Schlagwort: Sterben

  • In dieser Sackgasse

     

    Ein Gedicht von Ahmad Shamloo (1925-2000) aus dem Jahr 1979
    Freie Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

     

    Sie riechen an deinem Mund,
    nicht dass du gesagt hättest, „ich liebe dich“,
    sie riechen an deinem Herzen,
    es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Und die Liebe
    peitschen sie aus
    an dem Balken der Straßensperre.
    Die Liebe sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    In dieser krummen Sackgasse,
    in diesen Windungen der Kälte
    entfachen sie das Feuer
    mit Gedichten und Liedern als Brennmaterial.
    Riskiere nicht das Nachdenken,
    es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Derjenige, der nachts an die Tür klopft,
    ist zum Auslöschen des Lichtes gekommen.
    Das Licht sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    Dort sind Schlächter
    am Straßenübergang platziert
    mit Blut beschmierten Schlagstöcken und Hackmessern.
    Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Den Lippen schneiden sie das Lachen aus
    und dem Mund den Gesang.
    Die Freude sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    Kanarienvögel werden gebraten
    auf einem Feuer von Jasmin und Lilien.
    Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Der Satan, des Sieges betrunken,
    feiert unser Begräbnis am Festtisch.
    Der Gott sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    ۞۞۞

     

  • Amtseinführung

    Zum Kampf der Demos und Plakate,
    Der in den USA dem Staate,
    dem Präsident gewidmet ist
    Zog Johnny Smart, der Journalist.

    Es war sein Job live zu berichten
    Von Straßentod und Blutgeschichten
    Von Wut, die Demokratenwelt
    In Innersten zusammenhält.

    Ihn sandten unerkannt und leise
    Times, Spiegel auf Erkundungsreise.
    So geschickt, sein Auftragssoll
    Sei Leserangst, sei Hosen voll.

    Nach Washington zur Amtseinführung
    Fuhr Johnny Smart zur Volksberührung
    In froher Lust, mit freiem Mut
    Hat nicht gewusst, wer Böses tut.

    Nah konnte er Wutmenschen sehen
    Stieg aus dem Auto, ließ es stehen
    Nahm Kamera und Mikrophon.
    Da hörte er in bösem Ton

    Du Journalist, du Übeltäter
    Du Demokrat, du Volksverräter!
    Wer gegen Präsidenten schreibt
    Als Toter auf der Straße bleibt.

    Hass in der Menge, Knüppelschläger
    Wut, Kriminelle Menschenjäger
    Verbeißen sich in Johnny Smart.
    Sie schlagen zu und treffen hart.

    Der Tod schleicht lauernd in die Meute
    Wählt sich den Johnny Smart als Beute
    Der schreiend um sein Leben rennt.
    Er sei doch nicht der Präsident!

    Er sei der Wahrheit stets verpflichtet.
    Ein Journalist nur schreibt, nicht richtet.
    Die Stimme stockt. Schlag, Stahl, Metall.
    Der Schrei verstummt, verweht im Fall.

    Ein Polizist versucht zu retten.
    Allein der Tod mit seinen Ketten
    den Johnny Smart umschlungen hält.
    Er führt ihn fort in seine Welt.

    Die Redaktion erfährt betroffen
    Von Johnnys Tod. Man schreibt ganz offen
    Allein der Präsident sei Schuld.
    Ihm fehle Klarheit und Geduld

    Demokratisch in bewegten Zeiten
    Wutbürger gehorsam anzuleiten.
    Ein Leser liest und angstvoll schreibt:
    Nicht stirbt, wer demonstriert, der bleibt.

    Der Bericht weckt Kerzenspenden
    Blumenkränze, Krokodilslegenden.
    Das Leichentuch weiß eingehüllt
    Sagt Johnnys Auftrag ist erfüllt.

     

    K.K. 18.1.2017

     

     

     

     

  •  Meditation im Herbst

    (1.12.2016)

    Für Heidi 

     

    Gehen Träume unterwegs verloren
    mein Herzensfreund
    erinnere mich an den Moment
    als der Wind den Baum umwehte
    das Blatt sich tanzend entfernte
    und dabei liebevoll lächelte 

    Bleibe bei mir
    mit Anmut und Mut
    leidenschaftlich, barmherzig, geduldig
    wenn ich schlafe
    wenn ich gehe

    Gehen Träume unterwegs verloren
    mein Herzensfreund
    e
    rinnere mich daran
    dass das herbstliche Blatt
    durch die Baumadern emporstieg
    zu neuen Knospen und Trieben

    ֎֎֎

  • Meditation im Herbst

    (1.12.2016)

     

     

    Gehen Träume unterwegs verloren

    mein Herzensfreund

    erinnere mich an den Moment

    als der Wind den Baum umwehte

    das Blatt sich tanzend entfernte

    und dabei liebevoll lächelte

     

    Bleibe bei mir

    mit Anmut und Mut

    leidenschaftlich, barmherzig, geduldig

    wenn ich schlafe

    wenn ich gehe

     

    Gehen Träume unterwegs verloren

    mein Herzensfreund

    erinnere mich daran

    dass das herbstliche Blatt

    durch die Baumadern emporstieg

    zu neuen Knospen und Trieben

    ֎֎֎

  •  

    Herbert Metzger, geboren 22.01.1924, gestorben 11.11.2016,

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    Liebe Frau Metzger,
    liebe Familie von Herbert Metzger,
    liebe Trauergemeinde,

    mein Name ist Dietrich Weller. Ich bin als langjähriger literarischer Freund von Herbert Metzger hier und trauere mit Ihnen. Deshalb ist es mir nicht nur ein sehr persönliches Bedürfnis, zu Ihnen zu sprechen, sondern ich möchte als Präsident des Bundesverbandes Deutscher Schriftstellerärzte BDSÄ und Herausgeber des Almanachs deutschsprachiger Schriftstellerärzte sein literarisches Werk würdigen. Dabei will ich freimütig gestehen, dass ich gar nicht alles kenne, was er geschrieben hat. Er war in allen Lebensphasen so stetig im Schreiben, so vielseitig in seiner ganz eigenen Gedankenwelt, dass auch ein fleißiger Leser kaum mit ihm Schritt halten konnte.

    Leider weiß ich nicht genau, seit wann er Mitglied im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte war, weil es darüber keine Akten mehr gibt. Der älteste Vermerk seines Namens steht auf einer Anwesenheitsliste der Mitgliederversammlung von 1984.

    Wir lernten uns Ende der 1990-er-Jahre persönlich kennen, als Sie, liebe Frau Metzger mit Ihrem Mann zu einer Lesung nach Leonberg kamen, zu der meine Frau und ich baden-württembergische Mitglieder des BDSÄ eingeladen hatten.

    In den folgenden Jahren standen wir in regelmäßigem schriftlichem und telefonischem Kontakt. Leider war es ihm aus gesundheitlichen Gründen nie mehr möglich, an den Jahreskongressen des BDSÄ teilzunehmen.

    Herbert Metzger machte mich schon bei unserem ersten Treffen auf den Almanach deutschsprachiger Schriftstellerärzte aufmerksam, den ich damals noch nicht kannte. Das ist eine Sammlung von literarischen Texten in Gedicht- oder Prosaform, die von Ärztinnen und Ärzten verfasst werden und thematisch das gesamte Spektrum des menschlichen Alltags umfasst. Durchschnittlich sind jedes Jahr 55 Autoren auf 550 Seiten vertreten.

    Nachdem ich 2011 Herausgeber dieses Almanachs wurde und mich mein Herausgeber-Vorgänger bei den Übergabegesprächen ausdrücklich auf diesen besonderen Menschen und Schriftsteller aufmerksam gemacht hatte, traf ich Herbert Metzger in diesem Buch wieder. Seine frühesten Beiträge für den Almanachstehen im Almanach 1989. Herbert Metzger sandte seither jedes Jahr treu seine wertvollen, weil stilistisch und inhaltlich herausragenden Texte ein. Immer wieder überraschte er mich mit Notizen, mit Gedichten und Zeitungsausschnitten von seinen Lesungen, die er bis ins hohe Alter abhielt.

    Seine gestochen scharf und klein ziselierten Randbemerkungen voll Korrekturbereitschaft und Selbstzweifel sind mir gut im Gedächtnis. Ich erlebte einen Mann, dessen Bescheidenheit und Demut mich immer wieder beeindruckt haben. Sandra Pfäfflin von der Pforzheimer Zeitung beschreibt ihn in ihrem Nachruf sehr treffend als sanften, feinen Mann.

    Früh in unserer Bekanntschaft schenkte Herbert Metzger mir seinen autobiografischen Roman Unterwegs im Schicksalsraum Erde, der 2000 erschienen war und dessen Einband ein Bild ziert, das seine Tochter Iris Caren gemalt hatte. Ein Buch, das seine Lebensjahre 1942 bis 1945 umfasst. Ein Zeugnis, wie ein tief anthroposophisch denkender und fühlender Mensch mit den Kriegswirren hadert und sich mithilfe übergeordneter spiritueller Gedanken zu-recht-zu-finden sucht. Ich meine es wörtlich: Er wollte zum Recht finden und seinen Weg im Rahmen seiner Weltsicht erkennen und bewusst und rechtschaffen gehen.

    Dieses Buch ist nicht nur zeitgeschichtlich interessant für Nachkriegskinder wie mich. Es wirft uns auf Grundfragen der Existenz zurück und öffnet geistige Welten von unendlicher Dimension.

    Im Laufe seines langen Lebens veröffentlichte Herbert Metzger viele Bücher, darunter auch kleinere Schriften mit feingeistiger Lyrik und Prosa. Zeitklänge und Von Mensch zu Mensch führen den Leser von der irdischen Haftung in die spirituelle und ewige Dimension. Poetische Tagebücher und Vom Menschen und seinen Engeln sind nur zwei Beispiele seiner tief vom anthroposophischen Geist durchdrungenen Welt- und Weitsicht.

    Mir fällt ein Satz von Khalil Gibran ein, der hier und heute passt: Möglicherweise ist ein Begräbnis unter Menschen ein Hochzeitsfest unter Engeln.

    Herbert Metzgers geistige und schriftstellerische Aktivität entwickelte bei der ständigen Beschäftigung mit dem großen Spannungsfeld seine ganz ausgeprägte, für ihn charakteristische Sprache mit ungewöhnlichen Wortschöpfungen und Gedanken, die zum genauen Nach-Denken, zum einfühlsamen Nach-Spüren, zur bewussten Wort-für-Wort-Lektüre zwingen.

    Seine tiefe anthroposophische Überzeugung und sein feinsinniges Gespür für kleinste Unterschiede bei Bedeutung und Wort sprechen aus jedem Text, sind Antrieb und Quelle seines Denkens und Fühlens, beflügeln seine konzentrierten Wortschöpfungen, seinen Drang, alles noch genauer und ausdrucksstärker zu formulieren. In den Gedichten empfinde ich es deutlicher als in den Prosatexten, weil er sich dort noch mehr zwang, dichter, ver-dichtet zu formulieren. Und wie schwierig ist es, konkrete Gedanken über Spirituelles in ein-deutige Worte zu prägen, die also nur eine einzige Deutung zulassen!

    Ich ließ mich einmal zu dem Satz hinreißen: „Herr Metzger, ich spreche Ihre deutsche Sprache nicht, ich kenne Ihr Vokabular nicht.“Das hat ihn so erschreckt, dass er auf mich sehr verunsichert wirkte. Jetzt muss ich gestehen, dass ich wahrscheinlich nur nicht genau genug hineingehört und –gespürt habe, was seine Worte sagen.
    Weil mir seine spirituelle Welt teilweise fremd war, bat ich ihn, für den Almanach (ehrlicherweise will ich sagen: auch für mich!) eine Zusammenfassung der anthroposophischen Lehre zu schreiben.

    „Trauen Sie mir das wirklich zu?“, fragte er überrascht. Das war keine Lob erheischende narzisstische Wendung, sondern Ausdruck eines Suchenden, der sich selbst und seine Sicht der Dinge immer neu infrage stellte.

    Der Text, den er mir nach einigen Wochen gab, war so lang und so intensiv durchgearbeitet, dass wir ihn auf zwei Jahrgänge aufteilten und im Almanach 2014 und 2015 veröffentlichten. Es ist eine reife Darstellung der anthroposophischen Philosophie, die ich glaube, mit seiner Hilfe jetzt besser zu verstehen.

    Herbert Metzger schickte seine letzten Beiträge zum Almanach 2016. Da konnte er die Korrekturblätter nicht mehr selbst bearbeiten. Seine Tochter übernahm die Mittlerrolle. Sie ist es auch, die auf Facebook eine Seite für den Vater eingerichtet hat und jetzt sein literarisches Werk aufbereiten will.

    Ich habe die folgenden Gedichte ganz bewusst als letzte in seinem Kapitel gesetzt, weil ich ahnte, dass dies sein finaler Beitrag ist.

    Zu erkennen: 

    Ein wahrer Segen ist es, wenn ein
    alt gewordener, am Leibe gebrechlicher
    Mensch seinen sterblichen Körper
    wieder verlassen kann.

    Diese Befreiung öffnet ihm die neue
    Erlebnis-Wege-Begehung ins
    andere Sein, das als ein
    seelisch-geistiges, unsterbliches
    Dasein bezeichnet wird.

    Dort begegnet ihm die Wahrheit,
    so wird berichtet – und der
    Sinn seines Lebensdurchgangs
    wird ihm bewusst gemacht nach
    dem Erkenntniszustand seines
    eigenen Selbstbewusstseinserwachens:
    Erhellung in der Prüfung wird ihm zuteil
    Und Begnadung führt ihn ins Weiternde.

    Sei es so, Mitmensch.

     

    Später 

    Aus der Gefangenschaft der Materie
    gibt es kein Entrinnen – es sei denn
    ER entlässt dich ins
    Freisein-Werdenwollende.

    Die Konsequenzen daraus
    Werden zu deinem Errungenen.

     

    Wir sehen: Herbert Metzger war sehr gut vorbereitet auf seinen Weg in die nächste Dimension, denn er hatte lange vor seinem körperlichen Ende in Frieden mit diesem Teil der Welt abgeschlossen und war bereit zur Weiterreise, die ihm jetzt im biblischen Alter gnadenvoll und schmerzfrei gewährt wurde.

    Mit seinem allerletzten im Almanach veröffentlichten Gedicht verabschieden wir uns in großer Dankbarkeit und Hochachtung von Herbert Metzger, der in weiser Vorahnung schon hinüber spricht in die neue Existenzform:

     

    Himmel, wie bin ich dir nahe gekommen,
    das Körpergefäß will Abschied nehmen.
    Ich danke seinem Dienst an mir.
    Eine Weiterung wird alles Zusammengehörige
    in einem andern Licht erscheinen lassen.

    Wohl dem Geistgefügten,
    das darinnen erwacht.

  •  

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    Eine kleine, wahre? Geschichte über einen Einsatz der Bundesrepublik in Afrika  
    oder
    Ist der Mensch ein Werkzeug des Schicksals?

    Sie waren noch bei Dunkelheit aufgebrochen. Jetzt fuhren sie schon zwei Stunden über Straßen, die kaum als solche zu identifizieren waren. Die Landschaft ausgedörrt und ausgetrocknet. Es hatte seit Monaten nicht mehr geregnet. Die Vegetation war abgestorben. Nur hier und da an besonderen Stellen standen noch grün-braune Sträucher. Langsam stieg die Sonne und mit ihr die gnadenlose Hitze. Der Lastwagen zog eine kilometerlange rötlich-gelbe Staubwolke hinter sich her.

    Die zwanzig Soldaten saßen auf zwei gegenüberstehenden Holzbänken auf der offenen Ladefläche. Vornüber gebeugt, auf ihre Schnellfeuergewehre gestützt, die Helme tief ins Gesicht gezogen, sprach keiner ein Wort. Schweiß rann über ihre Gesichter und tropfte auf die Tarnkleidung. Schweiß floss auch über den Nacken. Er sammelte sich zu größeren Tropfen, die den Rücken hinunter rannen, bis sie vom Stoff aufgesogen wurden.  Es stank nach Schweiß, Männerschweiß. Unter ihren schusssicheren Westen waren alle durchgeschwitzt. Und es roch nach Angstschweiß. War da nicht auch der Geruch von Urin? Auch die Tarnhosen waren schweißnass, so dass keine urinfeuchte Stellen zwischen den Beinen erkennbar waren. In den hochgeschnürten Lederstiefeln stand ebenfalls die schweißige Feuchtigkeit. Die Stiefel ließen aber keine Gerüche frei. Jeder der Männer hatte seine Stiefel fest geschnürt, damit sie Schutz vor Insekten, vor allem Skorpionen – die waren zwar nicht gefährlich, aber unangenehm-  und natürlich vor Schlangen boten. Der Staub blieb in den schweißnassen Gesichtern kleben. Er ließ die Augen groß und weiß erscheinen in den rotbraunen Masken. Auch die Lippen waren staubverkrustet. Die Männer hatten schon lange aufgegeben, den Staub mit der Zunge wegzuwischen. Teilweise waren die Lippen aufgesprungen.

    Jedes Mal, wenn die Fahrer zu viel Zwischengas gab, zogen aus dem defekten Auspuff Abgasschwaben über die Ladefläche. Die weiter vorn Sitzenden husteten. Das Atmen war nahezu unmöglich, wenn sich Abgas und Schweißgeruch mischten. Immer wieder warfen sich die Soldaten einen kurzen Blick zu, bevor sie wieder ihre Blicke senkten. Keiner sollte die Angst bemerken.

    Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu ihrem letzten Einsatz vor drei Tagen zurück. Auch an diesem Tag waren sie lange gefahren. Nach Stunden erreichten sie ein Dorf am Fuße eines kleinen Hügels. Die wenigen Bewohner, vielleicht fünfzehn oder zwanzig, waren schnell auf dem Dorfplatz zusammen getrieben. Dort standen sie: einige Frauen und alte Männer. Allesamt armselige Kreaturen in bunter abgetragener Kleidung. Die meisten hatten ihren Kopf ängstlich gesenkt. Maier eins, der Befehlshaber, ließ alle in einer Reihe antreten. Er trat vor die dunkelhäutigen Haufen Elend und blickte jeden durchdringend an. Dann ließ er zwei Frauen hervortreten. Er zog seine Pistole, trat zu ihnen und schoss ihnen in den Kopf. Einfach so. Beiden Frauen fielen lang nach hinten.

    Markus Müllert sah immer noch die angstvoll aufgerissenen Augen. Die beiden Frauen hatten keine Zeit mehr, um zu begreifen was mit ihnen passierte. Die anderen umso mehr.

    „Maier vier, Maier acht, Maier neun und Maier fünfzehn, ihr erledigt das hier. Ihr nehmt den Toyota und kommt nach ins Lager. Wir fahren schon vor.“

    Maier eins brüllte diesen Befehl kurz und zackig.

    Die Männer antworteten wie aus der Pistole geschossen: „Jawohl, Maier eins.“

    Immer wieder sah Maier zwölf, Markus Müllert, diese Szene auf dem Dorfplatz. Fast fror es ihn jetzt. Er war froh, nicht bei dem Erledigungskommado eingeteilt gewesen zu sein. Aber was wird heute kommen?

    Wenn er in die Gesichter schaute, sah er Angst und Betroffenheit.

    Als sich Markus vor Monaten zu diesem Einsatz gemeldet hatte, wusste er nicht, was auf ihn zukommen würde. Es sollte ein großes Abenteuer werden. Er war schon häufiger im Auslandseinsatz gewesen, auch mit Feindbeschuss. Aber er hatte sich alles irgendwie anders vorgestellt.

    Plötzlich hielt der Toyota, und der Lastwagen stoppte dicht dahinter. Die Soldaten standen auf, froh, ihre Beine vertreten zu können. Sie blickten sich um. Nichts war zu erkennen. Nur ganz am Horizont war ein dünner grüner Saum. Hier gab es offenbar länger Wasser.

    Maier eins ging um den Lastwagen herum.

    „Absitzen, Männer!“

    Die Soldaten sprangen und kletterten von der Ladepritsche und stellten sich in Reih und Glied.

    Der Kommandant trat vor die Männer.

    „Soldaten! In knapp einer Stunde werden wir das Ziel unserer heutigen Operation erreichen. Es ist ein kleines Dorf vor uns. Es gibt eine Straße und nur ein paar Häuser. Wahrscheinlich ist es verlassen. Unsere Aufgabe ist, sicherzustellen, dass sich wirklich kein Feind mehr dort aufhält. Wir haben das Dorf zu bereinigen. Zwei Männer zusammen gehen in ein Haus und inspizieren es. Seit jederzeit bereit, dass es zu Kampfhandlungen kommen kann und dass ihr aus einem Hinterhalt angegriffen werdet. Denkt auch daran, dass es hinter den Häusern Ställe oder Anbauten gibt. Manche Häuser haben einen geheimen Verschlag unter dem Haus. Überall kann sich ein Feind verstecken und angreifen. Unsere Aufgabe ist es, sicherzustellen, dass sich kein Feind mehr im Dorf befindet. Ist ein Haus sauber, dann macht ihr ein weißes Kreidekreuz mit einem Halbkreis darüber rechts neben der Eingangstür. Maier eins blickte von Mann zu Mann, von Soldat und Soldat.

    „Noch Fragen?“

    „Nein, Maier eins“, scholl es wie aus einer Kehle.

    Während die Soldaten wieder auf die Ladefläche des Lasters kletterten, teilte der Befehlshaber die Zweiergruppen ein.

    Markus wurde mit Maier vierzehn eingeteilt.

    Maier vierzehn war ein drahtiger, noch nicht bulliger Typ. Sein Gesicht war immer recht ausdruckslos. Man wusste nie, was in ihm vor ging. Es zeigte keine Emotionen. Die blaugrauen Augen lagen tiefen in ihren Höhlen und wurden von tiefhängenden Lidern verborgen.

    Die Fahrt wurde noch holpriger. Der letzte Regen hatte alle Reste einer möglichen Straße verwischt. Jedes Schlagloch oder jede gröbere Unebenheit wurden durch die schlechten Federn des Lastwagen an die Männer oben auf der Ladepritsche weitergegeben. Obwohl es jedes Mal einen Schlag auf die Wirbelsäule der Männer gab, spürten diese keinen Schmerz.

    Nach mehr als einer halbstündigen Fahrt wurden die Häuser des kleinen Dorfes sichtbar; nicht mehr als drei Dutzend Häuser.

    Die Soldaten sprangen vom Lastwagen und entsicherten ihre Schnellfeuergewehre. Nach und nach wurden die Zweierkommandos in die Häuser geschickt.

    Maier zwölf und Maier vierzehn betraten das vierte Haus links an der Straße. Es war größer und hatte als einiges einen zweiten Stock.

    „Du unten, ich oben“, sagte Maier vierzehn.

    Sofort rannte Maier vierzehn die Holztreppe in den ersten Stock.

    Markus betrat den Raum rechts. Es war so eine Art Büro. Jedenfalls standen ein großer Schreibtisch in der Mitte und ein kleinerer Schreibtisch, mit einer mechanischen Adler-Schreibmaschine neben der Tür. Auf dem großen Schreibtisch stand ein großer, schwarzer Telefonapparat. Überall auf dem Schreibtisch und über den Boden lagen Papierbogen verteilt. Das Büro musste fluchtartig verlassen worden sein. Maier zwölf trat über geöffnete Ordner und Briefe, auch Stempel lagen verstreut. Nur wenige Ordner standen noch auf ihrem Platz im Regal hinter dem kleinen Schreibtisch. Markus blickte unter die Schreibtische und öffnete auch die Rollos der Tische.

    Hier war niemand versteckt, und es gab auch keinen Sprengstoff. Er ging langsam auf die Tür im Hintergrund zu und trat sie auf. Dieser Raum diente offensichtlich als Depot oder Lager. In der Regalen an den Wänden lagen ordentlich verpackte Papierpakete, Briefpapier, bräunliche Kuverts. Auf der anderen Seiten standen landwirtschaftliche Geräte und neben der Tür ein altertümliches Faxgerät. Einen Keller oder eine versteckte Falltür gab es auch hier nicht. Markus trat zurück in das Büro. Er ergriff einen der Briefe auf dem Schreibtisch. Markus las ihn. Er war in französischer Sprache geschrieben und irgendjemand hatte eine Anfrage. Eher unbewusste griff Markus einen Stapel Papiere. Er faltete sie zusammen und steckte sie in seine Oberschenkeltasche. Gerade als er das Büro verlassen wollte, polterte Maier vierzehn aus dem oberen Stock herunter.

    „Alles klar, Maier zwölf“, rief er.

    „Alles sauber bisher“, antwortete Maier zwölf.

    Gemeinsam betraten sie durch die nur noch notdürftig in den Angeln gehaltene Tür den Raum gegenüber dem Büro. Die beiden Männer warteten einen Augenblick, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es war eine Art Waschraum. Es gab ein schmutziges Waschbecken und ein typisches Plumpsklo. Fünf Holzspinte standen an der Wand. Schlösser dazu gab es keine.

    „Also weiter“, rief Maier vierzehn.

    Als sie auf die Straßen traten, waren sie von dem hellen Licht geblendet. Plötzlich hörten sie eine Gewehrsalve und dann eine zweite. Meier zwölf und Maier vierzehn schreckten zurück und gingen im Haus in Deckung. Markus machte ein Zeichen, dass sich Maier vierzehn in den hinteren Raum positionieren sollte. Er selbst blieb neben der Tür, das Gewehr schussbereit, in Deckung. Aber jetzt blieb alles ruhig. Er rief Maier vierzehn. Vorsichtig blickten sie auf die helle, staubige Straße.

    Nur die einzelnen Zweiergruppen, wenn sie ein Haus verließen und ein anderes betraten, waren zu sehen. Maier vierzehn markierte das Haus rechts neben dem Eingang mit einem Kreuz und einem Halbkreis darüber. Gemeinsam gingen sie weiter. Das nächste Haus ohne Kennzeichnung war klein. Es hatte keine Tür oder keine Tür mehr und bestand nur aus einem Raum.

    Markus betrat vorsichtig den Raum. Maier vierzehn ging um das Haus herum zu einem Stall dahinter. Der Raum war spärlich möbliert. Ein grauer Tisch mit mehreren Plastikstühlen stand mitten im Raum. Daneben ein uralter Elektroherd. Markus erinnerte sich an den Generator außerhalb des Ortes. Maier eins und Maier zwo hatten angehalten und das Aggregat unbrauchbar gemacht. Zwei Betten, übereinander gestellt, mit zerwühlten Decken standen an der Wand gegenüber der Eingangstür.

    Plötzlich hörte er ein leises Geräusch, das aus dem Schrank in der Ecke zu kommen schien. Leise ging Markus zu dem Schrank und riss die Schranktür auf. Das Gewehr hielt er schussbereit in der rechten Hand. Im Schrank saß ein kleines Mädchen und starrte ihn mit ängstlich aufgerissenen Augen an. Langsam falteten sich ihre Hände zu einer Bitte. Markus blickte auf das Mädchen, das auf dem Boden im Schrank saß. Langsam führte er seinen Zeigefinger und legte ihn auf seinen geschlossenen Mund. Sachte nickte das Mädchen. Markus schloss leise den Schrank. An der Tür traf er Maier vierzehn.

    „Alles klar?“

    „Alles klar!“ antwortete Maier zwölf. „Los weiter, zum nächsten Haus.“

    Maier vierzehn schaute Markus in die Augen. Er schob zweifelnd seine Unterlippe vor.

    „Warte vor dem Haus auf mich.“

    Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. Er drückte Maier zwölf aus dem Haus. Markus blieb angespannt, an der Hauswand gelehnt, stehen. Trotz der Hitze und trotz des Schweißes fror er und hatte Gänsehaut. Keine Minute später hörte er eine Holztür zerbersten, dann einen kurzen kindlichen Schrei und sofort eine Salve aus einen Schnellfeuergewehr.

    „So, sauber!“

    Zufrieden trat Maier vierzehn auf die Straße. Er stellte sich vor Maier zwölf:

    „Wusste ich es doch.“

    Er nahm seine Kreide und malte ein großes weißes Kreuz neben die Tür und zog einen Halbkreis darüber.

    Wortlos gingen sie zum nächsten Haus ohne Kreidezeichen.

    Ab und zu hörte man Schreie und Schüsse. Dann blieb es ruhig, gespenstisch ruhig.

    Man konnte die Hitze fühlen und flimmern sehen. Und man konnte Angst und Blut riechen.

    Später saßen die Soldaten im Schatten des Lastwagens und warteten.

    „Aufstehen und antreten“, schrie Maier eins.

    „Irgendwelche Vorkommnisse?“ fragte der Kommandant.

    Maier vier trat einen Schritt vor und salutierte.

    „Ich bin von einer Frau mit einer Machete angegriffen worden“.

    Er zeigte auf seinen linken Oberarm. Der notdürftige Verband war durchgeblutet, aber die Blutung stand.

    „Den Feind abgewehrt und liquidiert.“

    „Gut gemacht, Maier vier“, lobte Maier eins.

    „Maier zwo, versorgen sie die Wunde“.

    Maier zwo salutierte und ging zum Toyota.

    Meier eins schaute weiter über die Reihe.

    Maier neunzehn trat einen Schritt vor und salutierte.

    „Zweimal von einem Feind mit Machete angegriffen worden. Beide Angriffe abgewehrt und die Situation bereinigt. Keine Verletzung und keine weiteren Vorkommnisse“.

    Meier neunzehn stand stramm. Er salutierte erneut und trat zurück ins Glied.

    Maier sechzehn trat vor.

    „Eine Feindberührung, die Situation geklärt. Sonst keine besonderen Vorkommnisse.“

    Er salutierte und trat zurück.

    Maier vierzehn machte einen Schritt vorwärts und salutierte.

    „Eine kleine Feindberührung. Situation geklärt, gereinigt ohne Verluste oder Verletzungen.“

    Er salutierte nicht, und er trat auch nicht in die Reihe zurück.

    „Maier vierzehn! Gib es sonst noch Vorkommnisse?“

    „Jawohl, Maier eins.“

    Maier vierzehn machte eine Pause.

    „Ich hatte den Eindruck, dass Maier zwölf den Feind absichtlich übersah.“

    „Noch etwas, Maier vierzehn“, fragte Maier eins laut.

    „Nein!“

    „Danke, Soldat.“

    Maier vierzehn salutierte jetzt und stellte sich zurück in die Reihe.

    Maier eins stellte sich vor Markus.

    „Maier zwölf, vortreten!“

    Maier zwölf trat einen Schritt vor und salutierte strammstehend.

    „Was haben sie dazu zu sagen?“

    Maier eins schob seinen Kiefer drohend vor.

    „Nichts, Maier eins“, sagte Maier zwölf fest.

    „Maier zwölf!“

    Maier eins machte eine gefährliche Pause.

    „Maier zwölf! Das ist eine schlimme Anschuldigung. Äußern sie sich.“

    Diese Aufforderung war ein Befehl und erlaubte kein Ausweichen.

    „Ich bin kein Mörder! Maier eins.“

    Markus antwortete steif. Sein Blick ging starr geradeaus. Bei der Vorstellung, was in dem Raum geschehen war, wurde es ihm fast übel.

    „Maier zwölf! Sind sie wahnsinnig? Wir sind keine Mörder. Keiner von uns. Wir sind Soldaten im Kriegszustand.“

    Die Stimme von Maier eins überschlug sich fast. Speichel spritzte und traf Markus im Gesicht. Dieser verzog keine Miene.

    „Das war ein kleines Mädchen. Keine fünf Jahre alt. Das bringt man doch nicht einfach um.“

    Markus wusste genau, dass die Situation zu seinem Nachteil kippen konnte.

    „Wir sind keine Mörder! Verdammt noch einmal! Wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen. Aus dem Mädchen wird später eine Terroristin und eine Gefahr.“

    Die Kopf und der Hals von Maier eins verfärbten sich unnatürlich rot.

    Markus konnte es nicht lassen:

    „Unsere Mission ist auf zwei Jahre beschränkt, so sagt man wenigstens, dann ist das Mädchen vielleicht sieben oder acht Jahre alt, aber niemals eine Terroristin oder eine Gefahr.“

    Die Augen von Maier eins traten hervor. Er sagte nichts. Er blickte nur in die Augen von Maier zwölf. Dieser blickte unverwandt zurück. Zwei Männer maßen sich.

    „Meier zwölf“, Maier eins sprach jetzt ruhig und leise, „wir wissen nicht, ob dieses Mädchen irgendwann, mit einem Sprengstoffgürtel auf eine belebte Straße oder einen Markt geschickt und dort in die Luft gejagt wird.“

    Markus holte Luft, um eine Antwort zu geben.

    Maier eins trat dicht vor ihn hin. Ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Markus spürte die Hitze des Gesichts von Maier eins, und umgekehrt war es wohl ebenso.

    „Maier zwölf, sie halten jetzt ihren Mund. Sie sagen kein Wort mehr. Das ist ein Befehl. Ist das klar?“

    Maier eins hatte leise gesprochen, fast geflüstert.

    „Jawohl, Maier eins“, brüllte Markus ihm ins Gesicht.

    Maier eins wich keinen Millimeter zurück.

    Markus salutierte und trat an seinen Platz zurück.

    „Aufsitzen und Abfahrt“

    Maier eins ging zum Toyota, nachdem er Maier zwei ein entsprechendes Zeichen mit dem Kopf gegeben hatte.

    Spät am Nachmittag kamen die Fahrzeuge im Camp an. Auf der gesamten Fahrt war kein Wort gesprochen worden. Müde sprangen die Männer von der Ladefläche.

    Maier eins stand schon bereit.

    „Angetreten!“

    Die Soldaten murrten und fluchten innerlich, stellten sich aber sofort auf und bildeten zwei Reihen.

    Maier eins stand stramm. Er schwieg lange. Dabei blickte er jeden einzelnen an. Der kleine rote senkrechte Strich unterhalb der Unterlippe wippte auf und ab. Maier eins achtete peinlich darauf, dass sein Bart immer gut getrimmt war. Der Befehlshaber hatte sich so positioniert, dass den Männern die tief stehende Sonne genau ins Gesicht und in die Augen schien. Er selbst hatte sie im Rücken. Die tief ins Gesicht gezogenen Helme und die Sonnenbrillen halfen wenig, die Augen brannten. Auch vom Schweiß und vom Staub.

    Maier zwölf spürte die Wut und Abneigung seiner Kameraden. Auch er wünschte sich jetzt eine Dusche, auch wenn sie nur lau war.

    „Männer“, sagte Maier eins leise.

    „Männer!“ brüllte er das Wort jetzt.

    „Männer“, sagte er noch einmal, „wir haben hier eine Aufgabe zu erfüllen. Es ist eine spezielle Mission. Niemand weiß, dass wir hier sind und dass es uns gibt. Deshalb tragen wir auch keine Rangabzeichen, keine Namensschilder und auch kein Nationalitätenzeichen. Wir sind in geheimem Auftrag eingesetzt. Ich wiederhole ausdrücklich: Wir sind hier um eine geheime Mission zu erfüllen. Ihr seid bestausgebildete Elitesoldaten, und ihr seid speziell ausgewählt , weil ihr die besten seid. Jeder von uns muss jederzeit einhundert Prozent Einsatz bringen. Neunundneunzig Prozent sind zu wenig. Wer keine einhundert Prozent Einsatz bringt, gefährdet die gesamte Operation, gefährdet die gesamte Truppe, einzelne seiner Kammeraden und letztlich sich selbst. Unsere Aufgabe ist es, dieses Gebiet zu bereinigen, den Feind zu demoralisieren, zu schwächen und zu töten. Jeder hier ist ein potentieller Feind und Terrorist. Jeder, sage ich euch, Männer, Frauen, Junge oder Alte auch Kinder, jeder ist ein Feind und muss dementsprechend bekämpft werden. Männer, Soldaten, Kämpfer, tut alles, um den Feind zu destabilisieren, zu demoralisieren und zu liquidieren.“

    Maier eins machte eine Pause.

    „Habt ihr das verstanden?“

    „Jawohl, Maier eins“, schrien die Männer. Alle wollten in die Unterkünfte und ins Toilettenzelt.

    „Maier zwölf, sie melden sich in einer Stunde im Kommandozelt.

    Genau eine Stunde später betrat Maier zwölf das Kommandozelt. Er grüßte stramm. Maier eins saß geduscht, frisch rasiert und umgezogen hinter seinem Feldschreibtisch. Er ließ Markus einige Minuten stehen, ehe er ihm seine Aufmerksamkeit widmete. Wieder hüpfte der rote Bartstrich.

    „Ich will es kurz machen. Wir sind eine geheime Operation und diese Operation muss geheim bleiben und darf vor allem nicht gefährdet werden. Deshalb hat niemand von uns ein Handy, ein Laptop oder eine Digitalkamera. Es gibt nur ein Funkgerät, hier im Kommandozelt, mit einer Frequenz. Ich habe den Eindruck, dass Sie den Anforderungen dieser Aufgabe nicht gewachsen sind. Sie sind von allen weiteren Aktionen ausgeschlossen, mit dem nächsten Versorgungshubschrauber fliegen sie zurück nach Libreville. Sie haben absolutes Stillschweigen zu wahren, genau wie sie es schriftlich fixiert haben. Abtreten!“

    Maier zwölf salutierte und verließ das Kommandozelt.

     

    Sieben Jahre später

    “Markus, Markus“, Heideann kam suchend um die Ecke.

    Markus“, rief sie lauter.

    Ihr Mann saß im Liegestuhl und hatte die Ohrenstöpsel in den Ohren. Er hörte Musik. Sein Blick ging in die Ferne, durch den blauen Himmel ins Weite. Eigentlich sah er nichts, oder doch? Sein rechter Fuß wippte den Takt.

    Heideann ging zum Liegestuhl und kraulte Markus die Haare. Sofort riss er sich die Ohrstöpsel heraus und stellte die Musik aus. Er legte den Kopf in den Nacken um sie sehen zu können. Er musste blinzeln, denn jetzt schaute er direkt in die Sonne.

    Heideann ließ ihre beiden Hände langsam auf seine Brust heruntergleiten. Dabei beugte sie sich vor und legte ihre Wange auf seinen Kopf.

    Markus griff nach ihren Handgelenken und drückte sie fest an seine Brust. Wärme durchströmte ihn. Mit seiner rechten Hand zog er Heideann zu sich. Jetzt konnte er sie ansehen, ohne geblendet zu werden. Liebevoll betrachtete er ihren mächtigen, spitzen Bauch. Vorsichtig befühlte er ihre gespannte Haut.

    „Mein Baby“, sagte er.

    „Welches Baby meinst du?“ fragte sie lachend.

    „Meine drei Babys“, verbesserte er sich, ebenfalls lachend, „und euch zwei holen wir nächste Woche“, sagte er auf den Bauch zu.

    „Luisann kann man wohl nicht mehr als Baby bezeichnen. Sie wächst und wächst und hält mich ganz schön auf Trab.“

    „Meine süßen Babys bleiben immer meine Babys. Auch Du“, sagte Markus.

    Er stand auf und umarmte Heideann. Obwohl er seinen Bauch einzog, so richtig umarmen konnte er seine Frau nicht. Ihr Spitzbauch war einfach im Weg. Gerade als das Gewicht von Heideann wieder langsam nach unten ging, war sie wieder schwanger geworden, diesmal mit Zwillingen.

    „Markus, hast du heute Nacht schlecht geträumt? Du warst so unruhig“, fragte sie besorgt. Sie kannte die schlechten Träume von Markus.

    „Nein, eigentlich nicht. Nicht bewusst in den Morgen hinein“, antwortete Markus.

    „Hast du von dem kleinen Mädchen geträumt?“

    „Nein, nicht, dass es mir bewusst geworden wäre“.

    Markus blieb auch bei diesem Gedanken ruhig.

    „Nein, ich glaube nicht. Ich hatte schon lange keine schlechten Träume mehr. Es ist halt manchmal so, dass ich ihre großen, flehenden Augen und ihre gefalteten Hände sehe. Es ist, als sei etwas noch nicht abgeschlossen. Manchmal kommt mir ein Gedanke, nein es ist kein Gedanke, es ist so wie eine Ahnung oder Eingebung, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben kann, dass das Mädchen nicht ihre Ruhe gefunden hat.“

    Markus tätschelte Heideanns Bauch. Dann pikste er mit spitzem Zeigefinger in den vorstehenden Bauchnabel.

    „Glaub´ mir, ich freue mich auf zwei weitere Mädchen. Es werden doch Mädchen?“

    Er schaute Heideann fragend an.

    „Wenn man dem Gynäkologen glauben will und der Ultraschall nicht gewaltig täuscht, dann ja“, lächelte sie. „Ich habe so ein Gefühl, dass es Mädchen werden. Eine Frau spürt das.“

    „In zwei Wochen fliege ich nach München auf die Messe. Hoffentlich sind meine Mädchen dann alle Zuhause. Ich will unbedingt bei der Geburt dabei sein.“

    Er stellte sich im Kreissaal stehend vor. In jedem Arm ein schreiendes Mädchen.

     

    Markus blickte auf die Landschaft unter sich. Er hatte jedes Mal einen Knoten im Bauch, wenn das Flugzeug startete. Heute war es weniger schlimm. Das Wetter war sonnig und windstill. Wieder und wieder dachte er an seine Babys zu Hause. Es war alles gut gegangen. Mutter und Töchter waren wohl auf. Gott sei Dank. Linde und Dora waren glatt auf die Welt geflutscht und hatten wirklich kräftig geschrien, als die Hebamme sie in seine Arme legte. Die Hebamme hatte mehrere Fotoaufnahmen gemacht und meinte, der Vater könne stolz sein. Das sagt sie zwar immer, aber Markus hörte es trotzdem gern.

    Er griff sich eine der kostenlosen Wirtschaftszeitungen, die er vor den Abflug eingepackt hatte. Gelangweilt und ohne Interesse blätterte er. Hie und da las er einen Artikel an. Weiter hinten informierte der Hersteller von Fertighäusern über die neue Modepalette. Das interessierte ihn. Heideann und er hatten genau mit dieser Firma gebaut. Den Artikel über eine neuen Herrenmodeausstatter, La Torre, las er wieder oberflächlich. Er hatte sich schon vorher entschieden, die Kollektion nicht für sein Sortiment zu ordern. Vielleicht würde er, wenn noch Zeit war, über den Messestand von La Torre schlendern. Er blätterte lustlos weiter. Sein Blick fiel auf eines dieser unsäglichen Firmenportraits, bei denen man nie weiß, ist es ein Firmenportrait oder ein Inhaberportrait. Er wurde plötzlich steif und bekam eine Gänsehaut über den Rücken.

    Schnell riss er diese Seite heraus und legte sie sorgfältig gefaltet in seinen braunen Lederaktenkoffer. Den Rest des Fluges blickte er aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.

    Nachdem er seine Termine erledigt, abgearbeitet hatte, zog er sich auf sein Hotelzimmer zurück. Er verzichtete auf sein geplantes Abendprogramm. Obwohl er die Oper liebte und seit vier Monaten eine Karte hatte, verzichtete er darauf. Bis spät in die Nacht und darüber hinaus bis in den Morgen saß er am Computer. In der Mittagspause verpasste er sein Mittagessen. Er telefonierte sein Handy heiß. Heideann schimpfte schon, weil er nicht wie gewohnt bei ihr anrief und sie ihn selbst nicht erreichen konnte.

     

    Markus horchte auf das Klingelzeichen.

    „Security by Terhagen. Sie sprechen mit Frau Weiler. Was kann ich für sie tun.“

    „Guten Tag, mein Name ist Maier. Ich möchte Herrn Terhagen sprechen.“

    „In welcher Angelegenheit? Was kann ich ihm dazu sagen?“, fragte die Stimme von Frau Weiler.

    „Wir planen eine Hausmesse, konnten dafür einen Minister gewinnen und benötigen dafür einen entsprechenden Schutz.“

    „Ich kann sie mit Herrn Mahler verbinden. Er ist der Ansprechpartner in solchen Angelegenheit.“

    „Nein, bitte nicht. Der Minister hat ausdrücklich Herrn Terhagen empfohlen und empfohlen, mit ihm persönlich zu sprechen. Bitte verbinden sie mich mit Herrn Terhagen“, sagte Markus bestimmt.

    „Einen Moment bitte“, hörte er Frau Weiler sagen.

    Nach einer langen Minute meldete sich zackig, eine männliche klingende Stimme.

    „Terhagen, was kann ich für sie tun.“

    „Guten Tag, Herr Terhagen. Mein Name ist Maier. Sie sind mir empfohlen worden. Ich will es kurz machen. Wir sind ein mittelständisches Unternehmen der Elektroindustrie und planen eine Hausmesse. Unser Wirtschaftsminister hat sein Kommen zugesagt. Zusätzlich wird eine Delegation aus Israel erwartet, und wir sind für die Sicherheit verantwortlich.“

    „Ja, ich verstehe. Wer hat unsere Firma empfohlen?“

    „Der Innenminister hat ausdrücklich ihren Namen genannt.“

    Es trat eine Pause ein. Markus hörte, wie Terhagen Seiten umblätterte.

    „Ich kann ihnen den 20. Mai um 14 Uhr als Termin anbieten. Passt das Ihnen?“

    „Nein, überhaupt nicht. Ich fliege gegen 22 Uhr zurück und möchte sie heute noch sprechen.“

    „Kommen sie um 19 Uhr in mein Büro.“

    „Wieder muss ich nein sagen. Die Sicherheitsorganisation wird über unser Büro in Haifa abgewickelt. Sie verstehen? Deshalb treffen wir uns auf der Wupperbrücke um 15 Uhr. Ich werde sie ansprechen. Es wird ein umfangreicheres Projekt werden.“

    „Gut. Ich werde auf Sie warten.“

    „Danke, Herr Terhagen, bis in einer Stunde.“

    Markus drückte die rote Taste auf seinem Handy. Dieses Handy hat er sich auf dem schwarzen Markt für dieses Gespräch besorgt. Er entnahm die SIM-Karte und vernichtete sie. Das Handy warf er in eine graue Tonne.

    Um 14 Uhr 54 stieg Markus an der Haltestelle Pestalozzistraße aus dem Bus und schlenderte in Richtung Wupperbrücke. Er sah einen Mann in mittelgrauen Anzug am Geländer gelehnt stehen. Einen schwarzen Ledergeschäftskoffer stand neben ihm abgestellt. Der Mann wirkte schlank und durchtrainiert. Markus ging nun zielstrebig auf den Mann zu.

    „Herr Terhagen, nehme ich an.“

    „Ja.“

    Der Mann drehte sich zu Markus. Unsicheres Wiedererkennen im Blick sagte er: „Maier zwölf?“

    „Richtig, Maier vierzehn. Gut, dass Sie sich erinnern.“

    Interessiert schaute Maier vierzehn auf seinen Gegenüber, den er als Maier zwölf kannte.

    „Wie geht es ihnen, Maier vierzehn.“

    „Gut, ich bin zufrieden. Wie geht es ihnen, äh, Maier zwölf“

    „Auch gut, soweit. Wie geht es Maier eins?“

    Terhagen oder Maier vierzehn blickte Markus prüfend an, dann lachte er trocken. Noch einmal lachte er freudlos. Diesmal war das Lachen eher ein Schnauben.

    „Auf der Rückfahrt vom Versorgungshubschrauber, übrigens der Flug, mit dem sie ins Hauptquartier nach Libreville geflogen wurden, geriet der Lastwagen in einen Hinterhalt. Maier zwei, Maier vier und Maier zehn wurden erschossen. Meier eins wurde die Kehle durchtrennt. Wir haben die Leichen am nächsten Morgen auf der Zufahrtsstraße zum Lager gefunden. Der Lastwagen mit dem Nachschub wurde gestohlen. Die gesamte Operation wurde daraufhin abgebrochen und das Camp aufgelöst.“

    Terhagen lehnte sich wieder auf die grün gestrichen Brückenbrüstung. Damit kehrte er in die Gegenwart zurück.

    „Wie ist Ihr Name, und was kann ich für Sie tun? Meine Sekretärin sagte, es handle sich um eine Sicherheits- und Personenschutzaktion?“

    Markus stellte sich dicht neben Maier vierzehn, fast berührten sich ihre Schultern. Er stützte sich ebenfalls auf die Brüstung. Beide starrten auf das gleitende Wasser.

    „Maier zwölf sollte genügen. Und tatsächlich handelt es sich um eine Personenschutzangelegenheit.“

    Markus nestelte an der Innentasche seine Jacketts und reichte Maier vierzehn einen Boden Papier.

    Terhagen griff nach dem Papier ,faltete es auf und las. Verständnislos blickte er zu Markus. „Ich verstehe nicht.“

    Er blickte erneut auf den Fax-Auszug mit seinem Bild, seiner Firmenadresse und seiner Privatadresse.

    „Können Sie mir das erklären?“ fragte er immer noch verständnislos.

    „Klar kann ich das.“, antwortete Markus locker, „Ich habe im Flugzeug Ihr Firmenportrait und vor allem Ihr Bild gesehen. Ich habe Sie sofort wiedererkannt, Maier vierzehn. Daraufhin habe ich mir mehrere Nächte um die Ohren geschlagen. Ihre Adresse herauszufinden, war nicht schwer. Schwieriger war es, mit dem Bürgermeister eines kleinen, mir unbekannten, Dorfes in Afrika in Kontakt zu treten. Als der Kontakt bestand, wurde er allerdings sehr lebhaft. Besonders die Familie des kleinen Mädchens war außerordentlich interessiert. Sie erinnern sich: das kleine Mädchen im Schrank? Sicher!“

    „Und Sie haben mein Bild und meine Adresse nach Afrika in das Dorf gefaxt?“

    „Ja, wahrscheinlich noch dasselbe Faxgerät, das damals im Nebenraum stand.“

    Markus war völlig emotionslos, obwohl er die Bestürzung und die Angst bei Maier vierzehn spürte, als diesem die gesamte Bedeutung klar wurde. Dieser drehte sich abrupt zu Maier zwölf und packte ihn am Oberarm. Markus wurde geschüttelt.

    „Aber wir waren damals im Krieg!“, schrie Maier vierzehn voller Panik. „Das ist doch vorbei. Wir haben keinen Krieg mehr.“

    Waren wir wirklich im Krieg damals? Im Krieg gegen wen? Sicher nicht im Krieg gegen das kleine Mädchen, übrigens: Sie hieß Hmgali. Haben Sie nie darüber nachgedacht, was wir damals gemacht haben? Wir waren nichts anderes als Söldner. Söldner der Bundesrepublik Deutschland, an den Meistbietenden verschachert. Das war bei uns so, und es ist heute noch so. Wer am meisten bietet, dem wird militärische Hilfe zu humanitären Zwecken, auch zum Töten Unschuldiger angeboten.“

    Die Augen von Terhagen waren angstvoll aufgerissen. Schweiß stand ihm im Gesicht.

    „Wissen Sie, was Sie da gemacht haben?“

    Seine Stimme überschlug sich.

    „Ja! Man muss fest davon ausgehen, dass sich die Familie von Hmgali jetzt im Krieg befindet. Im Krieg gegen Sie, Maier vierzehn.“

    Terhagen war kaum in der Lage zu antworten. Stotternd sagte er: „Aber, aber, wenn die nach Deutschland kommen und mich suchen, werden sie mich finden.“

    Jetzt verspürte Markus Genugtuung und Triumph.

    „Davon ist fest auszugehen“, sagte er kalt, „aber Sie sind ja Spezialist in Personschutzangelegenheiten: Security by Terhagen. Ich glaube, ihre Nächte werden furchtbar werden, Maier vierzehn.“

    Mit diesen Worten drehte sich Markus um und schlenderte zur Bushaltestelle.

    Terhagen blieb fassungslos an der Brückenbrüstung hängen.

     

    Sieben Wochen später.

    Markus war früh durch das Gezwitscher der Vögel aufgewacht. Fröhlich trat er vor die Haustür. Er blickte zum dämmrigblauen Himmel. Die Sonne würde gleich hinter den Baumspritzen empor kommen. Er genoss die frühmorgendliche Kühle und atmete tief durch. Als er die Samstagszeitung aus dem Briefkasten fischen wollte, bemerkte er einen Zettel auf dem Boden liegen. Markus hob den Zettel auf. In ungelenken Druckbuchstaben stand das Wort: D A N K E. Durch einen kleinen Riss war ein Blümchen gezogen.

    Markus atmete tief durch. Irgendwie konnte er besser atmen. Er fühlte sich schwebend.

    In den nächsten Tagen würde er keine Zeitung lesen oder Nachrichten hören.

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

     

     

     

     

     

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    langenberger-der-morgen-bild

    Es war noch früher Abend, trotzdem war es schon dunkel, fast finster. Der kühle Wind trieb dichte Regenschwaden durch die menschenleeren Straßen. Wenn dennoch jemand unterwegs sein musste, eilte er tief nach vorne gebeugt unter einem Regenschirm, der eng vor den Körper gehalten wurde, mit hochgestelltem Mantelkragen nach Hause. In den Wasserlachen doppelten sich die Lichter, ohne dass es heller wurde. Die Straßenbahn ratterte quietschend durch die verlassenen Straßen.

    Ein Mann saß mit Schulter und Stirn an die kühle Scheibe gelehnt. Außen erschienen tausende von Tropfen, die sich trafen und als kleine Bäche schnell die Scheiben hinunter eilten. Über die Backen des Mannes floss ebenfalls ein kleiner Bach. Die Tränen tropften vom Kinn auf seine Hose. Der Mann blickte leer durch das Fenster nach draußen, ohne irgendetwas wahrzunehmen. Als die Straßenbahn hielt, stand er auf und stieg aus. Einen kurzen Moment stand er, dann wendete er seine Schritte in Richtung Pier. Der heftige Regen hatte aufgehört. Es nieselte nur noch unangenehm kalt. Der Mann sollte eigentlich frösteln, nur mit einem leichten Shirt bekleidet, aber es war ihm heiß, er schwitzte sogar zwischen den Schulterblättern. Ohne auf die Pfützen zu achten, ging er langsam zum Wasser hin. Seine fransig getretene Jeans zog Wasser. Er achtete nicht darauf. Seine Schritte klangen leise hallend, als er am Meer entlang ging. Er fühlte sich einsam und allein. Sein Blick suchte immer wieder das Weite und den unsichtbaren Horizont. Leichter Neben stieg vom Wasser auf. Es war nun windstill,und die Straße lag ruhig und verlassen. Jetzt blieb der Mann stehen und starrte, seine Unterarm auf der nassen gusseisernen Brüstung aufstützend, ins Leere.

    „Annett, warum hast du mich verlassen?“

    „Warum so plötzlich? Ich konnte nicht einmal mehr Adieu sagen.“

    „Ach, Annett, Liebste, warum bist du weg, einfach weg, für immer weg von mir?“

    Diese Fragen stellte er sich immer wieder und wieder, ohne eine Antwort zu finden.

    Diese Gedanken kreisten in seinem Kopf. Immer wieder. Es gab keine Antwort. Es gab keinen Trost. Das Einzige, was er spürte, wirklich spürte, war dieser zerreißende Schmerz in seinem Inneren. Der Mann fühlte sich leer, einsam, unsagbar einsam und traurig. Er blickte weiter auf das ruhig Wasser mit seinem weißen Nebelhauch.

    „Komm, komm zu mir, schien es zu sagen, komm zu mir. Bei mir ist es weich und warm. Hier bist du geborgen, für immer. Und vielleicht bist zu Annett ganz nah. Komm, es ist nur ein kleiner Schritt. Ein ganz kleiner Schritt.“

    Der Mann hörte die lockenden Worte ganz deutlich. Wieder blickte er auf das dunkle Wasser mit seinem Hochzeitsschleier.

    „Ja, das ist die Lösung.“

    „Ja, Annett, ich komme“, sagte der Mann laut.

    Hinter sich hörte er, wie eine Tür geöffnet wurde. Musikfetzen trieben zum ihm. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und es war wieder ganz still. Ali las er über dem Eingang. Langsam und schwer ging er hinüber, öffnete die Tür und betrat das schmuddelige Lokal. Wieder hörte er die Musik, die aus einem Fernsehgerät in der Ecke kam. Er sah einige Menschen drum herum sitzen und auf die Bilder sehen. Er trat an die klebrige Bar. Ein junger dunkelhaariger Mann kam zu ihm, den Blick nicht vom Fernsehapparat zu wenden.

    „Einen Schnaps, bitte. Einen Doppelten“, bestellte der Mann. Wortlos stellte der Junge das Gewünschte auf die fleckige Platte und verschwand. Vor sich hin starrend trank der Mann den Schnaps in kleinen Schlucken. Er bestellte noch einen und dann noch einen und dann noch einen doppelten Schnaps. Der Störungen leid stellte der Junge die Schnapsflasche neben das Glas und ging zurück in die Ecke mit dem Fernsehgerät.

    Irgendwann später, die Flasche war ziemlich leer, klemmte der Mann einen Geldschein unter die Flasche. Unsicheren Schrittes verließ er das Lokal. An der Brüstung stehend blickte er auf das Wasser. Jetzt war es dunkle Nacht. Das rote Licht der Hafeneinfahrt spiegelte herüber. Der Mann hörte die verlockenden Worte, dem Gesang der Sirenen gleich. Die Fäuste krampften sich zum Sprung um das Geländer. Plötzlich spürte er einen feucht-schwitzigen Körper neben sich. Der Mann roch einen Atem, nach Knoblauch, Schnaps und kaltem Zigarettenrauch stinkend. Ein schwerer Arm mit einer riesigen feuchten Hand legte sich väterlich um seine Schultern. Der Mann blickte auf und sah in ein breites, fettiges Gesicht, mit einem mächtigen schwarzen Bart über der Oberlippe. In den langen Barthaaren klebten Schweiß und Speicheltropfen. Mit hartem türkischen Akzent sagte er, „Mein Freund, wir gehen wieder hinein. Du wählst den falschen Weg. Wir trinken noch ein Glas zusammen. Dann erzählst du mir alles.“

    Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er den Mann mit seinem kräftigen Armen zurück in das wärmend Lokal. Die Flasche stand noch am selben Platz. Ali holte noch ein Glas und füllte die Gläser. Das hob er sein Glas und beide tranken in einem Schluck aus. Wieder füllte Ali die Gläser. Dann sagte er, „Sprich, du bist unter Freunden.“

     

    Am nächsten Morgen wurde der Mann durch einen heftigen Tritt geweckt. Er lag auf einem Haufen Decken in einer Ecke. Der Mann öffnete die Augen und schloss sie sofort geblendet wieder. Jetzt bemerkt er den pochenden Schmerz im Hinterkopf und in den Augen. Er fühlte sich kräftig hochgerissen und auf die Füße gestellt.

    „Ayda hat dir ein Frühstück gemacht. Setz dich an den Tisch.“

    Der Mann wurde stützend durch die Tür nach draußen geschoben. Blinzelnd schaute er sich um. Die Sonne schien warm an diesem frühen Morgen. Normale Geschäftigkeit wogte um ihn herum. Menschen gingen zur Arbeit, Autos fuhren an ihm vorbei. Große Lastschiffe fuhren langsam auf das Meer hinaus. Der Mann erblickte jetzt, dass eines der kleinen Tischchen, die an der sonnenbeschienen Hauswand entlang aufgestellt waren, für ein Frühstück gedeckt war. Er wurde an den Tisch gesetzt. Vor ihm standen warme Croissants und frische Brötchen. Auf einem Teller war scharfe Salami mit Schafskäse angerichtet. Es gab Butter, Honig und Marmelade.

    Ali stellte eine Tasse extra starken Kaffee vor ihm auf den Tisch.

    „Schau, ein neuer Tag ist wie ein neues Leben. Wenn es dir wieder einmal schlecht geht, dann komm. Hier bist du unter Freunden“.

     

    In meinem ganzen weiteren Leben, immer wenn es mir schlecht geht, spür ich den feucht-schweißigen Körper, die mächtige fleischige Hand und rieche den Atem, der nach Knoblauch, Schnaps und kaltem Zigarettenqualm stinkt.

    Copyright Dr. Gerhard Langenberger

  • Langer Weg

    Ich bin vor die Haustür getreten, habe sie sorgsam zugezogen und, nur um ganz sicher zu sein, mehrfach am Knauf gerüttelt. Habe den Schlüsselbund tief in die Hosentasche geschoben und mit der flachen Hand nochmal und nochmal nach ihm getastet. Im Losgehen dann wie jedes Mal zum Küchenfenster hinauf gesehen, obwohl doch dort niemand mehr stehen kann. Als ich über meinen Rollator gebeugt um die Hausecke biege, springt der Aprilwind mich an. Gerade, dass ich meinen Hut noch halten kann.

    An der kleinen Busstation weiche ich den hingestreckten Beinen eines jungen Mannes aus, der nur Augen für eine kleine Kiste hat, auf der er herumdrückt, in jedem Ohr einen Knopf mit Kabel dran. Für ihn scheine ich gar nicht zu existieren. Wie aus dem Nichts jagt von hinten ein Radfahrer an mir vorbei, streift mich am Ärmel. Ich erstarre vor Schreck. Mein Herz rast, mich schwindelt. Auf meinen Rollator gestützt bleibe ich stehen, bis es wieder geht nach einer ganzen Weile. Ich atme auf, ohne erleichtert zu sein. Im Rinnstein neben mir rupfen zwei Raben an einem dreckigen Brotrest. Weiter jetzt. Nur noch an der ehemaligen Kaserne vorbei, die Apotheke und den Bestatter mit seiner farbenfrohen Urnen-Sammlung in der Auslage hinter mir lassen. Und schon bin ich fast da. Habe den Supermarkt mit den großen blau-gelben Leuchtbuchstaben vor mir. Fast werden die alten Füße mir so leicht, dass ich das letzte Stück laufen möchte. Doch selbst wenn das noch ginge, wie wäre ich dann außer Atem, wenn ich mich in die Reihe der Wartenden stelle und nicht aufhören kann, meinen Wunsch an die Bäckereiverkäuferin wieder und wieder vor mich hin zu flüstern.

    Wenn die Reihe schließlich an mir ist, möchte ich ihr gerne sagen können, dass ich von weit herkomme, eine elendig lange Reise durch viele Jahrzehnte hinter mir habe, nur um in diese Bäckerei zu gelangen. Dass meine Mutter mich dazu vor mehr als achtzig Jahren in einer Arbeitspause bei der Kartoffelernte zur Welt gebracht hat. Dass ich dafür diesen großen Krieg überlebt habe, den Hunger und die Ruhr, die Tieffliegerangriffe und das Strafexerzieren im belgischen Novemberregen. Den Granatsplitterhagel, der mir mein linkes Ohr abriss, habe ich genauso wie die abgefrorenen Zehen über mich ergehen lassen. Mehr als einmal hatten sie mich bereits aufgegeben. Vom Sudetenland wurde ich später dann hierher, in den Westen verschlagen. Habe geholfen, eure von unseren Befreiern zerstörte Heimat wieder aufzubauen und als ein Vertriebener, der ich war, noch einmal ganz von vorn angefangen. Ich will nicht unbescheiden sein, aber in diesem Bäckerladen ankommen zu dürfen, habe ich mir mehr als verdient. Und jetzt stehe ich hier, über meinen Rollator gebeugt und erbitte nichts mehr als ein Stück frischen Mohnkuchens. So etwa möchte ich zu ihr sprechen.

    Dann ist es soweit. Ihr gebräuntes Jugendgesicht streckt mir ein routiniertes Jabitte entgegen.

    „Ein Stückchen von dem Mohnkuchen“, bringe ich hervor und sehe wie sich unter ihren flinken Bewegungen schon alles zum Besten wenden will, als sie plötzlich innehält und mich prüfend anschaut. „Hier essen?“ – Ich nicke.

    Copyright Franz Jostberg

  • Das Meer hat keine Ufer

    Ich saß schon eine ganze Weile auf einer der Bänke am Ufer des Flusses. Je länger ich der gleichförmigen Strömung zusah, umso müder wurde ich. Und obwohl die Holzbank nicht sonderlich bequem war, fielen mir schließlich die Augen zu und ich schlief ein.

    Es war schon dunkel, als ich wieder aufsah. Der Fluss führte Hochwasser inzwischen. Merkwürdigerweise überraschte mich das kaum. Die Uferwiese hatte der Fluss sich schon einverleibt, den schmalen Radweg bereits überschritten, nur wenig später bedeckte das Wasser meine Knöchel, kroch an meinen Beinen hoch. Ich ließ den Fluss gewähren, rührte mich nicht. Ergab mich ihm wie einer Riesenschlange, deren Umarmung unausweichlich war. Schließlich nahm er mich mit. Die Strömung war stark und trug mich rasch davon. Wie leicht ich mich fühlte, neugierig drehte ich mich in alle Richtungen. Gerade trieb ich an der klotzigen Fassade des neuen Krankenhauses vorüber, als ich im fahlen Licht der Uferlaternen etwas gewahr wurde, das auf mich zutrieb. Fast konnte ich schon den Arm danach ausstrecken, da erkannte ich einen kleinen blanken Kopf, durchscheinend wie ein Lampion. Zwei dunkle Knopfaugen unter einem großen Stirnwulst musterten mich.

    „Guten Abend, was machst du denn hier?“, fragte das Köpfchen.

    „Ich schwimme hier im Fluss“, gab ich zur Antwort.

    „Wie gut, dass du da bist. Denn ich brauche deine Hilfe. Ich bin zu müde, um selber weiter zu schwimmen. Könntest du mich ein Stück mitnehmen?“

    Auch wenn die Bitte mich etwas erstaunte, wie hätte ich neinsagen können. „Ja, aber wo willst du denn hin?“

    „Eigentlich nur ans andere Ufer, aber auch das schaffe ich nicht alleine.“ Das Stimmchen klang erbärmlich matt und trostlos. „Denn gegen die Strömung hier komme ich einfach nicht an.“

    Ich drehte meinen Rücken schon einladend entgegen.

    „Weißt du, dieser Fluss hier ist nicht wie andere Flüsse“, die zarte Stimme war nah an meinem Ohr. Etwas Weiches berührte mich am Nacken.

    „Bist du schon lange unterwegs?“ erkundigte ich mich.

    „Sehr sehr lange schon“, seufzte es.

    „Entschuldige bitte, aber du bist ziemlich merkwürdig, so jemand wie du ist mir noch nie begegnet.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, schämte ich mich schon über meine taktlose Bemerkung.

    „Du bist nicht oft nachts hier am Fluss, nicht wahr? Sonst wärst du uns schon begegnet. Es gibt nämlich viele von uns. Wir sind die Mizu-Ko, die Wasserkinder.“

    Mizu-Ko? Tut mir leid, aber ich habe noch nie von euch gehört.“

    Das Köpfchen des kleinen Wesens berührte meine Schulter. Schwebeleicht wie eine Luftblase.

    „Wir sind die Zurückgeschickten. Die von den Empfängern nicht Gewollten. Sendungen, bei denen die Abnahme verweigert wird, weil es den Adressaten gerade nicht passt.“

    „Entschuldige, aber ich verstehe nicht ganz …“

    „Ich weiß. Das geht vielen so. Die meisten wollen auch gar nicht.“

    „Und was macht ihr dann hier am Fluss?“

    „Wie ich schon sagte, Nacht für Nacht versuchen wir ans andere Ufer zu gelangen. Nur wenige schaffen es aus eigener Kraft. Deshalb müssen wir warten, bis uns jemand hilft, so wie du jetzt. Andernfalls sind wir verloren. Für immer.“

    Eine ganze Weile trieben wir wortlos weiter. Ich glaubte schon fast das erste Aufhellen am Nachthimmel zu erkennen, da meldete sich das kleine Wesen auf meinem Rücken wieder.

    „Hast du die vielen Steintürmchen überall am rechten Ufer gesehen? Die stammen von den Wasserkindern. Während wir auf unsere Helfer warten, stapeln wir sie. Bei Tage siehst du das alles natürlich nicht. Wir und unsere Türmchen dürfen in der Welt des Lichtes nicht vorkommen.“

    Hauchzarten Händchen berührten meine Wangen und ich hoffte, meine Tränen darauf könnten weiter unbemerkt bleiben. Als wenn das möglich wäre, hier, mitten im Fluss, einzelne Tränen zu erspüren.

    „Weißt du, warum Eisbärinnen in Gefangenschaft ihren Nachwuchs töten?“

    „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

    „Weil die Gefangenschaft sie krank macht. Sie sehen keine Chance für ihre Jungen und töten sie lieber als ihr Leiden mit ansehen zu müssen.“

    Wieder schwiegen wir und ich stellte mir eine Eisbärenmutter vor, die mit ihrem Nachwuchs am Ufer des Polarmeers herumtollte.

    „Aber egal. Zum Glück bist du ja hergekommen und hast mich mitgenommen. Mit deiner Hilfe komme ich überall hin. Selbst bis ans Meer. Dort gibt es keine Grenzflüsse und auch keine Ufer. Das Meer ist bestimmt wunderbar.“

    Ich konnte nicht aufhören, an Eisbärenmütter zu denken. Das kleine Wesen hatte sein Köpfchen wieder auf meine Schulter gelegt und schien eingeschlafen. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, das dies nur ein kleiner Fluss war, der in einen nächsten und der in einen weiteren Nebenfluss mündete. Bis zum Meer würden wir noch eine halbe Ewigkeit brauchen. Dennoch erfüllte mich eine Art Heiterkeit.

    Copyright Franz Jostberg

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress 2016

     

    Das Rosmarinsüppchen

    „Hallo Schatzi!“

    Ich hasse diese einschmeichelnde Begrüßung! Schließlich hört man als erfahrene Frau die Lüge bei einem Mann schon, bevor er sie ausgesprochen hat. Ich musste nur noch genau hinhören oder hinschauen, um die Details zu erfahren. Henner hatte mich so oft an der Nase herumgeführt, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, mich zu ärgern. Ich dumme Kuh habe ihm immer wieder verziehen. Mal habe ich aus falsch verstandener Liebe einfach den Mund gehalten und die Kränkungen geschluckt, mal habe ich mir die Tränen theatralisch über das Make-up laufen lassen und verschmiert, um ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt. Auch wenn ich ihm Szenen gemacht habe mit Geschrei und zerschmettertem Geschirr, hat ihn das nicht wirklich und schon gar nicht lange beeindruckt.

    Jetzt war es mal wieder so weit.

    „Hallo Schatzi! Das war ein anstrengender Tag!“

    Ich schaute ihn an: „Wie siehst denn du aus?“

    Sie müssen sich das mal vorstellen: Wie im Kitschfilm. Die Krawatte auf Halbmast, die oberen beiden Hemdköpfe offen, die Goldhalskette über seinem gewellten dunkelbraunen Brusthaar, den Kopf zerzaust, das Jackett zerknittert, die Bügelfalten platt. Und das Gesicht wie nach einer durchwachten Nacht, ungewaschen, unrasiert, die Falten noch tiefer als sonst. Und die waren nicht nur vom Arbeiten so tief, ganz sicher nicht.

    Seit ich zufällig neulich seine neue Sekretärin gesehen habe, ist mir klar, warum er so oft abends und bis spät in die Nacht dringende Besprechungen machen muss.

    Ich sah sie auf dem Büroflur auf sein Zimmer zu gehen. Das blonde Haar floss über die schlanke und offene Rückenpartie des Kleides. Das hautenge Kleid betonte den wackelnden Hintern dieses Schoßhühnchens in geradezu obszöner Weise. Die hohen Stöckelabsätze waren eine orthopädische Katastrophe und ihr Klackern auf dem Steinboden eine Zumutung für jedes Ohr. Wie Pistolenschüsse knallten sie über den Gang. Meine Birkenstock-Schuhe hört man nicht! Und als sie sich umdrehte, dieses Möchte-gern-Playboy-Häschen, konnte ich sofort sehen, wo der Plastische Chirurg sein Geld verdient hat. Die mit Botox aufgedunsenen Lippen waren kurz vor dem Platzen, und die silikongefüllten Brüste drohten das eng anliegende Blüschen zu sprengen. Nicht einmal einen BH trug diese Büropuppe. Bei Heidi Klum wäre sie nicht als Model angekommen, aber mein Mann hat sie sofort eingestellt. Wofür eigentlich? Diese an allen Rundungen aufgeblasene Frau passte genau in sein Beuteschema. Sie erfüllte ganz sicher die Wünsche meines Mannes, aber bestimmt nicht bei der Arbeit.

    Es hat mich gar nicht gewundert, dass ich schon ein paar Tage später ganz zufällig blonde Haare auf Henners Hemd fand, und ich entdeckte, dass er in seinem Aktenkoffer eine zusätzliche Flasche seines Parfums mitnahm und abends frisch beduftet heim kam. Aber mich kann er nicht täuschen. Er stank nach einer schwülen Mischung aus Frauenparfüm und seinem Rasierwasser. Das war richtig ekelig!

    Früher wäre ich ausgeflippt vor Wut und hätte sein Büro zuhause demoliert. Aber ich habe mir geschworen, meine Kräfte zu sparen für den entscheidenden Tag. Ja, Sie hören richtig, ent-scheidend. Das hat etwas mit Scheidung zu tun. Aber nicht wie Sie denken – mit Rechtsanwalt und Gericht, nein, nein. Da muss mir schon etwas Besseres einfallen.

    Heute war das Fass voll. Ich meine das Fass meines Zorns. Und wissen Sie warum? Als Henner ins Bad ging und die Kleider auf das Bett geworfen hatte, fielen mir sogar ohne Suchen sofort schwarze kurze Haare an seinem Hemd auf. Und der Lippenstiftfleck auf dem Kragen war nicht zu übersehen. Henner hatte seine Jacke so achtlos hingeworfen, dass das Bild einer jungen Schwarzhaarigen heraus gefallen war. So was von billig! Wollte er mich provozieren? War er wirklich so blöd, solch ein Bild in der Jackentasche zu lassen? Oder hat die kleine schwarze Hexe ihm das Bild zur Erinnerung in die Tasche gesteckt, ohne dass er es gemerkt hat? Egal: Jetzt betrog er seine Sekretärin und mich mit einer neuen Frau!  Das war entschieden zu viel.

    „Schatzi, machst Du mir was zum Essen?“, tönte es aus dem Badezimmer unter der Dusche hervor.

    „Aber ja,“, rief ich zurück, „ich mache dir dein Lieblingssüppchen!“

    Ich ging in den Garten und sah mit der Terrassenbeleuchtung noch gut genug, um rasch die Zutaten zusammenzusammeln. Erst pflückte ich frische Rosmarinnadeln, dann von der großen Taxushecke frische Eibennadeln. Das reichte für ein wirkungsvolles Abendessen. Den Rest hatte ich in der Küche.

    Rosmarin mag Henner besonders gern. Den kräftigen Duft der ätherischen Öle möchte er in der Suppe schmecken. In unserer Verliebtheitsphase verwendete ich extra Kölnisch Wasser, weil dort viel Rosmarin enthalten ist, und Henner konnte nicht genug kriegen, an mir zu schnuppern. Die Eiben kannte er nicht. Er war ein Gartenmuffel.

    Also schnitt ich je eine Handvoll Rosmarin- und Eibennadeln ganz fein, bis sie fast pulverig waren, erwärmte sie in der Pfanne, aber nur ganz leicht und mit einem großen Stück Butter dazu, damit die Wirkstoffe auch wirken können! Dann vermischte ich sie mit Sahne und Gemüsebrühe zu einer cremigen Suppe. Das wird ein besonderes Essen, dachte ich und stellte das gute Porzellan auf den Tisch und eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten.

    „Willst du nicht mitessen?“, fragte Henner, als er sah, dass ich nur ein Gedeck gerichtet hatte.

    „Nein, ich habe schon gegessen! Lass es dir schmecken!“

    Ich muss gestehen, ich genoss es, wie er seine Suppe löffelte und meine Kochkünste lobte.

    „Das schmeckt heute ganz besonders! So anders als sonst!“

    „Ja, ich habe es besonders gewürzt!“, sagte ich nicht ohne ein gewisses Maß an Freude über mein gelungenes Werk. Ich beobachtete mit Genugtuung, dass Henner mit großem Appetit alles aufaß – drei Teller Suppe.

    Wir unterhielten uns nicht. Er war ja so müde – von seiner Beschäftigung im Büro oder wo auch immer. Dafür muss man als Ehefrau schließlich Verständnis haben. Als Henner sein Süppchen gegessen hatte, trank er einen Whisky und griff immer wieder an seinen Bauch.

    „Komisch“, sagte er, „das rumort so, aber vielleicht habe ich mir im Büro was eingefangen, da klagen alle über Durchfall.“

    „Ja, das wird es sein“, meinte ich ruhig und sehr zufrieden.

    Plötzlich rannte er los Richtung Toilette. Nachdem er sich dort erleichtert hatte, wollte er nur noch ins Bett.

    „Ich fühle mich so schwach, ich brauche noch einen Whisky!“

    „Den bringe ich dir gern!“

    Man soll letzte Wünsche nicht abschlagen!

    Nach einer Weile meinte Henner: „Mir wird so komisch, mein Herz schlägt so unregelmäßig.“

    „Ja, ja, das kann sein, bei dem Magen-Darm-Infekt. Bald hört´s auf!“

    Ich konnte mich einer gewissen Schadenfreude über meine Doppeldeutigkeit nicht ent-ziehen.

    Henner schlief rasch ein, unruhig zwar, und einmal erbrach er im Bett. Aber das nahm ich ihm nicht übel und machte das Bett frisch, soweit das bei dem inzwischen bewusstlosen Mann möglich war. Ich setzte mich neben ihn. Ich fühlte immer wieder seinen Puls und spürte genussvoll, dass er immer langsamer wurde.

    Tatsächlich hörte es nach einer Weile auf. Das Herz meine ich.

    Es ist schon wichtig, im richtigen Moment die richtige Suppe richtig zu würzen.