Monat: Juni 2014

  • Die Darstellung echter Krankheitszeichen bei antiken Bildwerken ist eine Rarität, lange nicht so häufig, wie wir Ärzte, Medizinhistoriker und manchmal auch Archäologen mit unserer retrospektiven Diagnostik es gern hätten. Gleichwohl begegnen uns gelegentlich Darstellungen, die wir vorsichtshalber nicht pathologische Befunde, sondern

    1. Abweichungen von der Norm

    nennen wollen. Da gibt es die

    a. numerische Aberration, also eine quantitative Abweichung von der Norm.

    Wamser-Krasznik Linker Vorfuß Abb 1

                                  Abb. 1  Linker Vorfuß, Corvaro/Latium, 3./2. Jh. v. Chr.

    (nach L. Capasso 1999, 31 Abb. E 0.2)

    Hier ist ein Fuß mit sechs Zehen wiedergegeben. Hat der Koroplast (Tonbildner) wirklich eine Polydaktylie darstellen wollen[1], oder handelt es sich um ein Versehen, eine Unachtsamkeit des Kunsthandwerkers? Liegen rituelle Gründe vor? Haben wir es mit dem  Fragment einer Figur oder eines Votivfußes zu tun? Viele offene Fragen!

    Etwas anders liegt der Fall bei einem Fuß aus Praeneste, dem heutigen Palestrina. Die überzählige sechste Zehe ist deutlich kürzer und offenbar nicht vollständig von der fünften getrennt. Man gewinnt den Eindruck, daß es dem Koroplasten, der etwas Ähnliches aus eigener Anschauung am Lebenden gekannt haben mag, tatsächlich um die Darstellung einer Normabweichung ging.

    Wamser-Kraszinik Preneste Abb 2

    Abb. 2  Praeneste/Palestrina, frühe römische Kaiserzeit

    (nach M. Grmek – D. Gourevitch 1998, 289 f. Abb. 227)

    Noch weniger häufig ist die

    b. qualitative Aberration.

    Ein um 2000 v. Chr. auf Kreta entstandenes Terrakottafigürchen zeigt eine  beträchtliche Umfangsvermehrung des linken Beines.

    Wamser-Krasznik Lipödem Abb.3

    Abb. 3 Lipoedem (?) aus einem Höhenheiligtum auf Kreta, um  2000 v. Chr.

    (nach M. Grmek – D. Gourevitch 1998, 293 Abb. 230)

    Offensichtlich ist die Veränderung einseitig. Man denkt an ein Krankheitsbild aus dem Umkreis Lymphoedem, Lipoedem, Elephanthiasis, Papillomatosis cutis lymphostatica, die allerdings an den Beinen häufiger doppelseitig auftreten. So läßt sich denn auch ein „Ausreißer“, eine Fehlform, wie sie in jeder Werkstatt passieren können, nicht völlig ausschließen.

    Im 7. Jh. v. Chr. konnten die Pferdemenschen, Kentauren, sowohl mit männlichen als auch mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen dargestellt werden; nicht als Dokumentation eines hermaphroditischen Irrwegs der Natur, sondern als Ausdruck des Dämonischen, das all diesen Mischwesen innewohnt.

    Wamser-Krasznik Pferdemensch Abb 4

    Abb. 4  Ayia Irini/ Zypern 7. Jh. v. Chr.  Meddelhavsmuseet Stockholm

    (nach V. Karageorghis 2003, 164 f. Nr. 190)

    2. Abstraktionen und Stilisierungen

    Naturgetreue Formen können landschaftsspezifisch abstrahiert oder zeitbedingt stilisiert sein. Den bewußten Abweichungen von der physiologischen Anatomie des Menschen kommt bisweilen nicht der geringste Krankheitswert zu. Die Angabe eines zusätzlichen vierten Gliedes am fünften Finger ist durchaus nicht als pathologisch zu verstehen, sondern als eine

    a. spezifisch regionale Gestaltungsweise[2].

    Man bediente sich ihrer bei den Kouroi, überlebensgroßen marmornen Jünglingsfiguren archaischer Zeit, und zwar ausschließlich in der Landschaft Attika. Streng parallel und ganz naturwidrig liegen die Finger nebeneinander. Es ist eine reine Kunstform.

    Wamser-Krasznik Sunion Abb 5

    Abb. 5  Sunion, Kuros A , frühes 6. Jh. v. Chr. (nach W. Martini 1990, 130 Abb. 37)

    Auch andere Körperteile hat man vorsätzlich verändert, abstrahiert. Die Ohrmuschel des  Kouros A ist vollkommen vertikal gegeben, mit ornamentalen Windungen, parallel verlaufender Helix und Anthelix und einem übergroßen kugelrunden Tragus[3].

    Wamser-Krasznik Sunion Abb 6

    Abb. 6  Sunion, Kuros A , frühes 6. Jh. v. Chr. (nach W. Martini 1990, 18. 204 Abb. 3

    b. zeitgebundene Stilisierung

    Nicht auf Attika beschränkt ist die Vermehrung der naturgegebenen vier Abdominalmuskel-Kompartimente auf sechs bei archaischen Männerfiguren. Beim attischen Kuros A von Sounion wirkt die lineare Sechsteilung der Bauchwand vollkommen graphisch.

    Wamser Krasznik Sunion Abb 7

    Abb. 7   Sounion, Kouros A, frühes 6. Jh. v. Chr. (nach W. Martini 1990, 118 f. Abb. 34) 

    Dagegen stellt der Koroplast aus einer Werkstatt in Tarent (Westgriechenland) die sechs Kompartimente des geraden Bauchmuskels als plastisch gewölbte, durch tiefe Einziehungen von einander abgesetzte, ‚Kissen‘ dar.

    Wamser-Krasznik Tarentiner Symposiast Abb 8

    Abb. 8  Tarentiner Symposiast, Neapel (nach A. Levi 1924, 26 f. Abb. 28)

    Die ebenfalls noch in archaischer Zeit entstandene Terrakottafigur zeigt einen Symposiasten, einen zum Bankett gelagerten jungen Mann[4].

    Mehr als eine Generation später, in klassischer Zeit, halten sich die Skulpteure eher an die anatomischen Gegebenheiten. Eine römische Kopie der um 440/430 v. Chr. geschaffenen Statue des Diomedes lässt das Relief der vorderen Bauchwand mit den vier durch Faserplatten verbundenen Kompartimenten des Musculus rectus abdominalis erkennen.

    Wamser KRasznik Statue Abb 9

    Abb. 9   Statue ca. 440 v. Chr. (nach A. Benninghoff – K. Goerttler 1957, 162 Abb. 102)

    Der Kuriosität halber folgen einige Beispiele von retrospektiven Diagnosen, die nur als

    3. Fehlinterpretationen bezeichnet werden können.

    Wamser Krasznik Reibfinger Abb 10

    Abb. 10  Reibfinger aus Marmor (nach E. Holländer 1912, 306 f. Abb. 198)

    Die Beugestellung des Fingers verlockt dazu, an eine Kontraktur des Mittelgelenks oder an einen schnappenden Finger, digitus saltans, zu denken. Doch sind diese beiden Krankheitsbilder nicht gravierend und nicht häufig genug, um eine solche Fülle von Darstellungen erwarten zu lassen wie die Ausgrabungen im gesamten Mittelmeerraum ergaben. Mitfunde von Reibschalen unterstützen die Deutung als Reibfinger, eine Art von kleinen Mörserkeulen, in der „üblichen, einem gebogenen Daumen ähnlichen“ Form[5]. Sie bestehen aus Basalt, Marmor oder Kalkstein und wurden zum Reiben von Salben, Schminke und dergleichen verwendet.

                                                  

     Abb. 11   Terrakottafigur aus Ayia Irini/Zypern, Anf. 6. Jh. v. Chr.

    (nach V. Karageorghis 1993, 27 Nr. 66 Taf. 18, 1) 

    Für einen angehenden Unfallchirurgen ist es gewiss verlockend, in der zyprischen Männerstatue einen Soldaten zu sehen, „der seinen gebrochenen Arm mittels eines Bandes um den Hals in rechtwinkliger Beugung im Ellenbogengelenk hält, wobei der Unterarm in einer Mittelstellung zwischen Pronation und Supination steht“[6]. Dieser „Soldat“ ist jedoch kein Einzel-‚Fall‘. Er gehört zur großen Gruppe männlicher Gewandfiguren aus Kalkstein oder Ton, die auf Zypern seit der Mitte des 7. Jhs. und im 6. Jh. v. Chr. in Heiligtümer geweiht wurden[7]. Für das Motiv des gebeugt eingehüllten rechten Armes, verbunden mit dem Gestus der zur Faust geballten Hand hat man bisher noch keine wirklich überzeugende Deutung gefunden[8]. Die Interpretation als Gebets- oder Verehrungsgestus[9] kann schon deshalb nicht völlig befriedigen, weil es auch männliche Statuen mit dem traditionellen Gruß- oder Gebetsgestus gibt, nämlich dem erhobenen rechten Unterarm und der nach vorn gerichteten offenen Hand[10].

    Einen besonders reizvollen ‚Fall‘ versuchte man in die „Statue eines jungen, bildschönen armverletzten römischen Mädchens“ hineinzudeuten[11]. Doch der Mantelbausch, der den linken Arm umhüllt, sollte nicht als Armtragetuch mißverstanden werden. Es handelt sich vielmehr um ein Gewandmotiv, das die jugendliche Anmut und die kokette Haltung des sitzenden  Mädchens vom Kapitol wirkungsvoll unterstreicht.

    Wamser Krasznik Sitzendes Mädchen Abb 12 

                   Abb. 12   Sitzendes Mädchen, Rom, Kapitolinische Museen, Anf. 3. Jh. v. Chr.

    (nach Bulle 1922, 123 Abb. 171)

    Bildnachweis und abgekürzt zitierte Literatur:

    Benninghoff – Goerttler 1954: A. Benninghoff – K. Goerttler, Lehrbuch der Anatomie des Menschen 1 (München – Berlin – Wien 1957) Abb. 9

    Bulle 1922: H. Bulle, Der schöne Mensch im Altertum (München 1922) Abb. 12

    Capasso 1999: L. Capasso, Le terrecotte votive come fonti di informazioni paleopatologiche, in: G. Baggieri (Hrsg.), „Speranza e sofferenza“ nei votivi anatomici dell’Antichità  (Rom 1999)  Abb. 1

    Grmek – Gourevitch 1998: M. Grmek – D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique (Poitiers 1998) Abb. 2 und 3

    Holländer 1912: E. Holländer, Plastik und Medizin (Stuttgart 1912) Abb. 10

    Karageorghis 1993: V. Karageorghis, The Coroplastic Art of Ancient Cyprus III (Nicosia 1993) Abb. 11

    Karageorghis 2003: V. Karageorghis, The Cyprus Collections in the Medelhavsmuseet (Nicosia 2003) Abb. 4

    Levi 1924: A. Levi, Le Terrecotte figurate del Museo Nazionale di Napoli (Florenz 1924) Abb. 8

    W. Martini 1990: W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990) Abb. 5-7

    Mylonas 2003: D. Mylonas, Ikonographie und Typologie der kyprischen archaischen Kalksteinplastik, in: V. Karageorghis – S. Rogge (Hrsg.), Junge zyprische Archäologie (Münster – New York – München – Berlin 2003) 51-71

    Papaxenopoulos 1981: A. Papaxenopoulos, Zypriotische Medizin in der Antike, Diss. Universität Würzburg 1981

    Schadewaldt u. a. 1966: H. Schadewaldt – L. Binet – Ch. Maillant – I. Veith, Kunst und Medizin (Köln 1966) 64 f.

    Schmidt 1968: G. Schmidt, Kyprische Bildwerke aus dem Heraion von Samos (Bonn 1968)

    Senff 1993: R. Senff, Das Apollonheiligtum von Idalion (Jonsered 1993)

    Wamser-Krasznai 2013: W. Wamser-Krasznai, Für Götter gelagert. Studien zu Typen und Deutung Tarentiner Symposiasten (Budapest  2013)

    Wiegand – Schrader 1904: Th. Wiegand – H. Schrader, Priene (Berlin 1904



    [1] Capasso 1999, 31 Abb. E 0.2.

    [2] W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990) 130. 203 f. Abb. 37.

    [3] Martini 1990, 204.

    [4] Levi 1924, 26 f. Abb. 28; Wamser-Krasznai 2013, 182 Nr. 437 Abb. 83.

    [5] Wiegand – Schrader 1904, 393.

    [6] Papaxenopoulos 1981, 21 f. Abb. 1.

    [7] Senff 1993, 25. 30  Taf. 3 f. 51 d-f.

    [8] […] „verschiedene kultische Gesten, die sich seit frühesten Zeiten herauskristalisiert haben […] Die Armhaltung […] ist als bestimmter religiöser Gestus zu definieren“ […], Mylonas 2003, 54 f.; […] Der Gestus […] „einer dienenden Bereitschaft“, Schmidt 1968, 103; […] „der rechte (Arm) in einer Mantelschlaufe mit geballter Faust vor die Brust genommen“ […] Senff 1993.

    [9] Senff 1993, 25 Anm. 204.

    [10] Senff 1993, 34 Taf. 12 g-i und 13 e-g.

    [11] H. Schadewaldt – L. Binet – Ch. Maillant – I. Veith, Kunst und Medizin (Köln 1966) 64 f. Abb. 46, fälschlich  „Vatikan.  Museen“.

    Copyright Frau Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai

  • Kennt ihr Eichelhähne? Nein, keine Eichelhäher, sondern Eichelhähne, es gibt auch Eichelschweine, vielleicht auch Eichelhunde. Das kleine dünne Mädchen im Nachkriegsberlin kannte sie auch nicht. Ihr Spielkamerad erzählte ihr davon auf dem Weg zum Gärtner. Sie traute sich nicht mehr, den Weg alleine zu gehen, seit sie der Zwerghahn angegriffen hatte. Er war ihr auf die Schulter gesprungen und hatte ihr auf den Kopf gehackt. Sie schrie fürchterlich und warf den Korb mit den Kartoffelschalen und Gemüseabfällen weit von sich. Vielleicht hatte der Anblick der Zwerghühner die Erinnerung an die Eichelhähne bei ihm geweckt. Zuhause erzählte sie ihrer Mutter ganz aufgeregt davon. Das gab es doch nicht! Sicher hatte der Junge gelogen. Aber was sagte die Mama? Er habe keineswegs gelogen! Es sei tatsächlich möglich, aus Eicheln und Kastanien Hühner, Hähne und andere Tiere zu machen! Es schien ihr immer noch unglaublich. Und nicht nur seine Mutter könne es, nein, auch sie, ihre Mama könne es auch! Sie solle nur hübsch brav ihren Mittagsschlaf machen, wenn sie aufwache, seien sie da, die Eichelhühner und Eichelhähne.

    Sie schlief diesmal schnell ein bei dem Gedanken an die winzigen Hühnchen und Hähnchen, in der Größe der Eicheln, braun wie sie oder weiß oder gepunktet, die Hähne mit schillernden Schwanzfedern. Sie erwachte schneller als sonst. Die freudige Erwartung trieb sie aus dem Bett, als die Mutter nicht sofort auf ihren Ruf hin erschien. „Mama, wo bist du?“ Sicher war sie frische Milch holen. Das kleine Mädchen schlich in die Küche, um die Hühnchen nicht zu erschrecken. Aber was sah sie da? Was war aus ihren schönen Eicheln geworden? Da standen sie, aufgespießt auf Streichhölzern, die in halbierten Korken steckten. Einigen klebte an einem Ende sogar eine winzige Feder. Der Anblick der widerwärtigen Gebilde löste eine maßlose Wut in ihr aus. Sie nahm Rache, sie riss den Hühner-sein-wollenden Eicheln die Streichhölzer raus, sie vernichtete die Gebilde, sie zerlegte sie in ihre Bestandteile. Nur ihre schönen, glatten Eicheln waren zerstört, hatten Löcher.

    Als ihr Zerstörungswerk beendet war, erschrak sie. Was hatte sie getan? Ihre Mama hatte das alles für sie gemacht, während sie ihren Mittagsschlaf hielt, hatte sie überraschen wollen. Sie weinte. Sie weinte über die Enttäuschung ihrer Mutter, sie weinte darüber, dass sie so hässlich gewesen war, sie weinte, weil sie keine Eichelhähne hatte, ja, sie weinte, weil es die Eichelhähne, die sie sich vorgestellt hatte, nicht gab. Ihre Mutter erschrak, als sie ihr weinendes Töchterchen am Küchentisch sah. Wie lieb tröstete sie ihr Kind: „Weine nicht, hör auf, Mama bringt alles wieder in Ordnung“. Und die Mutter brachte die Welt wieder in Ordnung, was sie unter Ordnung verstand, sie piekte all den Eicheln die Streichhölzer wieder in den Leib und steckte sie in die halbierten Korken. Es blieben aber Eicheln mit Streichhölzern, wandelten sich nicht in Eichelhähne.

     

    Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.20f

    Dieser Text wurde bei dem BDSÄ-.Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema „Zauberei und Realität“

  • In was wird meine Liebe sich wandeln,
    all das,
    was ich erfuhr
    durch sie
    und durch Dich?
    Der Schmerz des Abschieds,
    die Wut der Enttäuschung,
    die schwebende Leichtigkeit
    und später
    das Erkennen eigener Schuld,
    nicht mehr klagen und beklagt werden.
    Und wieder seh ich
    den ersten Blick,
    der mich traf,
    durch den ich Dich erkannte
    und höre,
    wie Du  nach meinem Namen gefragt,
    ganz leise,
    hinter meinem Rücken.
    Und wieder erleb ich,
    wie wir uns an den Händen ergriffen
    und jeder führte
    und wurde geführt
    bis unsere Wege sich trennten.
    In was
    wird all das sich wandeln?

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Dieses Gedicht wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema „Kommen und Gehen“

  • Die innere Stimme
    ich kann sie nicht hören
    nicht so
    wie als Kind ich sie hörte

    Ist sie verstummt?
    oder ist mein Ohr
    das innere
    ertaubt?

    Sehen?
    Kann ich auch nicht
    im eigenen Innern
    zu dunkel
    ist es dort

    Doch ich spüre
    in mir
    ganz leicht
    die Gebärden

    Spricht mein Engel
    so zu mir?
    Dann kann ich es lernen
    wieder
    die innere Stimme
    zu verstehen

    5.02.2014

    Meine inneren Ohren
    sind verschlossen
    waren sie jemals geöffnet?
    Habe ich innere Ohren?

    So kann ich nicht hören
    die Lieder der Engel
    ihr Wort an mich

    So kann ich nicht sprechen
    mit ihnen
    und den anderen Wesen
    um sie herum
    um mich

    Verstummt
    verstummt nicht schweigend
    erfüllt mich Trauer
    um den Verlust dessen
    was ich nie besaß:
    das innere Gehör

    Im Dunkel der Nacht
    im Dunkel geschlossener Augen
    in der Stille
    der äußeren
    nun schlafenden Welt
    spüre ich
    einen Hauch

     

     

    Ich ahne:
    mein Engel hat sich bewegt
    hat gerade
    seine Flügel
    schützend um mich gelegt

    Ein stechender Schmerz
    irgendwo
    in mir. . .

    Ob sich mein inneres Ohr
    Nun öffnet?

    16.8.2011

     

    Es muss sich was ändern
    aber . . .
    Wann?
    Wie?
    Und vor allem:
    was?

    Das
    von dem ich meine
    es müsse sich ändern . . .
    vielleicht ist das
    die einzige Konstante
    im Plan meines Lebens?

    Doch es bleibt das Gefühl
    warnend
    beunruhigend
    nervend
    das Gefühl:
    es muss sich was
    ändern

    Sonst . . .
    bricht das Neue
    mit Gewalt über mich herein
    oder
    kraftlos
    rutsche
    rutsche nicht stürze
    nicht falle
    ich in den Abgrund . . .
    Man gab ihm den Namen
    Depression

    8.8.2011

     

    Traum umgibt uns, die wir Träumer sind.

    Grillparzer, Melusine/Calderon

    Traum umgibt uns
    die wir Träume sind
    so nah ich dir im Traum
    doch du erkennst mich nicht
    ich nah dir im Abenddämmern
    am alten Baum
    wo die Wege sich kreuzen
    und manchmal das Käuzchen ruft

    Zuweilen begleitet mich
    der schwarze Hund
    meiner Schwester
    du musst ihn nicht fürchten
    auch die Krähe nicht
    mit dem blauschwarz schimmernden Gefieder
    Diese Vögel singen nicht
    und der Hund ist stumm
    wie ich

    Doch hör:
    in dir
    sind alle meine Worte bewahrt
    und alle Melodien
    seit Urbeginn
    als das Wasser zu fließen begann
    und die Schönheit gebar
    und Sonne Mond und Sterne

    04.12.2010

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Die Gedichte wurden vorgetragen beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 zum Thema „Die innere Stimme“

     

  • Als meine Großmutter fragte – es war eigentlich nur der Form nach eine Frage – „na, du betest sicher nicht?“, spürte ich all die ablehnenden Gefühle in ihrer Stimme, die sie gegen meine Mutter hatte. Ich drückte mich ganz fest ins Bett und sagte mutig zu ihrem Gesicht, das über mir war, jeden Moment bereit, sich herab zu senken und mit den unvermeidlichen Gutenacht-Kuss zu geben: „natürlich bete ich“. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, sie war überrascht. Aber nun wollte sie mit mir beten und wollte wissen, welches denn mein Gebet sei.

    In meinem angstvollen Erschrecken kam mir aber eine Erinnerung zu Hilfe. Damals, vor Jahren, als ich noch klein gewesen war und mit anderen Kindern im Krankenhaus weit weg von zuhause gelegen hatte, hatten mich, das heißt uns, die beiden großen Mädchen nach unseren Gebeten gefragt. Sie hatten schon die Abende zuvor, wenn die Krankenschwester Gute Nacht gesagt, das Licht gelöscht und die Notrufklingel über das Bett der Großen aufgehängt hatte, den Tag beendet mit: „Jetzt beten wir“. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, was beten ist, aber ich hatte Bilder von schönen Frauen gesehen, die ihre Hände aneinanderlegten und ein Dach formten (wie bei dem hässlichen Fingerspiel „Petze, Petze ging in Laden. . . “), das tat ich dann auch und ließ die Bilder des Tages an mir vorbeiziehen. Aber dazu brauchte es diese Handhaltung nicht und ich wurde wieder wach. Beten musste noch etwas anderes sein. Die schönen Frauen lächelten, als ob sie jemandem zuhörten und schauten dabei auf ihre Hände. Ich verfolgte nun den Tagesablauf vom Ende her, im Rhythmus des sanften Schaukelns, und lauschte, ob der Engel neben meinem Bett mir etwas zuflüsterte. Das war so anstrengend, dass ich müde wurde, einschlief, bevor ich beim Morgen angelangt war. Reihum, in der Reihenfolge der Betten, sagten wir unsere Gebete auf. Die kleinste, noch im Gitterbettchen, die bald ein Engelchen sein würde, sagte ihres hastig, noch ganz in kindlicher Sprache:

    Ich bin klein, mein Herz ist rein,
    soll niemand drin wohnen
    als Mama und Papa allein.

    Das Gebet gefiel mir nicht, ich konnte mir nicht mein Herz als Puppenstube vorstellen und warum Mama und Papa allein, warum nicht die Großmütter und Großväter? Das Mädchen, das wohl so alt war wie ich, das rechts neben meinem Bett lag, sagte etwas von wachenden Engeln und zum Schluss sprach sie von ihrem Vater, der in der Fremde beschützt werden solle und dessen Heimkehr sie erwünschte.

    Dann war ich an der Reihe. Was sollte ich sagen? Ich wusste nicht, dass zum Beten nicht nur Bilder gehören, sondern auch Worte! Ich hatte an diesem Tag auf dem Spaziergang (ich durfte zum ersten Mal auch raus in den Wald und die Berge) Glockenblumen gesehen und sie hatten eine Flut von wunderbaren Gefühlen in mir ausgelöst. Sie sahen aus wie die betenden Frauen, ganz still lauschten sie auf ihren Glockenklang:

    Die Glockenblumen läuten

    und das Gebet beginnt.

    Die Mädchen fanden es wunderschön, aber wollten wissen, wie es weitergeht. Ich meinte, das wisse ich nicht, es sei doch immer anders, je nachdem wie der Tag gewesen sein. Was beteten die beiden Großen? Das gleiche Gebet:

    Breit aus die Flügel beide . . .

    Es gefiel mir und ich verstand, dass sie sich zuflüsterten, ihr Gebet sei das schönste.

    Das erlebte ich alles auf einen Blick, als das Gesicht meiner Großmutter wartend über mir schwebte. „Breit aus die Flügel beide“. Sie freute sich, aber wartete und sagte dann weiter, als ob sie mir vorsagte:“ und nimmt ein Küchlein ein. . . So ging es Zeile für Zeile. Ich hörte später, nachdem sie mich lieb geküsst hatte, wie sie meinte: „War das Kind aufgelegt, sie hatte vor Aufregung alles vergessen“.

    Ich schlief schlecht diese Nacht nach meinem neuen Gebet, denn ich versuchte, es nicht mehr zu vergessen, denn morgen könnte ich doch nicht schon wieder aufgeregt sein.

     

    Copyright Dr. Helga Thomas. Der Text wurde bei dem BDSÄ-Jahreskongress 2014 vorgetragen zum Thema „Gott und wir“.

    Aus: Helga Thomas, Geschichten (m)einer Kindheit, Sursee 2007, S.f

     

  • Endlich ist mir jemand begegnet, dem ich meine Schuldgefühle anvertrauen kann. Ich dachte, ich könne nie darüber sprechen, der Schmerz sei einfach zu stark. Doch der Schmerz darüber, dass die Welt weiterhin Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert, inzwischen sogar Jahrtausende lang meinem Geliebten Unrecht tut, ist noch größer, noch unerträglicher geworden. Ich weiß nicht, was mich trösten könnte. Vielleicht die Töne seiner Leier, die wie erfrischender Regen niedertropfen und manchmal aufsteigen wie Nebel in der Morgensonne. Aber er spielt nicht mehr. Zumindest nicht für mich. Zumindest hör ich es nicht. Bleibt nur das Geständnis meiner Schuld. Vielleicht tröstet es mich. Etwas. Der Versuch ist die Mühe Wert.

    Ich wurde gewaltsam geraubt, verschleppt ins Reich der Unterwelt. Weil ich keinen einzigen Granatapfelkern aß (schließlich kannte auch ich Persephones Geschichte) konnte ich weiterhin meiner Liebe treu bleiben, ich wurde kein Schatten unter den Schatten, der Herr der Unterwelt hatte nur bedingt Macht über mich. Aber in meine Welt zurückkehren konnte ich auch nicht.

    Orpheus’ Musik drang nicht zu mir in die Tiefe, so konnte ich sie nicht hören, aber ich hörte, wie man sich von seiner Musik erzählte. Seit er seine Trauer um mich durch die Musik ausdrückte, war sie wohl noch beeindruckender geworden. Felsen, Bäume und Tiere weinten mit ihm (oder statt seiner?), sie folgten ihm wie einer Trauerprozession. Und dann fand er den Eingang in dieses Reich, man wehrte ihm den Zugang nicht. Wahrscheinlich war man begierig darauf, seine Musik hier zu hören. Sie wandelte sich. Seine Musik – seine Trauermusik, seine Klagelieder – wandelte sich in fröhliche Musik, zu der man sich bewegen musste, sich drehen, wiegen, hüpfen, springen. Alle Schatten begannen zu tanzen. Licht entströmte den Tönen, den Saiten, seinen Fingern und floss ins Dunkel, wie ein gerade entsprungener Quell. Da wurde mir erlaubt, ihm zu folgen. Eine Bedingung gab es… ich hörte sie und hatte sie gleich wieder vergessen, vor Glück, ihm folgen zu dürfen. Ich meine, wir sollten nicht miteinander reden und auf unserem Weg nach oben nicht innehalten.

    Ich folgte ihm, was nicht leicht war, denn die Schatten legten sich wie Nebel zwischen uns auf den Weg, der ja keiner war, gerade entstanden unter Orpheus’ Tritten. Und im Dunkel schien er meinen Augen zu entschwinden. Ich eilte, denn ich wusste, wenn ich ihn nicht mehr sah, gab es für mich keinen Weg mehr, dann hätte der Gebieter der Unterwelt wieder Macht über mich. Vielleicht mehr als zuvor. Wieder und wieder entschwand Orpheus meinen Blicken, ganz klein war er schon durch die Entfernung geworden, Angst schnürte mir von neuem die Kehle zu, nahm mir die Luft zum Atmen, die ich gerade wieder zu spüren begann. Da rief ich seinen Namen: „Orpheuuus!“ und bittend fügte ich hinzu: „Warte auf mich“. Erschrocken blickte er sich um zu mir … im selben Moment waren wir unseren Blicken entschwunden, die Unterwelt hatte mich wieder.

    Seit dem habe ich ihn nie mehr gesehen, nie mehr seine Musik gehört. Hätte er sich nicht mach mir umdrehen sollen? Aber ich musste ihn rufen …

    Eurydikes Ruf, Eurydikes Klage… hören sie wir nicht manchmal ganz leise? In hellen Vollmondnächten? Im Dunkel des wolkenbedeckten Himmels? Im Schweifen der Nebel? In unserem eigenen Innern, wenn wir lieben und eine Ahnung vom ewigen Sein uns erfüllt?

    Eurydikes Klage… verstummt sie jetzt, wenn wir von ihrer Schuld wissen? Wer kann ihr verzeihen denn Orpheus kann es nicht mehr. Oder… muss sie ihn wieder rufen, denn sie weiß so wenig wie wir, wo er ist.

    Copyright Dr. Helga Thomas

    Dieser Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress zum Thema „Kommen und Gehen“ vorgetragen

  • Brustkrebs. Das Wort hängt schon monatelang wie eine giftgelbe Wolke im Haus und dringt in jeden Gedanken ein. Nach gelungener Operation und Chemotherapie war die Bedrohung zwar etwas verdrängt und hat einem leisen Wind der Hoffnung Platz gemacht. Aber die Angst durchfließt jetzt in der Kliniksprechstunde trotzdem wieder alle Poren von Judiths blassgelber Haut und ist wie dicke Luft im Raum zu spüren, während Judith und Arno auf den Befund der neuesten Untersuchung warten.

    Der Professor verdirbt die Stimmung von Judith und Arno mit wenigen Worten: „Leider haben wir mehrere Metastasen in der Leber gefunden. Das ist der Grund für Ihre Gelbsucht. Die Kernspinbilder zeigen, dass wir auch nicht mehr operieren können!“

    Tränen rinnen über Judiths Gesicht, Arno putzt sich verlegen die Nase, wischt wie zufällig über die Augen und streichelt unbeholfen die Schulter seiner Frau. Dann macht er rasch einen Vorschlag: „Da gibt es aber doch Lebertransplantationen. Damit ist meine Frau sicher zu retten! – Sie schaffen das, Herr Professor!“

    Der Professor wiegt langsam seinen Kopf: „Einige Metastasen haben sich auch in der Lunge angesiedelt. Das schließt eine Transplantation aus.“ Er macht eine kurze Pause und lässt den Satz wirken. Dann ergänzt er: „Ich schlage vor, Sie verdauen den Schreck erst einmal. Ich werde den Fall heute Nachmittag in unserer Tumorkonferenz vorstellen. Dann treffen wir uns übermorgen zu einem Gespräch über die Behandlung, die wir Ihnen empfehlen.“

    Die Verabschiedung ist kurz und wortkarg. Rasch verlassen sie den Raum wie auf einer Flucht. Auf dem Flur sinkt Judith in einen Stuhl. Arno setzt sich daneben. Schweigend verharren sie wie gefangen in einem tiefen Loch der Verzweiflung.

    Da sagt Judith fast tonlos: „Ich glaube, wir müssen uns aufs Schlimmste einstellen. Lass uns überlegen, was wir in der Zeit noch tun können, die mir verbleibt!“

    Arno braust auf und beherrscht seine Stimme nur mühsam: „Das kommt überhaupt nicht infrage! Du wirst wieder gesund! Ich weiß das! Ich will dein Gerede vom Sterben nicht mehr hören! Wir werden weiter kämpfen! Du hast doch gehört, dass der Professor dir übermorgen eine Therapie anbietet!“

    Judith schweigt bedrückt und sinkt weiter in sich zusammen. Sie spürt, dass sie Arno ihre Empfindungen und Bedürfnisse nicht vermitteln kann. Dabei braucht sie ihre Kraft, um mit sich und ihren Ängsten zurechtzukommen.

    Arno hat sich nach seinem Ausbruch rasch wieder im Griff und nimmt Judith liebevoll an der Hand: „Es tut mir leid, dass ich so heftig geworden bin. Komm, lass uns nach Hause gehen! Du musst daran glauben, dass du gesund wirst!“

    Judith spricht auf dem Nachhauseweg und beim Abendessen nur wenig. Beide sind in sich abgekapselt, und die unsichtbare Wand scheint zwischen ihnen gedankendicht zu sein. Nach dem Essen sitzen sie wortlos vor dem Fernseher vor einer Politdiskussion, aber beide können nicht zuhören. Nach einer Weile steht Judith auf: „Ich gehe ins Bett, ich bin müde!“

    „Gute Nacht, Judith, schlaf gut!“

    Arno gießt sich noch ein Bier ein.

    In den nächsten Tagen bleibt die Unterhaltung zwischen Judith und Arno oberflächlich, ja auffallend belanglos. Jeden Versuch, über die schlechten Aussichten oder über mögliche Verhaltensweisen, Therapieangebote oder andere Konsequenzen zu sprechen, biegt Arno glatt ab mit dem Versprechen: „Du wirst sehen: Alles wird gut! Dann können wir planen, was wir machen, wenn du gesund bist.“

    „Wenn du meinst!“, sagt Judith und dreht sich um, damit Arno nicht sieht, wie sie mit den Tränen kämpft. Auch die Chemotherapie, die der Professor „als Therapieversuch“ vorschlägt, begrüßt Arno mit Begeisterung und demonstrativer Hoffnung, während Judith zögert mit ihrer Antwort. Arno entscheidet für sie: „Ja, natürlich will meine Frau die Chemotherapie!“

    Judith gibt sich geschlagen, sie ist still und nickt nur. Sie schaut den Professor an. Er versteht sie wortlos und nickt ebenfalls.

    In den nächsten Tagen kommentiert Arno jede einzelne Nebenwirkung der Therapie: „Du siehst, es wirkt! Du wirst gesund! Es wird dir besser gehen nach der Therapie!“

    Arno spielt Tennis mit seinem Freund und freut sich über die Ablenkung. Judith verbringt die Stunden überwiegend zuhause im Bett oder auf dem Sofa. Sie nimmt weiter ab, ist zum Umfallen schwach und völlig appetitlos. Sie versucht, den Haushalt so weit wie irgend möglich aufrecht zu erhalten und macht häufige und immer längere Pausen.

    Arno bleibt trotzdem bei seinem Optimismus und wiederholt bei jeder Gelegenheit: „Du wirst gesund! Ich verspreche es dir! – Lass uns über den Urlaub reden, den wir bald machen! Da kannst du dich von der Therapie erholen. Schau hier, ich habe neue Prospekte mitgebracht!“

    Lustlos blättert Judith in den Heften, legt sie weg, schließt erschöpft die Augen und nickt ein. Arno geht in die Küche und räumt das Geschirr in die Spülmaschine.

    Am Abend nimmt Judith im Bett noch einmal ihren ganzen Mut und alle Kraft zusammen. Sie greift liebevoll nach Arnos Hand: „Arno, wir müssen miteinander reden! Bitte hör mir zu! Ich kann nicht mehr! Ich werde nicht mehr gesund. Ich weiß es! Wir dürfen nicht länger den Kopf in den Sand stecken!“

    Arno wird sofort wütend: „Ich will das nicht mehr hören! Ich brauche dich! Ich liebe dich! Du musst gesund werden! Und jetzt hör auf mit deiner Schwarzseherei! Schlaf gut!“

    Er dreht Judith den Rücken zu und zieht sich die Decke über den Kopf. Judith hört an seinem Atem, dass er ihr vorspielt zu schlafen. Sie liegen lange wach, und das Schweigen baut eine undurchdringliche Mauer ins Bett zwischen sie.

    In den Tagen danach beobachtet Arno mit Sorge, wie Judith immer langsamer wird und nur noch mit seiner Hilfe stehen und wenige Schritte gehen kann. Jedes Wort macht ihr Mühe, und der Juckreiz quält sie sehr.

    Eines Nachmittags liegt Judith auf dem Sofa im Wohnzimmer und schläft. Arno sitzt daneben und schaut ein Tennisturnier im Fernsehen an. Da bemerkt er plötzlich, dass Judiths Atem aufgehört hat. Er schüttelt sie am Arm. Keine Reaktion. Judiths Arm fällt leblos neben ihren Körper. Da springt Arno auf und schreit: „Das kannst du mir nicht antun! Judith, komm zurück!“

    Seine ganze Panik bricht aus ihm heraus, er weint, schluchzt, versucht, Judith wachzurütteln, er wählt 112, brüllt ins Telefon: „Schnell, meine Frau atmet nicht mehr!“

    Aber der Notarzt kann nur bestätigen, was Arno längst weiß und nicht wahrhaben will.

    Als Arno in den Tagen nach der Beerdigung das Schlafzimmer aufräumt, findet er in Judiths Nachttischschublade obenauf einen Brief Für meinen geliebten Arno. Er setzt sich in den Sessel vor Judiths Bett und liest:

     

    Mein Liebster,

    ich kann Deinen Wunsch nicht erfüllen, wieder gesund zu werden, so sehr ich mich danach gesehnt habe. Seit der Diagnose mit den Metastasen in Leber und Lunge weiß ich, dass ich sterben werde. Es tut mir bitter weh, Dich verlassen zu müssen. Ich weiß, Du hast Dir und mir meine Heilung einzureden versucht, um mich zu schonen.

    Aber, Du geliebter Mann, wir sind beide schlechte Schauspieler. Du hast Dir so viel Mühe gegeben, mich aufzumuntern. Und ich wollte heiter und gelassen sein. Stattdessen habe ich resigniert und dadurch mein Schicksal immer mehr angenommen und mich zurückgezogen.

    Ich sehe und spüre Dein Leiden und Deine Verzweiflung, ja, auch Deine Hilflosigkeit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, und ich hatte keine Kraft mehr, Dich aus Deinem Traum von meiner Genesung zu reißen und Dich mit den Fakten und Konsequenzen zu konfrontieren. Du willst Dich nicht mit meinem Sterben, unserer Trennung und Deiner drohenden Einsamkeit im Gespräch auseinander setzen.

    Nach so vielen herrlichen Jahren mit Dir voll Liebe, Ehrlichkeit und Vertrauen hätte ich unsere Ehe gern gekrönt mit gemeinsamer Arbeit an unserer Angst und Trauer in dieser schwersten Krankheitsphase. Ich habe gehofft, mit Offenheit und Annahme unseres Schicksals meine letzten Lebenswochen -die letzten Wochen unserer Liebe!- zu durchleben. Aber das war uns nicht vergönnt. Wir haben es beide nicht geschafft.

    Hoffentlich kommst Du über meinen Tod hinweg und kannst mit unserer Lebenslüge weiterleben. Bitte nimm professionelle Hilfe an, damit Du die Trauerarbeit gut bewältigen kannst. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen ein glückliches und erfülltes Leben.

    Ich habe keine Kraft mehr und sehne mich jetzt danach, endlich und ewig auszuruhen.

    Ich bin voll Dankbarkeit für Deine Liebe und mein Leben mit Dir.

    Ich werde sterben und immer bei Dir bleiben.

     

    In Liebe,

    Deine Judith.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

     

  • Am Abend in der Notfallpraxis.

    „Können Sie noch eine Patientin anschauen, die der Chirurg nebenan schon gesehen hat? Er bittet Sie darum.“

    Die Arzthelferin schiebt eine ältere Dame herein, die gepflegt gekleidet und mit nacktem linkem Fuß im Rollstuhl sitzt. Sie lächelt mich zur Begrüßung freundlich an und beginnt nach der Begrüßung, ohne Aufforderung zu erzählen. Ich höre den italienischen Akzent und sehe die lebhafte Mimik und die leuchtenden Augen.

    „Wissen Sie, ich war noch vor ein paar Tagen in Venezia, da war herrliches Wetter, und die Pasta hat so delikat geschmeckt auf der Piazza San Marco! Und dann habe ich eine Freundin besucht in Mazedonia. Die ganze lange Strecke bin ich gefahren, obwohl ich habe diesen Bauchspeicheldrüsenkrebs und eine große Operation hinter mir. Jetzt sind trotzdem in der Leber Metastasen. Ich weiß, dass ich nicht mehr so lange lebe, aber ich freue mich über jeden Tag! Es ist wunderbar, so viele Freunde zu haben. Ich bin so dankbar!“

    „Und warum sind Sie jetzt hier? Ich sehe, dass Ihre Zehe entzündet ist, aber das hat der Chirurg schon gesehen.“

    Ja“, sagt sie, „aber manchmal bekomme ich so schlecht Luft. Deshalb möchte er, dass Sie mich untersuchen! Im Moment kann ich gut atmen.“

    Neben meinem Schreibtisch sitzt die Begleitperson der Dame, eine schlanke junge Frau mit kurz geschnittenen dunklen Haaren und hellwachen Augen. Mir fällt ihre altrosa Kostümjacke auf.

    Ich frage: „Und wer sind Sie? Die Tochter?“

    „Nein, ich bin die Arzthelferin des Hausarztes von Frau Sorriso. Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und wohnen nahe beieinander. Deshalb habe ich sie begleitet.“

    Ungewöhnlich, denke ich, aber das ist ein sehr freundlicher Hilfsdienst.

    Ich untersuche den Fuß, sehe die Entzündung eines Hühnerauges und bitte die Arzthelferin,  einen Salbenverband anzulegen. Dann höre ich die Lunge von Frau Sorriso ab, stelle einen normalen Befund fest und bitte die Arzthelferin, eine Blutuntersuchung zu machen. Ich will wissen, ob ich ein Antibiotikum verordnen soll.

    Ich möchte die Unterredung trotz der draußen wartenden Patienten weiterführen. Das ist ein ungewöhnlicher Moment mit einer besonderen Patientin.

    „Es beeindruckt mich sehr, dass Sie so gut gestimmt sind und angesichts der schwerwiegenden Diagnose eine so lebensbejahende Ausstrahlung haben. Was hilft Ihnen dazu?“

    Sie lächelt mich an: „Wissen Sie, ich genieße mein Leben, weil ich geliebt werde und viele Menschen mir helfen. Ich lebe allein, aber ich bin nicht einsam. Meine Krankheit kann ich so gut tragen. Und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe. Ich bin dankbar für jede Stunde und jede gute Begegnung. Ich weiß, dass ich allein mir gute oder schlechte Stimmung machen kann. Und da ist es besser, mit Freude zu leben.“

    Sie macht eine kurze Pause, dann fragt sie: „Haben Sie einen Vorschlag, was ich noch tun kann?“

    Ich überlege: „Möchten Sie ein Buch über den guten Umgang mit schweren Krankheiten lesen oder ist das eher nicht so gut für Sie?“

    „Oh, wenn Sie eines empfehlen, lese ich es gern!“

    Ich gebe ihr meine Visitenkarte mit der Adresse meiner Homepage, wo meine Bücher verzeichnet sind und schlage eines meiner Bücher vor, das ich vor einigen Jahren speziell für Patienten wie Frau Sorriso geschrieben habe. Dann nimmt die Arzthelferin Blut ab, und ich bitte die beiden Damen, im Wartebereich auf das Ergebnis zu warten.

    Während ich die nächsten Patienten behandele, kommt mir nach ein paar Minuten auf dem Flur die Begleiterin entgegen und streckt mir einen Becher mit Cappuccino entgegen: „Das ist für Sie ein freundlicher Gruß von Frau Sorriso! Wir freuen uns, dass wir Ihnen begegnet sind!“

    Ich bedanke mich überrascht, gehe in mein Sprechzimmer zurück und schließe für einen Moment die Tür. Auf dem Stuhl trinke langsam den Becher leer und mache mir bewusst, dass ich noch nie von einem Patienten in der Praxis oder in der Klinik einen Kaffee bekommen habe. Und diese Frau dort draußen mit ihrem unheilbaren Krebs, die mich überhaupt nicht kennt, denkt an mich und lässt einen Kaffee für mich bringen! Welch eine ungewöhnliche Situation. Ich bin sehr dankbar.

    Nachdem das Blutbild fertig ist, hole ich die Patientin und ihre Begleiterin wieder herein: „Das Blutbild zeigt jetzt keine Entzündungszeichen. Wie waren die letzten Blutwerte?“, frage ich die Begleiterin. Sie ist genau informiert. Ich verschreibe kein Antibiotikum.

    Für Frau Sorriso ist aber etwas ganz anderes wichtig. Sie sagt feierlich und mit einem strahlenden Gesicht: „Wir haben draußen überlegt, dass ich Sie zu meiner Trauerfeier einlade! Ich weiß schon genau, wo sie stattfindet – bei einem sehr guten Italiener in der Innenstadt. Das wird ein großes Fest! Die Liste der Gäste ist schon fertig! Alle meine Kollegen werden eingeladen! Herr Doktor, Sie werden auch eine schriftliche Einladung erhalten, wenn es soweit ist! Es dauert nicht mehr lang! Und Sie müssen mit Ihrer Frau kommen, das müssen Sie versprechen! Ich werde von oben zuschauen und auf Sie warten! – Danke, dass Sie mich hier versorgt haben. Das war eine gute Begegnung für mich!“

    „Ja, für mich auch! Geht es Ihnen auch so wie mir? Ich treffe immer die richtigen Menschen, die richtigen Bücher und die richtige Musik im richtigen Moment.“

    Sie lacht: „Das stimmt genau. Vielleicht sind wir uns deshalb jetzt begegnet! Alles Gute für Sie! Bis bald!“

    Sie drückt meine Hand fest mit ihren beiden Händen, schaut mich lächelnd an und lässt sich winkend hinaus schieben.

    Ich bleibe sehr nachdenklich zurück.

     

    PS:

    Der Name Sorriso ist natürlich nicht der wirkliche Name der Patientin. Ich habe ihn gewählt, weil er im Italienischen Das Lächeln bedeutet.

    Copyright Dr. Dietrich Weller

    Der Text wurde beim BDSÄ-Jahreskongress 2014 zum Thema „Zauberei und Realität“ vorgetragen.

     

  • Thomas Bernau betrachtet den vorweihnachtlichen Spätnachmittagstrubel. Viele Menschen hetzen von Geschäft zu Geschäft. Noch an diesem letzten Tag vor Heiligabend müssen die Geschenke gekauft werden. Weihnachten kommt ja immer so plötzlich! Die bunten Lichter in Kerzen- und Sternform erleuchten die Frankfurter Innenstadt, an den Buden stehen vermummte Leute, die sich in der Kälte an einem Punsch oder Grog wärmen und weiße Atemschleier in den Zuckerwatte-, Lebkuchen- und Alkoholduft mischen.

    Bernau steht jetzt vor dem mit elektrischen Kerzen beleuchteten Bau am Mainufer, in dem er bald Executive Creative Director sein wird. Bosse und Hack steht in großen Buchstaben über dem Eingang. Ein führendes Werbeunternehmen. Stefan Bosse, der Inhaber, hatte mit Bernau neulich bei dem Kongress in Stuttgart das entscheidende Vorstellungsgespräch geführt, und für heute 17 Uhr ist die Vertragsunterzeichnung vereinbart.

    „Ich wünsche mir, dass wir den Vertrag noch vor Weihnachten unterschreiben“, hatte er gesagt und Bernau nach Frankfurt eingeladen.

    Ab April wird das gute Leben auch für mich wieder beginnen, hofft Bernau, und ich werde von Stuttgart nach Frankfurt ziehen und mich beruflich und privat neu orientieren. Er spürt die Freude auf seine kommenden Erfolge, rückt die Krawatte unter dem Schal zurecht und mustert sich in der Scheibe der Eingangstür. Dann betritt er selbstsicher seine zukünftige Arbeitsstätte.

    An der Rezeption wird er freundlich begrüßt: Ja, man habe schon auf ihn gewartet, meint die Dame lächelnd und telefoniert kurz. Zwei Minuten später bringt Marga Distler Bernau in die oberste Etage.

    Im Aufzug sagt sie: „Herr Bosse hat gerade aus dem Auto angerufen, er verspätet sich etwas. Sie wissen ja, der Stau im Feierabendverkehr und dann noch vor Weihnachten! Wir gehen jetzt zuerst in das Büro Ihrer zukünftigen Assistentin. Ich vertrete sie zurzeit, sie kommt morgen aus einem Kurzurlaub zurück!“

    Frau Distler öffnet die Tür, und Bernau sieht im Vorbeigehen das Namensschild „Franca Sturm, Assistentin der Geschäftsführung“.

    „Möchten Sie gern einen Kaffee oder Tee, Herr Bernau, oder … Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja plötzlich ganz blass aus! Geben Sie mir rasch Ihren Mantel und Schal, und setzen Sie sich hier an den Besprechungstisch. Soll ich einen Arzt rufen?“

    Bernau schüttelt den Kopf und hält sich an einem Stuhl fest, dann lässt er sich langsam auf die Sitzfläche sinken. Er spürt den Schweißausbruch, der in kürzester Zeit sein Hemd angefeuchtet hat.

    „Ich werde sofort aus dem Erste-Hilfe-Schrank ein paar Kreislauftropfen holen, die werden Ihnen helfen. Bitte stehen Sie nicht auf! Ich bin gleich wieder da!“

    Frau Distler öffnet die Fenster und eilt hinaus.

    Bernau schließt einen Moment die Augen. Ein kalter Windstoß trifft ihn erfrischend ins Gesicht.

    Nein, nicht wieder Franca!, fleht er im Stillen. Ich ertrage sie nicht mehr.

    Er sieht seine Ex-Frau vor seinem inneren Auge leibhaftig am Schreibtisch sitzen. Ihre pechschwarzen Haare schaukeln um den Hals und bilden einen starken Kontrast zu dem leuchtend roten Lippenstiftmund.

    Sie grinst hämisch, aus ihren Augen lodert Kampfeslust: Tja, mein Lieber, du entkommst mir nicht! Jetzt wirst du hübsch den Vertrag unterschreiben, und dann werden wir hier wunderbare Zeiten miteinander haben. Ich werde deinen Terminkalender führen und dir eine sehr aufmerksame Assistentin sein, nicht wahr, Liebling!

    Bernau bäumt sich innerlich auf, lässt sich aber auf den Dialog ein: Ja, ich will diesen Vertrag haben! Aber ohne dich, Franca! Endlich habe ich mich von dir in Stuttgart gelöst und von deiner Sucht, dich über alles und jedes zu ereifern. Jetzt bin ich nicht mehr bereit, mich wieder in deine Fänge zu begeben. Du hast mich vom siebten Himmel der Leidenschaft und Liebe direkt in die Hölle deiner triebhaften Eifersucht und in einen erbarmungslosen Scheidungskrieg gestürzt. Immer diese sinnlosen Kämpfe um Kleinigkeiten! Ganze Nächte haben wir sinnlos durchdiskutiert und gestritten!

    Franca ergänzt in seiner Fantasie: Ja, ich weiß, aber denk mal an die leidenschaftlichen Versöhnungen hinterher! Ach Liebling, das war doch nur mein Temperament!

    Bernau wehrt ab: Nein, das war nicht nur dein berstendes Temperament, das war deine Bosheit, die aus jeder noch so banalen Gelegenheit einen neuen Eifersuchtsausbruch provoziert. Wie ein Vulkan bist du jedes Mal explodiert und hast mich unter einer Lava von Verdächtigungen, Beschuldigungen und Hass begraben. Das werde ich nicht mehr dulden. Ich werde diesen Vertrag unterschreiben und dich bei der nächstbesten Gelegenheit kündigen!

    Plötzlich schöpft Bernau Hoffnung: Ja, das ist die Lösung! Er strafft sich, wischt den kalten Schweiß von seiner Stirn und will aufstehen.

    Da hört er wieder Francas höhnische Stimme: Glaub ja nicht, dass du mich loskriegst!

    Bernau überlegt sofort: Sie hat womöglich einen unbefristeten Vertrag und eine sehr gute Beziehung zu Bosse! Und die letzten beiden Jahre hat sie genutzt, um sich hier eine kleine Festung zu bauen! Nachdem sie alle Bewerbungen gelesen hat, war es ihr sicher ein hinterhältiges Vergnügen, dafür zu sorgen, dass ich hier Chef werde. Bosse weiß bestimmt nicht, dass wir verheiratet waren. Sie hat ja ihren Namen behalten!

    Bernau sinkt in den Stuhl und überlegt: Soll ich den Vertrag trotzdem unterschreiben? Soll ich mir noch einmal die Strapazen mit den ständigen Kämpfen aufladen? Schaffe ich es, Franca in ihre Schranken zu weisen? Als ECD müsste mir das doch gelingen! Ich könnte ihr Anweisungen geben, die sie befolgen muss. Wenn sie sich querstellt, kann ich sie deshalb entlassen.

    Er fasst wieder Mut und richtet sich auf. Aber Franca legt sofort in seinem Kopf nach: Du kennst mich ja, Liebling! Ich weiß, was ich will, und ich weiß, wo ich dich packen kann! Glaub ja nicht, dass du mich unterkriegst!

    Das ist zu viel für Bernau. Es ist ihm klar, dass er ihr nicht gewachsen ist. Er zuckt zusammen, als Frau Distler herein kommt:

    „Hier sind die Tropfen. Da wird es Ihnen gleich wieder besser gehen!“

    Sie zählt die Tropfen in ein halb volles Wasserglas, Bernau trinkt in kleinen Schlucken, holt tief Luft und sagt:

    „Frau Distler, es ist mir außerordentlich peinlich, aber ich bitte Sie, Herrn Bosse auszurichten, dass ich den Vertrag nicht unterschreiben kann. Ich ziehe meine Bewerbung zurück. Es gibt einen sehr persönlichen Grund, der mir erst gerade erschreckend deutlich geworden ist und über den ich nicht sprechen möchte.“

    Bernau wirft den Mantel über den Arm, nimmt seinen Aktenkoffer, wendet sich zur Tür – „Ich finde allein hinaus, vielen Dank!” – und verlässt den Raum mit mühsam gebremstem Schritt. Am liebsten würde er rennen.

    Die nächsten beiden Stunden schlendert er ziellos in den nasskalten Straßen umher, lässt sich in der Menge von einer Bude zur anderen durch das Vorweihnachtstreiben schieben, bis er an einem Stand einen Glühwein trinkt.

    Dabei ist er abgelenkt von seinen Gedanken, hadert mit dem Schicksal und fragt sich, warum er von Franca nicht loskommt. Andererseits ist er heilfroh, Franca gerade noch entronnen zu sein. Gleichzeitig ist er erschüttert und deprimiert, dass er sich erneut von ihr hat in die Flucht schlagen lassen.

    Plötzlich fällt ihm ein, dass er noch eine Verabredung hat. Er eilt zum Auto zurück und fährt zu seinem Schulfreund Karsten. Bernau hat ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen, weil Karsten inzwischen mit seiner Familie in Frankfurt lebt. Er hat Bernau eingeladen, nach der Vertragsunterzeichnung zum Abendessen zu kommen, und Bernau wird von Karsten und seiner Frau Anja herzlich begrüßt:

    „Es ist prima, dass du kommst und über Nacht bleibst! Jetzt machen wir uns einen gemütlichen Abend. Wir haben extra für dich eine Freundin aus der Nachbarschaft eingeladen.“

    Thomas Bernau sieht zuerst wadenlange beige Stiefel, dann eine schlanke Taille in einer champagnerfarbenen Hose und einen dunkelbraunen Kaschmir-Rollkragenpulli. Das Gesicht der Frau mit winzigen Sommersprossen lacht ihn an und lädt ihn zum Schmunzeln ein. Er fühlt die Wärme ihrer braunen Augen. Ihr blonder Pferdeschwanz wippt, als sie beschwingt auf ihn zugeht – selbstsicher und doch mit gebührender Distanz.

    „Schön, Sie kennen zu lernen, Herr Bernau! Ich gratuliere Ihnen!“

    Bernau ist verwundert: „Wozu?“

    „Zum Vertragsabschluss. Leider konnte ich an der Unterzeichnung nicht teilnehmen, weil ich heute erst heute Nachmittag vom Urlaub zurückkam. Ich bin Ihre neue Assistentin Franca Sturm!“

  • Spät abends kam eine Patientin in die Notfallpraxis, begleitet von ihrer Tochter. Es fiel mir auf, wie gebeugt die Patientin beim Betreten des Sprechzimmers ging und wie sie mich mit tief traurigen Augen anschaute. Ich erwartete, dass sie gleich anfangen würde zu weinen. Sie klagte mit gedämpfter Stimme über starke Nacken- und Kopfschmerzen. Ich stellte einige Fragen, untersuchte sie und fand dabei “nur” eine erheblich verspannte Schulter- und Halsmuskulatur. Alle Zeichen und die Vorgeschichte sprachen für die Diagnose Spannungskopfschmerzen.

    „Können Sie meine Mutter ein paar Tage krankschreiben?“, fragte die Tochter.

    „Ja, das kann ich, aber das löst die Probleme nicht. Es lindert vielleicht ein paar Tage den Druck, unter dem Ihre Mutter leidet.“

    Dabei legte ich meine Hände auf die Nackenmuskulatur und sagte: „Der Rucksack, den man Ihnen aufgeladen hat und den Sie sich haben aufladen lassen, ist zu schwer! Dadurch wird der Nacken ganz hart. Und dann kommen noch die Nackenschläge dazu, die sie im Alltag einstecken müssen!“

    Ich symbolisierte mit dem erhobenen Arm einen Handkantenschlag ins Genick.

    „Und das halten sie im Kopf nicht aus. Sie haben das Gefühl, der platzt bald.“

    Die Patientin erschrak: „Ja, genau so ist es!“

    „Sie können Krankengymnastik machen, den Nacken einreiben, Schmerzmittel nehmen, sich von mir in die verspannte Muskulatur spritzen lassen, in Urlaub gehen – alles in Ordnung – für eine Weile, aber die Probleme sind dadurch nicht gelöst. Die Beschwerden kommen wieder! – Ich bin überzeugt, Sie wissen genau, woher die Anspannungen kommen und was Sie tun müssen, um eine dauerhafte Lösung zu bekommen!“

    Die Patientin sagte spontan und mit fester Stimme: „Ja, Schluss damit!“

    „Sehen Sie, das ist die Lösung, auf die Sie selbst gekommen sind. Ich glaube, Sie sind nur hier, um dafür eine Bestätigung zu erhalten. Sie brauchen einen kleinen Schubs, um das zu tun, was Sie längst als richtig erkannt haben, stimmt´s?“

    Die Augen der Frau fingen an zu leuchten: „Woher wissen Sie das? So hat mir noch niemand gesprochen!“

    Wir ändern erst etwas in unserem Leben, wenn der Leidensdruck größer ist als die Angst vor der Veränderung! Sind Sie so weit?“

    Die Patientin saß jetzt aufrecht auf der Liege und schaute mir entschlossen in die Augen. Sie hatte eine klare und feste Stimme: „Ja, es reicht! Das mache ich jetzt, Schluss mit dem Druck, dann geht´s mir wieder besser! Danke!“

    Ich sehe immer noch, wie die Augen der Frau strahlten und wie straff und entschlossen ihr Gang und ihre Körperhaltung waren, als sie die Praxis verließ, aufgerichtet im wörtlichsten Sinn.

    Copyright Dr. Dietrich Weller