Schlagwort: Sterben

  • Für Jürgen

    Wieder ist ein Freund gestorben…
    Wieder sind Schmerz
    und Trauer gross
    Es ist kein Trost
    noch nicht
    dass er nicht mehr leidet
    denn es leiden
    seine Frau
    seine Kinder
    Enkelkinder
    alle Freunde
    und auch ich

    Er war seit vielen Jahren
    ein wirklich guter Freund
    seine Meinung war mir
    immer wichtig
    sein Lächeln
    Schulterklopfen
    Händedruck
    belebten mich

    Ich habe es ihm
    nie gesagt
    und daran leide ich
    Jetzt könnte er es wissen
    Aber…
    andere sind ihm
    wichtiger als ich

    Ich werde mich erinnern
    und ich werde
    wieder seine Worte lesen
    vielleicht bin ich dann
    getröstet

    5.10.21

  • (2.10.2021)

    Zwei Jahre hast du noch zu leben
    sagte es und lächelte mitfühlend
    Ein Jahr hast du noch zu leben
    sagte es und lächelte warnend
    Deine Zeit ist ein für alle Mal um
    sagte es und lächelte fragend
    Jeden Tag dieser zwei Jahre
    habe ich offenherzig hingeschaut
    gelernt, das Gelernte umgesetzt, gelehrt
    gekämpft, genossen, geliebt, gelebt
    erwiderte ich gelassen
    und lächelte zufrieden

    ֎֎֎

  • Der Friedwald

    (3.11.2020)

     Leben und Tod gehen Hand in Hand
    leisten manchem Wahnsinn Widerstand
    Sei mit meinem Baum im Einklang
    bringe Freude mit und Gesang
    denke nach über Einheiten und Kreisläufe
    über Wolken, Regen und Wasserläufe
    denke nach über Asche und Glut
    über das weite Meer, Ebbe und Flut

  • Azaleen

    Sie blühen eben im Verborgenen,                                                       

    unzugänglich:

    Die Gewächshäuser sind derzeit geschlossen

    wie Museen, vielbesuchte, engräumige.

    So entfalten sie sich üppig ungesehen,

    dem hiesigen Vorfrühling exotisch voraus,

    umsonst umgepflanzt aus dem Osten

    und gezüchtet in Abendlandböden –

    zu wessen Freude denn nun?

    Dabei bräuchten wir genau jetzt

    ihre Spur von Rosa im Dunkel,

    ihre Blütenkränze in der Begrenzung.

    Sind sie  auch schön ohne Betrachter?

    Urbi et orbi

    Mehr kann er nicht tun.

    Ein Äußerstes an Segen und Gebet –

    für den Erdkreis, den heimgesuchten.

    Es ist eine blaue Stunde,

    der Regen fällt,

    der weitläufige Platz ist menschenleer,

    der Baldachin ist weiß wie sein Gewand.

    Er sitzt allein, versunken, gebeugt

    und bringt die Angst, den Tod, die Not

    vor Gott.

    Man nimmt ihm die Verbundenheit ab.

    Wird die Last abgenommen –

    vor dem Pestkreuz des Mittelalters,

    zu dem so viel Gepeinigte schon aufsahen,

    vor der Ikonen-Mutter in Gold,

    zu der sie namenlos flehten?

    Er nimmt uns mit

    ins Innerste möglichen Glaubens,

    in die gesuchte Heimat.

    Schwarzer Tod

    Dem Sterbenden nahe zu sein,

    die Nahestehenden zu umarmen,

    gemeinsam Abschied zu nehmen –

    geht nicht.

    Nehmt Abstand

    von natürlichen Reflexen,

    von Bedürfnissen nach Trost,

    von Ritualen!

    Der Sterbende geht ohnehin allein hinüber,

    begleitet und getragen

    von Gedanken, Gefühlen, Gebeten und Geborgenheit –

    so Gott will.

    Aber wie damals zu archaischen Seuchenzeiten

    geht es nicht,

    das entgleitende Kind nicht zu umarmen,

    dem Bruder nicht von den Lippen zu lesen,

    der uralten Mutter nicht die Augen zuzudrücken.

    Und es muss doch gehen – um des Lebens willen.

    Dann nimm sie hin, Tod!

    Uns bleibt der Stachel –

    bis zum lichten Ostertag.

     Wie damals

    So viele Richtlinien und Empfehlungen,

    so viele Verbote.

    Es gibt wieder Denunzianten, besonders brave,

    und solche, die zu hinterfragen wagen,

    dass die Welt gleichsam stillsteht.

    Es gibt wieder die gleiche Ratlosigkeit,

    die nach starken Worten und klarer Führung verlangt,

    eine Unsicherheit wie sich zu verhalten,

    das unbehagliche Gefühl, beobachtet zu werden

    und massig Informationen,

    ganze Schaltbäume an Verhaltensmaßregeln,

    die wie immer keiner liest.

    Man versucht, der Angst Herr zu werden.

    Jetzt ist die Zeit der Pragmatiker und der Bürokraten,

    die die Ungewissheit in Regeln bannen.

    Widerstand aber ist kaum möglich,

    denn die Macht, gegen die es zu kämpfen gilt,

    ist keine menschliche.

    Broken wings

    Eingesperrt – so empfand er sich,

    isoliert – fühlte sich das Leben an.

    Energie vibrierte,

    die virtuellen Welten genügten nicht.

    Immer nur verzerrte Gesichter auf Bildschirmen.

    Reden, Nachrichten schreiben – das war nicht Seines.

    Mit der Gruppe um die Häuser ziehen,

    in Parks zusammensitzen bei Musik,

    per Handschlag sich verständigen von Jugend zu Jugend:

    das wäre es, das ist es.

    So schlug er mit der flachen Hand aus Wut an die Wand –

    und brach sich den Arm.

    Die Welt räumt auf

    Die Welt räumt auf

    in ihrer Unordnung

    Die Welt steht still

    in ihrer Hetze

    Die Welt ist ratlos

    in ihrer Autonomie.

    Aber zu all dem gab Gott die Sonne

    nahezu jeden Tag in der Krise.

    Und es war gut.

    Gefährliche Hilfe

    Aus dem Haus wagt er sich kaum noch,

    aber so viele Male wird er das Blühen nicht mehr erleben und

    so macht er sich auf in die Sonne,

    um die Blüte festzuhalten im Bild

    für sein Wohnzimmer, das er kaum noch verlassen soll.

    Dabei stolpert er und fällt.

    Ein junger Mann stürzt herbei und hilft ihm auf –

    ganz nah kommt im dankbaren Lächeln

    Gesicht zu Gesicht.

    Quarantäne

    Vierzig Tage in der Wüste,

    Fastenzeit, Osterzeit –

    vierzig Tage hält der Mensch Ausnahmezustände aus,

    dann geht es nicht mehr,

    dann verwüstet die Wüste,

    dann mergelt der Hunger aus,

    dann würden sogar Feiern zu viel.

    Die Alten hatten  Augenmaß.

    Sie bemaßen die Zeit weise

    und ließen Rückkehr zu

    zum Altgewohnten

    mit neuen Augen.

    Welttheater

    Nun sind das Erste und das Letzte,

    was sie sehen auf dieser Welt

    Masken,

    über denen Augen schauen,

    glänzend, verschwimmend und forschend.

    Augen nur.

    Der Lebensatem der Welt

    Ist getrennt, verhüllt und je eigen.

    So einsam sind Kinder und Sterbende heute

    mit ihrem Selbst

    und der eigenen Rolle

    bei Auftritt und Abgang

    auf der Bühne des Lebens.

  • (17.5.2020)

    Wenn ich die Mutter Erde
    endgültig eng warm umarme
    werden Regenwürmer sich fröhlich schlängeln
    Ameisen ihre prächtigen Hügel rege bauen
    Kirschbäume Fruchtkörbe freigebig füllen
    Birkenzweige in der Brise bezaubernd baumeln
    Mohnblumen den Lebensmut sanft besingen
    Wenn ich die Mutter Erde
    endgültig eng warm umarme
    wird der Wind mich mitnehmen
    auf seiner weiten Reise
    über Berge, Wüsten und Wälder
    zu Geburtsstätten heller Wasserquellen
    zu türkisblauen Meeren des Freimuts

    ֎֎֎

  • Schon als Schüler erlebte ich regelmäßig in der Kinderarztpraxis meines Vaters Grundlagen der Behandlung. Die Höhensonne sollte die Aufnahme von Vitamin D fördern, das die Kinder – auch meine Schwester und ich!- als scheußlichen Lebertran essen mussten. Wunden nähte mein Vater mit sterilen Fäden, die er in kleinen Fläschchen aufbewahrte. Ich durfte sogar manchmal den Faden abschneiden. Jeder Faden musste einzeln in die Klemmhaltung der Nadel eingefädelt werden. – Die Nadeln bewahrte Vater in einer Dose auf, die mit dem Nadelhalter zusammen sterilisiert wurde. Erst Jahre später kamen die einzeln verpackten atraumatischen Nadeln mit dem angehängten Faden auf. Noch viele Jahre wurde das Besteck sterilisiert. Inzwischen verwenden wir in der Notfallpraxis Skalpelle, Pinzetten, Scheren, Injektionsnadeln, Spritzen und andere Instrumente als Einmalware und produzieren einen gigantischen Müllberg.

    Als junger Student habe ich im Katharinenhospital Frankfurt ein Praktikum gemacht. Dort bestand eine meiner Aufgaben darin, den Nonnen bei der Wiederaufbereitung des Verbandsmaterials zu helfen: Die Binden wurden gewaschen, zum Trocknen aufgehängt, dann gebügelt und neu aufgerollt. Heute schneiden wir selbstverständlich einen Verband auf, werfen das Material weg und holen neue Ware aus dem Regal. Sogar die Pinzetten, Scheren und Skalpelle sind Einmalmaterial und dementsprechend minderwertig. Das Einmalbesteck soll den Aufwand des Sterilisierens mit den sehr aufwändigen Hygienevorschriften ersparen.

    Es war in meiner Kindheit etwas Besonders, bei einer Entzündung ein Antibiotikum zu erhalten. Mein Vater erklärte mir das, als ich mit neun Jahren eine Osteomyelitis am Bein hatte, die operiert werden musste. Es gab damals, wenn ich mich recht erinnere, Penicillin und ein Sulfonamid. Sie wurden als große Neuerung gefeiert, und ich nahm meine Tabletten mit großem Respekt. Von den Resistenzen, die uns heute Sorgen machen, war damals nur wenig bekannt. In Europa sterben heute jährlich 33.000 Menschen an resistenten Keimen. Die Wahrscheinlichkeit, beim Krankhausaufenthalt einen solchen Keim einzufangen, ist relativ hoch.

    Tetanus schilderte mein Vater noch als große Gefahr. Damals gab es noch Impfstoffe aus Tierseren, die schwere allergische Reaktionen hervorrufen konnten. Deshalb musste man immer genau dokumentierten, von welchem Tier die letzte Impfung war. –
    Vater erzählte diese Geschichte: Als er im Studium eine Famulatur bei einem Landarzt machte, wurde dessen Sohn verletzt und sollte nach der Wundversorgung eine Tetanusschutzimpfung erhalten. Um auch wirklich alles richtig  zu machen, bat der erfahrene Landarzt einen befreundeten Chirurgie-Chefarzt um Rat: „Welches Serum soll ich spritzen?“ – Die Antwort: „Mach es genauso, wie du es bei irgend einem Patienten machen würdest.“ – Der Arzt spritzte das Serum. Wenige Minuten später erlitt der Junge einen anaphylaktischen Schock und starb unter den Händen seines Vaters. – Diese Geschichte fällt mir oft ein, wenn ich heute eine Tetanusimpfung verabreiche. Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Arzt in 48 Jahren nie einen Fall von Wundstarrkrampf erlebt.

    Ich erinnere mich auch an eine Chloroform-Maskennarkose, als der HNO-Arzt meine Nasen-scheidewand gerade stellte, nachdem ein Klassenkamerad sie mir versehentlich bei einem Sportunfall gebrochen hatte. – Inzwischen ist es selbstverständlich, dass ein Notarzt einen schwer verletzten noch am Unfallort zum Schutz intubiert und narkotisiert.

    Als Schüler las ich, dass es ganz neu Kortison gibt als vorübergehendes Linderungsmittel bei Leukämie. Dinu Lipatti, einer der ganz großen Pianisten, dessen wunderbare Aufnahmen ich damals kennen lernte, konnte eine Zeitlang mit Kortison am Leben gehalten werden. Kollegen wie Yehudi Menuhin bezahlten die extrem teure Therapie. Das war schon eine Erfolgsnachricht. Erst im Studium lernte ich die neuesten Chemotherapien mit den oft heftigen Nebenwirkungen und häufigen Rückfällen. Und zu Beginn meiner Praxiszeit kamen die ersten Stammzelltransplantationen auf, die den Umbau ganzer Stationen in den Krankenhäusern nötig machten. Ich erinnere mich gut an einen Patienten am Anfang meiner Niederlassung 1982, den ich zu einer Schul- und Studienkameradin nach Stuttgart schickte, die dort als Chefärztin gerade eine Hämatologisch-Onkologische Abteilung aufbaute und in Stuttgart die Stammzelltransplantation einführte. Heute werden sogar noch bei über Siebzigjährigen Stammzelltransplantationen erfolgreich vorgenommen. Das war damals undenkbar.

    Als ich von 1974-1979 meine Kinderfacharzt-Weiterbildung absolvierte, kam eines Tages mein zuständiger Oberarzt von dem Besuch des Internationalen Kinderärztekongresse aus Rochester / USA zurück und berichtete ganz begeistert: „Stellen Sie sich vor, die haben da ein Röntgengerät entwickelt, das legt den Kopf oder andere Organe in Bildscheiben, man kann sie einzeln anschauen und so im ganzen Körper Tumore, Blutungen, Frakturen und Missbildungen erkennen. Durch eine digitale Dichtemessung können Sie genau erkennen, welches Material (Blut oder Knochen oder Liquor) das ist. Solch ein Gerät müssen wir unbedingt nach Stuttgart bekommen – ein einziges Gerät für ganz Stuttgart! Das wäre fantastisch!“  – Heute hat jede Röntgenpraxis und jede Klinik Computertomografen und Kernspintomografen, und große Kliniken verwenden Positronenemissionstomografen zur Diagnostik und ein Gamma-Knife, das auf den Millimeter genau scharf abgegrenzte Tumore zerstört.

    Noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts galt es als Kunstfehler, am Gehirn zu operieren. Inzwischen ist die Neurochirurgie eine international etablierte und weit fortgeschrittene operative Disziplin. Während meiner Jahre in der Neurologie habe ich wahre Kunsteingriffe gesehen mit verblüffenden und segensreichen Erfolgen. Und ich kenne viele Menschen, die am Leben gehalten wurden durch moderne medizinische Methoden, aber jetzt im Wachkoma liegen und schwerst pflegebedürftig sind. Früher wären sie gestorben, als es noch keine Therapie gab.

    Die neuen Disziplinen der invasiven Radiologie und der minimalinvasiven Chirurgie ermöglichen inzwischen die zielgenaue Ausschaltung kleinster Aneurysmen von Hirngefäßen oder Entfernung von Hirngefäßthrombosen und die millimetergenaue Zerstörung eines Tumors. Die „Knopflochchirurgie“ und Arthroskopie sind ein selbstverständlicher Bestandteile der modernen Chirurgie.

    Als Allgemeinarzt erlebte ich in der Hausarztpraxis die Vielzahl der Erkrankungen, die psychosomatischen Auswirkungen sozialer Konflikte und die Freude, wenn meine Therapievorschläge geholfen haben. Nachdem ich meine Praxis verkauft hatte, um eine Privatpraxis zu führen, war ich ein Jahr später als Urlaubsvertreter gerade eine Woche in meiner früheren Praxis tätig, als mein Nachfolger plötzlich schwer krank wurde und ein neues Herz brauchte. Ich führte auf Bitten seiner Frau dann zwei Jahre lang seine Praxis neben meiner eigenen Praxis, bis er wieder zurückkam. Anschließend arbeitete ich zehn Jahre lang als Geschäftsführer einer Firma für Sozialimmobilien und entwarf unter anderem Deutschlands größte Mutter-Kind-Klinik. Ich begleitete den Bau und leitete die Klinik anschließend. Bis zum Beginn meiner Rente war ich dann zehn Jahre in der neurologischen Akutmedizin und Rehaklinik tätig.

    Obwohl es seit Menschengedenken eine vornehme Pflicht der Ärzte ist, Schwerstkranken und Sterbenden beizustehen, wurde erst 1969 von der englischen Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders das erste Hospiz im St. Christopher´s Hospital in London eröffnet. Sie begründete die moderne Palliativmedizin und den weltweiten Bau von Hospizen. Das ist eine der herausragenden Errungenschaften der Menschlichkeit. Dankenswerterweise haben sich auch die deutschen Krankenkassen inzwischen entschlossen, diese Form der Medizin und Pflege finanziell zu unterstützen.

    Die Palliativmedizin ist mir seit meiner Assistentenzeit auf der Kinderkrebsstation ein Hauptanliegen in meiner ärztlichen Arbeit. Deshalb habe ich auch rasch die Gelegenheit ergriffen, die Zusatzbezeichnung Palliativmedizin zu erwerben, als diese in die Weiterbildungsordnung eingeführt wurde. Und es war mir wichtig, ein Buch[1] über meine Erfahrungen im Umgang mit schwerst kranken, sterbenden und genesenden Menschen zu schreiben. Glücklicherweise trug Birgit viele gute Gedanken und das Titelbild bei.

    Da ich seit meinem 65. Geburtstag regelmäßig in den Notfallpraxen Leonberg und Stuttgart arbeite, schließt sich der Kreis für mich. Ich bin wieder in meinem ursprünglichen Gebiet als Hausarzt tätig und freue mich, wenn ich Patienten treffe, die ich schon in der Kinderklinik oder in meiner Praxis behandelt habe. Wir werden miteinander alt. Und ich finde meinen Beruf immer noch spannend und sehr befriedigend.

    Jetzt verfolge ich die Fortschritte der Technik in der Medizin eher aus einer Beobachterrolle, wenn auch sehr interessiert.

    Die Entwicklung der künstlichen Intelligenz hat natürlich auch in der Medizin Einzug gehalten. Früher habe ich das EKG selbst beurteilt, heute nimmt der PC mir diese Leistung ab. – Aber ich bin dankbar, dass ich gelernt habe, ein EKG zu lesen, denn der PC macht auch immer wieder Fehler! – Diese Technik verführt zu Abhängigkeit und geringer persönlicher Untersuchung. Ich diagnostiziere meist eine Pneumonie immer noch mit Anamnese und Auskultationsbefund, um dann eher selten ein Röntgenbild anzuschießen. Einige jüngere Kollegen verordnen schon bei Husten gleich ein Thorax-CT.

    Seit 2019 kann Google mit künstlicher Intelligenz, die mit genetischen Daten gefüttert ist, die Struktur von Proteinen deutlich besser modellieren als alle Wissenschaftler.[2] Gentherapie kann eine Form der Erblindung aufhalten. Im Labor gezüchtete Immunzellen bekämpfen Tumoren. Von künstlicher Intelligenz unterstützte Systeme diagnostizieren Hautkrebs, prognostizieren Nierenversagen und entdecken Herzprobleme früher als Ärzte. Im Blut lässt sich der Fortschritt von Krebs früher feststellen als durch andere körperliche Anzeichen. Entdecken die neuen Verfahren nur 20 Prozent aller Tumoren so früh, dass sie behandelt werden können, hätte dies einen größeren Effekt als viele Therapien, die später zum Einsatz kommen. Besonders wichtig sei es, sagen die Onkologen, falsch positive Krebsdiagnosen zu vermeiden: Wir sollten keinen Krebs diagnostizieren, der gar keiner ist.

    Biologie und digitale Technik wachsen zusammen. Es entsteht eine Datenmedizin, die von künstlicher Intelligenz angetrieben wird und die Nutznießer von Daten auf den Plan ruft.

    Die Gesundheitskarte, die unser derzeitiger Gesundheitsminister anstrebt, soll alle relevanten Daten eines Menschen enthalten, damit sie von den behandelnden Ärzten gelesen werden kann. Das Problem: Die Karte wird auch von Hackern gelesen. Das gilt besonders bei Arztpraxen, deren EDV-System nicht abgesichert ist gegen Eindringlinge. Absolut sicher wirkt auch hier das Murphy´sche Gesetz: Wenn etwas Schlimmes geschehen kann, wird es auch geschehen. Der Gesundheitskarten-Patient ist nicht nur für wohlmeinende Ärzte gläsern. Auch die Wirtschaft, die PR-Strategen, die Versicherungen, die Arbeitgeber werden ihre Vorteile aus dem Wissen ziehen, das sie sich auf mehr oder weniger verborgenen Wegen besorgen. Und die Folgen werden ganz sicher nicht nur gut sein für die betroffenen Patienten.

    Wenn wir schon bei der Bürokratie sind: Ich erinnere mich daran, dass ich als Schüler immer wieder mit meinem Vater zur Kassenärztlichen Vereinigung fahren durfte, wenn er einen Schuhkarton mit Kassenscheinen am Quartalende abgeben wollte. Inzwischen ist die Abrechnung mit dem PC zur Pflicht geworden. Das hat so manchen Arzt dazu veranlasst oder ihm zumindest die Entscheidung erleichtert, seine Praxis zu verkaufen oder zu schließen, da er dieses „neue Zeug“ nicht mitmachen wollte. Als ich ein paar Jahre lang schon meine Praxis hatte, entschloss ich mich, neben den Karteikarten auch einen PC für die Abrechnung zu benützen. Das war ein richtiges Problem, denn obwohl ich professionelle Hilfe hatte, klappte es mit dem ersten System nicht. Erst das zweite funktionierte. Jetzt rechnen wir bequem im PC ab und schicken die Daten online an die KV. Das Geld bekommen wir auch nicht schneller als früher, aber wir werden viel gründlicher kontrolliert, ob wir irgendwelche Durchschnitte überschreiten, die einen Regress rechtfertigen.

    Im Krankenhaus werden die Fallpauschalen nachgerechnet und optimiert, die bei der Behandlung der Krankheiten von den Kassen vergütet oder mit Abzug oder Zuschlag belegt werden. Immer mehr entscheiden Verwaltungsleute über die Umstände, die zur Entlassung führen. Die Fallpauschale ist ein verheerendes Mittel, um die Menschen, die in der Medizin für die kranken Menschen arbeiten, vom Patienten weg zu führen und sich auf den materiellen Gewinn zu konzentrieren. Für die Verwaltungsleute ist nur der ein guter Arzt, der den Gewinn des Krankenhauses steigert. Die Zuwendung zu einem Patienten wird systematisch verringert, weil die Ärzte, das Pflege- und Therapiepersonal sonst mit der vorgeschriebenen Dokumentation nicht zurechtkommen. Der Begriff der „blutigen Entlassung“ und die zunehmende Zahl der Überlastungen beim Personal sind schlimme Zeichen für unmenschliche und fehlgeleitete Verwaltungsmedizin. Die Fallpauschalen sollten unbedingt zugunsten einer patientenzentrierten und zuwendungsorientierten Versorgung abgeschafft werden. Es ärgert mich heute noch, wie viele ellenlange Briefe ich in der Rehaklinik diktieren musste, weil die Rentenversicherung verlangte, viele Einzelheiten mehrfach an verschiedenen Stellen im Brief zu wiederholen. Ich empfinde das als erzwungene Verschwendung von wertvoller Zeit, die wir besser dem Patienten zugutekommen lassen sollten. Ich warte jetzt darauf, dass wir bald einen „Facharzt für Verwaltung“ bekommen.

    Die Technik ist fabelhaft fortgeschritten. Aber die menschliche Seite, die Zuwendung, das qualifizierte und professionelle Gespräch kommen immer mehr zu kurz. Die Zahl der Psychiater und Psychotherapeuten ist konstant viel zu klein. Das sieht man auch an der Tatsache, dass es extrem schwierig wenn nicht unmöglich ist, für Kriseninterventionen rasch einen Therapieplatz zu bekommen. Und chronisch kranke Psychiatriepatienten könnten viel besser geführt und behandelt werden, wenn mehr Ärzte mehr Zeit hätten, um Therapiegespräche in kürzeren Abständen anzubieten, um eine bessere Beziehung entwickeln und aufrecht erhalten zu können.

    Die moderne Medizin hat genau so große Schattenseiten, wie sie Licht verströmt. Das sollten wir uns sehr bewusst machen.


    [1] Wenn das Licht naht- Der würdige Umgang mit schwerkranken, genesenden und sterbenden Menschen, Verlag Weinmann, Filderstadt.
    [2] SPIEGEL Nr. 1 vom 28.12.2019, S. 57

  • Endlichkeit

    (20.12.2019)

     

    Der wesentliche Unterschied
    zwischen dir und vielen Zeitgenossen
    ist der bewusste Umgang
    mit der natürlichen Gegebenheit
    unserer Endlichkeit
    und daraus folgend
    die Dankbarkeit
    bei der gezielten Gestaltung
    der verbleibenden Zeit

    ֎֎֎

     

  • Kapitalistisch erzogen

    (11.12.2019)

     

    Getrieben, gereizt, gierig
    rastlos durch Zeit und Raum rasend
    verbrannten sie die geschenkte Gelegenheit
    ihre Umwelt  wahrhaftig zu berühren 

    Am Ende gab es eine gewaltige Grube
    gefüllt mit grimmigen Gestalten
    ohne wesentliche Wärme

    ֎֎֎

  • A PROMISE

     

     

    Once in the time of great drought, a peasant Xiang had no rice to nourish his family, and even no money to buy it. He went to the feud ruler of Wu ( who was also a river keeper) to borrow four sacks of rice.

    The feud ruler said: “Soon, I would collect my taxes from my subjects, and after I would loan to you 96 tóngbì (copper coins) to buy four sacks of rice.

     Would that suit to you?

    The exasperated Xiang told him the following story:

    – Yesterday, I visited, through the drought devastated, field of mine, and I heard a voice calling me. I looked around and saw the big carp lying in a dry.  “How did you get here?”, I asked.

    “The strong winds pushed me here. Do you have a barrel of water to save my life?”, muttered the carp under its breath.

    „We’ll do it“, I said. – “Soon, I will visit the ruler of Wu, and I will make sure, that he releases the water from the East River. Would that suit to you?”

    The carp was terribly bitter.

    „It’s not my environment, I am desperate and unable to breath « mumbled the carp. One barrel of water would save my life, and instead you give me only the promise. After it, you will find me at a fish market.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Ein Versprechen

    Während der Zeit der großen Dürre hatte der Bauer Xiang keinen Reis, um seine Familie zu ernähren, er hatte nicht einmal Geld, welchen zu kaufen. Er ging zu dem Lehnsherrn von Wu, der auch Besitzer eines großen Flusses war, um vier Säcke Reis zu leihen.

    Der Lehnsherr sagte: „Bald werde ich die Steuern meiner Untertan eintreiben, und danach würde ich dir 96 Tongbi (Kupfermünzen) leihen, um vier Sack Reis zu kaufen. Wäre dir das so recht?“

    Der entnervte Xiang erzählte ihm die folgende  Geschichte.

    Gestern besuchte ich mein durch die Dürre verwüstetes Feld, und ich hörte, wie eine Stimme mich rief. Ich schaute umher und sah einen großen Karpfen auf dem Trockenen liegen.

    „Wie bist du hierher gekommen?“, fragte ich.

    „Ein starker Wind hat mich hierher geworfen. Hast du einen Eimer Wasser, um mein Leben zu retten?“, murmelte der Karpfen außer Atem.

    „Machen wir“, sagte ich. – „Bald gehe ich den Lehnsherr von Wu besuchen, und ich werde sicherstellen, dass er Wasser aus seinem East River fließen lässt. Wäre dir das recht?“

    Der Karpfen war schrecklich erbittert:

    „Ich bin nicht in meinem Element. Ich bin verzweifelt und kann nicht mehr atmen“, murmelte der Karpfen. „Ein Eimer Wasser würde mein Leben retten, und stattdessen gibst du mir nur ein Versprechen. Danach wirst du mich auf einem Fischmarkt finden.“

     

     

     

     

  •  

    Wenn plötzlich alles anders ist,
    Was ist besonderes daran?
    Wir wissen doch, dass alles fließt,
    Der Zeiten Lauf hält niemals an.

    Aus Sternenstaub zur Erde schwebend
    Erblicken wir das Licht der Welt.
    Behaucht von Odem, sind wir lebend
    Aus den Atomen auf die Erd` gestellt.

    Und plötzlich stehst im Leben drin
    Du armer Tor.
    Wer gibt dir Ziel und Sinn,
    Und wer die Richtung vor?

    Der Weg, den du beschreitest –
    Ist`s Geschick?
    Der Kampf, den du bestreitest –
    Fallen oder Glück?

    Die Zeit verrinnt. Nun ist`s an dir
    Das nächste Glied der Kette neu zu schmieden.
    Was jetzt beginnt, das wissen wir:
    Das ew`ge Räderwerk kennt keinen Frieden.

    Versuch du nur,
    Die Kette zu durchbrechen.
    Es wird verwehen deine Spur,
    Das Fehlen wird sich einstmals rächen.

    Und weiter, weiter, Wand`rer durch die Zeit.
    Was dir begegnet, hat bestimmt dein Los.
    Glück, Unglück, Krankheit, Tod hält es bereit;
    Wer steuert auf dem Strome unser Floß?

    Der Strom wird breiter,
    mündet in das Meer der Ferne.
    Und silbrig-glänzend steigen immer weiter
    Tautropfen auf und werden Staub der Sterne