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Beitrag Dietrich Weller zum BDSÄ-Kongress 2019 in Bad Herrenalb
Moderation Helga Thomas, Samstag, 22. Juni 2018, 11 h
Was wäre, wenn wir alle immer ehrlich wären?
In der Bibel steht: „Deine Rede sei ´ja, ja`, oder ´nein, nein`.- Alles andere ist vom Übel.“
Das wird bestätigt durch den Satz eines Autors, dessen Namen ich nicht mehr erinnern kann:
„’Ja‘ ist richtig. ‚Nein‘ ist richtig. ‚Ja aber‘ ist immer falsch.“
Wenn doch alles so einfach wäre!
Wikipedia definiert Ehrlichkeit als
Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, auch als Zuverlässigkeit, besonders in Hinblick auf Geld- und Sachwerte.
Um aufrichtig und der Wahrheit verhaftet zu uns selbst stehen zu können, müssten wir zuerst einmal wissen, was wir selber wirklich, also authentisch und nicht angelernt – sind und wollen!
Damit meine ich, dass es nicht darum geht, umzusetzen, was uns anerzogen wurde. Sondern es geht darum zu erkennen, was in uns wirkt, wenn wir auf unsere „innere Stimme“ hören und nicht auf die Menschen, die uns prägen mit Schuldgefühlen und Gewalt aller Art und sogenannten gesellschaftlichen Regeln. Diese sind ohnehin von Gesellschaft zu Gesellschaft von Land zu Land und von Kultur zu Kultur verschieden.
Grob gesagt gibt es zwei Gruppen von Menschen: Die eine Gruppe weiß, was sie will; die andere weiß, was sie nicht will. Wenn man die zweite Gruppe fragt, was sie will, hat sie darauf keine Antwort. Ihre Welt ist dominiert von Ablehnung.
Wenn wir dazu berücksichtigen, dass wir immer am Anderen das am schnellsten erkennen und ablehnen können, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, wird die Sache schon komplizierter.
Um ehrliche Kinder erziehen zu können, müssen die Eltern ehrliche Leute sein. Aber wer erzieht die Eltern?
Die Vermittlung von Schuldgefühlen ist eine der wirksamsten Formen der Gewaltausübung, denn sie scheint die Selbstgerechten zu berechtigen, ihre Mitmenschen auf den angeblich rechten Weg zu führen. Und das meine ich im weitesten Sinn – vom Elternhaus, im Freundes- und Arbeitsbereich und nicht zuletzt in der Schule und Kirche. Und Schuldgefühle verführen oder zwingen sogar manchmal zu Unehrlichkeit.
Natürlich wird normalerweise Gewalt nicht als solche deklariert. Sie kommt durch die Hintertür: „Du solltest das tun, was ich für richtig halte. Wenn du das nicht tust, geht es mir schlecht.“ Noch hinterhältiger: „Du solltest immer gehorchen, denn dann kommst du besser zurecht im Leben.“- Oder mit dem Versprechen: „Wenn du gottgefällig lebst, kommst du in den Himmel, sonst erwartet dich die Hölle! Und ich sage dir, was Gott will!“ Ketzerische Frage: Woher wissen wir, was er gesagt hat, wenn ihn noch keiner gesehen oder gar gehört hat?
Wenn die Anpassung lang genug gefordert wird, verstummen in uns die Empfindungen, was wir „eigentlich“ fühlen und tun würden. Statt primärer Gefühle von Ablehnung und Protest entstehen in uns Ersatzgefühle, die helfen, den Druck in eine andere Richtung lenken und besser zu ertragen: Statt des Gefühls der Unterordnung macht sich zum Beispiel das Pflichtgefühl zum Helfen breit. Dort erhalten wir soziale Anerkennung, die wir brauchen und wollen, und das verstärkt unsere angepasste Meinung als angeblich richtig.
Ein anderes Ersatzgefühl ist Müdigkeit, die sich bis zur Trauer und Depression steigern kann. Der Druck von außen entfacht Gegendruck in uns, der aber nicht nach außen geäußert werden darf. Also bleibt die Energie in uns und wendet sich gegen uns selbst. Wir glauben schließlich sogar, dass wir selbst nicht gut genug sind. Wer lange genug Druck – also Aggression! – anstaut, ohne Erleichterung zu erfahren, verhält sich wie ein Dampfkessel, der platzt, wenn der Druck zu hoch ist. Überspitzt gesagt: Wenn jemand sich selbst tötet, muss man fragen, wem die Aggression wirklich galt.
Fremdbestimmung sorgt typischerweise auch dafür, dass wir unsere eigene Überzeugung und unsere eigenen Gefühle zunehmend infrage stellen und nicht mehr wahrnehmen oder gar als störend empfinden. Deshalb brauchen wir auch so viele Psychiater und Psychologen, die uns bei der Erkennung und Bewältigung unsere Konflikte helfen.
Wenn wir wirklich immer ehrlich sein wollen, müssen wir zuerst erkennen, welche Gefühle und Glaubenssätze in uns echt und welche aufgesetzt, anerzogen, fremdbestimmt sind.
Selbst wenn wir diese Grundbedingung weglassen und überlegen, was wir in dem Zustand, in dem wir gerade jetzt sind, denken, fühlen und tun wollen, werden die Meinungen ungedämpft aufeinander prallen. Ich sehe da schwarz: Bei totaler Ehrlichkeit kommt der totale (Über-) Lebenswille sofort hinterher. Hauen und Stechen um Macht bricht offen aus – und zwar schlimmer als ohnehin schon.
Ehrlichkeit ist nicht immer befreiend, gut und erstrebenswert. Ehrliche Aussagen können entmutigend, beleidigend, zerstörerisch, rechthaberisch und gemein sein.
Wenn wir alle immer ehrlich wären, müsste ich manchen Patienten sagen, dass ich sie fett, unästhetisch, ungezogen, ungepflegt, ungerechtfertigt anspruchsvoll finde. Und ich müsste damit rechnen, dass sie mich als arrogant, hochnäsig, egoistisch und eingebildet bezeichnen.
In den vergangenen Jahrtausenden hat es sich als lebenserhaltend erwiesen, dass Menschen nach außen freundlich und hinter den Kulissen heimlich und oft hinterhältig sind. Dadurch entstanden einerseits die Diplomatie und offizielle Politik und anderersetis die Geheimdiplomatie und Geheimdienste, die meist das Gegenteil beabsichtigen. Skrupellosigkeit, Hass, Menschenverachtung werden kaschiert und schöngeredet. Erst wenn Verrat und Betrug nicht mehr zu verbergen sind, werden sie zögernd zugegeben und durch das Verhalten des Gegners begründet und gerechtfertigt.
Mit Ehrlichkeit würde die Kommunikation einfacher, direkter und schonungsloser. Eigentlich ist es ja gut, wenn Aussage und Verhalten des Gegenübers unmissverständlich sind. Dann wissen wir, woran wir sind und können, ehrlich, wie wir sind, unmissverständlich reagieren.
Ich vermute, das wird noch lebensgefährlicher als ohnehin schon. Es sei denn, der Drang zur Ehrlichkeit ist größer als der Überlebenswille.
Wenn alle ehrlich wären, könnten viele Priester und andere Männer offen zu ihrer Pädophilie stehen. Die Katholische Kirche müsste auch das Verhalten einiger Priester nicht decken, die – wie eine sorgfältig recherchierte Dokumentation von ARTE nachgewiesen hat[1]– ihre Macht missbrauchend weltweit Nonnen zum regelmäßigen Sex zwingen unter dem Vorwand, ihnen Jesu Liebe zuteilwerden zu lassen. Doris Wagner ist eine der Frauen, die als Nonne regelmäßig von ihrem vorgesetzten Mönch und später von dessen Bruder, ebenfalls Mönch(!), missbraucht wurde und inzwischen mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit ging und zwei Bücher[2] schrieb. Sie ist eine der wichtigen Stimmen, um den Vatikan zur Aufarbeitung der Skandale zu bringen.[3]
Es gibt laut ARTE nachgewiesene Fälle, wo Priester den Oberinnen eines Ordens Geld gegeben haben und diese dafür den Priestern die Nonnen lieferten. Nonnen, die schwanger werden, müssen oft auf Geheiß ihres Ordens abtreiben und werden dann mittellos aus dem Orden verstoßen. Das alles wurde vom Vatikan verschwiegen, der sich damit selbst der Vertuschung und Unterstützung krimineller Handlungen schuldig gemacht hat. – Man müsste mal juristisch klären, ob dieses Verhalten der Katholischen Kirche die Merkmale des organisierten Verbrechens erfüllt.
Jetzt beginnt erst die Aufklärung, nachdem die Medien zunehmenden Druck gemacht haben und der Papst den „Missbrauchsgipfel“ im Februar 2019 einberufen hat. Allerdings muss der Verdacht oder die Tatsache des Missbrauchs nur an kirchliche Stellen gemeldet werden. Die Organisation, zu der die Übeltäter gehören, kontrolliert sich selbst. Damit bleibt von vornherein und wie bisher die Transparenz ausgeschlossen.
Wer diese Missstände nicht wahrhaben will, sie ableugnet, ihnen aus dem Weg geht, trägt seinen Teil dazu bei, dass sie weiter so bestehen. wie sie schon immer waren. Quis tacet, consentire videtur. Wer schweigt, scheint zuzustimmen.
Wenn wir alle ehrlich wären, würde Herr Trump sagen: „Ich bin einer der größten Lügner, die jemals US-Präsident waren.“
Konkretes Beispiel: Die Washington Post veröffentlicht täglich nach sorgfältiger Faktenüberprüfung die Lügen und irreführenden Behauptungen von Donald Trump seit seinem Amtsantritt. Am 07. Juni 2019, also 869 Tage nach Amtsantritt, war Trump bei 10.796 Lügen und irreführenden Behauptung angekommen. Interessant ist, dass er im ersten Jahr als Präsident durchschnittlich täglich etwa 5,9 falsche oder irreführende Behauptungen aufgestellt hat, während es im zweiten Jahr 16,5 pro Tag waren, also fast dreimal so viele!
Und viele Republikaner könnten offen zugeben, dass sie Trump nur unterstützen, weil sie um ihren eigenen politischen Posten bei der nächsten Wahl fürchten.
Was mich wirklich besorgt, ist die Tatsache, dass immer noch so viele Amerikaner Trumps Verhalten und Politik sehr gut finden. Es ist also keineswegs nur Trumps Verantwortung, dass er so rücksichtslos und kriegstreiberisch handelt. Die Überzeugung, das naturgegebene Herrschervolk der Welt zu sein, ist offen erkennbar seit vielen Jahrzehnten tief in der amerikanischen Bevölkerung verwurzelt. Die US-Politik der Neuzeit war und ist eine hegemoniale Politik, die nach Verwirklichung des einzigen weltweiten Imperiums strebt. Und dafür sind den Vertretern dieser Politik alle Mittel recht. Die meisten Kriege, in die die USA verwickelt waren und sind, stellen klare Brüche des Völkerrechts dar: Es sind Angriffe auf fremde Länder, die die USA nicht angegriffen haben. Und die UNO hat diese Angriffe nicht genehmigt!
Wenn wir alle ehrlich wären, würden viele Eheleute sofort auseinander gehen, statt auf Dauer vergiftet und entmutigt nebeneinander her zu leben. Viele gedemütigte Frauen würden die Kraft finden, zu ihrem Wissen um die Freundin des Ehemanns zu stehen und die Ehe mit erhobenem Haupt verlassen, statt weiterhin deprimiert und verzagt die brave Ehefrau zu spielen. Viele Ehemänner würden ehrlich sagen, dass sie fremdgehen, und sie würden die Konsequenzen ziehen.
Diplomaten würden keine Politik der vielen Gesichter machen, sondern in den Verhandlungen und dem Volk gegenüber(!) Klartext reden.
Viele Ärzte würden häufiger ihre Unwissenheit zugeben, statt die Überlegenen zu spielen.
Wenn der Drang zur Macht größer bleibt als die Macht der Ehrlichkeit, wird sich nichts ändern am derzeitigen Zustand der Menschheit.
Wenn wir alle ehrlich wären, würden wir die Lüge gar nicht kennen. Die Ehrlichkeit lebt ihren hohen ethischen Wert nur im Kontrast zur Lüge. Licht erkennen wir auch nur, weil wir das Dunkel kennen.
Wenn wir alle ehrlich wären, könnten wir trotzdem versuchen, Kompromisse zu schließen, aber dann keine faulen, sondern ehrliche.
Jetzt leben viele Berufsgruppen von der Unehrlichkeit. Die Werbeindustrie zum Beispiel hat als Maxime, den Umsatz ihrer Auftraggeber zu steigern und nicht etwa, die Wahrheit zu verbreiten. Das macht sie, indem sie gute Gefühle in den Menschen weckt, die wiederum glauben, mit dem Kauf des beworbenen Produktes eben diese Gefühle zu erwerben. Es geht nicht darum, ehrlich mit dem Kunden umzugehen, sondern ihm seine Wunschwelt vorzuspielen, ihm sein Geld aus der Tasche zu ziehen und Einfluss auf ihn auszuüben. Wenn die Werbeindustrie immer ehrlich wäre, dürfte sie viele Aufträge gar nicht annehmen, weil diese nichts anders bezwecken, als die Vorspiegelung falscher Tatsachen so alltäglich zu machen, dass sie als Wahrheit akzeptiert werden. Das Motto lautet: Eine Lüge wird umso mehr zur Wahrheit, je häufiger sie überall wiederholt wird.
Ebenso ist es mit der PR-Industrie, die eine Imagekampagne nach der anderen zu enorm hohen Preisen führt, um bestimmte Menschen und ihre Ideen zu preisen und andere zu diffamieren. Das ist der übliche Propagandarummel vor den Wahlen, vor Kriegen, vor wichtigen politischen Entscheidungen. Das erste, was schon vor dem Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Zuerst muss eine Ideologie entwickelt und propagiert werden, der das Volk folgt. Denn nur damit lassen sich Lug und Trug, Mord und andere Grausamkeiten scheinbar rechtfertigen. Nur drei solche historische Propagandasätze als Beispiele: „Die Polen haben unsere Grenzsoldaten angegriffen!“ – „Der Irak besitzt Massenvernichtungswaffen!“ – „Die Juden sind eine minderwertige Rasse!“
Die PR-Firmen müssten komplett ihre Strategie umstellen, wenn sie immer ehrliche Aussagen veröffentlichen wollten. Stellen wir uns mal vor, wie die Zeitungen, Fernsehsendungen und sozialen Medien langweilig werden, wenn alle dieselben Tatsachen bringen! Dann gibt es keine Verleumdung, keine Hassbotschaft, keine Lügen mehr! Dann sind die Beschuldigungen und Angriffe ehrlich und offen auf dem Markt und werden mit Namen und nicht mehr anonym veröffentlicht.
Die Verteidigung der Wahrheit und des Rechts obliegt den Juristen. Es ist bekannt, dass im Allgemeinen nicht der Recht bekommt, der Recht hat, sondern der den besseren Anwalt hat. Das weiß ich aus meiner Lebenserfahrung und aus mehreren Gesprächen mit Anwälten und Richtern. Zeitung und Fernsehen liefern täglich Beweismaterial zu dieser These. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber manche sind eben doch ein bisschen gleicher.
Wenn wir alle ehrlich wären, würde nur noch offen um das gestritten, was jetzt hinter vorgehaltener Hand umkämpft wird. Man kann dann ehrlich sagen, dass der Neid die Welt antreibt und nicht das Geld und schon gar nicht die Ehrlichkeit. Denn hinter jedem angestrebten Wertgegenstand oder Zustand steht der Wunsch, ein Gefühl zu verwirklichen. Dann brauchen wir Anwälte, die unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse nach Geltung, Ansehen und Macht offensiv vertreten. Welches Gericht wird das be- und verurteilen, wenn es sich doch um ehrliche und authentische Anliegen handelt?
Wir können auch den „halben Weg“ der Wahrheit gehen: „Alles, was du sagst, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, musst du sagen!“
Dieses Prinzip kann uns zum Beispiel in schwierigen Lagen bei einem Schwerkranken helfen, von dem wir glauben, dass er die ganze Wahrheit mit allen Konsequenzen jetzt nicht auf einmal erträgt. Die Grenze dessen, was ich sage, prüfe ich nach meiner Darstellung der Diagnose mit der Frage „Möchten Sie noch etwas wissen?“ und dem Satz „Wenn Sie mehr wissen wollen, sagen Sie es mir bitte.“
Jeder Patient hat das Recht auf Information und auf Nicht-Information. Ich denke, wir dürfen ihn nicht überfrachten mit Wissen, das er möglicherweise nicht ertragen kann. Aber wichtig ist, dass – wo immer das noch möglich ist – der Patient das Ausmaß der Information entscheidet und nicht der Arzt oder Pfarrer oder Ehepartner. Die Zeit der patriarchalischen Haltung ist vorüber, in der wir glaubten, es besser wissen und über den Patienten erhaben zu sein und über ihn bestimmen zu dürfen.
Eine richtige und für mich lebens- und berufsprägende Antwort bekam ich von einem früheren Oberarzt, der eine Sprechstunde für Brustkrebspatientinnen leitete. Ich fragte ihn, ob er allen Frauen die Wahrheit sage. – Er sagte: „Ja, ich sage allen Frauen die Wahrheit. Denn erstens bin ich Christ und glaube, dass ich nicht lügen darf. Und zweitens habe ich so ein schlechtes Gedächtnis, dass ich morgen nicht mehr wüsste, wen ich angelogen und wem ich die Wahrheit gesagt habe. Ich nehme mir immer Zeit, auf die Reaktionen und Gefühle der Frauen einzugehen.“
Auch in der Beziehung unter Partnern ist das Vertrauen auf Ehrlichkeit eine Voraussetzung für das Gelingen. Trotzdem muss man nicht alles wissen, nicht alles fragen, nicht alles erzählen. Wichtig sind Verständnis für den Partner, Rücksicht auf seine Gefühle, Verletzlichkeit und Eigenständigkeit. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist die Voraussetzung, dem Partner gegenüber ehrlich sein zu können.
Der Begriff der Notlüge ist allgegenwärtig. Wir meinen damit Situationen, in der wir uns selbst oder jemand anderen schützen wollen, indem wir bewusst etwas Falsches sagen.
„Lüge ist eine Form von Gewalt, weil sie das Vertrauen, mit dem wir leben wollen, erheblich stört.“ Dieser Gedanke steht im Katholischen Jugendkatechismus. Ausgerechnet die Katholische Kirche sagt so etwas!
Aber im DUDEN steht nicht das Wort Not-Ehrlichkeit! Trotzdem kenne ich Situationen, in denen es wichtig ist, jemanden mit Tatsachen zu konfrontieren, die ihn von Entscheidungen abhalten, die er nicht trifft, wenn er diese Tatsachen kennt. Beispiel: Jemand will unbedingt dieses Haus kaufen, und seine ganze Seligkeit hängt von diesem Kauf ab, aber ich weiß, dass er schwer krank ist und die Schulden nie abzahlen kann, sondern sie seiner Frau hinterlässt, die damit in die Armut stürzt. Dann denke ich, sollte ich taktvolle und ehrliche Wege finden, um ihn von dem Kauf abzuhalten.
Ich bin mir nicht sicher, ob das Leben leichter und besser wäre, wenn wir alle ehrlich wären. Wir wären uns aber sicher über unsere echten und ehrlichen Gefühle und Gedanken, und wir könnten dazu immer stehen. Wir müssten wenigstens nicht fürchten, betrogen und belogen zu werden. Stattdessen werden wir ehrlich und offen angegriffen. Dann werden wir aber auch ehrlich und offen geliebt.
[1] In ARTE am 04.03.2019 um 20.15 h gesendet.
[2] Nicht mehr ich, Taschenbuch und Spiritueller Missbrauch, Herder-Verlag
[3] Siehe auch Interview mit Doris Wagner und Kardinal Schönborn, Wien: www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/videos-und-manuskripte/missbrauch-kirche100.html
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Timo Fischer, Die Stufe höchster Dringlichkeit, Kriminalroman
ISBN 9781097342921
Üblicherweise geschieht in einem Kriminalroman der Mord auf den ersten Seiten. Damit wird der Leser rasch auf Hochspannung gebracht und zum Weiterlesen verführt. Der Leser will ja wissen, wer der Mörder war und warum er so gehandelt hat. Der Autor dieses Buchs verfolgt eine andere Strategie: Im Vorwort steht gleich am Anfang, dass Kommissar Lenski in der Mordkommission arbeitet und verzweifelt ist. Wir wissen also, dass etwas Schlimmes geschehen ist, und der erfahrene Polizist auch (noch) nicht weiter weiß. Das bindet den Leser emotional an den Fahnder, und dadurch wird die Spannung aufgebaut. Diese hält an, weil in den folgenden Seiten die Hauptpersonen mit ihren Geschichten nacheinander vorgestellt werden, eher langsam im Tempo der Erzählung, scheinbar unabhängig voneinander. Und doch – plötzlich erkennen wir, wie die Lebensfäden zusammengehören und ineinander vom Schicksal verwoben sind.
Wir werden konfrontiert mit einem jungen Liebespaar, einer Frau, leberkranken Suchtpatienten und einigen Ärzte mit unterschiedlichen Interessen und sozialen und gesundheitlichen Konflikten. Das klingt noch harmlos. Aber der Autor versteht es brillant, diese Menschen mit ihren Krankheiten und Nöten einerseits und ihren kriminellen Veranlagungen andererseits so gegeneinander zu verstricken, dass die Katastrophe unausweichlich im Kopfkino des Lesers heraufzieht.
Das Buch führt uns in eine Universitätsklinik und schildert die Bestechlichkeit und Begehrlichkeit einiger hier arbeitenden Ärzte in Konfrontation mit lebensbedrohlich kranken Menschen, die dringend eine Organtransplantation benötigen. Wie kann der Arzt einem Patienten ein Organ vermitteln, der nicht an der Reihe ist, weil ein anderer Patient schlechter dran ist und nach der Definition der Transplantationsmedizin auf der Stufe der höchsten Dringlichkeit ganz oben steht? Welche Umstände verführen den Arzt zu seinem betrügerischen Verhalten, und welche Folgen hat das? Und welche Gewissenskonflikte muss ein Arzt aushalten und lösen, der ethisch korrekt handeln will?
Der Leser wird in die Niederungen menschlicher Abgründe und in die Tiefen existenzieller Verzweiflung geführt. Und er erlebt, was in einer Klinik im Angesicht des Todes geschehen kann. Dies wird umso drängender und bedrückender gezeigt, weil der Autor selbst ein erfahrener Arzt ist und detailgenau tägliche Abläufe beschreibt. Die Handlung ist kein Tatsachenbericht. Aber es ist beklemmend zu wissen, dass das Geschilderte genau wie erzählt passieren könnte oder vielleicht so ähnlich geschehen ist. Darüber hinaus ist das Buch ein flammender Appell an die Menschlichkeit, an die Umsetzung geltender Ethikmaßstäbe und an jeden einzelnen Leser, sich mit den Gedanken über (s)eine Organspende auseinander zu setzen. Jedes Jahr sterben auch in Deutschland viele Menschen, weil es zu wenige Organspender gibt.
Dieses Buch ist umso wichtiger, weil zurzeit die Diskussion geführt wird, wie lebensbedrohlich Kranke mehr Organe zu Transplantation erhalten können. Die geplante Widerspruchslösung sieht vor, dass automatisch jeder Mensch nach seinem Tod als Organspender angesehen wird, wenn er zu Lebzeiten nicht ausdrücklich z.B. in seiner Patientenverfügung oder seinem Testament widersprochen hat. Dieser Roman rüttelt auf, macht nachdenklich und regt zur Diskussion und Entscheidung an. Es ist ein wichtiger Beitrag zur dunklen Seite der menschlichen Eigenschaften in der Transplantationsmedizin. Wir sehen auch, dass jedes ehrliche soziale Angebot eine Tür zum Missbrauch und zur kriminellen Handlung öffnet.
Dieses Buch halte ich für sehr lesenswert.
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zum Weltkrebstag 2019
Theodor Storm und der Magenkrebs
Theodor Storm war –wie viele von uns – bekennender Norddeutscher:
„hin gen Norden zieht die Möwe,
hin gen Norden zieht mein Herz;
fliegen beide aus mitsammen,
fliegen beide heimatwärts.Ruhig, Herz! Du bist zur Stelle;
flogst gar rasch die weite Bahn-
und die Möwe schwebt noch rudernd
überm weiten Ozean.“1817 wurde Theodor Storm in Husum geboren. Also in die Zeit der Aufklärung, Goethe war da schon 20 Jahre alt.
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Ich muss diesen Gedichten ein paar Worte vorausschicken:
Wegen körperlicher Gründe ist mir das Schreiben schwergefallen (egal, ob von Hand oder am Computer). Ich musste aber meine Gedichte aufschreiben, sonst kann ich die Entwürfe bald selbst nicht mehr lesen… Ich entschloss mich, sie in den Mac zu diktieren und später in mein Gedichtbuch einzufügen.
Dann hätte ich sie auch gleich zum Verschenken…. Ich mache keine Auswahl wie sonst und deshalb sind ein paar einführende Worte
nötig. Manche Gedichte sind in einem Prozess entstanden, der noch nicht abgeschlossen ist, teils ist es ein innerer Erkenntnisprozess, teils gehören die Gedichte in verschiedene Projekte… Deshalb sind sie vielleicht nicht zu verstehen. Wundert Euch also nicht, wenn einige sehr… geheimnisvoll? Kryptisch? Okkult?….
erscheinen. Merkwürdigerweise gefielen sie einigen Freunden ganz besonders. Die Sprache, der Rhythmus, die Bilder wirken auch so… Mir fiel dazu ein Zitat von Paul Celan ein (ich will mich nicht mit ihm vergleichen!). Auf die Bemerkung, dass einige seiner Gedichte schwer verständlich sein, meinte er: Lesen, immer wieder lesen
Unsere Pflicht ist es
Beryll zu werden
wie der Stein
der den Augen
neues Sehen ermöglicht
wie seine Farbe
die Farbe der
im Feuerwasser
im Wasserfeuer
verborgenen RosenWerde Beryll
hilf ihm
das Alphabet zu retten
und sei es auch
nur
ein einziger Laut!
Sage
sprich ihn
singe und tanze ihn forme ihn
mit Händen in der Luft
gestalte ihn
in Farbe und FormDann …
du bist noch
kein Beryll
bist aber sein
Gehilfe geworden12./13.12.2018
Die schwarzen Vögel schlafen noch
Die schwarzen Vögel der Nacht
Die schwarzen Boten des Unheils
wie die Menschen behaupten
Menschen
die ihre Brüder und Schwestern
unter den Tieren nicht mehr kennen
In Wahrheit bewachen sie im Winter
die langsam erwachende Sonne
deshalb siehst du sie
in der Wintermorgendämmerung
nur vereinzelt
die schwarzen Vögel
wissende Freunde von Hund und Mensch- 12. 2018
Heimat
ist kein Ort
Glaube
ist keine Weltanschauung
Glaube
ist die Mutter der Liebe
Liebe erschafft
Heimat- 12. 2018
Dass ich mich opfern kann
ohne mich zu verlieren
dass ich unter den Sternen weile
ohne die Erde zu verlassen
dass ich fest auf Erden stehe
und gleichzeitig hinabtauche
in die Urgründe
der Menschheit
der Erde
ohne zu ertrinken …
Das verdanke ich
dem Schmerz
der mich weckt
warnt
hilft
der mich das Kreuz
spüren lässt
das Kreuz
das ich trage
Nur weiß ich
(noch) nicht:
wessen Kreuz ist es?13.12.2018
Wie einst der
Zungenbaum
in der Tiefe des Meeres
sang
so sangen später
auf den Klippen des Meeres
die Sirenen
Die stummen Fische die
die Lautedes versunkenen Alphabets
verschluckten
wandelten sich
in singende Vögel
die Rettung des verlorenen Alphabets
begann……und irgendwann in Zukunft
kann die neue Welt
auf den Trümmern der alten
entstehen14.12.2018, 17:50 Uhr
Ich habe Rosen
für dich gepflückt
wollte dich erfreuen
dich erinnern
an uralt Vergessenes der Menschheit
Doch du…
hast die Blüten vertrocknen lassen
und aus den Dornen
für mich einen Kranz gewunden
Warum?
Du weißt doch:
nur Freude und Liebe
können Leid lindernDu weißt doch:
es ist ein Ros entsprungen
und auf deinem dunklen Pfad
erstrahlt ein Lichtstrahl
Spürst du nicht
dein Engel begleitet dich
das Tor zum Paradies
ist für dich
nicht mehr bewacht!Das uralte Gewässer aus
Erdenbeginn
funkelt im ersten Sonnenlicht
wie am Morgen
die Perle aus Tau
wie die Tränen deines Kindes
Das Netz
geflochten aus dem dunklen Gespinst
des Grauens unserer Zeit
soll uns nicht mehr verbinden
soll auch dich nicht fesselnGeh
deinen Weg in die andere Welt
Freude und Liebe
werden deine Begleiter sein- 12. 2018, 7:30 Uhr
Antwort auf vegane Missionare
Einst
in einem längst vergangenen Leben
wurden sie als Kind
geschlachtet
aufgegessen
der Hunger
die Angst vor dem Sterben
der anderen
waren zu großHeute…
um sicher zu sein
dass sie niemals und nie
gleiches tun
verzichten sie auf jegliches Fleisch
Wisst ihr nicht
es gibt viele Arten
zum Mörder am Leben
zu werden18.12.2018, 7:45 Uhr
Trugschluss
Wenn du
deine Augen
mit deinen Händen
bedeckst
siehst du nicht mehr
die Welt
doch die Welt
sieht dich immer noch
Doch jetzt
bist du ihr hilflos ausgeliefert18.12.2013
Unterschied
Ich verstecke mich
weil ich nicht Zeuge werden will
(und selbst nicht gesehen werden will)
Ich verstecke mich
hinter einer anderen Erscheinungsform
weil ich so alles besser sehen kann
weil ich Zeuge
werden will18.12.2018
Nach dem Hören der Nachrichten
und der Presseschau im Radio
am Morgen der Wintersonnenwende 2018 fragte ich mich:
Müssen vielleicht heute
in dieser Zeit
hier und an vielen Orten der Welt
so grauenhafte Dinge geschehen
so viele
damit wir erkennen:
die Barmherzigkeit
die Mitmenschlichkeit
lebt immer noch
unter den Menschen
erwacht an dem Geschehen
(oder wird sie erst
in ihm geboren?)
Ein neugeborenes Kind
nicht aus der
eigenen Familie
kann anscheinend
nicht mehr unsere Liebe
Freude
Staunen
erweckenaber das Kind
das unter Trümmern
aus den Armen seiner toten Mutter
lebend geborgen wurde!21.12.2018, 8:20 Uhr
Ich vergesse so vieles
weiß nicht mehr
warum ich den einen Raum
verließ
den anderen betratVermeintlicher Trost sagt:
Du hast zu viel
an das du denken musst
du bist müde
auch du spürst
das AlterIst es wirklich so?
ich ahne
das Eigentliche dahinter:Innehalten
Lauschen
spricht aus dem eigenen Innern
die wieder erwachte Erinnerung
oder wird eine Frage gestellt
der neue Impulse folgen?Vielleicht treten beide
in herzlicher Umarmung
vereint
in mein BewusstseinJetzt
in deinem Alter
erinnert die Vielzahl deiner
Pläne Pflichten Wünsche
Vereine
die längst vergangene Vergangenheit
und die schon gekommene Zukunft
in dir…dann …
ist dein Vergessen
kurz
wie ein erholsamer Schlaf
und die Erinnerungen kommen
wie das Morgenlicht21.12.1978
Vierter Advent
Auch wenn ich
wie alle Menschen jetzt
von allen guten Geistern
verlassen bin
so weiß ich
mein Schutzengel
ist bei mirIch kann den Blick
in den Spiegel wagen
ich kann den
ersten Schritt wagen
auf meinem erst noch
entstehenden WegMein Engel fängt mich auf
wie eine Mutter
und er sagt tröstend
zu mir:„Das Bild im Spiegel
bist nicht du
du hast falsch
hineingeblickt
schau in mein Auge…“
Nun suche ich
nicht nur am Himmel
die Augen meines Engels:Manchmal
finde ich sie in mir
und es war keine Erinnerung
wenn ich mich beschützt fühlteEs ist JETZT!!
Und ich weiß:
das Kind in mir kann ins MORGEN
wachsen23.12.2018
Ich spreche mit dir
innerlich
ohne Worte
ich spreche mit dir
in Gefühlen
Gedanken
Bildern
Manchmal
bist du in
meinem Innenraum
Dann sehe ich
am Blick deiner Augen
an deinem Lächeln
dass du mich verstandenFür Anna
25.12.2018
I
Ich spüre
wie Kräfte
vielleicht auch Wesen
missbraucht werden…Sie kommen zu mir
sind geschickt von einer
unerlösten Toten
– sie weiß nicht
was sie tut –Die Wesen stören mich
hindern mich
drängen mich
zum AbgrundVielleicht ist es
– für mich–
zu früh
die Seele zu erlösen?Sie weiß nicht
was sie tut
sie sucht meine Nähe
und ist so verwirrt
dass sie nicht bemerkt
wie oft ich bei ihr bin
Ich muss mich schützen…Eben war ich im Traum
an der Tür des Stalles
und bat darum
mir meinen Umhang
zurückzugebenIch erwachte und verstand nicht:
welchen Umhang?
Brigids schützender Mantel
fällt mir ein
War ich vielleicht in ihrem Dienst
einst und gab auch meinen Mantel?Vielleicht
war die schützende
Hülle gemeint
die uns am Anfang
umhüllt
wie später Engelflügel?Warum musste ich
auch erwachen
bevor ich eine Antwort erhielt?II
Vielleicht
muss ich jetzt
in dieser Zeit
der Heilige Nächte
in denen auch
Dämonen ihr Unwesen treiben
aus Gedanken
eigenen
Inspirationen
geschenkten
Tönen
gehörten
Bildern
gesehenen
mir einen
eigenen Umhang webenIII
Ich werde dann
am Faden der Erinnerung
immer tiefer in
die Höhle dringen
Erwartet mich dort
ein Ungeheuer
oder ein Schatz?
Vielleicht wie im Märchen
Beides26.12.2018
Beginn der 13 Nächte
„Im Urbeginn war die Erinnerung“
Welcher Urbeginn?
Der eigene
der Familie
der Menschheit?
Gibt es nicht viele
Urbeginne?
Die Geburt des Jesus
die Geburt des Christus
die Erschaffung der Erde wieder
zur Zeit der Atlantis
vor und nach der FlutDie Erschaffung der Erde
als Idee
im Kosmos(26. 12. 2018)
Vielleicht
sollte ich
Vogel und Fisch fragen
die Begleiter der
Weltschöpfung?4.1.2019
Überwinde die Hast
die Hektik
das Eilen
die nach der Festeszeit
wieder
deinen Alltag
beherrschen
Schaffe Räume und Zeiten
für Ruhe und Stille
dass Güte und Weisheit
geboren werden
Väterlich
mütterlich
schützen sie
deine Seele
die zärtlich liebend
sich mit der
Schönheit der Welt
verbindetVierte Nacht der heiligen Nächte 2018/2019
Wenn du zurückblickst
heute
am letzten Tag des Jahres
und vorausblickst
voll Hoffnung
oder Angst
dann verzweifle nicht
über das Treiben in der Welt
erschöpfe dich auch nicht
im Kampf
in dem du eh unterliegstZeige auf andere Art
dein Aufbegehren
wandle dich
werde Sand
werde Sand
im Getriebe der WeltHelga Thomas
31.12.2018
Aus verschiedenen Gründen wollte ich (eigentlich seit vorgestern) auf das Jahr 2007 zurückblicken. Dabei fand ich ein altes Gedicht, es war im Verlauf eines I GING-Seminars entstanden. Es passte eigentlich auch in die Zeit jetzt, ich hätte es jetzt schreiben können… Habe ich es eigentlich in mein Gedichtbuch von 2006 eingetragen? Ja, das habe ich, aber ich merkte, ich möchte es jetzt auch in meinen Gedichten von 2019 eintragen, ich möchte eine Karte mit ihm machen.
Weil ich dich anerkenne
habe ich Geduld mit dir
weil ich Geduld mit dir habe
anerkennst du mich
meinen Rat
meine Zuneigung
Und langsam
auf dem Wege der Geduld
wandelt sich Anerkennung
in LiebeHelga Thomas
21.10.06/4.1.19
Wenn du fürchten musst
in den Fluten der Mutlosigkeit
zu ertrinken
und deinen Kräften
nicht vertrauen kannst
und keine Rettung
weit und breit in Sicht ist…
dann denke an den
der über das Meer gingEr wird dir ein Halt sein
dass du nicht untergehst
selbst wenn du ertrinkst
Mit seiner Hilfe
wirst du dich
zum Wasserwesen wandeln
das seiner Schwester gleicht
und den Menschen hilftWer
ohne gehalten
getragen zu sein
in den Fluten versinkt
ist den Kräften des Bösen
ausgeliefert
Seine Angst wird sich wandeln
in vernichtende Gefühle der Rache6.1.2019
9:50 Uhr
Zur Geburt des göttlichen Ich
erstrahlte der Weihnachtsstern am Himmel
ihm folgten die Könige
aus fernen Landen
Als Narziss
– er hatte sich nie
vom Jäger zum Hirten gewandelt–
erkannte
wer in seinem Spiegelbild verborgen war
erblühte zur Auferstehungszeit
der Stern seiner Blume
die auch den
heiligen Kelch
bewahrt6.1.2019
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Galaktisches Asyl
Ein paar wenige Erdenbürger waren verzweifelt. Im Spiegelteleskop sahen sie den Todesbringer herannahen. Da sie Schweigepflicht einzuhalten hatten, durften sie der Öffentlichkeit nicht offenbaren, dass der herannahende Weihnachtsstern in Wirklichkeit ein Todesbote war.
Die Tage der Erde waren gezählt. Es blieben vierundzwanzig Tage. 24!Die Wissenschaftler beschlossen, ein Notsignal ins Weltall zu senden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, von einer außerirdischen Zivilisation erhört zu werden, gegen Null ging.
Wenige Monate zuvor hatten sie auf einer Konferenz getagt und fröhlich über verschiedene Szenarien des Weltuntergangs spekuliert.
Unter anderem darüber, wie die Erde in etwa sieben Milliarden Jahren vor der sich aufblähenden Sonne gerettet werden könnte. Was zu tun sei, bevor auf Erden ein Inferno ausbräche; was zu tun sei, wenn die Mutter ihre Kinder – die Sonne ihre Planeten – zu fressen droht.
Obwohl das Szenario erst Milliarden Jahre später eintrifft, und das Überleben der Menschheit bis dahin ernsthaft in Frage zu stellen ist, überlegten sie, wie man mit Hilfe der Atomkraft der Erde einen Schubs in Richtung Jupiter verleiht. Dann würde die Erde zum Trabanten des Gasplaneten werden und vorübergehenden Schutz finden. Aber auch dies würde die blaue Kugel nicht retten. Irgendwann würde der rote Riese zu einem weißen Zwerg kollabieren und bittere Kälte das Sonnensystem ergreifen.
Auch überlegten sie, ob man den Lauf von vorbeiziehenden Sonnen beeinflussen könnte, um die Erde von einer fremden Sonne einfangen zu lassen, deren Brenndauer deutlich länger sein würde als die der Heimatsonne.
All das klang jetzt lächerlich, wo doch nur noch wenige Tage zur Verfügung standen, die Erde zu retten. Sie gestanden sich ein, dass keine Technologie der Welt imstande war, dem kosmischen Pingpongspiel aus dem Wege zu gehen.
Einer der Wissenschaftler wirkte nicht im geringsten verzweifelt, und sie fragten ihn, warum das so sei.
»Als ich neun Jahre alt war, hagelte Granatenfeuer vom Himmel. Als ich zehn Jahre alt wurde, gab es nichts zu essen. Die Ärmsten unseres Volkes verhungerten. Als ich elf Jahre alt war, verlor ich meine Eltern an ein Gefängnis und meine fünfjährige Schwester an die Cholera. Nur ich sollte überleben. Dann kam ein Fremder, der sich vorgenommen hatte, eine verlassene Seele zu retten. Seine Wahl fiel auf mich. Er sagte, wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Ich ging mit ihm und versprach, es ihm irgendwann gleich zu tun«, antwortete Asiel.
»Was willst du uns damit sagen?«, fragten seine Kollegen.
»Wir reichen galaktisches Asyl ein. Wir bitten höflich um sofortige Aufnahme in ein anderes Sonnensystem.«
Die Kollegen lachten.
Asiel schmunzelte in sich hinein. »Tut es einfach.«
Sie kamen seiner Bitte nach, weil ohnehin keine Chance auf Rettung bestünde, meinten sie.
Außerdem würde die Reichweite des Signals von kürzester Distanz sein. Man konnte nicht erwarten, dass die Nachbarn überhaupt zuhörten, wenn sie denn überhaupt technisch so weit seien, und, und, und …
Es kam, wie es sich Asiel gewünscht hatte. Eine übergeordnete benachbarte galaktische Instanz, die mit den Erdlingen selbst eigentlich nichts zu tun haben wollte, erhielt den Asylantrag gerade rechtzeitig.
Kurz bevor die Feuerkugel, die einer verirrten Zwergsonne entsprach, mit der Erde kollidieren würde, wurde die Erde mitsamt dem Mond in ein anderes Sonnensystem transportiert. Das göttliche Murmelspiel war im Handumdrehen vorbei. Für eine kurze Zeit blieben Erde und Mond in einer Wartehalle wie auf einem Bahnhof stecken und wurden anschließend in ein passendes System überführt. Nachdem der Weihnachtsstern das unsrige Sonnensystem durcheinander gebracht hatte, wurden Aufräumarbeiten notwendig. Als dies nach etwa einem Monat erledigt war, wurde die Erde mit ihrem Mond wieder an diejenige Stelle zurückversetzt, auf der sie nach Kalkulation sich hätte befinden müssen.
Die galaktische Instanz hatte dem Asylantrag stillschweigend entsprochen. Die galaktische Nachbarschaftshilfe blieb für das Gros der Menschheit beinahe unbemerkt. Viele erinnerten sich an das kosmische Ereignis des sich nahenden Weihnachtssternes. Die damit verbundenen physikalischen Ereignisse vermochten sie nicht in den korrekten Zusammenhang stellen.
Nachdem die Rettung der Erde geglückt war, tüftelten Asiel und seine Kollegen an jener neuen zauberhaften Technologie, die sie Gravitationsschleuder nannten. Irgendwann in sieben Milliarden Jahren, wenn die Erde das Sonnensystem erneut verlassen müsste – … ja, bis dahin würden sie die Funktionsweise wohl längst herausgefunden haben.
Der eigentliche Zauber aber bestand darin, dass sich jene unbekannte Instanz, die sich nur dieses eine Mal offenbarte, erbarmt hatte, der Erde zu helfen.
Nachtrag:
Die Erdlinge haben nie erfahren, dass die Menschenrechte im Wesentlichen identisch sind mit dem des Galaktischen Individualrechtes. Die Erdlinge wurden auch nicht darüber informiert, dass zur Erleichterung der kosmischen Kommunikation sämtliche Radiosignale mit Hilfe von Miniwurmlöchern umgeleitet werden. Sie kreisen am Rande eines Sonnensystems und saugen sämtliche Signale zuverlässig auf. Der galaktische Rat ist innerhalb von wenigen Stunden auf dem aktuellen Stand. Lediglich der galaktische Verwaltungsapparat brauchte etwas länger zur Bearbeitung des Antrags. Das scheint ein kosmisches Problem zu sein …
verfasst am 23.12.2018
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Mein Beitrag zum Kongress der Union Mondiale des Écrivains Médicines UMEM in Rheinfelden 2018
Offizielles Thema: Schreiben – Zaubertrank für Ärzte?
Mein Zaubertrank heißt Schreiben.
Ein Zaubertrank soll besondere Kräfte vermitteln, um die schwierigsten Aufgaben zu bewältigen. Die Wirkungen eines Zaubertrankes werden bei Asterix und Obelix im Jubiläumsheft zum 50. Geburtstag der Comic-Serie so beschrieben:
Verschmitzt lächelnd macht sich der glückliche Konsument bereit. Er schließt die Lider und senkt das Kinn, um aus der Kelle des Druiden zu trinken. Unter der Wirkung des Zaubertranks hebt der Proband ab. Seine Füße flattern im Gleichtakt mit den Helmflügeln! Asterix besitzt übermenschliche Kraft und kann es mit der gesamten römischen Armee aufnehmen.
Ich schreibe meistens, um mich aus der Betroffenheit herauszuholen, wenn mich der schlimme Anteil des Alltags in der Notfallpraxis packt. Das Schöne ist, dass ich schreibend auch die heiteren und ungewöhnlichen Begegnungen festhalte und immer wieder genieße. Deshalb will ich über beide Seiten des Schreibens sprechen.
Ich will hier keine der sehr belastenden Situationen ausführlicher beschreiben. Sie verfolgen mich manchmal in meinen Träumen. Bei uns Ärzten genügen ein paar Stichwörter, um flammende Bilder in der Erinnerung lodern zu lassen: Leichenschau bei Verwahrlosten, schwerverletzte Unfallopfer, sterbende Kinder, verzweifelte Eltern, entstellende Erkrankungen und Operationsbilder. Es gibt aber auch Menschen, die unsere Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft ausnützen und als Pflichtdienstleistung zur Unzeit verlangen.
Ich möchte meinen Beruf mit Herz und Verstand ausüben. Dafür bemühe mich um Empathie: Ich versuche nachzuempfinden, wie die Krankheit, das Problem den Patienten leiden lassen. Und ich bin mir gleichzeitig bewusst, dass es nicht mein Problem ist und dass ich es nicht lösen muss. Das ist heilende Nähe zum Betroffenen verbunden mit schützender Distanz für mich selbst.
Wenn ich mir den Leidens-Rucksack des Patienten auflade, wird aus mir ein hilfloser Helfer! Hilfsbedürftige erwarten aber zumeist, dass Helfer stark sind oder sich wenigstens so verhalten. Helfer müssen aber auch aus Selbstschutz stark bleiben, um ihre beruflichen Aufgaben und Pflichten erfüllen zu können. Trotzdem muss jeder Helfer auch Momente haben, in denen er seine Schwäche, seine Verletzlichkeit und Erschöpfung äußern und leben kann. Deshalb brauchen wir alle jemanden, dem wir vertrauen können, dass er uns hilft.
Um mir diesen Spagat immer wieder bewusst zu machen, schreibe ich meine Erlebnisse, Gefühle und Gedanken auf. Diese Gabe und Freude, mich gut ausdrücken und Konflikte in Worte fassen zu können, helfen mir seit vielen Jahren auch bei der Bewältigung meiner Belastungen. Ich habe regelmäßig beobachtet, dass sie nicht mehr in meinen Träumen erscheinen, wenn ich sie aufgeschrieben habe!
Mein begeisternder Lateinlehrer war es, der mir über sechs Jahre die Liebe zur Sprache als Kulturgut und zur deutschen Sprache übertrug. Mein Dank für dieses sprachliche Geschenk wird andauern, solange ich lebe. Mein Lateinlehrer. war einer der wenigen Lehrer, von denen ich etwas für das ganze Leben gelernt habe und nicht nur über ihre Fächer.
Sein Satz wird mir bis an das Ende meines Gedächtnisses gegenwärtig sein:
Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn die Fakten vergessen sind.Noch ein wichtiges Zitat von Sir Francis Bacon Lesen macht vielseitig, verhandeln geistesgegenwärtig, schreiben genau.
Schon als Schüler habe ich festgestellt, dass Schreiben meine flüchtigen Gedanken verlangsamt, bewusster macht, ordnet, wertet. So kann ich zu klareren logischen Folgerungen und Entscheidungen kommen. Wenn ich schreibe, schaue und fühle ich genauer hin, formuliere sorgfältiger und verstehe besser. Was ich verstanden habe, kann ich besser ertragen.
Durch das Schreiben kann ich mich ändern. Das ist doch schon viel.
Wen interessiert, was ich schreibe? Zuerst einmal mich. Der narzisstische Anteil in mir glaubt natürlich, dass alle wissen wollen und sollen, was ich wichtiges geschrieben habe. Mein vernünftiger und realistischer Anteil bringt den Narzissten zurück auf den Boden der Tatsachen! Keines meiner Bücher hat mehr als die erste Auflage erreicht.
Aber ich veröffentliche nicht jeden Text! Wenn es zu grausig ist, was ich für mich notiert habe, um es loszuwerden und einzuordnen, teste ich manchmal bei meiner Frau oder interessierten Freunden, ob sie den Text ertragen können und mir raten, ihn zu veröffentlichen. Auf dieses Urteil höre ich. Dafür bin ich dankbar.
Seit ich weiß, dass es sogar Verlage gibt, die meine Gedanken drucken, bin ich eitel genug, etwas zu veröffentlichen. Ich habe in einigen meiner Bücher selbst erlebte Patientenschicksale beschrieben. Ich veröffentliche meine Texte auch auf meiner Homepage.
Ich will ein Beispiel geben, wie ein kurzer veröffentlichungsfähiger Text über eine bedrückende Szene meines Erachtens aussehen könnte. Das folgende Gedicht ist meine Verarbeitung von zwei Hausbesuchen an einem Tag bei demselben Patienten. Es besteht nur aus Stichwörtern, Tatsachen und direkter Rede. Gefühle werden nicht besprochen. Sie entstehen umso stärker im Kopfkino des Lesers.
Letzte Stunden
Bauch vom Krebs zerfressen,
operiert und bestrahlt,
welke Haut über Knochen,
hohle Wangen,
Bartwildwuchs,
wirres Haar,
leerer Blick,
Schmerzen.Uringeruch.
Nein, nicht waschen!
Nur noch sterben!
Nein, nicht ins Hospiz!
Zu Hause bleiben!
Lass mich los!Verzweifelter Bruder,
weil ihm Hilfe verboten ist.Die Stimme schweigt,
der Blick wird matt,
die Atmung schnappt
und stoppt.
Endlich erfüllter Wunsch.Es gab und gibt viele Ärzte, die sich ihr Leiden unter den besonderen Belastungen in diesem Beruf durch das Aufschreiben des Erlebten versuchen, erträglicher zu gestalten. Gottfried Benn, der berühmt geworden ist durch seine schonungslosen Gedichte aus dem Sektionssaal, schrieb 1921 in einem Brief:
Es ist kein Leben dies tägliche Schmieren und Spritzen und Quacksalbern und abends so müde sein, dass man heulen könnte. (…) Ja, ich bin unbeschreiblich müde und abgelebt wieder mal augenblicklich, darüber ist nichts zu sagen, die Sinnlosigkeit des Daseins in Reinkultur und die Aussichtslosigkeit der privaten Existenz in Konzentration.
Aber sehen wir auch die heitere Seite, die lohnt aufgeschrieben zu werden! Ein Beispiel:
Schlaflos in Leonberg
Die in der DRK-Leitstelle ankommenden Anrufe der Patienten werden an den Dienst habenden Rettungsassistenten in der Notfallpraxis weitergeleitet. Eine Rettungsassistentin erzählte mir folgendes Telefonat, das sie mitten in der vergangenen Nacht geführt hatte.
Eine männliche und unsicher wirkende Stimme meldet sich: „Ich bin 83, und ich kann nicht schlafen. Kann jemand vorbeikommen und mir eine Schlaftablette bringen?“
Die Rettungsassistentin sagt freundlich: „Da brauchen Sie mich nicht, Sie können ohne Rezept in der Apotheke Schlaftabletten kaufen!“
Nach kurzer Überlegung fügt sie hinzu: „Warum können Sie denn nicht schlafen?“
„Wissen Sie, ich bin Lehrer gewesen, und ich muss Fragen, die mir einfallen, einfach klären. Sonst kann ich nicht schlafen. Und da bin ich vorhin aufgewacht und dachte immer wieder an die SWR-Landesschau, die ich abends regelmäßig anschaue. Mir fällt aber der Name des Moderators nicht mehr ein. Ich grüble ständig darüber nach. Deshalb kann ich nicht schlafen.“
Die Rettungsassistentin tippte rasch am PC „SWR-Fernsehen“ ein, suchte die Moderatoren und las dem Anrufer deren Namen langsam vor – bis zu der Frage: „Meinen Sie Michael Matting?“
Erleichtert kam die Antwort: „Ja, genau den meinte ich! Danke, jetzt kann ich schlafen. Sie müssen mir keine Schlaftablette mehr bringen!“So kann die Verarbeitung durch Aufschreiben ebenso wie ein Zaubertrank im Märchen nicht nur anderen helfen, in Abgründe der menschlichen Existenz zu blicken, sondern auch neue Kräfte durch Humor und Freundlichkeit vermitteln. Schreiben ist ein Zaubertrank in guten und in schlechten Tagen.
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Mein Beitrag zum Kongress der Union Mondiale des Écrivains Médicines UMEM in Rheinfelden 2018
Offizielles Thema: Schreiben – Zaubertrank für Ärzte?
Mein Zaubertrank heißt Schreiben.
Ein Zaubertrank soll besondere Kräfte vermitteln, um die schwierigsten Aufgaben zu bewältigen. Die Wirkungen eines Zaubertrankes werden bei Asterix und Obelix im Jubiläumsheft zum 50. Geburtstag der Comic-Serie so beschrieben:
Verschmitzt lächelnd macht sich der glückliche Konsument bereit. Er schließt die Lider und senkt das Kinn, um aus der Kelle des Druiden zu trinken. Unter der Wirkung des Zaubertranks hebt der Proband ab. Seine Füße flattern im Gleichtakt mit den Helmflügeln! Asterix besitzt übermenschliche Kraft und kann es mit der gesamten römischen Armee aufnehmen.
Ich schreibe meistens, um mich aus der Betroffenheit herauszuholen, wenn mich der schlimme Anteil des Alltags in der Notfallpraxis packt. Das Schöne ist, dass ich schreibend auch die heiteren und ungewöhnlichen Begegnungen festhalte und immer wieder genieße. Deshalb will ich über beide Seiten des Schreibens sprechen.
Ich will hier keine der sehr belastenden Situationen ausführlicher beschreiben. Sie verfolgen mich manchmal in meinen Träumen. Bei uns Ärzten genügen ein paar Stichwörter, um flammende Bilder in der Erinnerung lodern zu lassen: Leichenschau bei Verwahrlosten, schwerverletzte Unfallopfer, sterbende Kinder, verzweifelte Eltern, entstellende Erkrankungen und Operationsbilder. Es gibt aber auch Menschen, die unsere Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft ausnützen und als Pflichtdienstleistung zur Unzeit verlangen.
Ich möchte meinen Beruf mit Herz und Verstand ausüben. Dafür bemühe mich um Empathie: Ich versuche nachzuempfinden, wie die Krankheit, das Problem den Patienten leiden lassen. Und ich bin mir gleichzeitig bewusst, dass es nicht mein Problem ist und dass ich es nicht lösen muss. Das ist heilende Nähe zum Betroffenen verbunden mit schützender Distanz für mich selbst.
Wenn ich mir den Leidens-Rucksack des Patienten auflade, wird aus mir ein hilfloser Helfer! Hilfsbedürftige erwarten aber zumeist, dass Helfer stark sind oder sich wenigstens so verhalten. Helfer müssen aber auch aus Selbstschutz stark bleiben, um ihre beruflichen Aufgaben und Pflichten erfüllen zu können. Trotzdem muss jeder Helfer auch Momente haben, in denen er seine Schwäche, seine Verletzlichkeit und Erschöpfung äußern und leben kann. Deshalb brauchen wir alle jemanden, dem wir vertrauen können, dass er uns hilft.
Um mir diesen Spagat immer wieder bewusst zu machen, schreibe ich meine Erlebnisse, Gefühle und Gedanken auf. Diese Gabe und Freude, mich gut ausdrücken und Konflikte in Worte fassen zu können, helfen mir seit vielen Jahren auch bei der Bewältigung meiner Belastungen. Ich habe regelmäßig beobachtet, dass sie nicht mehr in meinen Träumen erscheinen, wenn ich sie aufgeschrieben habe!
Mein begeisternder Lateinlehrer war es, der mir über sechs Jahre die Liebe zur Sprache als Kulturgut und zur deutschen Sprache übertrug. Mein Dank für dieses sprachliche Geschenk wird andauern, solange ich lebe. Mein Lateinlehrer. war einer der wenigen Lehrer, von denen ich etwas für das ganze Leben gelernt habe und nicht nur über ihre Fächer.
Sein Satz wird mir bis an das Ende meines Gedächtnisses gegenwärtig sein:
Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn die Fakten vergessen sind.Noch ein wichtiges Zitat von Sir Francis Bacon Lesen macht vielseitig, verhandeln geistesgegenwärtig, schreiben genau.
Schon als Schüler habe ich festgestellt, dass Schreiben meine flüchtigen Gedanken verlangsamt, bewusster macht, ordnet, wertet. So kann ich zu klareren logischen Folgerungen und Entscheidungen kommen. Wenn ich schreibe, schaue und fühle ich genauer hin, formuliere sorgfältiger und verstehe besser. Was ich verstanden habe, kann ich besser ertragen.
Durch das Schreiben kann ich mich ändern. Das ist doch schon viel.
Wen interessiert, was ich schreibe? Zuerst einmal mich. Der narzisstische Anteil in mir glaubt natürlich, dass alle wissen wollen und sollen, was ich wichtiges geschrieben habe. Mein vernünftiger und realistischer Anteil bringt den Narzissten zurück auf den Boden der Tatsachen! Keines meiner Bücher hat mehr als die erste Auflage erreicht.
Aber ich veröffentliche nicht jeden Text! Wenn es zu grausig ist, was ich für mich notiert habe, um es loszuwerden und einzuordnen, teste ich manchmal bei meiner Frau oder interessierten Freunden, ob sie den Text ertragen können und mir raten, ihn zu veröffentlichen. Auf dieses Urteil höre ich. Dafür bin ich dankbar.
Seit ich weiß, dass es sogar Verlage gibt, die meine Gedanken drucken, bin ich eitel genug, etwas zu veröffentlichen. Ich habe in einigen meiner Bücher selbst erlebte Patientenschicksale beschrieben. Ich veröffentliche meine Texte auch auf meiner Homepage.
Ich will ein Beispiel geben, wie ein kurzer veröffentlichungsfähiger Text über eine bedrückende Szene meines Erachtens aussehen könnte. Das folgende Gedicht ist meine Verarbeitung von zwei Hausbesuchen an einem Tag bei demselben Patienten. Es besteht nur aus Stichwörtern, Tatsachen und direkter Rede. Gefühle werden nicht besprochen. Sie entstehen umso stärker im Kopfkino des Lesers.
Letzte Stunden
Bauch vom Krebs zerfressen,
operiert und bestrahlt,
welke Haut über Knochen,
hohle Wangen,
Bartwildwuchs,
wirres Haar,
leerer Blick,
Schmerzen.Uringeruch.
Nein, nicht waschen!
Nur noch sterben!
Nein, nicht ins Hospiz!
Zu Hause bleiben!
Lass mich los!Verzweifelter Bruder,
weil ihm Hilfe verboten ist.Die Stimme schweigt,
der Blick wird matt,
die Atmung schnappt
und stoppt.Endlich erfüllter Wunsch.
Es gab und gibt viele Ärzte, die sich ihr Leiden unter den besonderen Belastungen in diesem Beruf durch das Aufschreiben des Erlebten versuchen, erträglicher zu gestalten. Gottfried Benn, der berühmt geworden ist durch seine schonungslosen Gedichte aus dem Sektionssaal, schrieb 1921 in einem Brief:
Es ist kein Leben dies tägliche Schmieren und Spritzen und Quacksalbern und abends so müde sein, dass man heulen könnte. (…) Ja, ich bin unbeschreiblich müde und abgelebt wieder mal augenblicklich, darüber ist nichts zu sagen, die Sinnlosigkeit des Daseins in Reinkultur und die Aussichtslosigkeit der privaten Existenz in Konzentration.
Aber sehen wir auch die heitere Seite, die lohnt aufgeschrieben zu werden! Ein Beispiel:
Schlaflos in Leonberg
Die in der DRK-Leitstelle ankommenden Anrufe der Patienten werden an den Dienst habenden Rettungsassistenten in der Notfallpraxis weitergeleitet. Eine Rettungsassistentin erzählte mir folgendes Telefonat, das sie mitten in der vergangenen Nacht geführt hatte. Eine männliche und unsicher wirkende Stimme meldet sich:
„Ich bin 83, und ich kann nicht schlafen. Kann jemand vorbeikommen und mir eine Schlaftablette bringen?“
Die Rettungsassistentin sagt freundlich:
„Da brauchen Sie mich nicht, Sie können ohne Rezept in der Apotheke Schlaftabletten kaufen!“
Nach kurzer Überlegung fügt sie hinzu:
„Warum können Sie denn nicht schlafen?“
„Wissen Sie, ich bin Lehrer gewesen, und ich muss Fragen, die mir einfallen, einfach klären. Sonst kann ich nicht schlafen. Und da bin ich vorhin aufgewacht und dachte immer wieder an die SWR-Landesschau, die ich abends regelmäßig anschaue. Mir fällt aber der Name des Moderators nicht mehr ein. Ich grüble ständig darüber nach. Deshalb kann ich nicht schlafen..“
Die Rettungsassistentin tippte rasch am PC „SWR-Fernsehen“ ein, suchte die Moderatoren und las dem Anrufer deren Namen langsam vor – bis zu der Frage:
„Meinen Sie Michael Matting?“
Erleichtert kam die Antwort:
„Ja, genau den meinte ich! Danke, jetzt kann ich schlafen. Sie müssen mir keine Schlaftablette mehr bringen!“
So kann die Verarbeitung durch Aufschreiben ebenso wie ein Zaubertrank im Märchen nicht nur anderen helfen, in Abgründe der menschlichen Existenz zu blicken, sondern auch neue Kräfte durch Humor und Freundlichkeit vermitteln. Schreiben ist ein Zaubertrank in guten und in schlechten Tagen.
7988 Zeichen mit Leertasten
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Hagebutten
(4.6.2018)
Mit aufmerksamen Augen unterwegs
am Rande einer breiten Berliner Straße
begegnete ich einer prächtigen Augenweide
alle Blütenblätter bereits abgeworfen
neues Leben in sich tragend -
Solidarität *
(26.5.2018)
Was suchen eure Augen
erwartungsvoll
nach all dem erlebten Leid
in dieser gelobten GegendSeit Jahrtausenden gibt es auch hier
„wir“ und „die anderen“
Die Solidarität wird beschränkt
durch den eigenen Tellerrand
Auch Gewerkschafter sind besorgt
wegen möglicher Stellenverluste
nicht nur in der RüstungsindustrieUm euch gründlich zu helfen
müssten die mächtigen Verursacher des Elends
zur Verantwortung gezogen werden
Das ist ein mühseliges Unternehmen
in dieser gefährlichen Gegend
denn die meisten Menschen hier
benebeln sich selbst täglich֎֎֎
*Am 26.5.2018 zeigte die ARD-Tagesschau afrikanische Kinder auf einem überfüllten Rettungsboot im Mittelmeer
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Prof. Dr. med. Horst Joachim Rheindorf
Ehrenpräsident des BDSÄ
geboren am 06. Mai 1922, verstorben am 07. Mai 2018Am 6. Mai 2018, seinem 96. Geburtstag, kämpft Horst Joachim Rheindorf in der Klinik um sein Leben.
Geboren am 6. Mai 1922 in Kassel, dient Horst Joachim Rheindorf zurzeit des Krieges als Infanterist im Sanitätsdienst der Wehrmacht. Er studiert an der Medizinischen Fakultät der Philipps-Universität Marburg von 1943 bis 1950. Mit der Promotion zum Dr. med. schließt er das Studium ab. Bis 1953 arbeitet er in der Frauenklinik und Medizinischen Klinik.
Die hessische Ärztekammer, in jenen Tagen ein Verein, ab 1956 eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, wirbt ihn von der wissenschaftlichen Laufbahn ab. Der Einsatz für die Rechte jüngerer Ärzte beeindruckt die ärztlichen Standesvertreter. Erinnern wir uns: Die vergütungsfreie Mitarbeit zu Beginn der klinischen Tätigkeit ist nahezu üblich.
Horst Joachim Rheindorf wird als Ehrenmitglied auf Landes- und Bundesebene in den Marburger Bund aufgenommen. Die Ärztekammer Hessen beruft ihn zum ärztlichen Geschäftsführer, von 1956 an zum Hauptgeschäftsführer.
Er setzt sich auf allen Ebenen bis in den Weiterbildungsausschuss der Bundesärzte-kammer für die Weiter- und Fortbildung ein, arbeitet an der Musterberufsordnung mit: Qualifikation unter Wahrung ärztlicher Normen ist das Anliegen. Er fördert die Carl-Oelemann-Schule: Qualifizierung des Assistenzpersonals ärztlicher Praxen in überbetrieblicher Ausbildung.
Die Akademie für Ärztliche Weiterbildung und Fortbildung, Themen wie Gesundheitserziehung bzw. Prävention fesseln Rheindorf. Von Anbeginn sitzt er der Hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung stellvertretend vor. Er treibt den Ausbau des berufsständischen Versorgungswerks voran, um den Alters-unterhalt der Ärzte zu schützen.
Im Hessischen Landesgesundheitsrat leitet er den Krankenhausauschuss; er initiiert die Gründung der Hessischen Akademie für Arbeits-, Betriebs- und Sozialmedizin, an der er lehrt. Als Mitglied mehrerer Ständiger Konferenzen und Ausschüsse auf Bundesebene sowie des Großen Senats organisiert, moderiert, referiert er in nationalen und internationalen Fortbildungskongressen.
Die Pensionierung 1987 setzt der mitreißenden Energie kein Ende. Er bleibt Vor-sitzender der Deutschen Akademie für medizinische Fortbildung und Umwelt-medizin. Das korrespondierende Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Allge-meinmedizin gilt als Pionier der hausärztlichen Qualifizierung.
Mit Prof. Dr. Wilhelm Theopold, Mitbegründer des Marburger Bundes, ehemaliger Präsident der Hessischen Landesärztekammer und der Bundesärztekammer, bahnt sich eine Freundschaft an. Als aktueller Schriftleiter des Hessischen und des Deutschen Ärzteblatts leitet Präsident Theopold ab 1982 den BDSÄ. Er beruft 1986 in weiser Voraussicht Rheindorf zum Ehrenmitglied, das bald die Kasse führt.
Theopold kandidiert 1992 nicht mehr; die Verbandführung mit Diskussionen um niveauorientierte Aufnahmekriterien reizt zu Widerspruch. Er überzeugt Rheindorf, der Richtige zu sein, und schlägt vor, den Freund zum Präsidenten zu wählen.
Rheindorf lobt ihn für den hohen Stand der Mitgliederzahl. Zur Einrichtung der Bibliothek, zum regelmäßigen Rundbrief und die anhaltende Präsenz in den Medien gratuliert er. Ärztliche Körperschaften oder Mitteilungsblätter stehen dem organi-sierten Phänomen „Doktor und Poet dazu“, so der Titel des 1987 erschienenen Buchs Theopolds, aufgeschlossen gegenüber.
Präsident Horst Joachim Rheindorf erklärt beim Amtsantritt das mit dem soziokulturellen Strukturwandel kompatible Ziel: Zusammenhalt im Verband ohne Distanzierung einzelner Gruppen. Das Stichwort „wir sind eine große Familie“ klingt in unseren Ohren.
Sucht bisher Theopold Diskussionen mit Kritikern, Pressereferenten und Öffentlichkeit, lässt Rheindorf bei Medienauftritten Vorsicht walten. Bald überrascht es ihn, bei Mitgliedern und Standesorganisationen Anerkennung zu ernten. Sitz, Geschäftsstelle, Bibliothek des BDSÄ verlegt er in die Fortbildungsakademie der Hessischen Landesärztekammer in Bad Nauheim. Dem Rundbrief stellt er turnusmäßig den persönlichen Brief voran. Er beschäftigt stundenweise eine Bürokraft, anfangs Frau Walter, danach Frau Näther. Den Rundbrief redigiert seine Frau Gabrielle, von Beruf Journalistin, in rechtlichen Angelegenheiten des Verbands berät Sohn Axel.
Niemand befürchtet eine oligarchische Familienherrschaft: Familie Rheindorf bewältigt in der Spätzeit klassischer Nachrichtentechnik die wachsende Summe der Verbandsnachrichten. Die Mitglieder erfahren alles aus den Lesungen der Landesverbände und des Bundesverbands, zu Publikationen, Ehrentagen, Aus-zeichnungen ebenso wie Bibliothekszugänge. Die Familie waltet mit Handarbeit, mit viel Liebe zum Verband und Mitgliedern. Bei der Drucklegung des Rundbriefs und der Pflege des Mitgliederverzeichnisses hilft unermüdlich Frau Jutta Näther, Sekretärin der Geschäftsstelle bis heute.
1993 findet der 36. Kongress des Weltverbands der Schriftstellerärzte (UMEM) in Fulda statt, zugleich der Jahreskongress in Bad Nauheim mit Verleihung der Schauwecker-Plakette an Wilhelm Theopold. Die „Ärzte Zeitung“ berichtet darüber. Die Schauwecker-Medaille ist die höchste Auszeichnung des BDSÄ, benannt nach seinem ersten Präsidenten.
Gleichwohl sinkt die Mitgliederzahl. Das Bayerische Ärzteblatt setzt die Doppelspalte „Äskulap und Pegasus“ ab. Der allgemeine Wandel soziostruktureller Gewohnheiten kündigt sich im Verbandsleben an. Rheindorf besucht die Lesungen der Landesgruppen möglichst oft.
Die Bereitschaft zu Sponsoring durch Firmen, Verlage oder deutsche Ärzteblätter schwindet, obwohl die Arbeit des Verbands gemeinnützig anerkannt ist: Der BDSÄ stellt wirksame Spendenbescheinigungen aus. Das Interesse öffentlicher Medien schrumpft mit dem Wachsen der neuen Medien.
Die Aktivitäten verlagern sich auf private Initiativen der Mitglieder. Präsident Rheindorf ruft zur Aufmerksamkeit gegenüber der ärztlichen Schriftstellerszene in den neuen Bundesländern auf. Die Integration gelingt mit der Darstellung des Verbands als eine Familie. Mitte der Neunziger Jahre steigen die Mitgliederzahlen.
Vorstandsmitglieder kommen, gehen oder wechseln die Ämter, Präsident Rheindorf bleibt. Vor jeder Vorstandswahl fragt er, ob jemand das Amt übernehmen mag. Die Versammlung wählt ihn stets einhellig. Vier Mal erscheint die offizielle Verbands-anthologie „Edition deutscher Schriftsteller-Ärzte“.
Gabrielles Idee „Neues aus der Redaktionsstube“ fördert die Zusammengehörigkeit. Sie betont, neben den aktiven Mitgliedern auch von anderen Mitgliedern Beiträge anzunehmen, um das Schaffen von Erfahrenen und Anfängern gleichermaßen zu dokumentieren.
Die Beltzmühle in Altenstadt, ländliches Anwesen der Familie Rheindorf, dient mehrmals organisierten Lesungen. Weitere Landesverbände der neuen Bundesländer treten ab 2000 dem BDSÄ bei. Die Aktivitäten regen das Verbandsleben an, Ältere und Jüngere finden zusammen.
2002 beginnt Harald Rauchfuss den Aufbau einer Webseite. Rheindorf begrüßt es, den Verband in neuen Medien zu präsentieren, um Interesse zu wecken. Der Rundbrief schwillt zu einem vielseitigen Publikationsorgan an. Die Herstellungs-kosten wachsen zwar, aber er ist ein Ausgleich für jene, die nicht an den Treffen teilnehmen können. Darüber freut sich Präsident Rheindorf im Dezember-Rundbrief 2004. Im Sinne der klassenlosen Gemeinschaft verzichtet er seit Beginn der Amtszeit darauf, Titel und Ehrenauszeichnungen der Autoren zu wiederholen.
2005 stiftet Rheindorf auf dem Kongress in Bad Schandau den Literaturpreis, dem die Mitgliederversammlung den Namen Horst-Joachim-Rheindorf-Literaturpreis gibt. Das Hauptmotiv der Stiftung ist, den Verband für Interessenten attraktiv zu machen, zumal nach 1998 die Bundesärztekammer keinen Literaturpreis mehr ausschreibt. Der Literaturpreis des BDSÄ wird in der Regel auf dem Jahreskongress verliehen, ein Turnus ist nicht vorgegeben. Wie der Präsident befürchtet, öffnet der Preis eine Tür für Gefühle, übergangen zu sein.
Der Präsident bereitet 2008 Harald Rauchfuss auf die neue Amtszeit vor. Nach der Wahl muss die Mitgliederversammlung den emeritierten Präsidenten drängen, der Ernennung zum Ehrenpräsidenten zuzustimmen. Rauchfuss würdigt Rheindorf, den Verband vor jenem Zeitgeist bewahrt zu haben, der im allgemeinen Literaturbetrieb das absolut individuelle Stilmittel beanspruche. Damit sei es ihm gelungen, einen Tiefpunkt des Verbands in den Neunziger Jahren zu überwinden.
Hojo Rheindorf führt mit der Übernahme der Präsidentschaft einen damals neuen Stil im Verband ein. Die vorher etwas steife Atmosphäre verwandelt er durch seine väterliche Art in eine freundschaftlich-familiäre, in der sich neue Mitglieder schnell angenommen und wohl fühlten. Als fortwirkendes Vermächtnis ist das bis heute so geblieben. Gleichwohl vermeidet er die Rolle des Übervaters: er kann loben, anerkennen und andere neben sich gelten lassen.
Eine spontane Ehrung überrascht Familie Rheindorf am Abschiedsabend auf der Havel-Insel Lindenwerder. Barbara Kromphardt und Harald Rauchfuss komponieren eine mehrstimmige vielstrophige Abschiedshymne für „Hojo“, in die alle Kongress-teilnehmer einstimmen. Sie verklingt im besonnten Abend der Berliner Luft.
Horst Joachim Rheindorf hat eine Tradition hervorgebracht, die Stabilität garantiert. Sie hilft, die Turbulenzen eigenwilliger poetischer Ausdrucksweisen und der modernen Medien zu steuern. Es gilt für die nachfolgenden Präsidenten Harald Rauchfuss und Dietrich Weller, über den Wandel der Poesie und der ärztlichen Tätigkeit im Sinne Rheindorfs nachzudenken.
Am 8. Mai 2018 endet ein Leben im Dienst des ärztlichen Berufsstands, der Schriftsteller-Ärzte und der eigenen Familie. Von den zahlreichen Auszeichnungen seien genannt:
Ernst-von-Bergmann-Plakette der Bundesärztekammer 1971
Bundverdienstkreuz Erster Klasse 1972
Bernhard-Christoph-Faust-Medaille des Landes Hessen 1982
Paracelsus-Medaille der deutschen Ärzteschaft 1997
Großes Verdienstkreuz mit Stern 2002.
Schauwecker-Medaille 2009Es ist Rheindorfs wegweisendes Vermächtnis, unsere Satzung zu leben mit »Förderung der Volksbildung, nicht nur in Fragen der Gesundheit, mit Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur, des Völkerverständigungsgedankens und der Humanität.« Es obliegt uns »die Pflege des literarischen Schaffens und dessen Förderung sowie die Hebung des gegenseitigen Verstehens und kulturellen Zusammengehens der Nationen zusammen mit der Union Mondiale des Écrivains Médecins (UMEM).«
Die Satzung klingt mit Horst Joachim Rheindorfs Worten verständlicher: »Wir sind eine große Familie.« Wir gedenken seiner Worte auf Dauer und danken ihm für seine treue und hingebungsvolle Arbeit.
Harald Rauchfuß und Dietrich Weller