einem schweren Schicksalsschlag heimgesucht, ihre Mutter stirbt.

    1943 lernt sie in einem Englischkurs in Isfahan ihren späteren Ehemann, einen Luftwaffenangehörigen, kennen. Nach ihrer Hochzeit wird ihr Mann nach Teheran versetzt, so dass Jaleh Isfahan verlässt. In Teheran bekommt sie eine Anstellung bei der Nationalbank. 1944 erscheint ihr Gedichtband „Die wilden Blumen“. Der Aufenthalt in Teheran ermöglicht ihr die Ausweitung ihrer literarischen Tätigkeiten und den Ausbau ihrer Verbindungen mit iranischen Dichtern, Journalisten und Schriftstellern. So lernt sie Größen der iranischen Dichtung wie Mohammad Taqi Bahar und Nima (Ali Esfandiari) kennen und kann von ihrem reichen Erfahrungsschatz profitieren. Vor allem die Bekanntschaft mit Nima beindruckt und beeinflusst ihr Schaffen sehr.

    Der II. Weltkrieg, das Abdanken des großen Diktators, Reza Shah Pahlavi, und die Anwesenheit ausländischer Truppen verändern die gesellschaftspolitischen Gegebenheiten. Vorübergehend entstehen begrenzte Möglichkeiten zur Bildung politischer Vereine und Parteien. In dieser Zeit wird ihr Ehemann als Mitglied der Tudeh-Partei Irans verhaftet und zusammen mit einigen anderen Armeeangehörigen nach Kerman (über 1000 km von Teheran entfernt) abgeführt.

    Parallel zu ihrer Tätigkeit bei der Nationalbank nimmt Jaleh ihr Studium an der Fakultät für Literatur der Teheraner Universität auf. Außerdem lernt sie bei ihrem Schwiegervater Arabisch. Im Juni 1946 findet der erste landesweite Kongress der iranischen Schriftsteller in den Räumen des Vereins für kulturelle Beziehungen zwischen der Sowjetunion und dem Iran in Teheran in Anwesenheit ausländischer Politiker und Autoren statt. Jaleh erhält die Möglichkeit, eines ihrer Gedichte auf diesem Kongress vorzutragen.

    1946 wird ihr Mann aus der Haft entlassen und kehrt nach Teheran zurück. Ihr erneutes gemeinsames Leben in Teheran dauert allerdings weniger als zwei Wochen. In dem iranischen Landesteil Azerbaijan wird im November 1945 – begünstigt durch die Anwesenheit der Sowjettruppen und auch als Folge der ethnischen Benachteiligungen unter  Reza Shah Pahlavi – von der Demokratischen Partei Azerbaijans eine autonome Volksrepublik ausgerufen, was dann von dem ersten Nationalkongress im Dezember 1945 bekräftigt wird. Die Organisation der Tudeh-Partei Irans in Azerbaijan hat sich bereits aufgelöst und der Demokratischen Partei Azerbaijans angeschlossen. Jalehs Ehemann und einige seiner Parteigenossen eilen aus Teheran nach Azerbaijan, um die ausgerufene Volksrepublik zu unterstützen. Trotz ihrer politischen Bedenken fährt später Jaleh zusammen mit ihrer Schwiegermutter ebenfalls nach Täbris in der Hoffnung, dort leben und studieren zu können, wobei sie zu diesem Zeitpunkt die Landessprache, Azari, noch nicht beherrscht. Der Aufenthalt in Täbris wird allerdings bald abrupt abgebrochen, da infolge politischer Verhandlungen die Sowjettruppen den Iran verlassen und die iranische Zentralregierung daraufhin die Kontrolle über den Landesteil Azerbaijan wiedererlangt. Im Dezember 1946 verlassen Jaleh und ihr Mann zusammen mit einer Vielzahl ihrer Schicksalsgenossen in einer Eilaktion den Iran; ihr Leben im Exil in der Sowjetunion nimmt seinen Lauf. In den folgenden Jahren entflammen heftige Diskussionen über die Gründe der Niederlage im Iran und die Bestimmung des weiteren politischen Weges der Partei mitten in der Stalin-Ära mit all den Verhaftungen, Vertreibungen und Hinrichtungen.

    In Baku lernt Jaleh die Sprache Azari und studiert Literaturwissenschaften. Im Februar 1949 wird ihr erster Sohn geboren. Tausende Verse übersetzt sie aus dem Azari ins Persische. Ihre sozialkritischen Gedichte verschaffen ihr Ruhm, sie ist ein angesehener Gast auf den Literaturkongressen in Moskau, Dushanbe und Baku (Jahre später auch in Kabul und Prag). 1951 erleidet sie eine infektiöse Hepatitis, deren Folgen sie bis zum Lebensende begleiten und sie immer wieder in ihrem Alltag und ihrer schöpferischen Arbeit stark beeinträchtigen. Im März 1953 bringt sie ihren zweiten Sohn zur Welt. Trotz dieser Ereignisse und Hindernisse kann Jaleh ihr Studium mit einer Diplomarbeit über das Werk „Khosro und Shirin“ des iranischen Dichters Nezami Ganjavi beenden.

    Nach sieben Jahren Aufenthalt in Baku siedelt sie nach Moskau über und promoviert in persischer Literatur, wofür sie auch Russisch lernen muss. Ihre Dissertation schreibt sie über das Leben und Werk des renommierten iranischen Dichters und Gelehrtern Mohammad Taqi Bahar. Trotz dieser Erfolge sind die Belastungen im Alltag und die Behinderungen durch die wiederholten Krankenhausaufenthalte wegen ihrer Lebererkrankung so groß, dass sie immer wieder von zeitweiligen tiefen Depressionen heimgesucht wird. Nur ein glücklicher Zufall verhindert 1960 einen Suizid.

    1960 wird sie an dem Moskauer Maxim Gorki-Institut für Weltliteratur angestellt. In den 1960er Jahren werden ihre Gedichte ins Russische übersetzt. 1965 erscheint im Moskauer Progress-Verlag ihre zweite Gedichtsammlung mit dem Titel „Der lebendige Fluss“ (zende roud). In demselben Jahr wird sie als ordentliches Mitglied in die Vereinigung der Schriftsteller der Sowjetunion aufgenommen.

    Nach dem Sturz der Monarchie 1979 kann sie erst im September 1980 endlich aus dem langjährigen Exil nach Teheran zurückfliegen. Nur kurze Zeit nach ihrer Rückkehr bricht allerdings am 22. September mit massiven irakischen Luftangriffen auf iranische Flughäfen der achtjährige Krieg zwischen Irak und Iran aus. In dieser bedrückenden Atmosphäre knüpft Jaleh Bekanntschaften und Freundschaften mit iranischen Künstlern, beteiligt sich an Literaturtagungen und Gedichtabenden. Sie wird Zeuge der ideologischen Kurzsichtigkeiten und zerstörerischen Streitigkeiten unter den iranischen Intellektuellen in Teheran und anderen Landesteilen.

    Im Februar 1982 verlässt Jaleh Teheran, um ihre Schwester wegen einer geplanten Augenoperation in England zu begleiten und ihren jüngeren Sohn in London zu besuchen. Wenige Monate später wird die Führung der Tudeh-Partei Irans in Teheran verhaftet. Die iranische Regierung setzt den Mitgliedern und Sympathisanten dieser Partei eine Frist und fordert sie auf, sich freiwillig zu stellen. Unter solchen Bedingungen ist eine Rückkehr aus London nicht sinnvoll. So beginnt ihr zweites Exil.

    In den folgenden Jahren setzt Jaleh ihre literarische Tätigkeit fort und beteiligt sich an Veranstaltungen und Lesungen in verschiedenen europäischen, zentralasiatischen und nordamerikanischen Städten. 1992 erscheint in Schweden ihr Gedichtband mit dem Titel „Khoroushe khamoushi“ („Aufbrausen der Stille“ bzw. „Schrei der Stille“). Ihre Autobiografie wird im Jahr 2000 in Deutschland veröffentlicht. Ende 2007 erliegt sie ihrem Krebsleiden in London. Im Dezember 2007 wird ihr zu Ehren in England ein Verein gegründet (5,6).

    ۞۞۞

     

    Biografie

    (1974)

    Das rote Lachen der Tulpen des Frühlings,

    die gelbe Träne der Bäume des Herbstes,

    der Kuss der Vereinigung und die Freude der Begegnung,

    die Trauer des Abschieds und das Unglück der Abwesenheit.

     

    Lebenslang suchen,

    warten,

    wünschen

    und in den Schöpfungen aufblühen:

    Das ist Eure und meine Biografie …

    ۞۞۞

    Jene Melodie

    (1972)

    Die Tulpe des Wunsches wird wieder aufblühen,

    des Herzens verschlossene rote Knospe wird aufgehen.

    Ich sage nicht, dass der vergangene Frühling zurückkehrt,

    dass die abgelaufene Zeit beginnt.

    Es gibt eine andere Zeit und einen anderen Frühling …

     

    Es ist eine Kunst,

    fröhlich zu sein.

    Freude spenden ist eine noch erhabenere Kunst.

    Jedoch werden wir es uns nie zubilligen,

    wie eine leblose Figur Tag und Nacht

    ohne Kenntnis der Lage aller anderen Menschen

    fröhlich zu sein.

    Sorglosigkeit ist ein großer Fehler,

    der uns fern sein sollte.

     

    Wie schön wäre es,

    wenn es einen Spiegel gäbe,

    der das Innere zeigen würde,

    damit wir uns in ihm betrachten könnten,

    all das sehen würden,

    was den Spiegeln verborgen bleibt.

    Wir würden uns jener erhabenen Kraft bewusst,

    die uns lehrt,

    zu leben,

    Beständigkeit zu erlangen,

    der Bote des Sieges und der Hoffnung zu werden …

     

    Es ist eine Kunst, fröhlich zu sein,

    wenn sich andere Herzen an deiner Freude ergötzen.

    Das Leben ist die einzigartige Bühne unserer künstlerischen Tätigkeit.

    Jeder trägt seine Melodie vor und verlässt die Bühne.

    Die Bühne ist stets vorhanden.

    Blühend ist jene Melodie,

    die die Menschen in ihrer Erinnerung bewahren …

    ۞۞۞

    Wer bin ich?

    (1977)

    Wer bin ich?

    Wer?

    Ein Komet,

    der der Nacht entrissen ist,

    der die Bekanntschaft mit der Morgenröte gemacht hat.

    Ein Auge, das das Licht erblickt hat,

    versöhnt sich nicht mit der Dunkelheit.

    Der helle Geist und das reine Wesen

    versöhnen sich nicht mit der Verderbnis.

    Wenn es in der Welt Ungerechtigkeit, Dunkelheit und Gewalt gibt,

    gibt es den Kampf,

    der zum Land der Gerechtigkeit und des Lichts führt.

    In der großen Inschrift des Lebens steht:

    Wenn du nicht siegst, wirst du verlieren.

    ۞۞۞

    Der Mensch und der Stein

    (1965)

    Die unendliche Einsamkeit ist das Schicksal des Steins.

    Es ist das Schicksal des Steins, blind und stumm zu sein,

    nie aus Trauer zu weinen,

    nie zu lachen,

    schmerzlos, hoffnungslos und wunschlos zu sein.

     

    Manchmal bekommt er als Fels

    Tag und Nacht Ohrfeigen von einem fernen Meer.

    Manchmal liegt er auf einem Grab und sagt ohne Stimme,

    wie der Mensch heißt, der nie wieder zurückkehren wird.

     

    Aber wenn er zur Statue ewig lebender Personen wird,

    streuen die Menschen Blumen auf sein Haupt.

    Glücklich ist der Stein, der zum Menschen wird.

    Schade, wenn ein unglücklicher Mensch versteinert.

    ۞۞۞

    Ich bin kein Kanarienvogel

    (1970)

    Ich bin kein Kanarienvogel, der auf der Wiese singt.

    Wieso verlangst du von mir ein zärtliches Liebesgedicht?

    Frühlingswasserfälle strömen aus meinen Augen,

    da ich ein Berg bin.

    Jedes Wort meines Gedichtes setzt das Papier in Flammen.

    Ich bin das wutentbrannte Lied einer Gruppe,

    einer aufständischen Gruppe, müde vom Warten,

    mit offenen Augen und verbundenen Händen.

    Ihr Schmerz hat eine andere Farbe und einen anderen Klang …

     

    Nicht einen Moment vernachlässige ich das Schicksal meiner Heimat,

    obwohl ich von ihr entfernt bin.

    Ich bin der Dichter der Epoche des Übergangs,

    der Poet einer Generation,

    die gegen Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit kämpft.

    Erachte mich als stumm,

    wenn meine Stimme kein Herz erreichen sollte.

    Mit tausend Augen betrachte ich die Welt,

    damit du nicht glaubst, ich bin blind.

    Ich bin der Dichter der schweren Zeit des Übergangs,

    der Zeuge einer Epoche,

    in der ein neues Zeitalter entsteht.

    ۞۞۞

    Die bessere Welt

     (1973)

    Wenn man mich fragt,

    was das Leben ist,

    werde ich sagen,

    stets auf der Suche sein,

    eine bessere Welt ersehnen …

     

    Heute bin ich aufmerksamer denn je,

    in der Wachheit bin ich voller Gedanken,

    im Schlaf bin ich wach.

    Ich würdige die Zeit,

    ich liebe die Erde.

    Im Anblick eines jeden hellen Morgens werde ich so sehnsüchtig,

    als wäre dies mein erster Tag,

    als wäre dies mein letzter Tag.

    In dieser verzaubernden Aufruhr

    bin ich unruhig wie die Frühlingsvögel.

    Mich bedrückt das Heim,

    mich bedrücken sorglose Gedanken

    und auch papageienhafte, sinnlose Gespräche.

    Mich bedrücken die Tagesnachrichten,

    wenn sie sich mit dem blühenden Markt des Einen

    und dem kalten Krieg des Anderen beschäftigen

    und nicht mit dem Geheimnis des Aufblühens menschlicher Kräfte.

    Ich möchte einen offenen Raum,

    der wie der Himmel grenzenlos ist …

    und eine Welt,

    die von dem Menschen weder Tod noch Opfer verlangt.

    ۞۞۞

     

    Die Hand der Liebe

    (1975)

    Wenn der Vogel nicht singt,

    das Wasser nicht tanzt,

    das Grüne nicht wächst,

    was wird die Erde machen?

     

    Wie eintönig und armselig wird das Dasein sein,

    wenn die Liebe nicht lacht,

    die Hoffnung nicht leuchtet,

    wenn die Freude fehlt

    und gelegentlich der Schmerz.

     

    Ich mache demjenigen Vorwürfe,

    der Trübsal bläst

    und wie der Winterschnee

    die Umgebung in die Kälte treibt

    überall, wo er sich hinsetzt.

     

    Wie glanzvoll ist es,

    die Hand der Liebe zu küssen.

    Aber wie schmachvoll ist es,

    wenn ein Mensch die Hand der Macht küsst.

    Die Sonne und die Erde sind ineinander verliebt.

    Wenn deine und meine Hände,

    die wie grüne Zweige sind,

    sich warm vereinigen,

    werden sie tausende roter Blumen hervorbringen

    und tausende gelber Früchte.

    ۞۞۞

    Die goldene Nachtigall

    (1968)

    Du, goldene Nachtigall,

    dich werde ich in meiner Dichtung,

    in den warmen Händen der Freunde,

    im Gesang des Lebens,

    in den Ländern des Frühlings,

    im Fleiß, der viele neue Triebe hervorbringt,

    in der unruhigen Nacht der Wartenden,

    beim Aufgang der ewigen Sonne,

    goldene Nachtigall,

    dich werde ich im Nest der Liebe finden,

    damit du meines Herzens Garten

    durch Licht und Gesang zum Blühen bringst.

    ۞۞۞

    Die Erde grünt deinetwegen

    (1974)

     

    Die Erde grünt deinetwegen

    und der Garten ist deinetwegen voller Farben geworden.

    Vom wirren Singen der Vögel ist die Wiese voller Aufruhr.

    Wieso sitzt du still?

    Was betrübt dich?

    Jetzt, wo ein neuer Frühling aufblüht,

    pflückt die liebkosende Brise der Morgendämmerung Blüten

    und wirft sie dem Wiedehopf zu Füßen.

    Benimm dich wie junge Wesen,

    wie die Bäume voller neuer Triebe.

    Lebe froh, wenn sich die Gelegenheit ergibt.

    Und schenke auch dem Nachbarn

    einen Ast dieser Blume,

    denn Schmerz und Trauer

    begleiten uns wie der Schatten …

     

    Der Frühling hat mir den Fleiß zum Erneuern beigebracht.

    Wieso soll ich diesen Moment sinnlos verlieren,

    denn das Jetzt ist ein Tropfen des Flusses meines Lebens,

    und das verflossene Wasser wird in den Fluss nicht zurückkehren.

     

    Wieso soll ich mit der Klinge der Traurigkeit den heutigen Tag enthaupten?

    Wieso soll ich diese Geschichte akzeptieren,

    dass das Leben erst am kommenden Tag ist?

    Denn die Ewigkeit fängt mit jedem Moment an …

    ۞۞۞

    Du fragst mich, woher ich stamme?

    (1962)

    Du fragst mich,

    woher ich stamme?

    Ich bin nicht sesshaft,

    und ziehe umher.

    Ich wurde erzogen durch Trauer und Schmerz.

    Betrachte die Weltkarte,

    mit einem Blick überquer die Ländergrenzen,

    zweifelsohne wirst du kein Land finden,

    in dem kein aus meiner Heimat Vertriebener lebt.

     

    Ich bin der unruhige Geist des Schlafwandlers,

    in Nächten mit Mondschein,

    im Schlaf,

    wandere ich auf den unendlichen Felsen der Sehnsüchte.

    Mit der Frage,

    woher ich stamme,

    hast du mich aus diesem goldenen Traum geweckt.

    Ich bin vom hohen Dach der Sehnsüchte heruntergefallen

    und liege der Mauer der Wirklichkeit zu Füßen.

     

    Du fragst mich,

    woher ich stamme?

    Ich komme aus dem Land des Reichtums und der Armut,

    von den grünen Hängen des Elburs-Gebirges (7),

    vom Ufer des prächtigen Zayanderud (8),

    und aus den alten Palästen von Persepolis.

     

    Du fragst mich,

    woher ich stamme?

    Ich komme aus dem Land der Dichtung, der Liebe und der Sonne,

    aus dem Land des Kampfes, der Hoffnung und der Qual,

    aus den Schützengräben der Opfer der Revolution.

     

    In durstigem Warten brennen meine Augen.

    Weißt du jetzt,

    woher ich stamme?

    ۞۞۞

    Hätte ich tausend Stifte

    Hätte ich tausend Stifte,

    tausend Federn,

    jede mit tausend Wundern,

    so würde ich jeden Tag tausend Mal

    ein Epos und ein Lied für die Freiheit schreiben.

     

    Wäre ich der Engel des Aufstands und des Zorns,

    so würde ich schon tausend Jahre zuvor

    die Stille und das traurige Warten der Sklaven durchbrechen;

    ich würde in das Viertel der Sklavenhändler ziehen,

    für die Versklavten Lieder singen,

    damit die schönen Sklavinnen und die mutigen Sklaven

    gegen die Sklaverei, Sklavenhalter und Sklavenhändler

    sich in tausenden Aufständen zur Freiheit erheben,

    dass niemand eines Anderen Knecht werde,

     die Knechtschaft aus der Erinnerung der Menschheit verschwinde,

    und niemand nicht einmal der Freiheit zum Knecht werde.

     

    Wenn ich tausend Zungen hätte – mächtige Zungen,

    fähig eine Botschaft ins Ziel zu tragen –

    so würde ich in allen Sprachen,

    die es weltweit gibt,

    den der Unterdrückung verfallenen Völkern sagen:

    Wenn ihr die Wurzeln der Knechtschaft mit dem Beil zerhackt,

    wird eure „Vergeltung“ die errungene Freiheit sein.

     

    Schreibt mit Flammen auf meinen Grabstein,

    dass diese nach Freiheit Dürstende auf der Suche starb,

    und wie verliebt sie zur Begegnung mit der Sonne eilte,

    auf dass die rötliche Morgendämmerung der Freiheit aufblühe.

     

    Wenn ich nach tausend Jahren auferstehe,

    werde ich meiner Epoche den Freiheitsgruß entbieten.

     

    Nach tausend Jahren werden andere Menschengenerationen,

    wenn sie auf Besuch

    von einem Stern zum anderen ziehen,

    aus den verbliebenen Wellen

    die Botschaft der Freiheit

    aus unserer stürmischen Epoche

    zu Gehör bekommen.

    ۞۞۞

    Wolke und Sonne

    (1978)

    Der Gang der Zeit

    nimmt jeden Moment eine neue Farbe an …

    Gestern war der Himmel bewölkt und weinerlich.

    Ich war traurig wegen der Tränen des Regens.

    Eine Weile später als ich aus dem Flugzeug sah,

    dass unter meinen Füßen die Wolke weinte

    und über meinem Kopf die Sonne lachte,

    fragte ich mich,

    weshalb ich kurzsichtig gewesen bin?

    Ich war betrübt.

    Wo habe ich eine ewig bleibende Wolke erblickt?

    Wenn wir den Kopf hoch halten,

    wenn wir den weiter entfernten Himmel betrachten,

    sind hinter der Dunkelheit der fliehenden Wolke

    die helle Sonne und das unendliche Universum.

    ۞۞۞

     

     

    Farbenfrohe Momente

    (1971)

    Ich brauche die Farben des Frühlings,

    die Farbe der Blumen,

    dieser reinen Geschenke des Paradieses,

    die Farbe der blauen Hyazinthe,

    die Farbe der gelben Narzisse,

    die rote Farbe der Anemone,

    die auf dem Feld gewachsen ist.

    die goldenen Tulpen,

    die violetten Jasminpflanzen,

    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,

    die Farbe jener zärtlichen,

    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,

    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.

    Ich brauche sogar jene Steinblume,

    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.

    Ich brauche den Farbkasten der Natur,

    die magische Farbe der Liebe,

    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,

    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,

    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,

    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

    ۞۞۞

    Du kehrst zurück

    (1975)

    Eines Tages kehrst du zurück.

    Du kommst zurück

    mit dem morgendlichen Wind der Berge,

    mit den Wellen der Meere,

    mit dem Frühling.

    Und ich warte sehnsüchtig.

     

    Du bist ein Bote aus warmen Ländern und weißt,

    wie verzweifelt und traurig der Mensch durch die Kälte wird.

    Ich rede nicht von der Kälte des Wetters,

    ich meine die Kälte der Herzen.

    Du weißt, wie sehr ich,

    selbst voller Glut,

    verabscheue

    die Kälte der Reden,

    die im Ohr rauschen,

    den Frost der Herzen,

    deren Licht der Liebe erloschen ist.

     

    In meinem Herzen

    sagt ein stiller Schrei immer und immer wieder,

    dass du wie ein leuchtender Funke,

    wie ein Stern aus der Ferne,

    umarmt von mitternächtlichen Kometen

    zurückkommst.

    Ich bin voller Hoffnung,

    dein Gesicht zu erblicken.

    ۞۞۞

    Teheran und der Krieg

    (Winter 1981)

    Die schwarzen, furchtbaren Flügel des Kriegsdämons

    liegen bedrückend auf den Teheraner Nächten.

    Das einzige brennende Licht der Stadt

    ist der Mond,

    der bernsteinfarbene Mond,

    der auf dem unsichtbaren Dach Teherans leuchtet.

    Teheran ist dunkel,

    Teheran ist still,

    Teheran ist eine schwarz bekleidete Schönheit …

     

    Wenn die morgendliche Sonne das Elburs-Gebirge beleuchtet,

    all den goldenen Schnee,

    und das Herz sich nicht verrückt in Teheran verliebt,

    ist es kein Herz,

    sondern ein Stein.

     

    Doch welchen Platz haben jetzt Liebkosungen mit der Natur?

    Heute ist Krieg.

    Vom Schicksal der Heimat und der Menschen sich fern zu halten,

    ist eine Schande.

    Es ist eine Schande.

    Uns ist der Iran übrig geblieben,

    ein Meer des Zorns, des Blutes und des Sturmes.

    Es ist schmachvoll,

    ein Stein am ruhigen Ufer zu sein

    angesichts all der selbstlosen Handlungen der Aufständischen,

    die ihr Leben riskieren.

    Es ist eine Schande,

    nur sich selbst und die eigenen Interessen im Blick zu haben.

     

    Wer kann nachts zuhause beruhigt schlafen,

    wenn tausende Landsleute obdachlos sind,

    vertrieben durch den Krieg,

    den erbarmungslosen Krieg.

     

    Du,

    Geschichte schreibendes Teheran,

    stolzes Teheran,

    es sei,

    dass ich deine Nächte voller Licht sehe,

    dass ich erblicke,

    wie der ganze Iran des Sieges wegen

    mit Lichterketten beschmückt ist.

    ۞۞۞

    Mütter wollen den Frieden

    (1950)

    (für meinen Sohn Bijan)

    Du, verführerisches, schönes Kind,

    du, Frucht meines Lebens,

    dein Gesicht ist wie ein heller Spiegel

    meiner Kindheit und meiner Jugend.

    Ich betrachte in deinem Gesicht

    mein geliebtes vergangenes Leben

    und erblicke aus den Fenstern deiner Augen

    eine glückliche Zukunft.

    Deine Augen sind zwei große Sterne,

    leuchtend wie der Stern deines Glücks.

    Der Duft deines wohlriechenden Atems

    beruhigt das Herz und erleichtert das Leben.

    Wenn deine beiden kleinen Hände

    sich wie eine Schlinge um meinen Hals werfen,

    ist es so, als würde ich die Welt umarmen,

    deine Liebe bringt meinen Körper zum Beben.

    Die Mutter ist ein seltsames, selbstloses Wesen,

    sie opfert sich für ihr Kind.

    Die Mutter opfert das Herz und die Seele des Lebens

    liebevoll für ihr Kind.

    Du, geliebtes, schönes Kind,

    du, die neue Blume meines Lebens,

    auch wenn ich sterben muss,

    werde ich dich nicht einen Moment

    dem Feind überlassen.

    Wenn sich eine Mücke auf dein Gesicht setzt,

    springe ich von der Stelle und bin entrüstet,

    wie soll ich es dann aushalten,

    dass du inmitten Feuers und Blutes fällst.

    Wenn man mein Auge ausreißt,

    wenn man mein Herz zerreißt,

    werde ich es nicht zulassen,

    dass die Flamme des Krieges

    deine Wiege verbrennt.

    So wie ich,

    verabscheuen und hassen alle Mütter der Welt

    den Krieg.

    Der Fluch der Mütter der Welt gilt jedem,

    der das Feuer des Krieges entfacht.

    ۞۞۞

     

    Quellenangaben und Bemerkungen

    (1) Der Buchstabe „j“ wird im Wort „Jaleh“ (ژاله) wie in „Journal“ ausgesprochen.

    „Jaleh“ bedeutet Tau und steht symbolisch für Reinheit und Schönheit. Der Name der Stadt Isfahan wird auf Persisch Esfahan (اصفهان) ausgesprochen. Der Buchstabe „i“ am Ende des Wortes „Esfahani“ weist darauf hin, dass etwas oder jemand aus Isfahan stammt bzw. Isfahan zugehörig ist.

    (2) Jaleh Esfahani: Schatten der Jahre (Sayehaye salha) . Nima Verlag, Essen, 2000.

    (3) Jaleh: Abbildung der Welt (Naqshe jahan). Progress Verlag, Moskau, 1981.

    „Naqshe jahan“ (نقشِ جهان) bedeutet Abbildung oder Darstellung der Welt. Ein berühmter, historischer Platz in Isfahan trägt diesen Namen.

    (4) Nach ihrer Heirat und der unerwarteten Ausreise in die Sowjetunion trägt sie den Nachnamen ihres Ehemannes und heißt dann Jaleh Badi’zade(ژاله بدیع زاده). Ihre Bücher erscheinen in den Sowjetrepubliken unter dem Namen Jaleh Badi‘. In Afghanistan wird sie als Jaleh Zendehroudi bekannt, da eine ihrer in Moskau erschienenen Gedichtsammlungen den Titel „Zendeh roud“(Der lebendige Fluss) trägt.

    (5)http://www.jalehesfahani.com/E/foundation.php

    (6)Bilder von Jaleh Esfahani sind im Internet zugänglich unter:

    http://www.iran-emrooz.net/index.php?/farhang/more/14834/

    (7) Hochgebirge im nördlichen Iran

    (8) Dieser Fluss fließt durch Isfahan.

     

  • Gemeinsam

    (5.1.2017)

     

    Vergangene Jahrhunderte
    fremde Länder
    weit entfernte Erdteile
    betrachte ich offenherzig
    wissbegierig, zärtlich
    und weine wiederholt
    vor Schmerzen, Einschränkungen
    Ungerechtigkeiten und Entbehrungen
    die mich nicht unmittelbar betreffen
    jedoch gemeinsames Leid bedeuten

    Die Tränen reinigen
    durch und durch
    meinen Blick
    So wird Liebe
    als Triebkraft meines Lebens
    bereichernd, wegweisend, ermutigend
    zum Widerstand und Kampf aufrufend
    stets neu erlebt

    ֎֎֎

  • Das neue Jahr

    (31.12.2016)

    Blauer Himmel
    Hier und da weiße Wolkenstreifen
    Bäume mit Raureif beschenkt
    glitzernd im liebkosenden Sonnenschein
    In einem Wipfel zwei Vögel
    mit roter Brust
    Sträucher mit Hagebutten
    und bunten Beeren

    Aus dem alten Jahr
    rufe ich Momente auf
    begeisternde, beschämende,
    bewegende, beflügelnde Bilder

    Und dann singe ich
    voller Inbrunst
    meine Überzeugung beteuernd
    Für den Leben spendenden Fluss
    und die Mutter Erde
    werde ich nichts dichten
    außer Liebe und Freude

  •  

    Inhaltsverzeichnis

     Weihnachten 2009  11
     Friedensnobelpreis 2009 13
     Kleines Experiment  15
     Liebeserklärung  16
     Gegossenes Blei. Ein Jahr danach  18
     Antlitz  20
     Agenda 2010  22
     Ich möchte mich daran nicht gewöhnen  25
     Siko 2010  27
     Mittelbau-Dora  28
     Belanglose Banalitäten, banale Belanglosigkeiten?  31
     Der Baum ohne Blätter  33
     Vermisstenanzeige  34
     Der Wein der Einsamkeit  36
     Der Leuchtkäfer  37
     Mondschein  38
     Das sonderbare Schachspiel  39
     Sonnenblume  42
     Neue Drohnen braucht das Land  45
     Schwelende Glut  48
     Was ist das für ein Land?  49
     Begegnungen mit den Insassen der Hölle  51
     Fremdwörter  53
     Allen Unkenrufen zum Trotz  55
     Was alles auf der Strecke bleibt  56
     Die Gretchenfrage aktualisiert  58
     Merke dir …  60
     Am helllichten Tage  62
     The common thread: from Hiroshima to Fallujah. /Der rote Faden. Von Hiroshima nach Fallujah.  63
     Morden  67
     Sonderbare Widersprüche  70
     Drei Jahre nach der Operation Cast Lead  72
     Spiegel  73
     Freundschaft  75
      Nachahmung   78
     Ich liebe, deshalb bin ich  80
     Was ich möchte  81
     Ein Tanz, der Leben ist  83
     Zuhause  85
     Eine Sonne  87
     Trost  89
     Begegnungen beheimaten  90
     Von Bienen, Wellen und Flammen  92
     Ausfahrten  93
     B.E.W.E.G.E.N  95
     Anwesenheit  96
     Die Sprache des Imperiums  97
     Zeichen setzen  99
     Kleider  100
     Die Schönheit der Schöpfung  101
     Frage  102
     Brücken  103
     Metamorphose  104
     Innere Sonne  105
     Inbrust  106
     Heim(at)  107
     Mitgefühl  108
     Rückkehr / Return  109
     Gaza 2014  111
     Sollidarisch  112
     Quittenbrücke  113
     Erde  114
     Biografie  115
     Paris, Januar 2015  116
     Erhabene Nacktheit  117
     Einblick  118
     Weißbuch  119
     Quelle des Glücks  121
     Schönheitslehre  122
     Der Baum  123
     Sehnsucht  124
     Lass dich umarmen  125
     Mithra  127
     Gerade deswegen  129
     Schreiben  130
     Leidenschaftlich und gelassen  131
     Für dich  132
     Licht und Schatten  133
     Verständigung  135
     Gefüge  136
     Straßenkinder  137
     Für die in mir  138
     Beheimatung im Herzen  139
     Gedichte  140
     Abruzzen  141
     Welle  142
     Solch eine Liebe  143
     Die Schwalm  145
     Schmetterling  146
     Von Elfen und Elben  147
     Liebeslied  148
     Zusammenhänge im großen Gefüge  149
     Meer der Morgenröte  151

     

    Die Weitergabe der Texte wird vom Verfasser ausdrücklich gewünscht.

     Bitte die Quelle angeben:

    https://amirmortasawi.wordpress.com/

     

    Weihnachten 2009

    (20.12.2009)

     

    Schnee, weiß, weich wie Samt
    zärtlich wie die Freundschaft
    sanft wie die Toleranz 

    Schnee, rot, befleckt
    Fußspuren der Barbarei
    Hinterlassenschaft der Gier 

    Fenster, beleuchtet
    Wärme, Geborgenheit
    Zimmer, geschmückt
    Fest der Freude 

    Fenster, zerschlagen
    Kälte, Hass
    Zimmer, verlassen
    Sieg der Zerstörung 

    fern und nah
    ein Katzensprung
    ein Augenblick

    ֎֎֎

     

    Friedensnobelpreis 2009

    (14.12.2009) 

    nicht jedes schwarz ist schwarz
    nicht jedes weiß ist weiß
    nicht jedes rot ist rot
    nicht jedes gelb ist gelb 

    verfangen im netz der lügen
    gekettet mit zuckerbrot und peitsche
    ausgeschaltet durch den maulkorb der sachzwänge 

    haben wir die fähigkeit in uns
    tag für tag
    nacht für nacht
    stück für stück
    tropfen für tropfen
    schritt für schritt
    schlag für schlag
    tritt für tritt
    stich für stich
    aus uns
    austreiben lassen
    mit den augen zu hören
    mit den ohren zu riechen
    mit der nase zu schmecken
    mit der zunge zu atmen
    mit der lunge zu fühlen
    mit der haut zu denken
    mit dem gehirn zu schlagen
    mit dem herzen zu schenken 

    oh, du „krone der schöpfung“
    wie konntest du es zulassen
    dich so erbärmlich
    erbärmlich
    erbärmlich
    verkommen lassen

     

    Kleines Experiment

    (in Anlehnung an Erich Fried; 7. Dezember 2009) 

    Sieh dir
    den Amtsträger an
    ihn selbst
    oder sein Foto

    und die Gesandten
    die er in andere Länder schickt
    um deutsche Interessen

    überall zu verteidigen

    dann sage dir dreimal laut vor:
    „Es ist eine humanitäre Intervention
    Es geht um die Verteidigung der Menschenrechte
    Es gilt der Ausbreitung der Demokratie
    Es dient dem Frieden „

    wenn du das glaubst
    dann kannst du beruhigt weiter schlafen
    wenn du es jedoch bezweifelst
    und wagst Fragen zu stellen

    musst du bereit sein
    für eventuelle Schlussfolgerungen
    einen hohen Preis zu bezahlen

     

    Liebeserklärung

    (1.11.2009) 

    Du, Fee der Freiheit!
    Du, Engel der Gerechtigkeit!
    Du, Bote der Vernunft!
    Ihr, Dreieck des Friedens! 

    Euch im Sinn
    greife ich nachts nach den Sternen.
    Mit Hoffnung auf euer Erscheinen
    fange ich den neuen Tag an.
    Im Herbst der Farbenvielfalt
    von den prächtigen Bäumen inspiriert
    bereite ich in mühsamen Schritten
    eure Ankunft vor. 

    Verrückt vor Leidenschaft
    leidend und doch glücklich
    schlägt mein verliebtes Herz
    träumend Schmetterlingen folgend
    einem Kinde ähnelnd
    eurer Liebkosung entgegen. 

    Du, Fee der Freiheit!
    Du, Engel der Gerechtigkeit!
    Du, Bote der Vernunft!
    Ihr, Dreieck des Friedens!

    ֎֎֎

     

    Gegossenes Blei. Ein Jahr danach.*

    ( 28.12.2009) 

    Langer Atem dort?
    Kurzer Seufzer hier?
    War das einkalkuliert? 

    Große bunte Blasen
    sie kommen auf
    glänzen 

    Tiefe schmutzige Wunden
    sie klagen an
    stinken 

    Majestätische Bilder
    sie grinsen
    heucheln 

    Langer Atem dort
    kurzer Seufzer hier
    das war einkalkuliert.

    ֎֎֎

    * Die Einkesselung und Bombardierung des Gaza-Streifens durch Israel 2008/2009 wurde in Armeekreisen  „Gegossenes Blei“ genannt.

     

     

    Antlitz / Sima *

    (6.12.2009) 

    Schon der erste Blick
    hat verraten
    dass du eine Mutter bist
    besorgt
    fürsorglich
    schützend
    warm
    weise  

    Schon das erste Gespräch
    hat gezeigt
    dass du ein Mensch bist
    leidend
    und doch schöpferisch
    verletzt
    und doch kämpferisch
    beraubt
    und doch großzügig
    betrogen
    und doch vertrauend  

    Schon die erste Umarmung
    hat gezeigt
    dass du lieben kannst.

    ֎֎֎ 

    *  Das deutsche Wort ‚Antlitz‘ bedeutet auf Persisch ‚Sima‘. Dieses Gedicht ist Frau Sima Kassaie gewidmet.

     

     

    Agenda 2010

    Dieselbe Prozedur wie jedes Jahr!

    (Dezember 2009) 

    Frohes, neues Jahr, Püppchen!

    Auch im Jahr 2010 werde ich dir genügend Themen und Fragestellungen anbieten, mit denen du dich beschäftigen kannst. Vergiss jedoch nicht unsere grundsätzlichen Vereinbarungen aus den vergangenen Jahren: 

    Du darfst hören,
    jedoch mit Ohren, die ich betäube.
    Du darfst hören,
    jedoch das, was ich für dich bestimme und auswähle. 

    Du darfst sehen,
    jedoch mit Augen, die ich beneble.
    Du darfst sehen,
    jedoch das, was ich für sinnvoll erachte. 

    Du darfst fühlen,
    jedoch mit Sinnesorganen, die ich beeinflusse.
    Du darfst fühlen,
    jedoch nach meiner Anleitung. 

    Du darfst denken,
    jedoch in den von mir vorgegebenen Kategorien.
    Du darfst denken,
    jedoch meine Logik anwendend. 

    Du darfst planen,
    jedoch meinen Interessen entsprechend.
    Du darfst planen,
    jedoch nach meinen Vorgaben. 

    Du darfst handeln,
    jedoch mich nicht gefährdend.
    Du darfst handeln,
    jedoch nach meiner Regie. 

    Püppchen!
    Du darfst eine Marionette bleiben,
    jedoch mit der tiefen Überzeugung,
    frei von Strippen zu sein. 

    In diesem Sinne wünsche ich dir ein wahnsinniges, neues Jahr.

    ֎֎֎

      

    Ich möchte mich daran nicht gewöhnen.*

    (8.1.2010) 

    George Orwell: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“  

    Wer die Vergangenheit nicht kennt
    oder
    sie zwar kennen gelernt hat
    aber bewusst oder unbewusst
    verdrängt
    verkennt die Gegenwart.  

    Wer die Gegenwart verkennt
    oder
    sie zwar prinzipiell erkennen kann
    jedoch bewusst oder unbewusst
    eine kritische Auseinandersetzung damit vermeidet
    verbaut sich die Zukunft.  

    Wer regieren will
    und dabei
    mit den drei Grundsätzen
    Freiheit, Gerechtigkeit, und Vernunft
    in Widerspruch gerät
    wird die Regierten dazu verleiten
    die Vergangenheit zu vergessen
    die Gegenwart zu verkennen
    und somit
    die Zukunft zu verbauen.

    ֎֎֎

     

    * Dieses Gedicht ist anlässlich eines Gerichtsverfahrens Frau Dr. Sabine Schiffer gewidmet.

     Siko 2010*

    (6.2.2010)

     Eure Angst  ist begründet
    denn wir können immer noch denken
    mitten im Chaos
    das ihr ausweitet 

    Eure Brutalität ist begründet
    denn wir können immer noch lieben
    mitten in der Kälte
    die ihr verbreitet 

    Eure Verzweiflung ist begründet
    denn wir wollen immer noch leben
    mitten im Leben
    das ihr zerstört

    ֎֎֎

     

    * Anlässlich der so genannten Sicherheitskonferenz in München

    Mittelbau-Dora*

    (2010)

    In dieser beklemmenden Dunkelheit
    in dieser erlahmenden Kälte
    in dieser erstickenden Enge
    schreist du im Siegesrausch
    dass du ein Meister bist
    aus Deutschland
    der alles nimmt
    was sich nach Leben sehnt
    der alles vernichtet
    was nach Menschlichkeit riecht

    Du bist ein Meister
    nicht nur aus Deutschland
    und die Vergesslichkeit
    ist eine Volkskrankheit
    nicht nur in Deutschland
    und die Ignoranz
    ist eine Seuche
    nicht nur in Deutschland
    und eine mögliche Wiederholung
    ist eine Konsequenz
    nicht nur in Deutschland

    Vergiss jedoch nicht
    dass die Mutter Erde
    von unzählig vielen
    verehrt wird

    ֎֎֎ 

    * Nach dem Besuch des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora wurde dieser Text verfasst. Unter Leitung von Wernher Freiherr von Braun wurde dort das vernichtende Nazi-Raketenprogramm realisiert. Braun arbeitete später für die Raumfahrtentwicklung der USA. Ca. 20 000 Menschen starben im Zusammenhang mit diesem Konzentrationslager.

    ۞۞۞

    http://www.buchenwald.de/29/

    Mittelbau-Dora
    Ein Konzentrationslager des „Totalen Krieges“

    Mittelbau-Dora steht exemplarisch für die Geschichte der KZ-Zwangsarbeit und der Untertageverlagerung von Rüstungsfertigungen im Zweiten Weltkrieg. Mehr als 60 000 Menschen aus fast allen Ländern Europas, vor allem aus der Sowjetunion, Polen und Frankreich, mussten zwischen 1943 und 1945 im KZ Mittelbau-Dora Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten. Jeder dritte von ihnen starb.

    Gegründet wurde „Dora“ als Außenlager des KZ Buchenwald im Sommer 1943 mit der Verlagerung der Raketenproduktion von Peenemünde in vor Luftangriffen geschützte Stollenanlagen bei Nordhausen. Später kamen weitere Rüstungsprojekte hinzu: Zehntausende KZ-Häftlinge mussten 1944/45 Zwangsarbeit beim Ausbau unterirdischer Flugzeug- und Treibstoffwerke leisten. Zu ihrer Unterbringung richtete die SS neue KZ-Außenlager ein, die im Herbst 1944 mit dem Lager Dora zum nunmehr selbständigen KZ Mittelbau zusammengefasst wurden. Dieses erstreckte sich am Ende mit fast 40 Lagern über den gesamten Harz.

    Heute ist Mittelbau-Dora ein europäischer Lern- und Gedächtnisort. Relikte im ehemaligen Lagergelände und im Stollen zeugen von den Verbrechen, aber auch vom wechselvollen Umgang mit der Geschichte. Wechselausstellungen regen zur kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit an. Die 2006 eröffnete Dauerausstellung präsentiert Mittelbau-Dora nicht nur als Modellfall von Zwangsarbeit und Untertageverlagerung, sondern auch als Beispiel für die enge Einbindung der Konzentrationslager in die deutsche Gesellschaft.

     

    Belanglose Banalitäten, banale Belanglosigkeiten?

    (20.3.2010)

    * Im Rahmen der Veranstaltung „Kultur des Friedens“ fand am 20.3.2010 in Essen eine Gesprächsrunde mit Vertretern von CDU, FDP, SPD, Grünen und Den Linken statt. Der einzige Lichtblick in dieser verdunkelnden Runde war der Moderator, der aufmerksam und aufdeckend handelte. Nach dieser Gesprächsrunde wurde dieses Gedicht verfasst.

    Friede, Freude, Eierkuchen!
    Zunächst nach den richtigen Zutaten suchen:

    Zwei Gläser voll Täuschung und Tarnung,
    anderthalb Gläser heuchelnde Warnung,
    ein beachtlicher Schuss suggerierte Dummheit,
    drei Esslöffel softe Weisheit,
    250 g weiche Wahrheit,
    eine gute Prise berechnende Vergesslichkeit,
    eine Hand voll bedachte Dreistigkeit.

    Dann mischen, kneten, knebeln, spalten,
    dass keine Systemgefahr aufkommt, darauf achten.
    Bald ist fertig der Friedensbrei.
    Lasst die Kritiker bellen, das macht frei.
    Macht, Geld und der Sitz im Bundestag,
    soll uns erhalten bleiben, Tag für Tag.

    Friede, Freude, Eierkuchen!
    Zunächst nach dem Unverbindlichen suchen!

    ֎֎֎

     

    Der Baum ohne Blätter

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi’i Kadkani; 2010) 

    Hast du, Baum, im Herbst die Blätter verloren
    oder bist du erlahmt von der klirrenden Kälte
    so besteht doch die Hoffnung
    dass die lebenspendenden Wolken im Frühling
    dir wieder eine Blättertracht anlegen

    Bald wird wieder eine morgendliche Brise
    deine belaubten Zweige liebevoll berühren
    und sie in Tanz versetzen
    beklage dann das Schicksal all der Blätter
    die von ihren Ästen getrennt worden sind

    ֎֎֎

    Vermisstenanzeige

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi’i Kadkani; 2010)

     

    Seit geraumer Zeit wird vermisst
    die Fee der Fröhlichkeit
    mit der folgenden Beschreibung
     

    Augen:
    dunkel, wie unsere Zeit
    glänzend, wie eine menschliche Vision
    viel versprechend, wie unsere Jugendlichen
     

    Haare:
    lang, wie die Leidensgeschichte der Geächteten
    wellig, wie das widerspruchsvolle Leben
     

    Lippen:
    Zärtlichkeit singend, wie eine Rosenknospe
     

    Gesamteindruck:
    anmutig, wie die bezaubernde Schöpfung
    warm, wie die aufgehende Sonne

    zuletzt wurde sie gesehen
    in einer Gegend
    begrenzt von dem Kaspischen Meer im Norden
    und dem Persischen Golf im Süden
     

    Informationen werden entgegen genommen
    durch offenherzige Wesen

    ֎֎֎

     

    Der Wein der Einsamkeit

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi’i Kadkani; 2010) 

    Unter anderen Umständen
    in anderen Ländern
    zu anderen Zeiten
    bist du ein Gotteslästerer
    ein Abtrünniger, ein Ketzer

    hier gelten dir andere Beschimpfungen
    Kommunist, unbelehrbarer Linker
    Sozialist, notorischer Hetzer
    Antisemit, Selbsthasser
    Volksfeind, naiver Christ
    Unruhestifter, böser Islamist

    solltest du fragen warum
    sage ich einfach summa summarum
    ein Mensch seiner Zeit voraus
    ist öfters ohne Heimat, ohne Haus
    trink aus den Wein der Einsamkeit
    tauch ein ins Meer der Redlichkeit
    sei dir bewusst dem Wandel, der Endlichkeit

    ֎֎֎

     

    Der Leuchtkäfer

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi’i Kadkani; 2010)

     

    Wie lange willst du noch
    im Schlamm dieser dunklen Nacht
    thronen
    bitte die Leuchtkäfer um Hilfe
    beleuchte deine Umgebung
    und dann
    versuch den aufrechten Gang

    ֎֎֎

     

    Mondschein

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi’i Kadkani; April 2010) 

    Mitten in der dunklen Nacht
    singe ich das Lied der Sonne
    Schweig, schreit schrill der Friedhofswärter
    „Du bist ein verwirrter Übeltäter,
    ein naiver Überläufer,
    ein verdammter Verräter!“ 

    Überzeugt von Wärme und Licht
    frage ich mit Gelassenheit und Zuversicht
    wird der Mondschein etwa nass
    wenn er durch eine Pfütze wandert
    wenn es regnet, schneit oder hadert?

    ֎֎֎

     

    Das sonderbare Schachspiel

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi‘i Kadkani; 2010)

     

    Knie dich nieder
    lautete der Befehl
    knie dich nieder
    vor das lederne Spielfeld
    spiel das Spiel deines Lebens 

    Was für eine Ironie
    ein ledernes Stück
    wurde früher eingesetzt
    früher
    als meine Vorfahren
    geköpft wurden
    zur Strafe bei Auflehnung
    zur Belehrung der Umgebung 

    die Spielfiguren
    waren bereits aufgestellt
    zu Ungunsten der schwarzen Partei
    das Ende war abzusehen
    das weiße Siegesgeschrei 

    Spiel mit den schwarzen Figuren
    du hast nur einen Zug
    wende mit ihm das Blatt um
    ansonsten hast du verloren
    dann ist deine Zeit um
    so waren die Vorgaben
    so waren die Regeln
    vorzüglich einschränkend
    verbindlich einengend 

    Und ich überlegte
    was für ein aussichtsloses Spiel
    was für eine schiefe Lage
    vergeblich war jede Klage 

    So stand ich auf
    in einem Schritt
    war das lederne Spielfeld
    mit all den Schachfiguren
    gründlich gewendet
    und das Spiel
    unwiderruflich beendet

    ֎֎֎

     

    Sonnenblume*

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi’i Kadkani; 23.4.2010) 

    Deinen liebevollen Gesang
    den verzaubernden Geruch deines Atems
    deinen betörenden Anblick
    dein dem Wunder gleichenden Aufblühen
    habe ich wahrgenommen
    du, die Sonnenblume
     

    Vor der Morgendämmerung
    die Tanne, die Sterne im Schlaf
    bist du schon am Werke
    fleißig, bescheiden, still
    in Erwartung der aufgehenden Sonne
    geduldig, treu, voller Wonne
    du, die Sonnenblume

     Dein Geheimnis
    kennen sie nicht
    weder das Veilchen
    noch die Weide
    weder der Fenchel
    noch das Getreide 

    Unbemerkt von diesen
    mit unbegreiflicher Inbrunst
    mit bezaubernder Ausdauer
    lebst du jeden Tag
    deine tiefe Überzeugung
    du, die Sonnenblume:
    das Leben lebt
    von unseren Träumen
    von unserem ewigen
    Greifen nach den Sternen

     Ich, mit meiner Unrast
    der Befreiung wegen
    auch wenn nicht greifbar
    du, mit deiner Bewegtheit
    deiner Geliebten entgegen
    auch wenn nicht erreichbar 

    Schau richtig hin
    die Einheit der Liebenden
    mit der Geliebten
    hat ihr Symbol
    in dir gefunden
    du, die Sonnenblume
    schau richtig hin
    du bist selbst
    zur Sonne geworden
    du, die Sonnenblume

    ֎֎֎

     

    *Auch in meiner zweiten Heimat, Deutschland, gibt es eine Reihe von „Ein-Mann-Betrieben“. Sie werden hier unter anderem von Ellen Rohlfs, Erhard Arendt, Michael Schmid, Thomas Immanuel Steinberg und Wolfgang Kuhlmann am Leben gehalten. Sie sind wie das Salz in unserer Suppe, sie sind die Sonnenblumen unserer Gesellschaft.

     

    Neue Drohnen braucht das Land*

    2.4.2010 

    *Anlässlich der Ausbildung deutscher Soldaten durch Israel im Umgang mit Drohnen. 

    Es trafen sich die großen Menschenfreunde
    aus dem dunklen, deutschen Walde
    einst in der kalten Lichtung
    in der Nähe der blutroten Halde,
    es ging um eine große Sichtung. 

    Die infame Propaganda der Widersacher
    bezeichnete die Versammelten als Verbrecher.
    Es waren aber alle nur Lebensretter,
    ihre Namen echte Zungenbrecher:
    Schiebel Elektronische Geräte,
    HighKopter.de, Mavionics,
    AirRobot, EMT,
    Rheinmetall Defence Electronic,
    microdonres, EADS.
    Andere blieben unbenannt,
    so wollten sie es. 

    Die Schirmherrschaft dieser Demonstration,
    in der Zeit der heiligen Emanzipation,
    hatte erwartungsgemäß keine Mängel
    sie war eine echte Taube, ein Friedensengel.

    Die Dame kam aus der ehemaligen DDR.
    Keine doppelte Gleichberechtigung? Aber bitte sehr! 

    Zunächst eine chirurgisch präzise Ausschaltung
    der Feinde der Menschenrechte,
    dann kommt die gerechte Verwaltung,
    Nation Building für die befreiten Knechte.
    Zur Sicherung deutscher Interessen weltweit
    Drohnen braucht das Vaterland, seid ihr bereit?
    Unsere Responsibility to protect, sagte dann
    der wohl ernährte, so weise Vorsitzende,
    fange bei deutschen Soldaten an,
    sonst drohe uns das dicke Ende:
    Särge mit zugerichteten Toten
    bei aller Gleichschaltung der Vision
    sind weiterhin keine guten Boten
    für unsere gepriesene Friedensmission. 

    Für diese lukrative Feststellung
    gab es riesigen Beifall, stehenden Applaus.
    Die Lebensretter setzten fort ihre Sitzung
    mit Wonne, Weißwurst und Apfelschmaus.

    ֎֎֎

     

    Schwelende Glut

    (in Anlehnung an Parvaz Homay; Mai 2010)

    Zeig Erbarmung diesen Menschen gegenüber
    lindere ihr Leiden
    erweis diesen Menschen Duldsamkeit
    erleichtere ihre Bürden
    hab Angst vor der schwelenden Glut
    unter der Asche

    Tausende kaiserliche Kronen
    Hunderte majestätische Throne
    sind bereits zerborsten in dieser Glut
    dieser mächtige Thron
    diese gewaltige Macht
    dauert nicht für die Ewigkeit
    hab Angst vor der schwelenden Glut

    das ist der Gang der Geschichte
    er macht keinen Halt
    weder vor den Kaisern
    noch vor den Geistlichen
    hab Angst vor der schwelenden Glut

             ֎֎֎

     

     

    Was ist das für eine Welt?

    (in Anlehnung an Parvaz Homay; Mai 2010) 

    Was ist das für eine Welt
    in der der Wein verpönt ist
    was ist das für ein Paradies
    in dem der Apfel verboten ist

    Sag mir aufrichtig, sag
    wo ist das gelobte Land
    wo ist dein Paradies
    sag mir aufrichtig, sag
    kann dort auch jeder
    schalten und walten wie er will
    so wie hier auf der Erde
     

    Du belehrst mich
    mit der Hölle drohend
    vor den Toren des himmlischen Gartens
    bei der Auferstehung
    bei dem Jüngsten Gericht
    werde ich danach gefragt werden
    auf dem Wege der Liebe
    wem gefolgt zu sein
    dem Jesus oder
    dem Zarathustra
    sag mir aufrichtig, sag
    wird dieses traurige Spiel
    sich auch in deinem Paradies fortsetzen
     

    Was habe ich nur gedacht
    was habe ich nur gesagt
    wegen dieser Gotteslästerung
    dieser unglaublichen Blasphemie
    wird man mich sicher zum Glück zwingen
    die Hände gefesselt
    die Beine in Ketten gelegt

    Nein, nein, nein, ich nehme alles zurück
    ihr habt wie immer Recht
    nein, nein, nein, ich bereue alles
    ihr habt sicher wieder Recht
    nein, nein, nein

    ֎֎֎

     

    Begegnung mit den Insassen der Hölle

    (in Anlehnung an Parvaz Homay; Mai 2010) 

    Wenn ihr mich beerdigt
    im Weinrausch verstorben
    denkt an meine letzte Predigt
    unter den Leichentüchern verborgen
    soll sein ein Krug voller Wein
    auf meiner Reise in die Hölle
    mit Gelassenheit und ohne Pein
    auskosten möchte ich den Riesling
    und pflanzt auf mein Grab
    einen prächtigen Weinsteckling

     Begegne ich den Insassen der Hölles
    o schenke ich ihnen klug
    an Blüten der Judasbäume denkend
    den mitgebrachten Krug
    trinkend, lachend, Wein schenkend
    wird alles nachgeholt
    auf der Erde versäumt
    von euch gehasst, verfolgt

    Wein, Kelch, Schenker und Schenken
    nur daran möchte ich stets denken
    vor Durst nach Liebe verglühen
    in vermeintlicher Hölle wieder aufblühen
    das Leben bejahen, in Freude versenken
    liebkosen, tanzen, Zärtlichkeit schenken

    ֎֎֎

      

    Fremdwörter
    (25.2.2011) 

    Für die Menschen
    die in den von uns entfachten Kriegen
    leiden und sterben
    kommt es nicht darauf an
    ob der Kriegsminister
    einen akademischen Grad
    oder andere Namenszusätze
    mit sich schleppt oder nicht
    sondern auf die einfache Frage
    ob Gehirn, Rückgrat und Herz
    bei uns
    Fremdwörter darstellen

    ֎֎֎

     

     

    Allen Unkenrufen zum Trotz

    (in Anlehnung an Abdollah Behzadi, 2011)

    Was für eine Herzensfreude,
    diese betörende Luft einatmen zu können,
    wenn wilde Tulpen und Narzissen sprießen.
    Zugvögel sind zurückgekehrt
    und zwitschern das Lied der Hoffnung.
    Das Lebenselixier strömt in den Pflanzenadern.
    Oh ja, der Glück bringende Frühling ist angekommen.
     

    Den Freunden und Bekannten,
    den zur Erneuerung Entschlossenen,
    den eine bessere Welt Erbauenden,
    all denjenigen, die mit dem Stift als Mittel
    den Verfall und das Elend
    überall auf dieser Welt aufdecken,
    soll der Frühling Glück bringen.
     

    Der Frühling wird unser Vorbild sein:
    den lähmenden Ketten der Kälte und Starre,
    der zermürbenden Last der Dunkelheit und Unwissenheit,
    der versklavenden Armut,
    in welcher Form auch immer,
    an welchem Ort auch immer,
    werden wir allen Unkenrufen zum Trotz,
    beharrlich, entschlossen und stolz
    ein Ende setzen.

    ֎֎֎ 

     

     

    Was alles auf der Strecke bleibt

    (5.3.2011)

     

    Der adlige Kriegsherr geht augenscheinlich fort
    der bürgerliche Kriegsminister setzt buchstäblich fort
    Menschenleben bleibt auf der Strecke
    käufliche Politiker regieren
    Militär und Rüstungsindustrie delegieren
    Kinderträume bleiben auf der Strecke 

    die Bundeswehr wird zweckdienlich umgebaut
    das brüchige Rechtsbewusstsein wird zunehmend abgebaut
    das Völkerrecht bleibt auf der Strecke
    das verführte Wahlvolk wird schlicht verschaukelt
    Humanität und Demokratie werden dreist vorgegaukelt
    Achtsamkeit und Gefühle bleiben auf der Strecke 

    aufdeckende Tatsachen werden bewusst verschwiegen
    Dunkelheit und Lügen sollen unumkehrbar siegen
    Vernunft und Redlichkeit bleiben auf der Strecke 

    korrumpierte Wissenschaftler verleiten und vertuschen
    ehemalige Friedensfreunde rechtfertigen und kuschen
    Rückgrat und Courage bleiben auf der Strecke 

    professionelle Söldner und freiwillige Soldaten morden
    öffentlich als Helden gepriesen werden diese Horden
    Menschlichkeit bleibt auf der Strecke

    ֎֎֎

     

     Die Gretchenfrage* aktualisiert

    (2011) 

    *Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?
    Du bist ein herzlich guter Mann,
    Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.

    (J. W. Goethe: Faust. Eine Tragödie)

     

    Hinter diesem oder jenem Schleier
    verhüllt in unterschiedlichstem Gewande
    machen Furore auch heute die Geier
    unschuldiges Blut bleibt kleben im Sande 

    wirken Vaterland, Gott und Ehre nicht
    werden erfunden neue Begriffe
    so wird verdunkelt am Ende die Sicht
    verkauft werden Kriegsgeräte und –schiffe 

    ‘failed states’ und ‘humanitäre Intervention’
    rechtfertigen den Staatsterror, vertuschen die Intention
    mal nackte Gewalt, mal wirtschaftliche Sanktion
    am Ende steht hier und da eine neue Bastion 

    zur Teilnahme an dieser reichen Beute
    zur Regierungsfähigkeit nur eine Gretchenfrage
    stimmst für den Krieg du heute
    der Staat für dich die Sorge trage

    ֎֎֎

     

    Merke dir …

    (31.3.2011)

     

    In Erinnerung an die unzähligen Opfer der Kriege im Rahmen der neoliberalen Globalisierung in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und anderswo

    Merke dir den Geruch der Hyazinthen
    wenn die Frühlingsbrise sie streichelt
    denn bald werden beladene Bombenbringer
    bar jeder Barmherzigkeit
    im Namen der Menschlichkeit
    einen verpesteten Teppich der Verwüstung ausrollen
     

    Merke dir den Gesang der Sperlinge
    unter dem meeresblauen Sternenzelt
    denn bald werden schwere Panzer
    prahlend, protzig
    ihr Geheul der Gräueltaten gellen
     

    Merke dir die morgendlichen Tauperlen
    auf der seidenen Haut der Spinnenbauten
    denn bald werden Söldner und Soldaten
    hochgerüstet und aufgetakelt wie Monster
    alles, was nach Leben schreit, niedertrampeln
     

    Merke dir die Lichtspiele beim Sonnengang
    wenn die Nacht und der Tag sich begrüßen
    denn bald werden bleierne Wolken
    den Horizont für eine Ewigkeit verdunkeln
     

    Merke dir den aufrechten Gang der Menschen
    verzaubert durch die Sehnsucht nach Gerechtigkeit
    denn bald werden zahlreiche Dichter und Denker
    sich als heilige Krieger huldigend
    die Vernunft, den Mut und die Liebe
    verraten, verjagen, vergraben

    ֎֎֎ 

     


    Am helllichten Tage
    (18.7.2011)

     

    Dieser Text wird den Opfern der „humanitären Intervention“ der NATO in Libyen gewidmet. Er wird jedoch für die Menschen in den NATO-Staaten geschrieben. Die Barbarei des Neoliberalismus, die sich bereits 1973 im Militärputsch gegen die Regierung von Salvador Allende offen zeigte, wird auch Europa, früher oder später, in grenzenloses Elend stürzen, wenn ihr kein Widerstand geleistet wird.


    Nein, es ist weder eine sternenlose Nacht,
    noch handelt sich um einen Neumond.
    Es bedecken weder dunkle Wolken den Himmel,
    noch ist eine Sonnenfinsternis eingetreten.
    Es passiert am helllichten Tage.
     

    Mehr als hundert Tage sind bereits vergangen,
    ein weiteres Land liegt in Schutt und Asche.
    Ein Ende dieser elenden Lügen,
    ein Ende dieses offenen Mordens
    ist nicht in Sicht.
    Es passiert am helllichten Tage.

    ۞۞۞

     

    The common thread: from Hiroshima to Fallujah. // Der rote Faden. Von Hiroshima nach Fallujah.

    (24.7.2011)

     

    Der Ausgang des Krieges war längst besiegelt
    die Tür zu Verhandlungen wurde jedoch verriegelt (1-5).
    Da brachte der brave Flugkapitän
    pflichtbewusst, sachgemäß und souverän
    am sechsten August 1945
    heilig gepriesen, voller Stolz und tüchtig
    dem überraschten Volk in Hiroshima
    ein schreckliches Gepäck aus Amerika.
    Und nannte es liebevoll
    „Little Boy“, wie grauenvoll.
    Drei Tage später schlug „Fat Man“ ein
    nun war der Tisch angeblich endlich rein.

    In der Folgezeit ging es makaber weiter
    Militär und Rüstungsindustrie wurden erst recht heiter
    mit „Agent Orange“, Phosphorgranaten und abgereichertem Uran
    in Vietnam, Fallujah und auf dem Balkan (6-12).

    Bei uns wird jetzt wieder feige zugeschaut
    und in Libyen der nächste Friedhof aufgebaut.

    ֎֎֎

     http://www.un.org/disarmament/special/poetryforpeace/poems/bahar/

     

    How the war would end, had long been determined (1-5),
    The door to negotiations was, however, shut.
    Then brought the brave little captain
    conscientious, objective and independent
    on the sixth day of August, in the year 1945
    highly praised, proud and determined,
    the surprised people in Hiroshima
    a horrific package from America.
    And full of tenderness he named it
    the „Little Boy“; how gruesome.
    Three days later the „Fat Man“ hit,
    and now the slate was supposedly clean.

    But then the horror continued;
    the generals and the weapon makers felt even more revived
    with „Agent Orange“, „Whisky Pete“, and Depleted Uranium
    in Vietnam, Fallujah and in the Balkans (6-12).

    And, cowardly, once again we are watching
    as the next cemetery is built in Libya.

    ֎֎֎

     

    (1) Hiroshima: Was it necessary? By Doug Long
    Part 1: http://www.doug-long.com/hiroshim.htm
    Part 2: http://www.doug-long.com/hirosh2.htm

    (2) Why World War II ended with Mushroom Clouds. 65 years ago, August 6 and 9, 1945: Hiroshima and Nagasaki. By Jacques R. Pauwels. August 6, 2010
    http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=20478

    (3) The Moral Legacy of Hiroshima and Nagasaki. By Prof Rodrigue Tremblay. August 8, 2010
    http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=20533

    (4) Hiroshima Day: America Has Been Asleep at the Wheel for 64 Years. By Daniel Ellsberg. August 6, 2009
    http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=14671

    (5) Public Papers of the President Harry S. Truman, 1945-1953. 97. Radio Report to the American People on the Potsdam Conference, August 9, 1945, delivered from the White House at 10 p.m.
    http://www.trumanlibrary.org/publicpapers/index.php?pid=104

    (6) A Question of Responsibility – the legacy of depleted uranium use in the Balkans. International Coalition to Ban Uranium Weapons: Resources / Publications. October 11, 2010
    http://www.bandepleteduranium.org/en/a/342.html

    (7) USA-Vietnam: Betr. Dioxin – eine neue Rechnung. Von Karl-Rainer Fabig
    http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Vietnam/fabig.html

    (8) Agent Orange
    http://en.wikipedia.org/wiki/Agent_Orange

    (9) War Crimes: „After Hiroshima and Nagasaki, there was Fallujah.“ The United States Takes the Matter of Three-Headed Babies Very Seriously. By William Blum. April 6, 2010
    http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=18520

    (10) US UK War Crimes: More leukemia in Iraq than after Hiroshima as result of depleted uranium, white phosphorus bombs and nerve gas. Parliamentary Motion in Scotland. September 22, 2010
    http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=21143

    (11) US War Crimes: Cancer Rate in Fallujah Worse than Hiroshima. By Tom Eley. July 23, 2010
    http://www.globalresearch.ca/index.php?context=va&aid=20241

    (12) Cancer, infant mortality and birth sex-ratio in Fallujah, Iraq 2005-2009.
    Busby C, Hamdan M, Ariabi E. Int J Environ Res Public Health. 2010 Jul;7(7):2828-37.
    http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2922729/pdf/ijerph-07-02828.pdf

      

     Morden

    (6.11.2011)

     

    Die Rüstungsindustrie entfachte das Morden professionell,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Der UN-Sicherheitsrat begründete das Morden parteiisch,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Parlamentarier rechtfertigten das Morden solidarisch,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Politiker ermöglichten das Morden pragmatisch,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Massenmedien machten das Morden hoffähig,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Geisteswissenschaftler beflügelten das Morden analytisch,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Juristen behandelten das Morden wortklauberisch,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Friedensforscher erklärten das Morden auftragsmäßig,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Journalisten berichteten über das Morden eingebettet,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Hilfsorganisationen beschäftigten sich mit dem Morden zivil-militärisch,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Soldaten vollstreckten das Morden befehlsmäßig,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Uniformierte und zivile Söldner erledigten das Morden präzise,
    die Völker zahlten die Zeche.
    Menschen wie du und ich entledigten sich des Mordens ignorierend
    und sie zahlten doch die Zeche.

    ֎֎֎

     

    Sonderbare Widersprüche
    (29.12.2011)

     

    Wir leben wahrhaftig
    in einer ungerechten Welt,
    die wegen sonderbarer Widersprüche
    im Bersten begriffen ist.

    Wenn ich aufgrund vielfältiger Tatsachen
    führende Personen der „Weltgemeinschaft“
    als Massenmörder bezeichne,
    erheben sich aus befreundeten Reihen
    warnende Stimmen,
    verängstigt,
    voller Skepsis.
     

    Wenn ich dabei von einem dieser Massenmörder,
    der gleichzeitig ein Friedensnobelpreisträger ist,
    als eine „terroristische Gefahr“ erachtet werde,
    kann er
    sich auf geltendes Landesgesetz berufend
    mein Verschleppen, Verhören und Foltern einleiten
    und letztendlich auch
    mein „gezieltes Töten“ veranlassen.

    Wenn derselbe Massenmörder,
    der besagte Friedensnobelpreisträger,
    neue Angriffskriege anzettelnd
    den präemptiven Einsatz von Atomwaffen androht
    und dabei den Tod unzähliger Menschen
    sowie die bleibende Verwüstung blühender Landschaften
    billigend in Kauf nimmt,
    bekommt er von der „Weltgemeinschaft“
    Applaus und Lobesgeschrei.
     

    Wir leben tatsächlich
    in einer durch und durch verzerrten Welt,
    die nach Veränderungen schreit.

    ֎֎֎

     

    Drei Jahre nach der Operation Cast Lead
    (30.12.2011) 

    Die verwaschene Sprache
    ist in der Medizin
    ein Hinweis auf ein neurophysiologisches Problem.
     

    Die verzerrte oder verzerrende Sprache
    ist in der Politik
    je nach dem Stand der Beteiligten
    ein Hinweis auf
    bewusstes, gezieltes Irreführen der Menschen,
    verängstigtes Verleugnen ungerechter Gegebenheiten,
    beschämtes Verdrängen unangenehmer Tatsachen,
    armseliges Verheimlichen der fatalen Unwissenheit,
    schmachvolles, feiges Ducken vor den Machthabern.
     

    Der Umgang mit der Operation Cast Lead
    ist ein Lackmustest für
    die Glaubwürdigkeit,
    die Aufrichtigkeit
    und den Wissensstand
    gesellschaftspolitischer Akteure.

    ֎֎֎

     Spiegel

    (3.6.2012) 

    (I)

    Wenn du auf der Suche nach meiner Seele bist,
    Du Geliebte, Du Schöne,
    komm zu mir herein, direkt und leichtfüßig.
    Und reinige den Körper von all dem Schmuck,
    verliere all die Rollen,
    beseitige Vortäuschungen und Schönfärbungen,
    damit du mir ein Spiegel bist,
    der das hinter dem Gesicht Stehende zeigt;
    damit ich dir ein Spiegel werde,
    fähig, lauter und ungetrübt.

    ֎֎֎

     

    (II; ein Echo)

    Wenn du meine Seele suchst,
    Geliebte, Schöne,
    komm herein zu mir,
    leicht und ohne Umweg.
    Leg ab den Schmuck,
    lass fallen den schöngefärbten Schein,
    vergiss, wer du sein willst.
    So bist du ein Spiegel für mich
    und ich für dich,
    ungetrübt,
    lebendig,
    wahr.

    ֎֎֎

     

    Freundschaft

    (in Anlehnung an Fereydoun Moshiri; 2012)

     

    Seit längerem spüre ich
    die die Überzeugung in mein Herz
    sich tiefer und tiefer verwurzelt
    die Freundschaft sei auch eine Pflanze
    streichelnd wie die Lotusblume
    zärtlich wie der Jasmin
    prächtig wie die Magnolie
    bezaubernd wie die Lilie
    nur ein versteinertes Herz
    kann es zulassen
    diese Pflanze niederzutreten 

    Am Anfang einer Bekanntschaft
    gleicht jedes ausgesprochene Wort
    jeder Gesichtsausdruck
    jeder Schritt
    einem Korn
    das ausgesät wird
    durstig nach Wasser
    Licht und Wärme
    durstig nach Liebe 

    Pflegst du die Freundschaft richtig
    so entsteht ein wunderbares Wesen
    bereichert dein Leben
    mit Zärtlichkeit
    mit Schönheit 

    Das Leben
    ist die Wärme der verbundenen Herzen
    wenn du immer noch
    ohne Freunde
    vor verschlossenen Türen
    in der Kälte stehst
    wenn der betörende Duft der Liebe
    die Wüste deiner Einsamkeit
    in keinen Rosengarten verwandelt hat
    so streu die Körner neu aus 

    Mit einem Blick
    schreiend vor Sehnsucht
    mit einem Gruß
    lachend vor Licht
    mit einem Händedruck
    warm vor Liebkosung
    lass uns zusammen gehen
    lass uns zusammen singen
    lass uns vor Freude glühen
    lass unsere Gärten aufblühen

    ֎֎֎

     

     

    Nachahmung

    (in Anlehnung an Fereydoun Moshiri; 2012)

    Wie atmet die Erde auf?
    Denken wir darüber nach!

    Was für eine klirrende Kälte
    schlug das Gesicht der Barmherzigkeit,
    zerquetschte das Herz der Erde,
    zerbrach den Mut des Gesteins.
    Die Vögel starben in Scharen,
    die Blumen der Wiese verschwanden auf ewig.
    Im Himmel, auf der Erde
    lauerte die Angst.
    In dem Engpass der Zeit
    hielt sich der Tod für eine Weile auf. 

    Ist es der Weltuntergang?
    Darauf hatte der Himmel keine Antwort.
    Wird der Garten wieder lachen?
    Keiner war davon überzeugt.
    Es herrschte eine sonderbare Kälte. 

    Wie atmet die Erde auf?
    Lernen wir davon! 

    Es ist die Zeit des glorreichen Blühens.
    Beim Aufgehen der Frühlingssonne
    schmolz der Schnee dahin,
    Blumen erhoben den Kopf,
    Farben streichelten sich zärtlich durch. 

    Die Erde hat uns gelehrt,
    nicht zu resignieren,
    bevor das letzte Wort ausgesprochen ist.
    Sind wir der Erde ebenbürtig?
    Sie atmet wieder auf.
    Ahmen wir ihr nach?!

    ֎֎֎

     

    Ich liebe, deshalb bin ich!

    (in Anlehnung an Fereydoun Moshiri; 2012) 

    Von dem Wein des Sonnenkusses
    ist der Meereskelch
    überschwappend voll.
    Der Wald hat sich die ganze Nacht
    bis zur Morgendämmerung
    den Körper im Regen gewaschen
    und ist verzaubernd inspirierend.
    Jeder von uns ist betört,
    seiner Verfassung entsprechend,
    von dem Zauber dieses Weinkellers.
    Und in mir lebt das Gefühl:
    „Ich liebe,
    deshalb bin ich!“

    ֎֎֎

     

    Was ich möchte…

    (24.6.2012) 

    für Annice 

    Solltest du mich fragen,
    was ich eigentlich möchte,
    so werde ich dir sagen: 

    Ich möchte
    aus deinem Blickwinkel das Universum betrachten,
    mit deinem Gehör die Welt belauschen,
    in deiner Haut den Regen am Bergsee erleben,
    die Sprache deiner Augen lernen,
    die Geschichten deines Lebens aufmerksam anhören,
    jegliche Schwingung deiner Stimmung wahrnehmen,
    den Anlass deiner Tränen begreifen,
    dich unbekümmert lachen sehen,
    jede Sekunde unserer Entdeckungsreise auskosten,
    und einen bunten Strauß an Erinnerungen zusammenfügen,
    allerdings nur dann
    wenn diese Wünsche auf Gegenseitigkeit beruhen.

    ֎֎֎

     

    Ein Tanz, der Leben ist

    (27.6.2012)

    für Annice

    Das Schicksal bot uns eine Gelegenheit,
    und wir ergriffen sie.
    Ein flüchtiger Blick am ersten Tag:
    Neugier.
    Ein kurzes Gespräch am zweiten Tag:
    Sympathie.
    Und Gedankenaustausch beim nächsten Treffen:
    Faszination.
    Bezaubernde, tanz mit mir den Tanz, der Leben ist.

     

    Mal heranziehen,
    dann loslassen.
    Für ein Moment stürmisch sein
    wie der Regen im Frühling,
    danach zögerlich und bedenklich
    wie der Schneefall unterm Mondschein.
    Eine Weile das Hineinsehen ermöglichen,
    dann das Fenster vorübergehend schließen.
    Kurz das Umschlingen auskosten,
    anschließend sich abweisend zeigen.
    Schritt halten,
    den Rhythmus herausfinden,
    bange blicken,
    von Träumen leben,
    einen Menschen entdecken.


    Bezaubernde, tanz mit mir den Tanz, der Leben ist.

    ֎֎֎

     

    Zuhause*

    (1.7.2012)

     

    Du fragst mich,
    wo mein Zuhause ist?
    Das ist eine einfache Frage,
    und doch
    wühlt sie so sehr auf,
    erschüttert schmerzhaft,
    ruft so viel Unruhe hervor.
     

    Mein Zuhause ist
    überall und nirgendwo.
    Einerseits bin ich verwurzelt
    tief im Herzen der Geschichte,
    in den unzähligen Lebensgeschichten,
    und andererseits
    nicht gebunden an einem bestimmten Ort.
    Ich komme mit dem Regen
    und gehe mit dem Wind.
     

    Zuhause ist dort,
    wo ich meine Gedanken,
    nicht ausgereift,
    nicht verfeinert,
    Rat und Unterstützung suchend
    frei äußern kann.
     

    Zuhause ist der Ort,
    wo weder ein innerer
    noch ein äußerer Panzer vonnöten ist,
    wo ich nackt sein kann
    ohne Angst vor Verletzungen.
     

    Zuhause ist dort,
    wo ich Schultern vorfinde,
    um mich ausweinen zu können,
    und einen Trost spendenden Schoß
    zur Geborgenheit.
     

    Zuhause ist überall,
    wo wahre Freunde zu finden sind.

    ֎֎֎

    *Am 30.6.2012 wurde das Theaterstück „Der Junge mit dem Koffer“ nach einem Stück von Mike Kenny in Mannheim aufgeführt. Daraufhin entstand dieser Text.

     Eine Sonne

    (in Anlehnung an Siavash Kasra’i; 7.7.2012) 

    Die Tür ist geschlossen,
    ebenfalls das Fenster,
    die Vorhänge sind zugezogen.
    Selbst der Tür- und Fensterrahmen
    scheinen dicht zu sein.
    Und doch aus einer unbekannten Ecke,
    dem Auge unsichtbar,
    scheint die Sonne
    auf mein Haupt,
    mein Heft
    und die Vase.
     

    Sogar aus diesem eingeengten Winkel
    kann der zärtliche Gedanke
    durch die unsichtbare Lücke
    den Raum verlassen,
    sich zu einer Sonne entwickeln,
    weltweit erleuchten,
    mit Leidenschaft
    zart durchdringend,
    Wärme spendend
    zur Liebe aufrufen
    und zum Leben.

    ֎֎֎

     

    Trost

    (8.7.2012) 

    Vor nicht all so langer Zeit
    hast du
    meine Schmerzen lindernd
    geschrieben
    ich hätte solch einen Schatz an Poesie
    um Trost daraus zu schöpfen

    Dabei hast du bestimmt
    die inzwischen vorliegende Gegebenheit
    nicht voraussehen können
    dass ich aus dem erwähnten Schatz
    Trost schöpfe
    wegen der Fülle
    deiner anwesenden Abwesenheit

    ֎֎֎

     

     

    Begegnungen beheimaten

    (15.7.2012)

    für Lotte Hartmann-Kottek

    (1)
    Meinen Blick nahm ich mit
    in die helle Lichtung des Waldes
    und tauchte mit ihm ein
    in den berauschenden Bach
    überlaufend von kristallreinem Wasser.
    Dann ließ ich ihn schweben im Wind,
    beladen mit Düften aus nahen und fernen Feldern,
    und sich vollsaugen mit dem Licht
    der Sonne und der Sterne.

     

    (2)
    Diesen Blick nahm ich mit.
    Gereinigt-
    nicht berechnend wie ein Krämer,
    nicht bestimmend wie ein Tyrann,
    nicht verlangend wie ein Süchtiger,
    nicht bettelnd wie ein Schwacher,
    nicht fordernd wie ein Gläubiger,
    nicht verurteilend wie ein Richter,
    nicht beurteilend wie ein Käufer-
    öffnete er mir,
    suchend, fragend,
    fühlend, mitfühlend,
    erkennend, lernend,
    Fenster und Türen.

     

    (3)
    Begegnungen beheimaten,
    wenn die Betrachtung des anderen Wesens
    auf der Suche nach Erkenntnis
    sich versenkt
    in die Schönheit der Unvollkommenheit,
    in die Wertschätzung des Vergänglichen,
    in den Herzenstakt des Mitfühlens und Mitleidens,
    in Freude und Trost
    Schöpfen und Schenken.

                                                           ֎֎֎

     

    Von Bienen, Wellen und Flammen

    (5.12.2012)

     

    Tief in meinem verzauberten Herzen
    besingen seidene Stimmen,
    sich sehnsüchtig im Kreise drehend,
    durstig nach Lebenswärme siedend,
    das leidenschaftliche, zärtlich-liebevolle Leben
    der Bienen, Wellen und Flammen:

    „Wir sind wie die Wellen,
    die aufhören zu sein,
    wenn sie Stillstand erleiden.
    So reisen wir tanzend,
    in uns bedächtig ruhend,
    wie die fleißigen Bienen,
    die Blumen beharrlich bestäuben,
    wie Feuer und Flammen,
    die reinigen, wärmen und beleuchten,
    von Träumen und Sehnsüchten getrieben,
    nach Schönheit und Zärtlichkeit suchend,
    nach Wissen und Gerechtigkeit durstend.“

                                                           ֎֎֎

     

    Ausfahrten*

    (22.12.2012) 

    In Erinnerung an Wolfgang Kuhlmann, der beharrlich bis Januar 2012 durch seine FriedensTreiberAgentur (FTA) die Ausfahrten beleuchtete.

    Seit Jahrtausenden wurde der Weg beschritten.
    Seit Jahrtausenden wurde gegen den Weg gestritten.

    Grob umrissen nur war das ferne Ziel:
    eine Welt,
    die von den Menschen
    keinen Tod und keine Opfer verlangt;
    eine Welt
    mit tiefem Respekt vor dem Leben.

    Von diesem endlosen Weg,
    der durch Höhen und Tiefen,
    durch Flüsse und Schluchten,
    durch Wälder und Wüsten sich wand,
    führten unzählige Ausfahrten ab,
    alle beschriftet und beschildert:
    verständlich, versprechend,
    verlockend, verführend – verdunkelnd.

    Die Inschriften mancher Wegweiser
    waren einfach und trivial,
    wie „Brot und Spiele“,
    später tödlich zwingend,
    wie „Spiele um Brot“.
    Andere spreizten sich komplex
    und umschmeichelten die menschliche Eitelkeit
    sowie den Stolz auf eigenen Intellekt
    mit blendender Klugheit und Genialität.

    Doch nur einem Zweck dienten alle Ausfahrten,
    einem niederträchtigen:
    das Erreichen des hoffnungsfernen Ziels
    mit allen Mitteln zu verhindern
    und die Sehnsucht nach dem Guten zu ersticken.

    Allen Widerständen zum Trotz:
    seit Jahrtausenden wird der Weg erstritten.

    ֎֎֎ 

    * Die Idee mit den Ausfahrten verdanke ich dem sozial engagierten iranischen Physiker und Forscher, Fariborz Derakhshan.

     

     

    B.E.W.E.G.E.N

    von Afsane Bahar und Kassandra Pari Sideras

    (25.1.2013) 

     

    Aufrichtig Fragen stellen
    – kraft klaren Bewusstseins und aus tiefem Bedürfnis,

    vielschichtig die Antworten hinterfragen
    – kraft hart erarbeiteter Fähigkeit,

    redlich Schlussfolgerungen ziehen
    – kraft gestählter Ehrlichkeit sich selbst gegenüber,

    beherzt die eigene Feigheit und Trägheit überwinden
    – kraft mutiger Selbstkritik und errungener Selbsterfahrung,

    beharrlich das als richtig Erachtete umsetzen
    – kraft der Fähigkeit, Enttäuschungen zu überwinden,

    leidenschaftlich bewegen und sich bewegen lassen
    – aus Dank an das Leben und in ehrfürchtiger Liebe zu ihm.

    JA !

    ֎֎֎

     

    Anwesenheit

    (6.4.2013) 

    Jeder Atemzug
    ist so sehr
    voll von Deiner Anwesenheit
    dass es schmerzt
     

    Tausend Fenster öffnen sich

    zum unendlichen Raum
    der beflügelnden Eingebungen
    der ermunternden Vorstellungen
    der befreienden Erkenntnisse

    ֎֎֎

      

    Die Sprache des Imperiums*

    (20.5.2013)

     „Warum nun
    wird diesem Betrug,
    diesen Absurditäten und Entstellungen
    nicht nachgegangen,
    warum winken sogar Linke ab,
    wenn ihnen von diesen Dingen berichtet wird?“,
    fragen die Hellhörigen
    mit erfrischender Verwunderung. 

    Eine der Antworten lautet,
    dass der Preis vermutlich zu hoch ist,
    wenn aufgedeckt wird,
    wie die Herrschenden
    denken und handeln.


    Ohne Aufklärung nämlich
    kommen die zum Denken Befähigten
    nicht in die Zwickmühle,
    sich entscheiden zu müssen.
    Sie katapultieren sich allerdings
    stillschweigend
    in eine selbstverschuldete Unmündigkeit.

    ֎֎֎

     

    * „Die Sprache des Imperiums. Ein historisch-philospohischer Leitfaden“ ist der Titel eines Buches von Prof. Dr. phil. Domenico Losurdo. Die deutsche Ausgabe ist 2012 im Verlag PapyRossa erschienen.

     Zeichen setzen!

    (20.7.2013)

    in Erinnerung an Wolfgang Kuhlmann (Friendestreiberagentur)

     

    Zeichen setzen
    wie die Betörung der morgendlichen Brise im Frühling,
    wie der Flügelschlag der Schmetterlinge im Sommer,
    wie die Liebkosung der Blätter im Herbst,
    wie der Tanz der Schneeflocken im Winter,
    wie das Lächeln eines Fremden.

    Zeichen setzen
    mitten im stummen Gedränge der Verzweifelten,
    mitten in der besinnungslosen Trunkenheit der Gewalttätigen,
    mitten im betäubenden Siegesschrei der Todesbringer.

    Zeichen setzen
    fürs Leben.

    ֎֎֎

     

    Kleider

    (7.8.2013)

    Dank an Christa Ortmann


    Vor des Spiegels reinem Blick
    befreie ich mich Stück für Stück
    von dem Zwang der Kleider,
    geliehener Kleider,
    Kleider der Gesellschaft,
    Kleider der Zukunft,
    Kleider vergangener Leben,
    Kleider der Wünsche anderer Menschen,
    Kleider aus alten blinden Zeiten,
    manchmal mit Stolz, manchmal mit Gewalt getragen,
    bunter, das Herz streichelnder Kleider,
    Kleider von hohem Rang.

    Wie nackt bin ich und wie frei!

    Meinen späten Freund
    betrachte ich im Spiegel
    liebevoll,
    umgeben von abgelegten Kleidern.
    Mit der Stimme des Herzens
    rufe ich den Geliebten.

     

     

     Die Schönheit der Schöpfung

    (9.8.2013) 

    Wenn die Blütenblätter abgefallen sind,
    Blatt für Blatt,
    wenn der Wind Duft und Pollen verweht hat,
    dann betrachte genau
    die Schönheit der Schöpfung:
    Längst schon haben die Bienen
    neue Blüten entworfen.

    ֎֎֎

     

    Frage

    (13.9.2013)


    Was unternehme ich nicht alles,
    damit eine einzige Lippenknospe
    in meiner Nähe
    sich lächelnd öffnet!

    Was unternehme ich
    gegen die Kriege,
    die mit Lügen begründet,
    nah und fern,
    tausende Blumen vernichten?

    ֎֎֎

     

    Brücken

    (2.11.2013) 

    In diesem Universum,
    grenzenlos und strahlend,
    baue ich Brücken,
    kleine und große,
    zum Begreifen des Daseins,
    zur Würdigung des Lebens.

    ֎֎֎ 

     

    Metamorphose

    (28.11.2013) 

    Der Stift
    stand auf
    für Gerechtigkeit.
    Er verbreitete sich
    in der Welt.

    Das Papier
    schritt zur Aufklärung.
    Es bekam Flügel
    und stieg empor.

    Meine Hände
    eilten zur Liebe
    und blühten.
    Aus der einen
    wurde
    ein Ast wilder Rosen,
    voller Bienen und Schmetterlinge,
    aus der anderen
    eine Wasserquelle
    für Jungvögel.

    ֎֎֎

    Innere Sonne

    (Dezember 2013)

    für Sima


    Wald und Stadt
    lebendig und verborgen.
    Meer der Wolken
    ausgebreitet, still
    und so nah
    für zärtliche Berührung.
    Firmament
    im Sonnenspiel
    Quelle der Farben.
    Meine Augenlider
    senken sich
    federleicht, hoffnungsvoll.
    Das Lied
    der inneren Sonne
    durchdringt mich
    ganz.

    ֎֎֎

     

    Inbrunst

    (29.12.2013)

    in Erinnerung an Wolfgang Kuhlmann und seine FriedensTreiberAgentur
    Das Feuer in meiner Brust,
    Jahrtausende alt,
    schenke ich dir.

     In mir hat es
    eine junge Welt geboren. 

    Grünendes Leben und Dichtung
    fließen ineinander
    in diesem Feuer.
     

    Gib es weiter.

    ֎֎֎

      

    Heim(at)

    (31.1.2014)

    für Barbara F.-K.


    Auf den Flügeln der Erinnerung
    kehre ich zurück
    zur Ankunft
    in diesem
    einst so fremden Land.

    Kostbar und unvergänglich
    sind die Düfte
    wunderbarer Wesen,
    die selbstlos
    eine Bleibe schenken,
    Halt und Wärme.

    ֎֎֎

     

    Mitgefühl

     (in Erinnerung an den Vietnamkrieg; 20.2.2014) 

    Ich erzähle dir meine Geschichte,
    und du kannst das Zuhören
    nicht ertragen.

    Wie soll es mir gehen,
    der das alles
    an Leib und Seele erfahren hat.

    ֎֎֎

      

    Rückkehr / Return

    (16.5.2014) 

    ​ Rückkehr

    Der alte, neue Faschismus
    kam nicht
    auf leisen Füßen.
    Er kam
    mit Fackelzügen,
    Aufmärschen
    und bekannten Zeichen.
    Er kam
    mit dem Geruch
    verbrannten Fleisches.

    ֎֎֎


    Return

    The old, new fascism
    did not come
    on the quiet.
    It came
    with torchlight processions,
    marches
    and well-known signs.
    It came
    with the smell
    of burning flesh.

    ֎֎֎

      

    Gaza 2014

    (10.8.2014) 

    Umgeben von Verwüstung und Leid
    beginne ich wieder
    mit dem Lied des Wissens und der Liebe
    mit der Hymne des Schöpfens und der Lebensfreude

    ֎֎֎ 

     

    Solidarisch

    (23.9.2014) 

    Liebste! Wenn die Welt
    sich leise oder laut
    vielfältig wehrt,
    ist es gewiss
    einer Betrachtung wert:
    Wie, wann und wo
    kam der Kuchen zustande?
    Wer
    zahlte die Zeche so lang
    unter sichtbarem
    oder verdecktem Zwang?

    ֎֎֎

    Quittenbrücke

    (6.11.2014)

    Auch ein Quittenbaum
    dicht hinter einem Gartenzaun
    am Rande eines steilen Weges
    in einem hessischen Städtchen
    kann uns lehren
    mit offenen Augen
    und Herzlichkeit
    Brücken zu bauen
    mitten in einer Zeit
    in der aus Unterschieden
    trennende Mauern
    aufgebaut werden
    so dass die Menschlichkeit
    auf der Strecke bleibt

    ֎֎֎

    Erde

    (18.12.2014)

    für Maria Mies und Saral Sarkar


    In unseren Herzen
    tanzt das Licht,
    singt der Wind,
    liebkost der Regen.

    In unseren Herzen
    dichtet der Berg,
    malt der Wald,
    komponiert die Steppe.

    In unseren Herzen
    lobt die Quelle,
    lehrt der Fluss,
    liebt das Meer.

    In unseren Herzen
    lebt die Erde.

    ֎֎֎

     

    Biografie

    (8.1.2015)


    Wie Kerzen lebten wir,
    und die Sonne ging auf.

    Dem Wind schenkten wir des Lächelns Blume,
    und der Regen kam.

    Nachts streuten wir in der Kälte unsere Herzen,
    und der Frühling gedieh am nächsten Tag.

    ֎֎֎

      

    Paris, Januar 2015

    (14.1. 2015)

     

    Bei strahlender Sonne vernebelte Sicht, düster und kalt
    Marionetten sind wild in Bewegung, das Getöse hallt
    Die Oberen marschieren geschlossen! Geht ihre Rechnung auf?
    Sehnsucht nach Wahrheit beflügelt, ich gebe nicht auf

    ֎֎֎

     

    Erhabene Nacktheit

    (in Anlehnung an Mohammad Reza Shafi‘i Kadkani; 15.2.2015)

    Bäume habe ich betrachtet
    in unterschiedlichen Trachten,
    und keine war schöner
    als die blattlose Nacktheit
    in Erwartung des Frühlings.

    ֎֎֎

     

    Einblick

    (19.2.2015)

    für Heidi

     

    Das offene Fenster deiner Augen
    gestattete mir einen Blick.
    Der Einblick bekräftigte
    meine Ehrfurcht vor der Kraft des Lebens.֎֎֎

     

    Weißbuch

     (8.3.2015)

     

    Wieso weiß?
    Weiß
    Farbe des Friedens.
    Verschleiernde Sprache
    verkündet Elend und Verwüstung.

    ֎֎֎

     

    Bei der Gestaltung des neuen strategischen Grundsatzdokumentes „Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr“ soll „neben Vertretern von Nicht-Regierungsorganisationen und Stiftungen auch die breite Öffentlichkeit intensiv miteingebunden werden“ [1]. Der folgende Text ist ein kleiner Beitrag gegen das Verbrechen, dem Krieg sowie dem faschistischen Gedankengut [2] 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen.


    Bemerkungen:

    [1] Weißbuch: https://amirmortasawi.files.wordpress.com/2015/03/weic39fbuch.pdf

    [2] Bei der Verwendung dieses Begriffes berücksichtige ich die folgende Definition: „Der Faschismus an der Macht ist die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.“

    Siehe hierzu:
    Kurt Pätzold: Kein Streit um des Führers Bart. Kontroversen um Deutschlands „dunkle Jahre“ 1933 bis 1945.
    2013, PapyRossa Verlag, Köln; Seite 117 bis 127

    Siehe auch
    Samir Amin: The return of fascism in contemporary capitalism.
    Monthly Review; Volume 66, Issue 04, September 2014
    http://monthlyreview.org/2014/09/01/the-return-of-fascism-in-contemporary-capitalism/

     

    Quelle des Glücks

    (10.3.2015)

     

    Leidenschaftlich die Wirklichkeit erfassen,
    liebevoll das Wissen einsetzen,
    bescheiden schenken und verändern.

    ֎֎֎

    Schönheitslehre

    (28.3.2015)

    den Krähen und Krokodilen gewidmet

     

    Wenn ich mit Liebe betrachte,
    finde ich eine Welt voller Schönheiten.
    Und mein Sein blüht auf.

    ֎֎֎

     

    Der Baum

    (12.6.2015)

     

    Tief in meinem Herzen
    pflege ich dein Geschenk,
    das Feuer der Lebensfreude.

    Mit gebeugtem Rücken,
    mit gebrochenem Arm,
    stets streckst du
    die Hände zum Licht.

    ֎֎֎

      

    Sehnsucht

    (25.7. 2015)

     

    Jedes Wasserteilchen meines Körpers
    ist voller Sehnsucht nach
    der geduldigen Arbeit im Gestein
    dem fröhlichen Tanz im Fluss
    der friedvollen Vereinigung im Ozean

    ֎֎֎

     

    Lass dich umarmen

    (28.7.2015)

    für die aufrecht Gehenden in erdrückenden Zeiten 

    Die Erde wird sich drehen
    gewiss auch ohne dich
    und tröstend gestehen
    sie brauche dich 

    Die morgendliche Brise wird sanft dich wachküssen
    Die Sonne wird betörend deinetwegen tanzen
    Der Wind wird dir behutsam tausend Lieder singen
    Der Regen wird zärtlich dich liebkosen
    Der Regenbogen wird frohlockend dir die Wege zeigen
    Der Mond wird warm deine Träume beleuchten 

    Die Erde wird sich drehen
    gewiss auch ohne dich
    und tröstend gestehen
    sie brauche dich

    ֎֎֎

     

     

    Mithra

    (16.9.2015)

     

    Ungerechtigkeit
    gibt es seit Jahrtausenden. 

    Den Verwüstern des Lebens
    sind Gebrochene,
    Gelähmte,
    Verbitterte,
    im Herzen Versteinerte 

    Einen Augenblick
    verweilst du auf dieser Erde.
    Vom Gerechtigkeitssinn erfüllt
    lebe,
    lebe mitten im Leben,
    lebe aufrecht und strahlend.

    ֎֎֎

      

    Gerade deswegen

     (November 2015) 

    Frohgemut und gelassen
    mir der eigenen Vergänglichkeit bewusst
    schöpfe ich mit allen Sinnen
    Stück für Stück Wissen
    zur Änderung und Erhaltung dieser einen Welt
    getrieben von der Notwendigkeit der Gerechtigkeit
    und der Empfänglichkeit für Schönheit

    ֎֎֎

     

    Schreiben

    (26.12.2015) 

    Schreiben
    nicht aus Angst, Schwäche, Eitelkeit
    mit Heuchelei, Scheinheiligkeit
    nicht des Geldes wegen
    oder mit der Herrschenden Segen 

    Schreiben
    aus Freude an Schönheit und Schöpfung
    als Bedürfnis zum Begreifen, zur Erkundung
    aus tiefem Wunsch zum Brücken-Bauen
    zu sich selbst und den Anderen

    ֎֎֎

    Leidenschaftlich und gelassen

    (17.1.2016)

    Wenn du die Augen schließt,
    fehlen hier zwei Sterne. 

    Beleuchte und behebe
    leidenschaftlich
    die tieferen Gründe
    dieser maßlosen Ungerechtigkeit
    in unserer bewegenden Zeit.
    Und pflege stets dabei
    das Feuer in deiner Brust.

    Wenn du die Augen schließt,
    fehlen mir zwei Sterne.

    ֎֎֎

     

    Für dich

    (31.1.2016)

    Heidi gewidmet

     

    Es gibt Momente im Leben,
    wo ich im Meer der Glückseligkeit badend
    mit tiefster Zufriedenheit denke,
    das Ende kann jetzt getrost kommen.
    Einen Strauß solcher Momente wünsche ich dir.

    ֎֎֎

     

    Licht und Schatten

    (19.2.2016)

    Es ist eine klare Nacht
    die Sterne zum Greifen nah
    ich lausche der Melodie der Stille
    genieße den Wein der Einsamkeit
    und denke an dich
    deine Kinder
    und Kindes Kinder 

    Es ist eine besondere Zeit
    uns Höhen und Tiefen zeigend
    zum Überdenken alter Gewohnheiten einladend
    zum Überprüfen bisheriger Überzeugungen
    uns zu Gratwanderungen ermunternd
    zum Springen über den eigenen Schatten 

    Es ist eine klare Nacht
    die Sterne zum Greifen nah
    ich rieche schon die Morgendämmerung
    und denke an dich
    deine Kinder
    und Kindes Kinder

    ֎֎֎

     

    Verständigung

    (9.3.2016) 

    Wenn ich Gefühle und Gedanken
    in meiner Muttersprache beschreibe
    und diese dann dir übersetze
    gehen gelegentlich
    Feinheiten verloren 

    So fühle mich sprechen
    mit meinen Augen
    mit meiner Haut
    mit meines Herzens Schlägen

    ֎֎֎

     

    Gefüge

    (9.3.2016) 

    Kraftvoll verankert in dieser Erde
    sehnsüchtig den Himmel betrachtend
    gelassen seelenverwandt mit dem Meer
    lebe ich fröhlich mit dir
    das Lied der Liebe

    ֎֎֎

     

    Straßenkinder

    (13.4.2016)

    Kennst du den Glanz der Tauperlen
    an Zweigen und Grashalmen
    beim Auftreten der ersten
    morgendlichen Sonnenstrahlen 

    Kennst du den Tanz der Spinnweben
    benetzt mit Schneesternen
    bei abendlicher Brise
    im schimmernden Mondschein 

    Kennst du den Zauber
    des Gesangs verliebter Stare
    mitten in der Zärtlichkeit
    des frischen Grüns im April 

    So könntest du ein Bild malen
    von meiner bewegenden Freude
    wenn das Wort Straßenkinder
    nur in Geschichtsbüchern vorkäme

     

     

    Für die in mir

    (April 2016)

    den Hebammen gewidmet

    Sei willkommen
    mit all deinen Tränen
    und dem belebenden Lachen 

    Bin ich der Berg, so sei du der Regen
    Bin ich der Regen, so sei du die Erde
    Bin ich die Erde, so sei du der Frühling
    Bin ich der Frühling, so sei du der Garten
    Bin ich der Garten, so sei du der Fluss
    Bin ich der Fluss, so sei du das Meer
    Bin ich das Meer, so sei du die Wolke
    Bin ich die Wolke, so sei du der Berg 

    Komm
    Setz dich zu mir
    mit all deinen Tränen
    und dem belebenden Lachen

    ۞۞۞

     

    Beheimatung im Herzen

    (17.4.2016)

    für Heidi

     

    Auf Lutherweg wandernd im Thüringer Walde
    Eine Schnecke fiel mir auf am Weges Rande
    Ihr Häuschen auf dem Rücken tragend sachte
    Mir kam Heimat in Sinn und mein Herz lachte
    Trage dein Zuhause in dir frei und unbeschwert
    Schmücke es frohgemut mit allem was liebenswert     

       

    ֎֎֎

    Gedichte

    (22.4.2016)

    Auf der Terrasse eine Vogeltränke
    und am Baum ein Vogelhäuschen 

    Meine Geschwister kommen angeflogen
    leichtfüßig, unbeschwert
    beschenken mich unermesslich
    zwitschern, plätschern
    berühren mein Herz
    nehmen ein paar Körnchen mit 

    Ich atme ihre Anwesenheit ein
    und denke glücklich
    wenn sie frei weiterziehen
    werden sie vielleicht
    andere auch beschenken 

    Solch eine Beziehung
    pflege ich
    auch zu meinen Gedichten

     

    Abruzzen

    (Juni 2016)

    Maria Mies gewidmet 

    Nun stehe ich hier
    dieses weite Land ehrfürchtig
    mit allen Sinnen aufnehmend
    weiß-rot, gelb-grün, blau, rosa 

    Den duftenden Wind tief einatmend
    das Meer am Horizont sehnsüchtig ahnend
    frage ich mich immer wieder
    wie wir den Verwüstern des Lebens trotzend
    mit Hilfe der Gelähmten, Betäubten, Verführten
    und doch tief im Herzen Bewegten
    die Geburt der keimenden Gesellschaftsformation
    ermöglichen können

    ֎֎֎

     

    Welle

    (17.7.2016)

    für Heidi, Ilona und Sima

     

    Wenn der Wind im Morgen-Land ankommt
    wird er die Wolken liebkosend
    den Duft unseres langen Atems besingen
    So wird die Steppe
    gerührt von Zärtlichkeit des Regens
    ein buntes Meer gebären
    voller Disteln, Ginster, Minzen und Mohnblumen

    ֎֎֎

      

    Solch eine Liebe

    (7.7.2016)

    Victoria und Farshin gewidmet 

     

    Fliege frei und unbeschwert
    Fliege hoch
    Betrachte aus anderen Blickwinkeln
    das Geschehene
    das Laufende
    das Folgende 

    Begreife mit all deinen Sinnen
    drei Bereiche
    Wissen
    Gerechtigkeitssinn
    Verbundenheit mit dieser Erde 

    Kehre zurück zu mir
    erhaben
    Singe mit mir
    frohgemut
    das Lied der Entwicklung
    das Lied des Gedeihens
    Fliege frei und unbeschwert

    ֎֎֎

     

    Die Schwalm*

    (24.7.2016)

    für Ulli, Wolfgang und Bella

     

    Staunend betrachte ich dich
    wie ein neugieriges Kind
    und höre begeistert zu
    wenn du Geschichten erzählst
    Dankend nehme ich an
    deine kristallklaren Geschenke
    im winterlichen Sonnenschein
    Ach, wenn auch andere Menschen
    deine Wunder wahrnähmen
    und dann voller Inbrunst
    in der vermeintlichen Kälte
    ihre eigenen hervorbrächten

    ֎֎֎

     

    * Die Schwalm ist der Hauptzufluss der Eder. Inspiriert durch Fotos, die eine Freundin an einem sonnigen Wintertag von den wunderbaren Eisgebilden an den Flussufern gemacht hatte, wurde dieser Text verfasst.

     

    Schmetterling

    (Juli 2016) 

    Wenn sich ein Element
    in einem System ändert
    dann folgen Anpassungen
    im ganzen Gebilde
    So sei der Schmetterling
    dessen feiner Flügelschlag
    den fernen Berg
    zum Beben bringt

    ֎֎֎

     

    Von Elfen und Elben

    (Juli 2016) 

    Wer bist du
    die ich so vertrauensvoll
    durch meine Landschaften führe
    die in meinen Träumen
    verzaubernd verweilt
    und bei der ich hautnah
    kraftvoll und schöpferisch
    Ruhe finde

    ֎֎֎

    Liebeslied 

    (28.7.2016) 

    Aus dem Fenster blickend
    die Morgenröte
    viele Schwalben
    mit dem Nachwuchs
    Fliegen übend
    Gerade in dieser Zeit
    der aufkeimenden Zärtlichkeit
    mitten im erlahmenden Getöse
    deiner Verwüster
    und dem betäubenden Schweigen
    deiner Bewohner
    schreibe ich für dich
    die einmalige Erde
    meine schönsten Liebeslieder

    ۞۞۞ 

     

    Zusammenhänge im großen Gefüge

    (4.8.2016) 

    Habe keine Angst, Liebste
    Lass dich nicht verwirren 

    Die Verächter des Lebens
    haben ein Heer
    von Wissenschaftlern, Forschern
    Psychologen, Ärzten
    Künstlern, Schriftstellern
    und Geistlichen aller Schattierungen 

    Lass dich nicht einschüchtern
    von ihrem allmächtigen Getue
    von ihrem allwissenden Gehabe
    Stelle einfache
    und entscheidende Fragen 

    Gelten die  angegebenen Maßstäbe
    für Freunde und Feinde
    Gelten die ersehnten Vorstellungen
    für alle Wesen dieser Erde
    oder nur
    für  einen auserwählten Menschenkreis 

    Lass dich nicht in die Irre führen
    mit dem törichten Geschwätz
    vom bösen Kern des Menschen
    Erforsche den umfassenden Rahmen
    und die Zusammenhänge
    im großen Gefüge
    in dem der Mensch zu dem wird
    was die Gegenwart zeigt 

    Habe Zuversicht, Liebste
    Betrachte das Laufende
    aus einem wesentlich weiteren
    zeitlichen Blickwinkel
    und denke dabei auch
    an das Wunder der Raupe

    ֎֎֎

     

    Meer der Morgenröte     

    (12.8.2016)

    Karin Leukefeld gewidmet                                                                                  

    Offenherzig tauche ich ein
    in das Meer der Morgenröte
    und nehme Stimmen wahr
    die der Berge, der Wälder
    der Wüsten, der Weizenfelder
    der Insekten, der Fische
    der Straßenkinder
    der Entrechteten
    der Verdammten
    der Schwach-Gehaltenen
    der Entwurzelten 

    Alle stellen dieselbe Frage
    nicht belehrend
    nicht vorwurfsvoll
    nur klärend 

    Angesichts deiner Möglichkeiten
    wirst du unsere Stimme sein
    im verschweigenden Getöse
    oder wirst du uns verbannen
    in das Land der Vergessenheit
    aufgrund deiner Ängste
    geführt von deiner Eitelkeit
    fliehend in Scheinheiligkeit 

    Aufrecht tauche ich auf
    aus dem Meer der Morgenröte 

    ֎֎֎

     

     

  • (Nach dem Originaltext folgt die Übersetzung von Dietrich Weller)

    Simon-Katze

    EXPERIENCE – ERFAHRUNG

    “Homo faber fortunae suae” Everyone is a blacksmith of his own making. However, destiny awards one with the hammer to forge red-hot iron, whereas  others must forge the ice-cold iron with a bare fist. Nevertheless, those less privileged during their life’s journey are forced to the bitterest path to achieve knowledge. This rough path of continually learning through mistakes is known as experience.

    The word “experience” originates from from the latin noun experientia which ist derived from experiens, participle of the Verb experiri = through the trying“.

    Moreover, I believe that the origin of the word experience is older. Let’s propose a new hypothesis.

    The Greek language uses the term “piro” πείρω) for the word experience which further develops into the expression “empirical”.

    Empirical denotes information gained by means of experience.

    The greek prefix pyr- ist derived from pyro = fire.

    The new hypothesis is that the double meaning of the term “piro / pyro” = experience and fire, alludes to an old tale.

    “This very old tale is about a monkey who persuaded a cat to pull chestnuts out of the fire, so as to avoid burning its own paws”.

    Almost certainly is that the cat gained experience through fire. This tale and versions of it is present in many languages, as in English Proverbs from the 17th century: “Burn not thy fingers to snuff out another’s candle“.

    Harm oneself, as in “I’ve burned my finger “could mean “I have learned from personal experience.“

    Experience fills a space between capacities of perception and memory on the one side, and the dispositions of art and science on the other side. 
Simplified experience is generated from perception and memory.

    Even Hippocrates describes the role of experience in formulating medical theories and in following medical treatments. (experienced doctors!)

    More developed forms of experience come from the tendency to grow. It grows horizontally as in the knowledge of new facts at the level of generality. Moreover, experience grows vertically to a higher level.

    The German word for experience is “Erfahrung”, and it expresses its meaning more precisely. Die Erfahrung describes the growth (both horizontally and vertically), and the aspect of the time,that indicates the coherency of life’s experiences.

    Dr. med. André Simon  ©Copyright

     

    André Simon: Erfahrung

    Übersetzung von Dietrich Weller

    „Homo faber fortunae suae.“[1] Jeder ist der Schmied seines Schicksals. Das Schicksal jedoch belohnt den, der mit dem Hammer das glühend rote Eisen schmiedet, wobei andere das eiskalte Eisen mit der bloßen Faust schmieden müssen. Nichtsdestotrotz werden die weniger Privilegierten im Laufe ihres Lebens auf die bittersten Wege geschickt, um zur Erkenntnis zu kommen. Diesen groben Pfad des andauernden Lernens durch Fehler nennt man Erfahrung.

    Das Wort „experience“ stammt aus dem lateinischen Hauptwort experientia = Versuch, dieses wieder von dem Verb experiri = versuchen, erproben, ausprobieren.

    Ich glaube jedoch, dass der Ursprung des Wortes Erfahrung älter ist. Lassen Sie mich eine neue Hypothese aufstellen.

    Die griechische Sprache benützt den Begriff piro (πείρω)für das Wort Erfahrung, das sich weiter entwickelt zu dem Ausdruck empirisch.

    Empirisch bezeichnet Informationen, die durch Erfahrung gewonnen werden. Etymologisch bezeichnet die Vorsilbe pyro– Feuer[2].

    Die neue Hypothese besagt, dass die Doppelbedeutung des Begriffes piro = Erfahrung und Feuer sich auf eine alte Sage bezieht.

    Diese sehr alte Sage handelt von einem Affen, der eine Katze überredet hat, Kastanien aus dem Feuer zu holen, damit er sich seine eigenen Pfoten nicht verbrennt.

    Beinahe sicher ist, dass die Katze die Erfahrung durch das Feuer gewonnen hat. Die Sage und Versionen davon sind in vielen Sprachen vorhanden, so auch im englischen Sprichwort: Verbrenn deine Finger nicht, wenn du die Kerze eines anderen ausdrückst.

    Sich selbst schaden wie in „Ich habe meinen Finger verbrannt“ kann bedeuteten: Ich habe aus meiner persönlichen Erfahrung gelernt.

    Erfahrung füllt einen Raum zwischen den Fähigkeiten der Wahrnehmung und des Gedächtnisses einerseits und den Möglichkeiten des Kunst und Wissenschaft andererseits. Vereinfacht: Erfahrung wird durch Wahrnehmung und Gedächtnis erzeugt.

    Sogar Hippokrates beschreibt die Rolle der Erfahrung beim Formulieren medizinischer Theorien und der daraus folgenden Behandlungen (erfahrene Ärzte!).

    Weiter entwickelte Formen der Erfahrung entstehen durch die Tendenz zu wachsen. Sie wächst horizontal wie in der Kenntnis neuer Tatsachen auf allgemeiner Ebene. Außerdem wächst Erfahrung vertikal auf ein höheres Niveau.

    Das deutsche Wort für Erfahrung beschreibt die Bedeutung noch genauer. Erfahrung beschreibt das Wachstum (sowohl horizontal als auch vertikal) und den Gesichtspunkt der Zeit, die den Zusammenhang der Erfahrungen in einem Leben anzeigt.

     

    [1] Bemerkung des Übersetzers: Wörtlich übersetzt: „Jeder ist der Handwerker seines Schicksals.“ Im Deutschen benützen wir das Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied.“

    [2] Bemerkung des Übersetzers: Pyromanie ist eine psychische Störung: der zwanghafte Trieb, Brände zu legen und sich beim Anblick des Feuers sexuell zu erregen. Pyrotechnik ist die Feuerwerkerei (Herstellung und Gebrauch von Feuerwerkskörpern).

    Copyright für die Übersetzung Dr. Dietrich Weller

     

  • Gedanken im Zug nach Hause bei der Lektüre von Uhlenbruck „Gedankensplitter ohne Kopfzerbrechen“

    Wer im Zug Aphorismen von Uhlenbruck in einem Zug lesen will, wird ständig von den Stoppschildern der Gedanken gebremst, damit die eigenen Gedanken zum Zug  kommen.

    Wenn ich schon mal eine guten Gedanken habe, schreibe ich ihn auf, damit ich besser darüber nachdenken kann.

    Gute Aphorismen sind kurze Gedanken, die zum langen Nachdenken anregen.

    Wer viel redet, sollte sich kurzfassen. Wer sich kurzfasst, kann sich das Vielreden sparen.

    Ein kleines Aphorismenbuch von Uhlenbruck enthält mehr Drama und Lebensweisheit als viele dicke Romane zusammen.

    Ein guter Aphorismus bewirkt das gleiche wie eine Krankheit: Wir werden am unbewussten Weiterlesen (Weiterleben) gehindert und zur Selbstreflektion gezwungen.

    Warum lege ich das Ubhlenbruck-Buch nach vier Seiten weg? Weil es Aphorismen aus dem Versteck meines Gehirnes lockt. Das ist Aphorismen-Resonanz.

    Warum lese ich dann weiter? Weil es noch viel zu lernen gibt im Lehrbuch des Lebens.

    Beim Lesen eines Aphorismus geht mir das Licht auf, dass ich diese Erkenntnis noch nicht aus dem Dunkel meines Gehirns ans Licht meines Bewusstseins geholt habe. Wie hell ist es dann in den Menschen, die ein Aphorismenbuch geschrieben haben?

    Die Schriftstellerärzte wollen eine Lesung über Erotik abhalten, die nicht unter die Gürtellinie gehen darf. Ist das eine Quadratur des Kreises oder eine Sublimierung des Greises?

    Wie beschreibt man Dinge unterhalb der Gürtellinie, ohne diese zu unterschreiten und trotzdem treffend? Mit Geist!

    Macht das dann weltliche Freude oder ist es nur sublimierte Kompensation?

    Eine der wichtigsten Übungen des Säuglings für das ganze Leben: Kopf hoch und dabei lächeln!

    Jeder Aphorismus ist ein Titel für eine ganze Romansammlung.

    Unwissenheit und mangelnde praktische Erfahrung sind eine gute Voraussetzung um schnell radikale Urteil zu fällen. Vorurteile zu zementieren und Machtansprüche zu erheben und auszuleben. Die katholische Sexuallehre ist ein Jahrtausende altes Beispiel.

    Warum stellt der Papst Regeln für ein Spiel auf, das er und seine Glaubensbrüder nicht spielen dürfen?

    Angst ist eine sehr wirksame Autosuggestion, dass genau das geschieht, wovor wir uns fürchten. Auch deshalb sollten wir uns vor unseren Gedanken hüten.

    Wir wollen Kinder behütet wissen. Behüten wir auch unsere Gedanken?

    In der Erinnerung verblasst ein Mensch, oder er wird durch Überhöhung idealisiert. Selten entspricht die Erinnerung der Realität.  So gehen wir auch mit der Erinnerung an uns selbst um.

    Die Rolle des Sündenbocks ist in einer Gemeinschaft eine wichtige Funktion, auf die sich manche viel einbilden. Die Medien können ihn zum Star stilisieren. Die Medien verdienen, ohne es verdient zu haben, meist umgekehrt proportional zum Verdienst des Sündenbocks.

    Ein unkundiger Kunde ist ein guter Kunde, weil er die Kunde vom Betrug mit dem Betrag noch nicht erkundet hat.

    Vor mir sitzt eine Mutter, die sich rührend um ihr zerebral schwerst behindertes Kind kümmert. Diese Frau ist der Engel, den Gott dem Kind als Lebensbegleiter an die Seite geschickt hat.

    Mancher Mensch wird besonders bissig, wenn er die dritten Zähne trägt.

    Das Thema loslassen wird uns nicht loslassen, bis wir unser Leben loslassen.

     

     

  • TURTLE’S   SECRET

    (Die deutsche Übersetzung von Dietrich Weller folgt nach dem englischen Text.) 

                                               Simon-Der Bibliothekar - Das Geheimnis der SChildkröte                                           

    A long time ago there lived in Xian the Emperor’s Supreme librarian named Li-Yuan. His every day’s work was to examine, catalogue and control manuscriptsand ancient books written on  bamboo strips or rice papers as wereother written pieces in the possession of the great Imperial Library.

    Coincidentally, leafing through an old book, to his great astonishment Li-Yuan came across, between the pages a faded loose leaf sheet of inscribed rice paper. Possibly it had been put there by one of his predecessors. The paper had written on the top a question – and was followed by an interesting answer.

    The question asked was: “Why do turtles all bear heavy shell on their backs?”

    The answer given was: “The turtle’s ancestor WUGUI got his shell after declining an invitation from the Almighty with the excuse, that “There is no place like home”. His refusal enraged the Almighty so much so that he condemned all turtles to carry on their back forever a shell as their home. However, every grief contains seeds of bliss.

    To be protected against all injuries the turtle hides its head, legs and tail in the shell. It is considered that the turtles are spiritually gifted creatures.

    In former times, most natural phenomena seemed inexplicable to people. Therefore, they invented an imaginary animal able to resolve all mysterious happenings. This imaginary creature was a “a dragon” that symbolized the representation of existing animals. People painted the dragon’s shape with a horse’s head, crocodile’s body and a snake’s tail. However, a dragon was only imaginary whereas turtles were real.

    Everybody is able to observe, stroke and even talk to turtles. The turtle is slow, but a careful and  cautious walker. Every step is preconceived and is in accordance with its prudent nature. These actions are appropriate at a given time and space.

    Gentleness and politeness are the ways turtles care for all other living creatures, great and small. This implies that the body is in a state of balance and the heart beats very slowly.

    The peaceful heart guarantees a very long life and the longevity gives the blessing of prudence. In comparison with a turtles life, the duration of a

    human life is too short to reach the heart of prudence. Prudent beings are able to
    judge between morally admirable and wicked actions. The actions are appropriate at a given time and space. Gentleness and politeness are the ways to care for all other beings “

     

    Author’s note

    The biggest gift in life is a peaceful heart. A peaceful heart is a blessing for a long life. GUI (龟) is one of the oldest Chinese pictograms. Such pictograms are found already in oracle bone inscriptionswhich express the admiration towards turtles and the simplicity of the figures shows theturtle’s side and front views.

    These pictograms are lifelike and children throughout the whole world can “read them and identify the turtle’s head, legs, shell and tail”.  The pictogram GUI () is used to depict longevity as in GUI-SHOU (a long life) as does the pictogram in GUI-LING (a turtle’s age), both metaphors for a venerable age . 

     

    Dr.med.André Simon  ©Copyright

    andre.simon@hin.ch

     

    Das Geheimnis der Schildkröte

    Von André Simon

    Vor langer Zeit lebte in Xian des Kaisers oberster Bibliothekar Li-Yuan. Seine tägliche Arbeit bestand darin, Manuskripte und alte Bücher zu untersuchen, zu katalogisieren und zu kontrollieren, die auf Bambusstreifen oder Reispapier geschrieben waren so wie andere geschriebene Stücke im Besitz der großen kaiserlichen Bibliothek.

    Zufällig stieß Li-Yuan zu seinem großen Erstaunen beim Durchblättern eines alten Buchs zwischen den Seiten auf ein verblasstes loses Blatt von beschriebenem Reispapier. Vielleicht war es von einem seiner Vorgänger dorthin gelegt worden. Oben auf dem Blatt stand eine Frage geschrieben – und sie wurde von einer interessanten Antwort gefolgt.

    Die gestellte Frage lautete: „Warum tragen alle Schildkröten schwere Panzer auf ihren Rücken?“

    Die gegebene Antwort lautete: „Der Vorfahr der Schildkröte, WUGUI erhielt seinen Panzer, nachdem er eine Einladung des Allmächtigen mit der Begründung abgelehnt hatte, es gebe keinen anderen Platz als das Zuhause. Seine Weigerung erzürnte den Allmächtigen so sehr, dass er alle Schildkröten dazu verdammte, für immer auf ihren Rücken einen Panzer zu tragen. Jede Trauer enthält jedoch den Samen zur Glückseligkeit.

    Um gegen alle Verletzungen geschützt zu sein, versteckt die Schildkröte ihren Kopf, die Beine und den Schwanz im Panzer. Man geht davon aus, dass alle Schildkröten spirituell begabte Kreaturen sind.

    In alten Zeiten waren natürliche Phänomene für die Leute unerklärlich. Deshalb erfanden sie ein symbolisches Tier, das alle mysteriösen Geschehnisse erklären konnte. Dieses symbolische Tier war ein Drache, der die Erscheinung der existierenden Tiere darstellte. Die Leute malten die Drachenform mit einem Pferdekopf, einem Krokodilkörper und einen Schlangenschwanz. Ein Drache jedoch war nur symbolisch vorhanden, während die Schildkröten Wirklichkeit waren.

    Jeder kann Schildkröten beobachten, sie streicheln oder sogar mit ihnen reden. Die Schildkröte ist langsam, aber eine sorgfältige und vorsichtige Geherin. Jeder Schritt ist vorbedacht und steht im Einklang mit ihrer weisen Natur. Die Handlungen sind angepasst an die jeweilige Zeit und den Raum.

    Freundlichkeit und Höflichkeit sind die Mittel, mit denen Schildkröten sich um alle anderen Kreaturen kümmern. Das setzt voraus, dass der Körper sich in einem Gleichgewichtszustand befindet und das Herz langsam schlägt.

    Das friedvolle Herz garantiert ein sehr langes Leben, und die Langlebigkeit schenkt die Segen der Besonnenheit. Im Vergleich zu einem Schildkrötenleben ist das Menschenleben zu kurz, um ein Herz der Besonnenheit zu erreichen. Besonnene Lebewesen sind fähig, zwischen moralisch bewundernswerten Handlungen und verrückten Taten zu unterscheiden. Die Handlungen sind an die jeweilige Zeit und den Raum angepasst. Freundlichkeit und Höflichkeit sind die Wege, um für alle anderen Wesen zu sorgen.

     

    Bemerkung des Autors

    Das größte Geschenk im Leben ist ein friedvolles Herz. Ein friedvolles Herz ist ein Segen für ein langes Leben. GUI (龟) ist eines der ältesten chinesischen Symbolbilder. Solche Symbolbilder findet man schon in Inschriften von Orakelknochen, die die Bewunderung für Schildkröten ausdrücken, und die Einfachheit der Zeichen zeigt die Anblick der Schildkröte von der Seite und von vorn.

    Diese Symbolbilder sind lebensähnlich, und Kinder in der ganzen Welt können sie lesen und Kopf, Beine, Panzer und Schwanz der Schildkröte erkennen.

    Das Symbolbild GUI wird benutzt, um Langlebigkeit abzubilden wie in GUI-SHOU (ein langes Leben) oder wie im Symbolbild GUI-LING (ein Schildkröten-Alter). Beide Metaphern stehen für ein verehrenswertes Alter.

    Übersetzung von Dietrich Weller