Monat: Mai 2016

  • Langer Weg

    Ich bin vor die Haustür getreten, habe sie sorgsam zugezogen und, nur um ganz sicher zu sein, mehrfach am Knauf gerüttelt. Habe den Schlüsselbund tief in die Hosentasche geschoben und mit der flachen Hand nochmal und nochmal nach ihm getastet. Im Losgehen dann wie jedes Mal zum Küchenfenster hinauf gesehen, obwohl doch dort niemand mehr stehen kann. Als ich über meinen Rollator gebeugt um die Hausecke biege, springt der Aprilwind mich an. Gerade, dass ich meinen Hut noch halten kann.

    An der kleinen Busstation weiche ich den hingestreckten Beinen eines jungen Mannes aus, der nur Augen für eine kleine Kiste hat, auf der er herumdrückt, in jedem Ohr einen Knopf mit Kabel dran. Für ihn scheine ich gar nicht zu existieren. Wie aus dem Nichts jagt von hinten ein Radfahrer an mir vorbei, streift mich am Ärmel. Ich erstarre vor Schreck. Mein Herz rast, mich schwindelt. Auf meinen Rollator gestützt bleibe ich stehen, bis es wieder geht nach einer ganzen Weile. Ich atme auf, ohne erleichtert zu sein. Im Rinnstein neben mir rupfen zwei Raben an einem dreckigen Brotrest. Weiter jetzt. Nur noch an der ehemaligen Kaserne vorbei, die Apotheke und den Bestatter mit seiner farbenfrohen Urnen-Sammlung in der Auslage hinter mir lassen. Und schon bin ich fast da. Habe den Supermarkt mit den großen blau-gelben Leuchtbuchstaben vor mir. Fast werden die alten Füße mir so leicht, dass ich das letzte Stück laufen möchte. Doch selbst wenn das noch ginge, wie wäre ich dann außer Atem, wenn ich mich in die Reihe der Wartenden stelle und nicht aufhören kann, meinen Wunsch an die Bäckereiverkäuferin wieder und wieder vor mich hin zu flüstern.

    Wenn die Reihe schließlich an mir ist, möchte ich ihr gerne sagen können, dass ich von weit herkomme, eine elendig lange Reise durch viele Jahrzehnte hinter mir habe, nur um in diese Bäckerei zu gelangen. Dass meine Mutter mich dazu vor mehr als achtzig Jahren in einer Arbeitspause bei der Kartoffelernte zur Welt gebracht hat. Dass ich dafür diesen großen Krieg überlebt habe, den Hunger und die Ruhr, die Tieffliegerangriffe und das Strafexerzieren im belgischen Novemberregen. Den Granatsplitterhagel, der mir mein linkes Ohr abriss, habe ich genauso wie die abgefrorenen Zehen über mich ergehen lassen. Mehr als einmal hatten sie mich bereits aufgegeben. Vom Sudetenland wurde ich später dann hierher, in den Westen verschlagen. Habe geholfen, eure von unseren Befreiern zerstörte Heimat wieder aufzubauen und als ein Vertriebener, der ich war, noch einmal ganz von vorn angefangen. Ich will nicht unbescheiden sein, aber in diesem Bäckerladen ankommen zu dürfen, habe ich mir mehr als verdient. Und jetzt stehe ich hier, über meinen Rollator gebeugt und erbitte nichts mehr als ein Stück frischen Mohnkuchens. So etwa möchte ich zu ihr sprechen.

    Dann ist es soweit. Ihr gebräuntes Jugendgesicht streckt mir ein routiniertes Jabitte entgegen.

    „Ein Stückchen von dem Mohnkuchen“, bringe ich hervor und sehe wie sich unter ihren flinken Bewegungen schon alles zum Besten wenden will, als sie plötzlich innehält und mich prüfend anschaut. „Hier essen?“ – Ich nicke.

    Copyright Franz Jostberg

  • Das Meer hat keine Ufer

    Ich saß schon eine ganze Weile auf einer der Bänke am Ufer des Flusses. Je länger ich der gleichförmigen Strömung zusah, umso müder wurde ich. Und obwohl die Holzbank nicht sonderlich bequem war, fielen mir schließlich die Augen zu und ich schlief ein.

    Es war schon dunkel, als ich wieder aufsah. Der Fluss führte Hochwasser inzwischen. Merkwürdigerweise überraschte mich das kaum. Die Uferwiese hatte der Fluss sich schon einverleibt, den schmalen Radweg bereits überschritten, nur wenig später bedeckte das Wasser meine Knöchel, kroch an meinen Beinen hoch. Ich ließ den Fluss gewähren, rührte mich nicht. Ergab mich ihm wie einer Riesenschlange, deren Umarmung unausweichlich war. Schließlich nahm er mich mit. Die Strömung war stark und trug mich rasch davon. Wie leicht ich mich fühlte, neugierig drehte ich mich in alle Richtungen. Gerade trieb ich an der klotzigen Fassade des neuen Krankenhauses vorüber, als ich im fahlen Licht der Uferlaternen etwas gewahr wurde, das auf mich zutrieb. Fast konnte ich schon den Arm danach ausstrecken, da erkannte ich einen kleinen blanken Kopf, durchscheinend wie ein Lampion. Zwei dunkle Knopfaugen unter einem großen Stirnwulst musterten mich.

    „Guten Abend, was machst du denn hier?“, fragte das Köpfchen.

    „Ich schwimme hier im Fluss“, gab ich zur Antwort.

    „Wie gut, dass du da bist. Denn ich brauche deine Hilfe. Ich bin zu müde, um selber weiter zu schwimmen. Könntest du mich ein Stück mitnehmen?“

    Auch wenn die Bitte mich etwas erstaunte, wie hätte ich neinsagen können. „Ja, aber wo willst du denn hin?“

    „Eigentlich nur ans andere Ufer, aber auch das schaffe ich nicht alleine.“ Das Stimmchen klang erbärmlich matt und trostlos. „Denn gegen die Strömung hier komme ich einfach nicht an.“

    Ich drehte meinen Rücken schon einladend entgegen.

    „Weißt du, dieser Fluss hier ist nicht wie andere Flüsse“, die zarte Stimme war nah an meinem Ohr. Etwas Weiches berührte mich am Nacken.

    „Bist du schon lange unterwegs?“ erkundigte ich mich.

    „Sehr sehr lange schon“, seufzte es.

    „Entschuldige bitte, aber du bist ziemlich merkwürdig, so jemand wie du ist mir noch nie begegnet.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, schämte ich mich schon über meine taktlose Bemerkung.

    „Du bist nicht oft nachts hier am Fluss, nicht wahr? Sonst wärst du uns schon begegnet. Es gibt nämlich viele von uns. Wir sind die Mizu-Ko, die Wasserkinder.“

    Mizu-Ko? Tut mir leid, aber ich habe noch nie von euch gehört.“

    Das Köpfchen des kleinen Wesens berührte meine Schulter. Schwebeleicht wie eine Luftblase.

    „Wir sind die Zurückgeschickten. Die von den Empfängern nicht Gewollten. Sendungen, bei denen die Abnahme verweigert wird, weil es den Adressaten gerade nicht passt.“

    „Entschuldige, aber ich verstehe nicht ganz …“

    „Ich weiß. Das geht vielen so. Die meisten wollen auch gar nicht.“

    „Und was macht ihr dann hier am Fluss?“

    „Wie ich schon sagte, Nacht für Nacht versuchen wir ans andere Ufer zu gelangen. Nur wenige schaffen es aus eigener Kraft. Deshalb müssen wir warten, bis uns jemand hilft, so wie du jetzt. Andernfalls sind wir verloren. Für immer.“

    Eine ganze Weile trieben wir wortlos weiter. Ich glaubte schon fast das erste Aufhellen am Nachthimmel zu erkennen, da meldete sich das kleine Wesen auf meinem Rücken wieder.

    „Hast du die vielen Steintürmchen überall am rechten Ufer gesehen? Die stammen von den Wasserkindern. Während wir auf unsere Helfer warten, stapeln wir sie. Bei Tage siehst du das alles natürlich nicht. Wir und unsere Türmchen dürfen in der Welt des Lichtes nicht vorkommen.“

    Hauchzarten Händchen berührten meine Wangen und ich hoffte, meine Tränen darauf könnten weiter unbemerkt bleiben. Als wenn das möglich wäre, hier, mitten im Fluss, einzelne Tränen zu erspüren.

    „Weißt du, warum Eisbärinnen in Gefangenschaft ihren Nachwuchs töten?“

    „Wie kommst du denn jetzt darauf?“

    „Weil die Gefangenschaft sie krank macht. Sie sehen keine Chance für ihre Jungen und töten sie lieber als ihr Leiden mit ansehen zu müssen.“

    Wieder schwiegen wir und ich stellte mir eine Eisbärenmutter vor, die mit ihrem Nachwuchs am Ufer des Polarmeers herumtollte.

    „Aber egal. Zum Glück bist du ja hergekommen und hast mich mitgenommen. Mit deiner Hilfe komme ich überall hin. Selbst bis ans Meer. Dort gibt es keine Grenzflüsse und auch keine Ufer. Das Meer ist bestimmt wunderbar.“

    Ich konnte nicht aufhören, an Eisbärenmütter zu denken. Das kleine Wesen hatte sein Köpfchen wieder auf meine Schulter gelegt und schien eingeschlafen. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zu sagen, das dies nur ein kleiner Fluss war, der in einen nächsten und der in einen weiteren Nebenfluss mündete. Bis zum Meer würden wir noch eine halbe Ewigkeit brauchen. Dennoch erfüllte mich eine Art Heiterkeit.

    Copyright Franz Jostberg

  • Am Zug

    Gespenstisch leise glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug hinterher, dessen rote Schlusslichter kaum noch zu erkennen waren. Klack! – Der Zeiger der Bahnhofsuhr sprang auf die volle Stunde. Der kalte Laut einer hoch über den Köpfen hängenden Guillotine.

    Ich hatte mit Frank ein wie immer viel zu kurzes Wochenende verbracht. Aber zum Glück würde ich ihm in drei Tagen nach Berlin nachreisen können. Fast bis zum Gleisende war ich neben dem abfahrenden Zug hergelaufen, ausgelassen wie schon lange nicht mehr. Als ich mich  umdrehte, um zurück zu gehen, sah ich diesen Mann dort stehen. Er und ich, zu meinem Erstaunen waren wir die einzigen Menschen hier am Gleis. Nur er und ich hier in diesem verlassenen Bahnhof mitten in der Nacht. Alle möglichen Bilder schossen mir durch den Kopf. Aber was blieb mir anderes, mit schnellen Schritten wollte ich an ihm vorbei, eine Getriebene meiner albernen Fantasien. Der Mann hatte sich nicht bewegt. Eine Hand in der Hosentasche paffte er gedankenverloren, das Hemd unter einem ausgebeulten Jackett trotz der Kälte nachlässig offen wie jemand, der gerade erst aus einem überhitzten Raum getreten war. Sein unerwartet jugendliches Gesicht mit den geröteten Augen wirkte fahl und kränklich im Halbdunkel des Bahnhofs.

    „Guten Abend.“

    Ich zuckte zusammen wie eine Ertappte.

    „Oh Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Der Mann sprach mit sanfter Stimme ohne mich dabei anzusehen. „Haben Sie vielleicht Lust auf einen Kaffee aus dem Automaten?“ Erst jetzt drehte er sich ganz zu mir herum. In seinem Blick nicht die geringste Verwunderung über mein mädchenhaftes Gestammel. „Nein, danke …, ich muss …“

    Der Mann sah wieder nach unten, tippte mit dem Fuß sacht auf den Zigarettenstummel am Boden.

    „Ich habe eben meinen Sohn hier zum Zug gebracht“, mit Daumen und Zeigefinger fuhr er die Linie seiner schmalen Lippen nach. „Er hat ein Stipendium nach Montreal bekommen. Höchste Zeit, ich freu mich sehr für ihn. Auch wenn wir uns frühestens im nächsten Jahr wiedersehen werden. Aber wenn er jetzt nicht weggeht, dann vielleicht nie. Und dann geht’s ihm am Ende so wie mir.“ Mit einer ungeahnt schwungvollen Bewegung holte er eine Handvoll Münzen aus seiner Hosentasche hervor. „Ich glaube, dieses Land hat seine geistige Jugend nicht mehr verdient“, wie aus weiter Ferne musterte er das Kleingeld auf seiner flachen Hand, um sie mit einem Ruck zu schließen und die Arme vor der Brust zu verschränken. Ich schaute den Mann an, wie ein Kind, das einen Zaubertrick nicht kapiert.

    „Jetzt ist er jedenfalls weg.“

    „Das tut mir leid“, war alles, was mir dazu einfiel.

    „Damals, da hat mein Vater das auch gemacht, mich zum Zug gebracht. Als ich nach dem Abitur nach Tübingen ging. Klingt vielleicht komisch, aber ich hab‘ ihn nie gefragt, was er getan hat, nachdem der Zug abgefahren war.“ Die Augen des Mannes wanderten an den leeren Gleislinien entlang. „Wozu auch, wer wegfährt, stellt solche Fragen nicht.“ Wieder blieb sein Blick wieder an dem Zigarettenstummel neben seinem Fuß hängen. Der Ansatz eines Lächelns huschte um seinen Mund. „Und jetzt habe ich nicht die geringste Ahnung, was ein Vater tut, nachdem er seinen Sohn zum Zug gebracht hat.“ Sein Gesicht schien vor Ratlosigkeit leer zu laufen. Wie um Zeit für etwas zu gewinnen, räusperte ich mich, während mir die Kälte dieser Oktobernacht über den Rücken kroch. Eine Weile standen wir uns schweigend gegenüber, dieser Mann, der den Eindruck machte, sich nicht mehr lange auf den Beinen halten zu können, und ich, die ich es aufgegeben hatte, mein Zittern verbergen zu wollen.

    „Darf ich Ihnen jetzt vielleicht doch einen Kaffee anbieten?“ Er flüsterte fast, als wollte er sich entschuldigen für diese erneute Frage, deren Antwort schließlich schon fest stand.

    „Gerne, vielen Dank. Es ist ja so schrecklich kalt hier.“

    Copyright Franz Jostberg

  • Zertifizierer und Zertifizierte

     

    Der Klinikverwalter hielt den Erlös des Hospitals seit Jahren in der Gewinnzone. Die Eingabe eines Advokaten bei Gericht, der die Konkurrenzklinik vertrat, zwang ihn zu einer Nachzertifizierung.

    Zertifizierer prüfen jedes angeforderte Papier genau, vergleichen es mit Hilfe elek-tronischer Schablonen, um keine Dokumentationslücke zu übersehen, und fordern ständig neue Informationen an.

    HansEmsig, der Leiter der Firma Zertissimo, genoss es, mit dem ständigen Stochern in Unterlagen bei den Kunden Dankbarkeit zu wecken. Jedes Klinik-Team möchte das andere übertreffen, die Gunst der Haushaltsplaner erheischen. Doch kein Team organisiert den Arbeitsprozess so perfekt, dass Herr Emsig kein Optimierungspotenzial entdecken würde.

    Dr. Moor, der für die Zertifizierung abgestellte Arzt, wusste, wann Herr Emsig den Aufzug bestieg. Der Doktor bezog Position in der finsteren Ecke des Korridors zum Kon-ferenzzimmer im siebten Stock. Dort befandsich eine Schalttafel des Lifts. Auf- und Abfahr-Geschwindigkeit, Ein- und Ausstieg regulierte man für den zügigen Ablauf von Konferenzen. Dr. Moor öffnete die Schalttafel und ließ Hans Emsig in den Keller fahren.

    HansEmsigfuhr zurück; einer von der Firma Zertissimo stieg im Parterre hinzu. Der Lift karrte sie hinab. HansEmsig fragte den Mitarbeiter: »Wissen Sie, wer für den Fahrstuhl verantwortlich ist?«

    »Wird der Hausmeister sein«, murmelte der Fachkollege, »er ist fällig. Der Aufzug hält ja im Parterre!«

    Der nächste Fachgenosse stieg zu. Drei Fachkräfte der Firma Zertissimo gerieten in den Keller. Jede Stunde geht dem Profit verloren, die man nicht mit Zertifizieren verbringt. Sie trösteten sich damit, eine Gewinn bringende Zertifizierungslücke aufzuspüren.

    In der Eingangshalle berieten sie die Lage. Sie mochten keinen gegen sich aufbringen, dessen Dankbarkeit sie brauchen dürften. Die Herren – ein Vierter kam hinzu –  vereinbarten, dass der Jüngste die Stockwerke zum Konferenzzimmer hinaufsteigen und den Arzt holen soll.

    Er nahm den Lift im ersten Stock und gelangte in den siebten. Dr. Moor gratulierte dem Zertissimo. Wie erwartet, fragte Dr. Moornicht nach dem Grund der Verspätung. Die Firmengenossen hatten die Anzeige über der Aufzugtür verfolgt und machten es dem Jüngsten nach.

    Endlich besprach Firma Zertissimo mit Dr. Moor die Nachzertifizierung. Ärzte gehören zur schwierigsten Kundschaft. Man begeistert sie zwar für  Prozessqualität und Qualitätsmanagement, Psychiater aberhalten es für Aberglauben, dass Zertifizierung Erfolg bringen soll. Sie fördere allenfalls die informationsleere Dokumentation.

    »Es ist jetzt alles auf dem modernsten Stand«, begann Herr Emsig, »wir widerlegen den Klägeranwalt. Das Gericht wird künftig genau prüfen, ob es seine Klagen annimmt.«

    »Meine Herren«, antwortete Dr. Moor, »stillhalten, kein Interesse erregen, das ist nichtmein Rezept. Ich war es, der das Interesse des Klägers auf unser Hospital lenkte.«

    »Sie?«

    »Beruhigen Sie sich! Ich tat es, um Zertissimo zu zertifizieren. Sehen Sie, ein Klinikum ist ein Organismus. Mag es Ihnen auch gegen den Bürstenstrich gehen: Organische Prozesse bleiben ständig in der Schwebe. Ändert sich das Organ, ändert sich der Prozess. Wer nicht aufpasst und sich nur nach der Prozessqualitätsvorschrift richtet, verliert den Anschluss.«

    »Da haben wir es«, warf der zweite der Firma Zertifissimo ein, »der Organismus braucht Betriebsstörungen, um das Anpassen nicht zu verlernen!«

    Dr. Moor lächelte: »Genau, meinHerr! Das gesunde System gleicht jeden Defekt aus, es findet selbst den Ausweg.«

    »Dochsicher«, stürmte der Dritte von Zertissimo vor, »nur bis zu einer gewissenGrenze.«

    »An dieser Grenze«, erklärt Dr. Moor, »wird der Organismus zornig. Er bestraft Grenzüberschreitung mit Krebs, Depression oder Suizid.«

    »Das ist nicht unsere Kompetenz«, stellt der vierte Zertissimist fest, »nennen Sie ein Beispiel, das in unsere Kompetenz gehört!«

    »Gern. Patienten, Lokalpolitiker, die Medien würden aufschreien, wenn wir den Be-trieb herunterfahren. Betrachten Sie Ihre Ratschläge! Wo taucht der brauchbare auf?«

    »Aber Herr Dr. Moor, das gehört nicht zu unserer Kompetenz!«

    »Doch! Sie stören den Organismus. Sie schaffen den Leidenden ohne Eigenschaft. Sie heften ihm Nummern an, obendrein vernichten Sie seinen Namen. Sie rechtfertigen jede Kostenoptimierung, werfen das Ziel des Organismus über Bord. Sie lösen seine Beziehungen auf. Aus Sozialdaten und Gesundheitskosten zimmern Sie eine dubiose Signifikanz, eingebettet in Zertissimo-Diagramme, die niemand glaubt.«

    Eine Pause trat ein.

    »Lassen Sie uns zum Ende kommen«, lächelt Dr. Moor, »Ihre Analyse macht namenlose Patienten zur Ursache für Kostenproduktion. Zertissimo erstellt irgendein Statistik-Diagramm. Es sieht wie ein allergischer Ausschlag auf der Haut des Organismus aus … Verstehen Sie nun, dass Sie mich zwingen, gegen den Ausschlag vorzugehen, obwohl er für michals Psychiater fachfremd ist?«

    Herr Emsig hakt ungeduldig nach: »Warum haben Sie, Herr Dr. Moor, uns den Streich mit dem Aufzug gespielt?«

    Dr. Moor lächelt. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie ÄrzteundPatienten ohne Eigenschaften produzieren. Sie versuchen mit Ihrem Raster alles abzufangen, was den Menschen betrifft, das Schicksal eines Kranken, das Tun eines behandelnden Doktors. Sie verdammen das Gesprächals Kostentreiber, Sie haben keine Vorstellung vom Wert des Gesprächs für Patientund den Organismus.«

    »Wir bitten Sie, HerrDoktor, denken Sie an die Geschäftsführung des Hospitals! Sie braucht den Vergleich mit Zahlen, nicht mit Worten!«

    »… und ich brauche Worte«, gab Dr. Moor zurück, »damit habe ich Erfolg, präsentiere dem Verwaltungsleiter wachsende undnicht fallende Fallzahlen. Wir Psychiater verschrei-ben andere Rezepte und verrechnen uns nie beim Nachzählen.«

    Hans Emsig fand keine Antwort.

    Dr. Moor schaute lächelnd den jüngsten Zertifizierer an: »Ich halte Sie für talentiert. Ich sähe Sie gern im Funktionsbereich Qualität der Klinik. Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie sich einmal verändern möchten. Der Funktionsbereich ist meine Aufgabe.«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

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    Tabubruch am Bosporus

     

    Hans Adamski wusste, dass ihn niemand mochte: „Nun ja, ich bin schnell eingeschnappt, schnell aufgebracht, ich gehe allen auf die Nerven.“ Er hatte als Einzelkämpfer des Jahrgangs das Abitur erreicht; der Notenschnitt genügte für das Studium der politischen Wissenschaft. „Der Kapitalismus raubt uns aus. Der Westen vertritt falsche Werte, er hat keine Kraft“, waren seine Sprüche, „nur Alkohol, Drogen und Sex. Niemand macht etwas dagegen, der Untergang ist nahe!“

    Seine Ansichten verscheuchten die letzten Freunde. Mädchen mieden ihn, weil er auf nackte Schultern, kurze Röcke und Busenausschnitt mit missbilligenden Blicken reagierte. Die Kommilitonen im Politischen Seminar nahmen von Hans entfernte Plätze ein. Auf den Studentenfesten wuchs der Frohmut, seit Hans fernblieb.

    Ein Kommilitone aus dem Libanon, der zwei Auslandssemester an der Universität verbrachte, lud ihn ein: „Hans, ich sehe, du fühlst dich unter den Kollegen nicht wohl. Mir geht es genauso. Darf ich dich in unseren Kultur-Verein einladen?“

    „Was ist das, euer Kulturverein?“

    „Deutsch-Arabischer Kulturverein, Hans“, sagte Sad al Assad freundlich, „ganz unverbindlich. Ich stelle dich als Studienkollegen der internationalen Politik vor. Wir freuen uns über jeden, der uns kennenlernen will.“

    Sad al Assad stellte ihn dem Imam vor und bat, dass Hans mit ihm den Kulturverein besuchen dürfe. Die arabischen Freunde empfingen ihn freundlich, baten, sich nicht zu fürchten, denn man wolle Freundschaft pflegen und sich keinesfalls aufdrängen. Bei Festen gehe es, wenn die Frauen dabei seien, recht familiär zu. Doch er werde sicher nicht heiraten müssen.

    Nach dem ersten Gemeindefest fragte Sad al Assad, ob es ihm gefallen habe. Hans strahlte: „Ihr seid alle herzlich, eure Mädchen schauen mich an, zwar von weiter weg, aber mit Respekt.“

    „Ja“, bestätigte Sad al Assad, „sie interessieren sich für Deutsche und sind glücklich, wenn ihre Eltern den Umgang erlauben.“

    Hans gefiel es, als Mann im Mittelpunkt verstohlener Mädchenblicke zu stehen, noch mehr, von Männern ernst genommen zu werden. Der Bruder seines Freundes, Mahmed al Assad, ging jedes Mal auf ihn zu, teilte Hans Adamskis Ansicht vom gottlosen Sittenverfall des Westens.

    Er sagte: „Hans, du solltest unseren Prediger hören, der uns für einige Wochen besucht. Er ver-steht es, wach zu rütteln. Wenn du magst, nehme ich dich mit.“

    Der Prediger riss Hans mit. Hans gefiel es, Gleichgesinnte zu finden. Sie waren ein kleiner Kreis, außer den Assad-Brüdern noch Hans und ein junger Mann, der gerade die Arbeitsstelle verloren hatte. Der Prediger fasste die Situation der Zeit knapp und mit eindeutiger Perspektive zusammen. Er wies auf Schwachstellen der westlichen Demokratien hin, auf lasch eingreifende Ordnungskräfte, Mängel der Kirchen und ihrer Priester, deren Rufe nicht gehört würden. Die Zügellosigkeit der Jugend, der Verfall von Familie und Respekt würden gleichgültig hingenommen.

    Hans Adamski beschlichen Bedenken. Er nahm sich vor, die Freundschaft einschlafen zu lassen. Aber er fühlte sich verstanden. Die Assad-Brüder nahmen die Bedenken ernst, und der Prediger be-stärkte Hans‘ Überzeugung vom Bösen in den Herzen seiner deutschen Freunde. Der im Koran festgelegte Gehorsam der orientalischen Frau gegenüber dem Mann fesselte ihn. Er träumte von einem treuen Mädchen mit Kopftuch und langen Kleidern, unter die nur er schauen dürfe.

    Als die Assad-Brüder ihm anboten, einige Zeit in den Libanon mitzufahren, fühlte er sich auser-wählt, nahezu glücklich. Wie lange war es her, dass er sich stark fühlte, Mädchenblicke auf sich zog, Erkenntnisse und Erlebnisse mit Freunden besprechen konnte!

    Mahmed al Assad ergänzte: „Wir stellen Kontakt mit führenden Persönlichkeiten her, vielleicht hilft der eine oder andere Kontakt, einen Plan zu erfüllen. Wir haben Beziehungen zu Europa, du könntest bei uns Arbeit finden, geschult werden und in Europa eingesetzt werden.“

    Hans schlug ein. Triumphierende Gedanken jagten durch den Kopf: Arbeit, Aufstieg, als Macher zurückkommen, kein dekadenter Performer, sondern gottesfürchtiger Entscheidungsträger, verant-wortlich für das Schicksal jener, die seinen Weisungen zu folgen haben. Er werde Rache nicht zeigen, nur spüren lassen. Selbstgefällige Gedanken verscheuchten kritische.

    Mahmed al Assad versicherte, Hans zu begleiten, so oft er nur könne, bis Hans Firma und Be-ziehungen kennengelernt und sich eingebracht habe. Hans war es, als ob er an einem Punkt ange-langt sei, ab dem jeder Plan gelingt.

    „Erschrick nicht, Hans“, beruhigte Mahmed al Assad, „am Anfang geht es etwas rau zu, aber ich bin immer zu erreichen.“

    Im Libanon vermisste Hans die Assad-Brüder gar nicht. Der Kursleiter half, die Gegenwart in kla-ren Perspektiven zu erfassen, böse Imperialisten einerseits und gute Muslime andererseits, Atheis-ten und Gottesfürchtige, Gläubige und Ungläubige, Gutmenschen hier und Ungeziefer dort. Um gegen Überfälle Ungläubiger gewappnet zu sein, kamen Aufenthalte im Trainingslager hinzu. Die Fertigkeiten, Waffen zu benützen, sich zu wehren oder verbergen, Ungläubige in Angst zu versetzen, machten größten Spaß. Die Strapazen des Trainings nahm er nicht wahr.

    Denn jede vierte Wochen gab es Urlaub. Hans bewunderte die perfekte Organisation, den gewonnenen Durchblick. Frauen mit Schleier und langen Kleidern verwöhnten die Männer aus dem Camp. Sie verehrten den Mut der Männer, weckten Phantasien, erfüllten auch intime Wünsche. Sad al Assad fragte Hans, ob sich Suleika genügend um ihn kümmere.

    Hans schwärmte: „Sie ist sehr lieb, zärtlich, liest die Wünsche von den Augen ab. Sie bietet mir Drogen an, sagt genau, wie Stoff und Dosis wirken. Ihre Drogen steigern die Lust und Manneskraft, wie ich es bei unseren Emanzen nie erleben würde.“

    Mahmed al Assad fragte nicht weiter, freute sich mit Hans, der nichts von den Rachegefühlen preisgab, die er gegen alles Westliche hegte. Mahmed al Assad wusste, dass in Hans Gelüste auf-kamen, sich zu rächen, an wem auch immer. Er schlug Hans vor, sich einen arabischen Namen zuzulegen, Hassan al Acham, das helfe, sich zu tarnen. Es würde Suleika gefallen. Hans nahm an, denn er hatte in ihren Armen selbst daran gedacht.

    Hassan al Acham trainierte nun Taktik und Vorbereitung von Anschlägen auf Gebäude und Ansammlungen. Sein erster Auftrag führte ihn nach Nigeria. Dort übe man den Islam nachlässig aus.  Deshalb müssten die Respektlosen gestraft werden. Man versprach Hassan eine Jungfrau nur für ihn allein, wenn es ihm gelänge, Schülerinnen zu entführen, so viele wie möglich.

    Es gelang ihm, mit seiner Truppe zweihundert Mädchen zu fangen und ins Camp zu bringen. Suleika führte ein hübsches Mädchen in Liebeskunst und Drogenlehre ein. Es hieß Aische und erfüllte Hassan al Acham jeden Wunsch. Er gewöhnte sich an Aische, Kokain und Amphetamine. Hassan fühlte Riesenkräfte wachsen, auch die Wut auf Ungerechtigkeit wuchs. Er suchte nach Rache-Opfern.

    Mahmed al Assad erkannte den günstigen Moment. Er sagte beim Frühstück: „Hassan, du bekommst neue Mädchen, du wirst sie testen und beurteilen, denn das Mädchen hat von dir alles gelernt, du hast das Talent, unseren Dschihad-Kämpfern und den Mädchen Mut zu machen.“

    „Du hast einen Auftrag für mich“, fiel Hassan ins Wort, „ich nehme an, ich will Rache!“

    „Du bekommst mehrere Jungfrauen, um sie auszubilden.“

    „Gerne, aber zuerst muss ich ein Blutbad anrichten, ein Blutbad unter Ungläubigen. Allah fordert Gerechtigkeit, und nichts ist gerechter als Allah.“

    „Ich begleite dich“, sagte Mahmed al Assad leise, „den Umgang mit dem Sprenggürtel hast du gelernt. Aber in der realen Situation darf man nicht allein sein.“

    „Endlich, Mahmed!“ Hassan sprang auf. „Endlich kann ich mich bewähren. Zur Belohnung möge mir Allah Jungfrauen zuteilen.“

    Mahmed schlug für die Reise nach Istambul vor: „Sad und ich fahren mit und geleiten dich durch die Sicherheitskontrollen.“ Er wusste, das der kritische Punkt der Selbstmordtaktik noch nicht bewältigt war.

    Sie fuhren nach Antalya, stiegen in einen andern Wagen mit türkischem Kennzeichen, über-nachteten in kleinen Hotels. Mahmed beruhigte, indoktrinierte, motivierte, Sad schaffte in jedem Hotel Drogen und eine Frau an. Hassan nahm und fühlte sich wie Gott. Denn der Prediger des Camps hatte ein Mail geschickt: „Ich rechtfertige die Erfüllung des Auftrags. Du bist auf dem rechten Weg. Suche dir vor der blauen Moschee eine Gruppe aus! Das Ungeziefer ist ungläubig und gottlos, opfere böse Engländer oder besser, opfere Deutsche. Die Vernichtung westlicher Schweine steigert den Wert deiner Tat. Sie trifft auf das Wohlgefallen Allahs, er wird dich belohnen.“

    Aische, das Mädchen aus Nigeria, begrüßte ihn in Istambul. Die Drogen, die sie nach dem Liebes-dienst empfahl, dürften Hassans Aggressivität genügend steigern. Hassan genoss Nacht, Drogen und Aussicht auf gestillte Rache, vor allem das Gefühl der Allmacht. Er allein werde entscheiden, wer sterben wird, wer nicht sterben wird, die hier links oder die dort rechts. Die andern würden später an die Reihe kommen.

    „Wie grandios das ist“, sprach Hassan zu sich selbst, morgen bin ich Gott, mich bremsen keine  dekadenten Werte aus, niemand hindert mich, das Ungeziefer in den Boden zu treten! Blut wird spritzen, Schweine werden jammern, und ich – ich bringe das Blut der Gerechtigkeit Allahs dar.“

    Aische holte ihn aus der Traumwelt, steckte ihm Kokain zu und zog sich zurück, als Mahmed und Achmed al Assan ins Zimmer traten, um den Sprenggürtel anzulegen. Die Schnallen befestigten sie auf dem Rücken, die Zündleine vorne. Hassan konnte den Gürtel weder öffnen noch verschieben.

    „Du bist heute der Größte, Hassan“, sagte Mahmed, „du hilfst, Moral und Sitte herzustellen! Schau auf das Mail, der Prediger hat die Legitimation geschickt. Nun zeige, dass du furchtlos vor Allah trittst. Allah wird dich belohnen.“

    Hassan schlug Mahmed das Mobiltelefon aus der Hand. Er hastete auf die Straße, die Assad-Brüder holten ihn ein und mahnten, langsamer zu gehen, es seien nur ein paar hundert Meter zum Sultan-Achmed-Platz. Mahmed nahm Abstand, beobachtete aber jeden Schritt. Hassan mischte sich unter Touristen, fand eine deutsch sprechende Gruppe. Alle lachten, weil Hassan sich Hans nannte.

    Mahmed gefiel es nicht. Der hasserfüllte Blick Hassans traf ihn. Hassan schüttelte den Kopf. Mahmed tat, als ob er am Faden eines Westenknopfs ziehen wolle, schob seinen Bruder zum Deutschen Brunnen hin. Sie suchten den Blick des andern. Hassan schüttelte den Kopf. Die Brüder  traten in den Sichtschatten des Deutschen Brunnens, der Sprengsatz explodierte mitten in der Gruppe, Hassan war nicht mehr zu sehen. Die Brüder traten aus dem Schatten, entfernten sich gelassen vom Platz des absoluten Tabubruchs, niemand nahm sie wahr. In der Tomurcuk-Straße gingen sie in ein Haustor, und Mahmed schaltete das Funkfernzündgerät ab.

    *

    Bei dem Terroranschlag am 12. Januar 2016 in Istanbul wurden gegen 10:20 Uhr auf dem Sultan-Ahmed-Platz mindestens elf Menschen getötet und fünfzehn verletzt. Bereits ein Jahr zuvor war dort ein Sprengstoffanschlag durch eine tschetschenische Selbstmordattentäterin verübt worden.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Ketewan

    In Georgien wurde eine fromme Frau von einem Jungen entbunden.

    »Schau her«, munterte die Hebamme auf, »ein Bub, was für ein prächtiger Bub!«

    »Atmet er genug«, fragte Ketewan, die ängstliche Mutter.

    »Hör! Hör doch! Wie kräftig er schreit! Nimm ihn, den Buben, nimm ihn, leg ihn auf deine Brust!«

    Ketewan zögerte, die Hebamme drängte, die Mutter nahm den Knaben entgegen und betrachtete ihn.

    »Er ist ein Starker«, klatschte die Hebamme in die Hände, »sieh, wie er strampelt, wie er mit den Händchen winkt!«

    Ketewan erschrickt: »Er strampelt? Er tritt mit den Füßen! Er winkt? Er boxtundboxt, will alles nieder boxen!«

    Die Hebamme stutzt, sucht nach Worten. Endlich sagt sie: »Du hast eine lebhafte Phanta-sie, Ketewan, du, nicht das kleine Teufelchen!«

    »Hebamme«, antwortet Ketewan, »du musst es mir eingestehen: Mein Sohn richtet Furore an. Der böse Blick dringt mir ins Herz.«

    »Ketewan«, fordert die Hebamme, »beruhige dich! Das unschuldige Kind! Wirst du es gernhaben, von Herzen gern?«

    »Ich liebe es, weil es freigeboren ist. Aber jetzt, da ich es sehe, wird mir anders zumute … es ist ein Freier. MeinVater, sein Großvater ist leibeigen. Ich liebe Russland undweißnicht, warum ich mich schäme.«

    »Welchen Namen bekommt der Bub?« lenkt die Hebamme ab.

    »Josef«, flüstert die Mutter, »JosefWessarionowitsch. Mein Schwiegervater ist freigeboren, kein Leibeigener.«

    »Josef«, ruft die Hebamme, »er wird ein Priester.«

    »Wie kannst du es wissen?« Die Mutter weint. »Das glaube ichnicht. Das Kind wird nie-mals ein Diener Gottes.«

    Das Wochenbett überlebte Ketewan komplikationsfrei. Der Knabe wuchs heran; Pockennarben zeichneten das Gesicht. Nachdem JosefWessarionowitsch Dschugaschwili das Priesterseminar abgebrochen hatte, um das Glück des Revolutionärs herauszufordern, nahm er den Namen Josef Stalin an. Millionen wanderten hinter Stacheldrahtzaun, Millionen starben. Ohne Asyl gibt es keine Emigration.

  • Auf Kosten des Hauses

     

    Der Aischgründer Gastronom respektiert die Notwendigkeit von Ausgaben sorgfältiger als das Finanzamt. Er hütet seine Finanzen. Auf Kosten des Hauses bietet er allenfalls an, von Laune zu Laune zu springen.

    Im Tor des Biergartens in Gutenstetten stand ein Mannsbild in blauer Schürze, offensichtlich der Wirt. Ein Gast ging auf ihn zu; er wollte wissen, ob es ein Bier gäbe.

    »Schon«, sagte der Wirt, »aberso, wie Sie daher kommen, gibt’s für Sie keines.« Der Mann versprach, die Kleider zu wechseln. Er kehre sofort zurück.

    »Da muss ich erst sehen, ob Sie anders ausschauen als jetzt. Sie wohnen nicht hier. Wo wollen Sie ein Gewand herbringen?«

    Der Sommerwind strich über die Kastanien. Der Besucher suchte den Garten ab, winkte der Serviererin zu. Sie wedelte lächelnd. Der Wirt mahnte: »Bevor meine Tochter Ihnen zuwinkt, versuchen Sie erst einmal, an mir vorbeizukommen.«

    »Sie wirken nicht, als ob Sie zuschlagen wollten«, sagte der Gast.

    »Schlagen?« Der Torsteher wunderte sich: »Warum sollte ich? Sie sehen kaum nach einem Gauner aus. Bedenken Sie trotzdem: Ich bin draußen der Aufseher, drinnen der Maßgebende. Die Wirtschaft ist die fünfte Generation im Familienbesitz. Wissen Sie, mit wem Sie reden?«

    »Sie dürfen stolzsein«, antwortete der Besucher, »aber sie wirken mir eher selbstbewusst.«

    »Ich bin am Eingang der Aufpasser, im Biergarten der Aufseher, im Haus der Wirt, im Grundbuch der Eigentümer«, erklärte der Wirt. »Schritt für Schritt, den Sie hineingehen, hört man mehrundmehr auf mein Wort, besondersmeineTochter.«

    »Behüten Sie sie genug?«, fragte der Gast.

    »Jeden Tag kommt ein anderer Verehrer«, antwortete der Gastronom, »ich ertrage schon den Anblick nicht. Sie springt mit zudringlichen Leuten um, wie es sich gehört.«

    »In zwanzig Minuten«, teilte der künftige Kunde mit, »bin ich wieder da. Welche Art von Anzug wünscht der Aufpasser, der Aufseher, der Wirt, zu guter Letzt der Besitzer?«

    »Wenn Sie mit meiner Tochter anbandeln wollen, kommen Sie im besten Aufzug. Falls Sie ein Bier trinken, langenHemd, Hose undJacke.«

    Nach zwanzigMinuten ging der Herr des Hauses zum Tor; er blickte die Straße hinauf und hinab. »Na also«, brummte er zufrieden, »die Hungergestalt ist nicht zu sehen.«

    »Meinen Sie mich?« Die Hungergestalt stand mit Jacke, blauem Hemd, gebügelten Hosenfalten und Sommerschuhen hinter ihm. »Ja, werter Aufpasser, ich bin durch Hauseingang, Wirtshaus, Gartenausgang gegangen: Attacke von der Kehrseite. Die Tochterhält es für die beste Strategie.«

    Solch eine Frechheit hatte der Wirt nicht erwartet: „Der Garten ist jedem zugänglich, aber keines Falls meineTochter!«

    »Gerade das«, grinste der Gast, »bringt der Tochter meine Sympathien ein. Jetzt nehme ich Platz. Bitte ein Bier. Was zapfen Sie für ein Bier? Muss ich es mir selbst holen?«

    »Werden Sie nicht frech, setzen Sie sich hin, und ich«, der Wirt legt die flache Hand auf die Brust, »ich bediene Sie! Es kommt ein Gebräu auf den Tisch, das zu Ihnen passt.«

    »Welcher Gerstensaft passt zu mir?«

    »Ein Dunkles aus dem Aischgrund kriegen Sie, von der Brauerei gegenüber.«

    »Hervorragend! Den Tisch suche ich mir selbst aus.«

    »DieserTisch im Schatten, Senior«, rief die Tochter, »er ist für den Herrn reserviert!«

    »Was nimmst du dir heraus«, schimpfte der Vater, »seit wann machst du Kunden-Akquise?«

    »Das habe ich ihr beigebracht«, fiel der junge Mann ins Zwiegespräch, »Sie müssten es an der Zahl der Gäste merken.«

    »Woher wissen Sie das? Seit vier Monaten geht es aufwärts.«

    Der Blick des Aufsehers, Gastwirtsund Besitzers in einer Person verfolgte die Szene: Der Aufdringliche ließ sich nieder, als ob er Stammgast sei.

    Der gastronomischen Dreieinigkeit ging ein Licht auf. Die Ideen der Tochter fielen ihm ein, ihre anhaltend fröhliche Laune, die Lebensfreude. »Herrgott, es ist bei mir haltlänger her«, dachte er.

    »Ich dank´ dir schön, Barbara«, säuselte der Gast, als sie das Dunkle servierte.

    »Wieso ist das Bier gezapft, bevor ich es anordne?«, klopfte der Senior auf die Tischplatte.

    »Weil HerrFeuerlein gern dunkles Aischgründer trinkt.«

    »Jetzt haut es dem Aischgründer Fass den Boden aus!«

    »Beruhige dich, Vater, vor einem Kunden benimmt man sich nicht wie daheim.«

    Dem Papa verschlägt es die Sprache.

    Herr Feuerlein lächelt: »Darf ich Sie mit Namen ansprechen, Herr Lechner?«

    »Was reden Sie da? Wenn Sie mir was von Ihnen verraten, dürfen Sie mich beim Rufnamen nennen.«

    »Steinachwirt, wir alle streben nach Gewinn, da stimmen Sie mir zu?«

    »Man kann es übertreiben, indem man mit dem Rufnamen beginnt.«

    »Untertreiben gefährdet die Existenz, Steinachwirt.“

    Lechners Verdacht verdichtete sich: »Schleichen wir nichtwie die Katz um den heißen Brei! Was für einen Beruf haben Sie, Herr Feuerleger?«

    »Feuerlein mein Name, reden wir vom Biergarten«, schlug der Verehrer der Steinachwirtstochter vor: »Schattig, angenehm kühl, Kastanien ohne Miniermotten, frisch gestreuter Kies, standfeste Gartenmöbel … neue Tische und Stühle, nicht wahr?«

    »Sie wissen eine Menge«, wurde Lechner ungeduldig, »viel zu viel für einen Kunden. Erzählt Ihnen Barbara alles?«

    »Nein.«

    »Nein? Von wem alleweil? Von meiner Frau erfahren Sie nichts, die plaudert mit keinem Fremden. Also woher?«

    »Barbara erfuhr es von mir.«

    »Jetzt hören Sie auf! Sie bringt mich auf Ideen, und sie spricht mit niemandem darüber?«

    »Das gefällt mir an Barbara, dass sie alles für sich behält, sogar dass Vorschläge von mir kommen.«

    »So, so, von Ihnen … was? Von Ihnen? Keinen Ton sagt sie. Um dickere Überraschungen zu ersparen: Was für einen Beruf haben Sie?«

    »Steuerberater, spezialisiert auf Gastronomie.«

    »Da stammt die Idee mit den Investitionen von Ihnen?«

    »Wenn Sie erlauben.«

    »Meine Frau hat Zustände gekriegt, so ein Haufen Geld. Barbara hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Inzwischen gefällt es ihr, dass wir Steuern sparen.«

    »Vielen Dank. Ich bin beruhigt.«

    Der Steinachwirt ist als Geschäftsmann beunruhigt: »Kriegen wir jetzt eine Rechnung … am Ende in Höhe der Steuerersparnis?«

    »Von mir nicht, wenn ja, dann von Barbara … in Höhe einer Aussteuer …«

    »Das fehlt noch! Beim Geld wird sie frech. In Freundschaften bleibt sie zaghaft. Stimmt es?«

    »Schüchtern ist sie nimmer; ich bin vernarrt in sie.«

    Im Wirt Lechner keimt Gefallen an dem Steuerberater für Gastronomie auf. Er ruft der Tochter zu: »Barbara, zwei Obstler undzwei dunkle Aischgründer auf unsere Kosten!«

    Das letzte Mal hatte er vor zweiundzwanzig Jahren spendiert, als Barbara auf die Welt kam. Er nimmt sich zielbewusst vor: »Feuerleger, geht das als Betriebsausgabe, den nächsten Enkel auf Kosten des Hauses zu begrüßen?«

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ bei dem BDSÄ-Kongress in Würzburg 2016

     

    Die Leiden des Philoktet und der Lessing’sche Laokoon  

    Zu meiner Schulzeit war es in der gymnasialen Mittelstufe noch üblich, am Tag vor Beginn der Ferien an die Tafel zu schreiben:

    “Es ist schon immer so gewesen – am letzten Tag wird vorgelesen.”

    Unser vorlesender Mitschüler machte das ausgezeichnet, und die Texte, die er zu Gehör brachte, waren unterhaltsam und erheiternd. Eines Tages hörten wir  “Der Besuch im Karzer”, eine Humoreske des Gießener Autors Ernst Eckstein. Sie spielt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts  an einem Gießener Gymnasium. Der Direktor, ein jovialer Altphilologe mit besonderen Aussprache-Gepflogenheiten – er verwandelt die hellen Vokale samt und sonders in dunklere – liest mit Schülern der Oberstufe das Sophokles-Drama Philoktet. Der Heros ist mit den anderen Griechen nach Troja aufgebrochen und wird unterwegs von einer Schlange gebissen. Er empfindet den Schmerz als so unerträglich, dass er fortwährend und durchdringend schreit und ihn die Gefährten entnervt auf der Insel Lemnos zurücklassen.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet-Bild1

     

    Bild 1: Rotfigurige Bauchlekythos NY ca. 430 v. Chr.

     

    Zum Jubel der Klasse verdeutscht der übersetzende Primaner das Wehgeschrei des Unglücklichen mit ai, ai, ai, ai… “ Da fällt ihm der Direktor in die Rede: Sagen Sä au, au, au, au. Das “ai” als Interjektion des Schmerzes äst sprachwädrig”. Auch den Einwurf „nun, umso besser“ verwandelt die eigentümliche Diktion des Pädagogen in:  “non, omso bässer”, natürlich ebenfalls zum Entzücken der Schüler. Ich muss es mir leider versagen, den Fortgang des Unterrichts und seine Folgen mit Ihnen zu genießen; denn wir haben es hier mit einem leidenden griechischen Helden zu tun.

    In seiner Abhandlung “Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie” bezeichnet Lessing subsummierend „die bildenden Künste überhaupt” mit dem Begriff  Malerei. So stellt er den hemmungslos mit weit aufgerissenem Mund schreienden Philoktet aus der Dichtung dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes gegenüber, den die Bildhauer dem trojanischen Priester Laokoon und seinen Söhnen gegeben haben, obwohl alle drei in Kürze der tödlichen Umklammerung durch die gewaltigen Schlangen erliegen werden.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 2.doc

    Bild 2: Laokoon, Vatikan

    Nach: W.-H. Schuchhardt, Die Kunst der Griechen, 1940, 440 Abb. 410

     

    Entgegen der Behauptung Winckelmanns, Laokoon leide wie der Philoktet des Sophokles, zeigt nun Lessing, dass es den Bildhauern gelang, beim Laokoon “unter den angenommenen Umständen des körperlichen  Schmerzes…auf die höchste Schönheit” hin zu arbeiten, wozu allerdings die entstellende Heftigkeit herabgesetzt, “Schreien in Seufzen” gemildert werden musste, “nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil es das Gesicht auf eine ekelhafte Weise” verzerrt. “Man reiße dem Laokoon in Gedanken“ einmal „den Mund auf und urteile”.

     

    Wamser-Krasznai-Die Leiden des Philoktet Bild 3.doc

    Bild 3: Was ist schon Sport ohne Schrei?

    Nur eine Darstellung, die “Schönheit und Schmerz zugleich” zeige, könne Mitleid  erregen, während der Anblick heftigen Schmerzes allein abscheulich sei und “Unlust erregt, ohne dass die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann”[1].

    Was jedoch den schreienden Philoktet angeht, so ist der überwältigende, fast  unangemessene Schmerz nicht das einzige Übel, das ihn befallen hat. Die schlecht heilende Wunde entwickelt nämlich einen widerwärtigen Gestank, den Freunde und Kriegsgefährten nicht ertragen. Dieses in der Sekundärliteratur (z. B. DNP 9, 832 f. RE 1938, 2501[2]) durchweg geradezu genüsslich, manchmal sogar als einziges[3], beschriebene Symptom, spielt offenbar nicht in allen antiken Quellen eine vergleichbare Rolle. Im sog. Schiffskatalog im 2. Gesang der homerischen Ilias ist zwar von Schmerzen die Rede, nicht aber vom üblen Wundgeruch (Il. 2, 714-728). Auch Sophokles lässt Odysseus lediglich mitteilen:

    „Ihm fraß am Fuße eine Wunde, eitrig, nässend,
    und seine wilden Schmerzensschreie, Jammern, Stöhnen
    durchhallten unaufhörlich unser Heer und  machten
    uns Spenden, Opfer, jeden stillen Gottesdienst
    unmöglich.“ (Philoktetes 7-11).

    Später äußert sich der Betroffene selbst gegen Neoptolemos:

    „Du, edel nach Charakter wie nach Abstammung,
    mein Junge, fandest standhaft dich mit allem ab,
    mit meinen schrillen Schreien, meinem Pestgestank.“ (κακῂ ὀςμῂ).

    (Philoktetes 874-876).

    Die Ausdrucksweise der Weggefährten ist bemerkenswert zurückhaltend. Immerhin geht es um die Verletzungsfolgen eines befreundeten Kommandanten von sieben Schiffen mit Bogenschützen, den die Achäer schnöde vernachlässigen und auf einer unwirtlichen Insel zurücklassen[4]. Wollte Sophokles ein Geheimnis aus dieser unrühmlichen Tatsache machen? Oder hielt er – ein Priester des Heil-Heros Halon und Wegbereiter des Asklepioskultes in Athen, der wohl mit dem Medizinbetrieb einigermaßen vertraut gewesen ist – den Gestank einer eitrigen, nässenden Wunde für so selbstverständlich, dass er ihn nur nebenbei erwähnte? Wir heutigen Ärzte würden das Krankheitsbild als „feuchte infizierte, stinkende Gangrän“[5] bezeichnen. Werfen wir einen kurzen Blick auf andere retrospektive Differentialdiagnosen:

    1. Chronoblastomykose, eine Pilzinfektion der Wunde, geht auch bei eingetretener bakterieller Superinfektion gewöhnlich nicht mit derart heftigen Schmerzen einher[6].

    2. Gicht erklärt zwar exzessive Schmerzen, nicht aber die purulenten Exsudate[7].

    3. Aktinomykose, eine Mischinfektion, häufig durch Bakterien aus der Gruppe der Aktinomyzeten verursacht, führt nicht zu Schmerzen.

    4. Osteomyelitis – das Ausmaß der Schmerzen passt nicht dazu[8].

    5. Eine Anaerobierinfektion[9] wie Gasbrand hätte, ohne Antibiotika, wohl zu einem fatalen Ende geführt und kommt schon aus diesem Grund kaum in Betracht.

    6. Am wahrscheinlichsten ist eine chronische bakterielle Mischinfektion aus Aerobiern bzw. Anaerobiern mit der Folge einer Gangrän.

    In der Bibliothek Apollodors, einer vermutlich aus dem 1. Jh. n. Chr. stammenden Mythensammlung (Apollod. Epitome 3, 27), wird der Bezug zwischen Gestank und schmerzhafter Wunde klarer, und auch Hygin erwähnt in seiner Fabelsammlung (Hyg. fab. 102, 2. Jhs. n. Chr.) den ekelerregenden Geruch. Beide berufen sich vermutlich auf  ältere, für uns verlorene, Quellen wie den Philoktet des Aischylos oder des Euripides. Wir wissen zwar, dass die gleichnamige Tragödie des Euripides zusammen mit zwei anderen tragischen Stücken und einem Satyrspiel des Dichters an den Dionysien des Jahres 431 v. Chr. aufgeführt wurde, doch ihren Wortlaut kennen wir nicht[10]. Dies gilt auch für den früher entstandenen Philoktet des Aischylos[11]. Jener üble Geruch muss aber früh zum Philoktet-Mythos gehört haben, war er doch ein Argument, mit dem die Griechen ihr unmenschliches Verhalten – die Vernachlässigung eines kranken Gefährten – zu erklären suchten. Dass wir keine archaischen Darstellungen des Ausgesetzten haben, hängt vielleicht mit jenem ’schlechten Gewissen‘ zusammen. Als dann Aischylos und nach ihm Euripides und Sophokles die Tragik des Philoktet als Schicksal darstellten, trat er auch in der Bildkunst auf[12]. Doch während der Kranke in der Sophokles-Tragödie an der Grenze zum Wahnsinn einen regelrechten Schrei-Exzess absolviert[13], zeigen ihn die bisher bekannten bildlichen Darstellungen stets mit einem  geschlossenen, allenfalls nur leicht geöffneten Mund[14]. In ihrer dezenten Gestaltung bleiben sie sogar hinter dem maßvollen Ausdruck des Schmerzes zurück, der den Laokoon und seine Söhne kennzeichnet. Eine Wiedergabe ‚in Schönheit‘ siegte in klassischer Zeit allemal über tragischen Realismus[15].

    Philoktet aber wird, weil man ihn vor Troja braucht, später aus Lemnos abgeholt und durch die Söhne des Asklepios, Machaon und Podaleirios, von seinem Übel geheilt.

    Literatur:

    [1]Laokoon. Lessings Werke Band 3 (Stuttgart 1873) 69. 76 f.

    [2] Der Neue Pauly; Realezyklopädie der klassischen Altertumswissenschaften; dazu auch   M. Grmek – D. Gourevitch, Les maladies dans l’art antique (Paris 1998) 99. 109; E. Simon, Philoktetes – ein kranker Heros, in: H. Cancik (Hrsg.), Geschichte – Tradition  – Reflexion. Festschrift für Martin Hengel zum 70. Geburtstag (Tübingen 1996) 16; J. Söring, Das Schreien des Philoktet. Sophokles und Heiner Müller, in: J. Söring – O. Poltera – N. Duplain (Hrsg), Le théâtre antique et sa réception. Hommage à Walter Spoerri (Neuchâtel 1994) 154 f.  A. Thomasen,  Philoktet – ein Thema mit Variationen, Clio medica 18, 1983, 1.

    [3] So P. Blome, Der Mythos in der griechischen Kunst. Der troianische Krieg findet statt, in: Traum und Wirklichkeit Troia (Stuttgart 2001) 144; C. W. Müller, Das Bildprogramm der Silberbecher von Hoby, JdI 109, 1994, 321.

    [4] Simon a. O. 1996, 16 Anm. 8.

    [5] St. Geroulanos – R. Bridler, Trauma. Wund-Entstehung und Wund-Pflege im antiken Griechenland (Mainz 1994) 57 f.

    [6] H. A. Johnson MD, The foot that stalled a thousand ships: a controversial case from the 13th century BC, J R Soc Med 96, 2003, 507 f.

    [7] ders. a. O. 508.

    [8] ders. ebenda.

    [9] Geroulanos – Bridler a. O. 57 f.

    [10] Müller a. O. 322 Anm. 4.

    [11] Müller a. O. 340 Anm. 63 f.

    [12]Simon a. O. 18, dazu auch brieflich am 20.03.2016.

    [13]Soph. Phil. 735-816.

    [14] LIMC VII (1994) 376-385 Nr. 12-74 Taf. 321-326 s. v. Philoktetes ( M. Pipili); Simon a. O. 1996, 15 Anm. 4. 5.

    [15]Dazu W. Wamser-Krasznai, In Schönheit sterben, in; dies., Fließende Grenzen (Budapest 2015) 22-35.

    Copyright Dr. Dr. Waltrud Wamser-Krasznai

  • Beitrag zur Lesung „Teufeleien“ beim BDSÄ-Kongress 2916

     

    Spät abends Hausbesuch in einem Mehrfamilienhaus.
    Ja?“, krächzt eine junge Frauenstimme durch die Sprechanlage.
    „Hier ist Dr. Weller von der Notfallpraxis!“, sage ich.
    „Wir brauchen Sie nicht mehr, es hat sich schon erledigt!“ Die Stimme klingt fest.
    „Moment mal, wir sind doch extra gerufen worden! Was ist denn los?“
    Ich höre im Hintergrund Stimmen, dann: „Ja, gut, dann kommen Sie mal hoch!“
    Matthias, Rettungsassistent und mein Fahrer, mit dem ich schon viele Dienste gemacht habe, schüttelt den Kopf: „Was ist das denn?“
    Wir fahren mit dem Aufzug in den 3. Stock, die Wohnungstür ist einen Spalt weit geöffnet. Wir sehen den blonden Wuschelkopf einer jungen Frau, darunter einen Pulli, der nur den Hals umschlingt. Zum Anziehen hat es wohl nicht mehr gereicht. Das große Dekolleté über dem BH ist frei. Aber sie hat wenigstens eine lange Hose an. Ich stelle mich und Matthias vor.

    Die Frau blickt auf Matthias: „Aber der kommt nicht rein! Nur Sie!“
    Meine Antwort kommt schnell und sicher:
    „Wir sind ein Team. Entweder wir kommen beide rein oder wir gehen wieder!“
    „Also gut.“, sagt sie und gibt die Tür frei. Dahinter steht ein Mann, grußlos, wortlos, angezogen. Ihr Vater, stellt sich später heraus.
    Wir betreten den Wohnraum, in dem neben dem Esstisch ein zerwühltes Bett steht. Ich sehe die offene Schlafzimmertür und dort im Bett eine Frau im Nachthemd sitzen, wohl meine Patientin, vermute ich. Zielsicher gehe ich auf die Tür zu, da stellt sich die Tochter in den Weg.
    „Nein, Sie dürfen da nicht rein.“
    „Wie soll ich denn Ihre Mutter untersuchen? Sie haben uns doch gerufen für sie, oder nicht?“
    „Na gut, dann gehen Sie rein, aber nur Sie! Er bleibt draußen!“
    Sie deutet auf Matthias.
    Im Schlafzimmer begrüße ich die Patientin und stelle mich vor.
    Mein erster Eindruck: Diese Frau ist nicht krank. Was soll ich hier?
    Währenddessen steht die Tochter bewachend an der Tür. Matthias hat keine Chance. Auch die Mutter redet dauernd im Befehlston russisch mit der Tochter. Ich verstehe kein Wort, aber mir ist klar: Hier brennt die Luft.
    Ich bleibe ruhig: „Was möchten Sie von mir?“
    „Ich nicht gut, möchte Sie Blut nehmen und Hochdruckblut messen!“Deshalb ruft man mich nachts? Was soll das denn? –
    Trotzdem sage ich freundlich: „Ich kann hier kein Blut untersuchen, aber den Blutdruck kann ich messen.“ –
    Ich schaue zu Matthias, der im Wohnzimmer in unseren Koffer greift und das Blutdruckgerät heraus holt und es mir geben will. Aber die Tochter verwehrt den Zugang. Also muss ich ins Wohnzimmer gehen und das Gerät selbst holen.
    „Der Blutdruck ist 140/80. Das ist normal. Lassen Sie mich mal Herz und Lunge abhören.“
    Ich untersuche die Frau durch das Nachthemd hindurch. Ja nichts provozieren, denke ich.
    „Auch normal!“
    „Das wollte ich wissen. Dann können Sie wieder gehen!“
    Sie zeigt zur Tür. Die Patientin schaut mich mit Augen an, aus denen böses Feuer sprüht.
    Ich gehe ins Wohnzimmer und setze mich an den Esstisch. Der Mann steht im Eck und schaut zu. Er sagt nichts.
    „Ich muss zuerst noch etwas aufschreiben, und wir brauchen die Personalien.“
    Matthias sagt freundlich zu der Tochter: „Geben Sie uns bitte die Krankenversicherungskarte Ihrer Mutter!“
    „Nein, bekommen Sie nicht!“
    Die Mutter steht plötzlich neben uns.
    „Wir bezahlen so! Was kostet das?“
    „Auch gut,“, sage ich, „das muss ich kurz ausrechnen“.Ich zücke mein iPhone und schlage die App mit der Gebührenordnung auf.
    „Nein, Sie schicken uns eine Rechnung!“, schnarrt die Mutter.
    Matthias reagiert ruhig, zieht ein Formular heraus und legt es der Tochter mit seinem Kugelschreiber hin:
    „Bitte unterschreiben Sie hier, dass wir Ihnen eine Rechnung schicken dürfen!“
    Die Tochter nimmt den Stift, beugt sich über das Blatt. In diesem Moment schlägt die Mutter ihr den Stift aus der Hand: „Du unterschreibst nichts!“
    Ich mache einen neuen Versuch.
    „Dann sagen Sie mir doch wenigstens Ihren Namen.“
    „Das geht Sie gar nichts an! Gehen Sie jetzt!“
    „Moment mal, soll ich jetzt die Polizei rufen, damit Sie der Ihren Namen sagen?“
    Ich fixiere die Frau mit meinen Blicken.
    „Ich brauche Ihren Namen, damit ich Ihnen die Rechnung schicken kann, die Sie wollen.“
    „Der steht auf der Klingel, das haben Sie doch gelesen!“
    „Aha, ist das dieser Namen hier?“
    Ich zeige Ihr unseren schriftlichen Einsatzbefehl. Sie schaut nicht hin und sagt: „Ja!“
    „Wie heißen Sie mit Vornamen? Das brauche ich auch.“
    „Das geht Sie nichts an! Sage ich nicht!“
    „Aber dann kann ich keine Rechnung schreiben!“
    „Martina!“
    „Aha,“, sage ich, „geht doch! Danke!“
    Und ich ahne im selben Moment, dass der Name nicht stimmt.
    Da sagt die Tochter zu mir: „Meine Mutter ist misstrauisch. Können wir zwei mal vor die Tür gehen und in Ruhe reden?“
    „Du bleibst hier!“, kreischt die Mutter und packt sie am Pullover, der immer noch um den Hals hängt. Der Mann hat immer noch nichts gesagt. Er hat wohl hier nichts zu melden. Dann greift die Patientin mich wieder an:
    „Warum sind Sie denn immer noch da? Nehmen Sie jetzt endlich ihren Koffer, und gehen Sie aus der Wohnung!“
    Jetzt reicht´s mir. Ich mache etwas, was ich noch nie in dreiundvierzig Jahren bei einem Hausbesuch gemacht habe. Ich stehe kommentarlos auf, schaue mich nicht mehr um und verlasse grußlos die Wohnung.

    Draußen im Auto holen wir beide erst mal tief Luft.
    „Was war das denn?“, sagt Matthias.
    „Das waren unverschämte Leute. So was habe ich auch noch nie erlebt.“
    „Und was machen wir jetzt mit der Rechnung?“
    Ich schaue ihn an.
    „Nichts, Matthias, nichts machen wir. Und weiß du warum? Wir wissen doch, dass diese Leute die Rechnung nicht zahlen. Die wollten uns nur loshaben.“
    „Da hast du Recht!“
    „Eben, und du weißt, dass die Rechnung von unserem Rechnungsdienst abgeschickt wird, der auch die Mahnungen schreibt und mir in jedem Fall 20 Euro abzieht für diesen Service, unabhängig davon, ob die Rechnung bezahlt ist oder nicht. Und ich habe überhaupt keine Lust, mich unverschämt behandeln und rausschmeißen zu lassen und dafür noch 20 Euro zu zahlen.“
    „Aber der nächste Arzt läuft in die gleiche Falle wie du!“
    „Kann gut sein, deshalb müssen wir schauen, ob wir eine Warnnotiz in die Krankenakte machen können. Vielleicht haben wir die Frau im PC.“
    Tatsächlich: Sie war vor zwei Jahren mal in der Praxis. Der Vorname Martina ist gelogen. Die Adresse und das Alter passen. Ich schreibe einen entsprechenden Bericht als „Notiz“. Hoffentlich liest der nächste Kollege diese Nachricht, bevor er die Frau besucht.

    Schlagfertigkeit ist das, was uns zu spät einfällt. Wie wär´s denn mit diesem Satz?
    „In der russischen Literatur lese ich immer wieder von der großzügigen Gastfreundschaft der Russen. Sie sind die ersten Russen, die ich kennen lerne, auf die das nicht passt.“

  • Beitrag zur Lesung „Geheimnisse“ beim BDSÄ-Kongress 2016

     

    Das Rosmarinsüppchen

    „Hallo Schatzi!“

    Ich hasse diese einschmeichelnde Begrüßung! Schließlich hört man als erfahrene Frau die Lüge bei einem Mann schon, bevor er sie ausgesprochen hat. Ich musste nur noch genau hinhören oder hinschauen, um die Details zu erfahren. Henner hatte mich so oft an der Nase herumgeführt, und er machte sich geradezu einen Sport daraus, mich zu ärgern. Ich dumme Kuh habe ihm immer wieder verziehen. Mal habe ich aus falsch verstandener Liebe einfach den Mund gehalten und die Kränkungen geschluckt, mal habe ich mir die Tränen theatralisch über das Make-up laufen lassen und verschmiert, um ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt. Auch wenn ich ihm Szenen gemacht habe mit Geschrei und zerschmettertem Geschirr, hat ihn das nicht wirklich und schon gar nicht lange beeindruckt.

    Jetzt war es mal wieder so weit.

    „Hallo Schatzi! Das war ein anstrengender Tag!“

    Ich schaute ihn an: „Wie siehst denn du aus?“

    Sie müssen sich das mal vorstellen: Wie im Kitschfilm. Die Krawatte auf Halbmast, die oberen beiden Hemdköpfe offen, die Goldhalskette über seinem gewellten dunkelbraunen Brusthaar, den Kopf zerzaust, das Jackett zerknittert, die Bügelfalten platt. Und das Gesicht wie nach einer durchwachten Nacht, ungewaschen, unrasiert, die Falten noch tiefer als sonst. Und die waren nicht nur vom Arbeiten so tief, ganz sicher nicht.

    Seit ich zufällig neulich seine neue Sekretärin gesehen habe, ist mir klar, warum er so oft abends und bis spät in die Nacht dringende Besprechungen machen muss.

    Ich sah sie auf dem Büroflur auf sein Zimmer zu gehen. Das blonde Haar floss über die schlanke und offene Rückenpartie des Kleides. Das hautenge Kleid betonte den wackelnden Hintern dieses Schoßhühnchens in geradezu obszöner Weise. Die hohen Stöckelabsätze waren eine orthopädische Katastrophe und ihr Klackern auf dem Steinboden eine Zumutung für jedes Ohr. Wie Pistolenschüsse knallten sie über den Gang. Meine Birkenstock-Schuhe hört man nicht! Und als sie sich umdrehte, dieses Möchte-gern-Playboy-Häschen, konnte ich sofort sehen, wo der Plastische Chirurg sein Geld verdient hat. Die mit Botox aufgedunsenen Lippen waren kurz vor dem Platzen, und die silikongefüllten Brüste drohten das eng anliegende Blüschen zu sprengen. Nicht einmal einen BH trug diese Büropuppe. Bei Heidi Klum wäre sie nicht als Model angekommen, aber mein Mann hat sie sofort eingestellt. Wofür eigentlich? Diese an allen Rundungen aufgeblasene Frau passte genau in sein Beuteschema. Sie erfüllte ganz sicher die Wünsche meines Mannes, aber bestimmt nicht bei der Arbeit.

    Es hat mich gar nicht gewundert, dass ich schon ein paar Tage später ganz zufällig blonde Haare auf Henners Hemd fand, und ich entdeckte, dass er in seinem Aktenkoffer eine zusätzliche Flasche seines Parfums mitnahm und abends frisch beduftet heim kam. Aber mich kann er nicht täuschen. Er stank nach einer schwülen Mischung aus Frauenparfüm und seinem Rasierwasser. Das war richtig ekelig!

    Früher wäre ich ausgeflippt vor Wut und hätte sein Büro zuhause demoliert. Aber ich habe mir geschworen, meine Kräfte zu sparen für den entscheidenden Tag. Ja, Sie hören richtig, ent-scheidend. Das hat etwas mit Scheidung zu tun. Aber nicht wie Sie denken – mit Rechtsanwalt und Gericht, nein, nein. Da muss mir schon etwas Besseres einfallen.

    Heute war das Fass voll. Ich meine das Fass meines Zorns. Und wissen Sie warum? Als Henner ins Bad ging und die Kleider auf das Bett geworfen hatte, fielen mir sogar ohne Suchen sofort schwarze kurze Haare an seinem Hemd auf. Und der Lippenstiftfleck auf dem Kragen war nicht zu übersehen. Henner hatte seine Jacke so achtlos hingeworfen, dass das Bild einer jungen Schwarzhaarigen heraus gefallen war. So was von billig! Wollte er mich provozieren? War er wirklich so blöd, solch ein Bild in der Jackentasche zu lassen? Oder hat die kleine schwarze Hexe ihm das Bild zur Erinnerung in die Tasche gesteckt, ohne dass er es gemerkt hat? Egal: Jetzt betrog er seine Sekretärin und mich mit einer neuen Frau!  Das war entschieden zu viel.

    „Schatzi, machst Du mir was zum Essen?“, tönte es aus dem Badezimmer unter der Dusche hervor.

    „Aber ja,“, rief ich zurück, „ich mache dir dein Lieblingssüppchen!“

    Ich ging in den Garten und sah mit der Terrassenbeleuchtung noch gut genug, um rasch die Zutaten zusammenzusammeln. Erst pflückte ich frische Rosmarinnadeln, dann von der großen Taxushecke frische Eibennadeln. Das reichte für ein wirkungsvolles Abendessen. Den Rest hatte ich in der Küche.

    Rosmarin mag Henner besonders gern. Den kräftigen Duft der ätherischen Öle möchte er in der Suppe schmecken. In unserer Verliebtheitsphase verwendete ich extra Kölnisch Wasser, weil dort viel Rosmarin enthalten ist, und Henner konnte nicht genug kriegen, an mir zu schnuppern. Die Eiben kannte er nicht. Er war ein Gartenmuffel.

    Also schnitt ich je eine Handvoll Rosmarin- und Eibennadeln ganz fein, bis sie fast pulverig waren, erwärmte sie in der Pfanne, aber nur ganz leicht und mit einem großen Stück Butter dazu, damit die Wirkstoffe auch wirken können! Dann vermischte ich sie mit Sahne und Gemüsebrühe zu einer cremigen Suppe. Das wird ein besonderes Essen, dachte ich und stellte das gute Porzellan auf den Tisch und eine Vase mit frischen Blumen aus dem Garten.

    „Willst du nicht mitessen?“, fragte Henner, als er sah, dass ich nur ein Gedeck gerichtet hatte.

    „Nein, ich habe schon gegessen! Lass es dir schmecken!“

    Ich muss gestehen, ich genoss es, wie er seine Suppe löffelte und meine Kochkünste lobte.

    „Das schmeckt heute ganz besonders! So anders als sonst!“

    „Ja, ich habe es besonders gewürzt!“, sagte ich nicht ohne ein gewisses Maß an Freude über mein gelungenes Werk. Ich beobachtete mit Genugtuung, dass Henner mit großem Appetit alles aufaß – drei Teller Suppe.

    Wir unterhielten uns nicht. Er war ja so müde – von seiner Beschäftigung im Büro oder wo auch immer. Dafür muss man als Ehefrau schließlich Verständnis haben. Als Henner sein Süppchen gegessen hatte, trank er einen Whisky und griff immer wieder an seinen Bauch.

    „Komisch“, sagte er, „das rumort so, aber vielleicht habe ich mir im Büro was eingefangen, da klagen alle über Durchfall.“

    „Ja, das wird es sein“, meinte ich ruhig und sehr zufrieden.

    Plötzlich rannte er los Richtung Toilette. Nachdem er sich dort erleichtert hatte, wollte er nur noch ins Bett.

    „Ich fühle mich so schwach, ich brauche noch einen Whisky!“

    „Den bringe ich dir gern!“

    Man soll letzte Wünsche nicht abschlagen!

    Nach einer Weile meinte Henner: „Mir wird so komisch, mein Herz schlägt so unregelmäßig.“

    „Ja, ja, das kann sein, bei dem Magen-Darm-Infekt. Bald hört´s auf!“

    Ich konnte mich einer gewissen Schadenfreude über meine Doppeldeutigkeit nicht ent-ziehen.

    Henner schlief rasch ein, unruhig zwar, und einmal erbrach er im Bett. Aber das nahm ich ihm nicht übel und machte das Bett frisch, soweit das bei dem inzwischen bewusstlosen Mann möglich war. Ich setzte mich neben ihn. Ich fühlte immer wieder seinen Puls und spürte genussvoll, dass er immer langsamer wurde.

    Tatsächlich hörte es nach einer Weile auf. Das Herz meine ich.

    Es ist schon wichtig, im richtigen Moment die richtige Suppe richtig zu würzen.