Monat: Juli 2019

  • Neglect und Hemianopsie

    (25.7.2019)

     

    Bei manchen Gehirnerkrankungen
    ist die Wahrnehmung der Umgebung einseitig eingeschränkt
    oder das Gesichtsfeld ist bedeutend beeinträchtigt
    Für eine Störung der Sinne in unserer Gesellschaft
    sorgt ein Heer von Wissenschaftlern
    Psychologen, Politikern, Philosophen
    Künstlern, Journalisten
    und Geistlichen unterschiedlicher Schattierungen
    So kann der der Kapitalismus fortwähren

    ֎֎֎

  • Lehrer und Unterstützer

    (25.7.2019)

     

    Im alltäglichen Kampf gegen den Kapitalismus
    als eine Lebensweise im weitesten Sinne
    mit einer erbärmlichen Betrachtung des Daseins
    und einer verkümmerten Bedeutung der Liebe
    habe ich besondere Lehrer und Unterstützer:
    Das Storchenpaar auf der anderen Seite der Fulda
    in seinem Nest auf dem hohen Gestell
    die grauen Jungschwäne am Breitenbacher See
    die Fischreiher auf den Fuldawiesen
    die Obstbäume am Rande der Fahrradwege
    die Wiesen mit ihrer Blütenpracht
    die Kornfelder und Kleingärten
    Menschen, die ich therapeutisch begleite
    und Kinder mit ihren blühenden Phantasien

  •  

    Eine schwarz-weiße Katze Paula lebte in einer Villa am Königsforst. Meist lag sie auf einer Heizung, schnurrte vor sich hin und genoss die Wärme. Sie bewunderte die apart gekleidete Hausherrin, die sie immer mit Seidenhandschuhen streichelte. Sie empfand dies als besonderen Genuss, auch wenn es manchmal funkte. Sie beschloss, ebenso vornehm zu werden. Sie trabte zum Maulbeerbaum und sprach mit den Seidenraupen: „Könnt ihr mir ein zartes, fast durchsichtiges Seidenkleid und Seidenhandschuhe für die Vorderpfoten spinnen?“

    Die emsigen Seidenraupe unterbrachen ihre Arbeit und piepsten: „Wenn du uns vor den Vögeln bewahrst, die immer wieder einige von uns fressen, dann erfüllen wir deinen Wunsch.“

    So bewachte die Katze den Maulbeerbaum und fauchte die Vögel an, so dass sich diese sich nicht mehr in die Nähe des Baumes trauten. Innerhalb von nur 2 Tagen spannen die Seidenraupen ein der Katze passendes Cocktailkleid und so feste Handschuhe, dass die Krallen nicht durchkamen. So hatte die Katze seidenweiche Pfoten. Die Handschuhe reichten, wie bei einer Braut, weit über das Gelenk hinaus. Die Katze betrachtete sich im Spiegel und dachte: ‚jetzt benötige ich nur noch ein paar hübsche Schuhe und ein feines Hütchen.‘ Die Katze borgte sich aus der Haushaltskasse ihrer Herrin einige Münzen und stolzierte in den Puppenladen. Für kleines Geld bekam sie ein Paar weiße Schuhe und ein Hütchen mit einem bunten Kunstblumenkranz. Etwas unsicher stakste sie mit ihrem Seidenkleid und den neuen Schuhen aus dem Laden. Durch das Schwanken verschob sich das Hütchen über die Augen, so dass sie den Kopf nach hinten beugen musste, um etwas zu sehen. Da hörte sie das hässliche Lachen des Schäferhundes des Nachbarn, der sie schon mehrfach mit Gebell auf den Baum gejagt hatte.

    „Karneval ist doch erst in fünf Monaten“, gluckste er und begann zu grölen: „supergeile Zick….“

    Paula hielt den Hut mit einer Pfote fest und beschleunigte ihren Schritt, um schnell nach Hause zu kommen. Der Hund hüpfte hinter ihr her, sang weiter Karnevalslieder und schüttelte sich immer wieder vor Lachen. Paula war froh, als die Haustür hinter ihr zuschlug. Als die Hausherrin Paula sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Wer hat dich denn so zugerichtet?“

    Als Paula sie mit großen Augen ansah, begann sie zu lachen und kam erst zur Ruhe, als ihr die Luft weg blieb. Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen und fragte: „wie willst du in diesem Aufzug die Mäuse fangen, die sich wieder auf dem Dachboden eingenistet haben?“

    Stolz wie Paula war, stieg sie mit Hut, Kleid, Handschuhen und Stiefelchen auf den Dachboden und versuchte, die Mäuse zu jagen. Als dies misslang, da sie sie ohne Krallen die Mäuse nicht halten konnte, legte sie die Kleidung ab.

    Ein wenig traurig sprang sie später auf die Heizung, legte den Kopf auf die Pfoten, schnurrte und genoss die Wärme. Sie tröstete sich, es sei besser nützlich als vornehm zu sein.

  •  

    Hubert wurde in den Sessel gepresst, als sich die Landeeinheit vom interstellaren Raumschiff löste,

    in dem er die letzten sieben Monate zugebracht hatte. Es war eine Zeit mit Höhen und Tiefen. Er vermisste nun doch seine Familie, was er in der Trainingsphase nicht geglaubt hatte. Es war sein Jugendtraum, der erste Mensch auf dem Mars zu sein. Diesen hatte er sich jetzt erfüllt. indem er sich von einem internationalen Konsortium in den Raum hatte schießen lassen. Professor Unsicher, der Leiter der Mission war froh, einen Kandidaten gefunden zu haben, der das Risiko einging, alleine zum Mars zu reisen. Bei der Einführung in die Technik des Raumtransporters und des Landemoduls erklärte er stolz:

    „Ich habe für Sie den besten Computer aller Zeiten für die Reise bereitgestellt. Jouf-M wird sie begleiten und unterstützen. Mit seiner künstlichen Intelligenz und seinen redundanten Systemen, kann er sich auf alle Situationen einstellen und er ist mit allen Daten gefüttert, die für eine solche Mission erforderlich sind.“

    Dennoch konnte es sein, dass, wenn etwas schief lief, Hubert nie wieder auf die Erde zurückkehren konnte. Aber daran wollte er nicht denken. Er glaubte an die Perfektion der Organisation U-Space Experiences, die diese bei mehreren Weltraummissionen bewiesen hatte. In den Bereich der Landezone auf dem Mars, in der nach allen wissenschaftlichen Befunden gefrorenes Wasser im Untergrund zu erwarten war, hatten sie in mehreren vorausgegangenen Missionen Material deponiert, das eine vorübergehendes Überleben ermöglichen sollte, bis eine eventuell notwendige Rettungsmission möglich geworden wäre.

    „Hubert, du siehst besorgt aus,“ meldete sich Jouf-M, der Computer mit sanfter aber emotionsloser Stimme. Hubert hatte während der langen Reise Freundschaft mit dem KI-Rechner geschlossen.

    Hubert blickte durch das Fenster der Landefähre auf die karge Stein- und Sandlandschaft, die sich mit großer Geschwindigkeit näherte. „Wir bewegen uns zunehmend auf die Landezone zu, aber ich kann das Material nicht sehen. Stimmen die Koordinaten?“

    „Meine Berechnungen ergeben, dass wir uns direkt dem Zielgebiet nähern,“ antwortete Jouf-M gleichmütig.“

    Hubert schwieg die nächsten Minuten, obwohl ihn der Zweifel beunruhigte. Plötzlich gab es einen Ruck und Landefähre schien bremsen.

    „Was war das, Jouf-M?“

    „Ich habe entsprechend den Höhenmessungen die Bremsfallschirme ausgelöst!“ hauchte Jouf-M.

    Hubert blickte verwundert auf die Instrumente: „Die Bremswirkung ist wieder Erwarten groß. Ist die Dichte der Atmosphäre in dieser Region höher, in den übrigen Bereiche des Mars?“

    Nach kurzem Zögern referierte Jouf-M: „Die Messröhrchen ergeben eine Zusammensetzung CO² 0,05 %, Argon weniger als ein Prozent und O² ca. 19%.“

    Hubert riss die Augen auf und runzelte die Stirn: „Nach meiner Erinnerung müssten es mindestens 94% CO² und ca. 0,14% O² sein. Was ist da los?“

    Aus dem Lautsprecher des Computer kam ein undefinierbares Rauschen. Jouf-M sprach monoton: „ich prüfe, ob die Sicherheitslücken im Hauptprozessor gehackt wurden und zu Störungen der Berechnungen geführt haben. Ich zünde jetzt die Bremsraketen.“

    Hubert verspürte erneut einen Ruck. Dann landete die Fähre sanft auf sandigem Boden. Die Landschaft war karg mit rötlichen Felsbergen am Horizont. Die untergehende Sonne ließ die Atmosphäre rötlich aufleuchten.

    „Was ist nun Jouf-M?“ Hubert war ungeduldig, da er aussteigen und die Umgebung prüfen wollte. Er hatte den Helm des Raumanzuges in der Hand, um ihn aufsetzen zu können. Ohne Sauerstoffflasche und Schutz durch den Raumdruckanzug gegen die Staubstürme und den niedrigen Luftdruck konnte man sich auf dem unwirtlichen Mars nicht bewegen.

    Jouf-M meldete sich gleichmütig: „Die Sicherheitslücken sind in zwei von sechzehn Quadprozessoren gehackt worden und ein Fremdprogramm hat Einfluss auf die Berechnungen genommen. Die gute Nachricht ist die Atmosphärenmessungen stimmen, aber die Koordinaten nicht.“

    „Lässt sich das Problem lösen?“ Hubert fühlte sich etwas mulmig.

    „Ich zerstöre das Fremdprogramm und berechne neu,“ teilte Jouf-M gleichmütig mit.

    Da es nun völlig dunkel geworden war, beschloss Hubert bis zum Morgen im Schutz der Landefähre zu warten, zumal es nachts auf dem Mars bis zu -85° C kalt werden konnte.  Die Tages Temperaturen von bis zu 20° C waren eher auszuhalten. Beim Einschlafen träumte er, wie er aus dem zuvor abgeworfenen Material das Schutzzelt aufbauen würde. Er hatte dies im U-SE Raumzentrum auf der Erde hunderte Male geübt. Die Landefähre konnte noch maximal zweimal zum Raumfahrzeug aufsteigen. Dieses hatte noch Treibstoff für eine Rückreise über die kürzeste Entfernung zwischen Mars und Erde. Dies war frühestens in etwa eineinhalb Jahren möglich. Also es musste alles klappen.

    Er schlief unruhig und wacht auf als es dämmerte. Er wunderte sich, das er bisher von Jouf-M nichts mehr gehört hatte. War der Computer abgestürzt, gerade jetzt in dieser kritischen Phase?

    „Jouf-M gibt es etwas Neues?“ In diesem Moment bemerkte er eine Bewegung außerhalb der Landefähre. Auf dem Mars gab es doch kein Leben! Begann er zu halluzinieren?

    Tatsächlich fuhr ein Geländewagen eine Staubwand aufwirbelnd auf die Landefähre zu. – Er war auf der Erde gelandet!

  • Nachkriegszeit – Was uns geprägt hat

     

    Nachkriegshunger, Rock‘n Roll
    Kartoffelsack gefunden, toll
    fremde Panzer, Lederhose
    Selbstbewusstsein gegen Null
    Man macht, man tut, die ganze Schose
    Nazideutschland, Sündenpfuhl
    betrifft uns nicht, zusammenhalten
    Untaten wir – nie! Das war‘n die Alten
    Kohle hab ich dir geklaut, verzeih
    Angst vor Mangel, Krieg und Polizei
    Lehrer prügeln, Hosenboden
    Für die Heizung Wälder roden
    Kindergarten Ringelreihen
    Taufe feiern, Kleider leihen
    sich in Suppenschlangen reihen
    muss den Sonntagsanzug schonen
    Spiel um Pfennige mit Bohnen
    Hüpfen auf den Gehwegplatten
    werfe Steine nach den Ratten
    Massenflucht kommt aus dem Osten
    leben hier auf unsre Kosten
    Flüchtling sein, das war ein Makel
    doch der Krieg war das Debakel
    Die Gesellschaft vaterlos
    Frauenleistung, grandios
    Mauerbau und Kuba-Krise
    Kalter Krieg war die Devise
    Wirtschaftswunder ließ vergessen
    Man konnte wieder richtig essen
    Die Gesellschaft aber blieb noch starr
    mit Schichten, Naziresten, sehr bizarr
    Die Studenten mit wirren Gedanken
    Begannen über Demokratie zu zanken
    Ist Kommunismus besser mit Ho-Chi-Minh
    Kommune oder Mao alles Widersinn?
    Gegen Kapital demonstriert und für Vietnam
    Gegen Reza Palavi kam‘s zum Melodram
    Die RAF begann zu morden
    Gewissensprüfung aller Orten
    Beatles, Stones, die Popmusik
    Stehblues, Röcke kurz und dusselig
    Diskoabende laut und anschmiegsam
    Im Lärm und Alkohol jedoch einsam
    Dann war das Studium zu Ende
    Fixiert im Kopf die Meinungsbände
    All das was uns geprägt
    uns heute emotional bewegt

  •  

    Der junge Fähnrich István Krazňai dient in der Leibgarde der Kaiserin Maria Theresia in Wien und sieht während eines Kontrollgangs, wie sich ein Frauenzimmer in lebhaftem Gespräch aus dem Fenster beugt. Das runde Hinterteil wölbt sich ihm verlockend entgegen, er kann nicht widerstehen und haut kräftig drauf. Die Gestalt fährt herum und  – o Schreck! – es ist die Kaiserin. Er bricht ins Knie und stammelt: „Majestät, wenn Ihr Herz ebenso hart ist wie Ihr Hintern, dann bin ich ein verlorener Mann.“  Aber sie: „So verloren sehen Sie mir gar nicht aus…kommen Sie doch mal…“. Von Stund‘ an tritt er in „innere Dienste“…

    Einem On dit zu Folge hatte Maria Theresia 16 Kinder von 18 Männern. Sie vergaß keinen von ihnen, die Geschichte geht weiter. Im Alter von etwa 60 Jahren, was damals wirklich alt war, ruft sie alle ihre Liebhaber zusammen. Sie trägt ein kostbares Gewand, das mit 18 Knöpfen aus Brillantsplittern besetzt ist. Im Nu öffnet sie alle Knöpfe, lässt ihr Kleid fallen und jeder der anwesenden Männer erhält einen Knopf. Sie tragen ihn in einem Ring am Finger und haben damit jeder Zeit Zutritt zur Kaiserin.

    Krazňai ist bis dahin nur Vítéz, ein frei Geborener, für dessen Unterhalt und Waffen die Königin sorgt (bekanntlich ist sie ja in Ungarn nicht Kaiserin sondern Königin, K. und K.). Jetzt beschenkt sie ihn mit einem namhaften Anwesen, das ihr – mit Verlaub – gar nicht gehört, im Niemandsland, gyepű, zwischen der Österreich-Ungarischen Monarchie und dem Kiewer Großherzogtum (Russland). Dazu erhält der Vitéz noch einen endlos langen gräflichen Namen, nach der Kraszna, einem Nebenflüsschen der Theiss, und einer gleichnamigen Burg auf einer höchst unzugänglichen Bergspitze. So aber lautet der Name: „Vitéz alsó-krasznai és felső-krasznai továbbá kraszna-horkai krasznai KRASZNAY“. Davon ist nach dem Sieg des Sozialismus nur noch ein schlichtes „Krasznai“ übrig.

    Selbst wenn die Geschichte erfunden wäre, hätte sie ihren Charme.

    Aber es gibt diese Knöpfe! Der jetzige Eigentümer Petúr Krasznai hat den seinen noch einmal neu und solide fassen lassen. Eines Tages hält er sich in einem überfüllten Warschauer Bus an der oberen Haltestange fest und neben seiner Hand mit dem funkelnden Ring wird die Stange von einer weiteren männlichen Hand, die ebenfalls mit einem Maria-Theresien-Ring geschmückt ist, umklammert. „Dann sind wir wohl verschwägert???!“

    Der Ring wird gewöhnlich an den ältesten Krasznai-Sohn weitergegeben. Petúr hat für seinen Knopf eine weit bedeutsamere zukünftige Verwendung gefunden, nämlich in einer Knopfsammlung, möglicherweise in einem Knopf-Museum, einer Initiative unserer Nichte, einer promovierten Juristin.

     

    Dr.med. Dr.phil. Waltrud Wamser-Krasznai

    Vereidigte Burgschreiberin „von und zu“ Kraszna-Horka

  •          

    Life is made up of the small simple things. Therefore, only the petty and simple-minded people lacking of subtlety, and the people with narrow interests, perform well and realize all goals through their lives.  They do observe all trifles and perceive every stone in their path, exploiting every opportunity.  

    On the other hand, those enlightened spiritual people with high moral principles, bigger views and noble thoughts, observe the world like the eagles.

    Consequently, these people do not see a thousand minor obstacles in front of them. The whole life long, they hesitate at every step, and trip at every stone. These people, badly injured with broken bones, and wounds in their souls accomplish their life’ path. 

    Dr. med.André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Lebenswege 

    Das Leben entsteht aus den kleinen einfachen Dingen.

    Deshalb bringen nur die Menschen gute Leistungen und verwirklichen ihre Ziele während ihres Lebens, die kleinkariert und geistig einfach strukturiert sind, denen es an Feingefühl fehlt und die einen engen Interessenhorizont haben.

    Sie beobachten wirklich alle Kleinigkeiten und nehmen jeden Stein auf ihrem Weg wahr und nützen jede Gelegenheit aus.

    Andererseits betrachten jene erleuchteten und spirituellen Leute mit hohen moralischen Grundsätzen, größerem Überblick und edlen Gedanken die Welt wie Adler.

    Folglich sehen diese Menschen die tausend winzigen Hindernisse vor ihnen nicht. Das ganze Leben lang zögern sie bei jedem Schritt und stoßen an jeden Stein. Diese Menschen vollenden ihren Lebensweg mit gebrochenem Herz und Wunden in ihrer Seele,

     

     

  • Eva hatte die verbotene Frucht der Erkenntnis gepflückt, weshalb die Menschen verdammt waren, außerhalb des gelobten Paradieses zu leben. Millionen Jahre später wiederholte sich dieses Ereignis mit Hilfe modernster Technik. Das Augen öffnende High-Tech-Gerät tauften die Ingenieure »EVA«. Sie erzeugte detailreiche Bilder höchster Auflösung und erlaubte erstmals die Analyse lebender neuronaler Netzwerke. EVA war ein revolutionäres, leistungsstarkes 14 Tesla-MRT. Routinemäßige MRT-Bilder wurden hingegen in 3 Tesla Geräten angefertigt. Zuerst untersuchten die Wissenschaftler Gehirne von Schimpansen, bevor sie sich an menschliche Probanden wagten. Man befürchtete, dass derart starke Magnetfelder Überhitzungsschäden an Nervenzellen verursachen könnten. Nichts dergleichen wurde beobachtet, als EVA auf die Probe gestellt wurde. EVA lieferte phänomenale Daten. Damit war die Funktionsweise des Gehirns noch lange nicht vollständig geklärt und komplettiert. Dem Heiligen Gral der Künstlichen Intelligenz war man aber zum Greifen nah.

    Da Schimpansen nicht in menschlicher Sprache ihre Erlebnisse und Eindrücke schildern konnten, entging den Forschern die wichtigste Information. Schimpansin Juno verhielt sich im Anschluss an die Untersuchung auffällig anders, weshalb man sich entschied, eine Hirnbiopsie zu entnehmen. Der befürchtete Hitzeschaden ließ sich nicht bestätigen. Die Forscher spekulierten, ob starke Magnetfelder die Funktion von Nervenzellen in irgendeiner Weise beeinflussen, fanden aber keinerlei substantielle Hinweise hierfür. Das Experiment wurde mehrfach an verschiedenen Menschenaffen wiederholt. Erneut wiesen die Tiere ähnliche Verhaltensänderungen auf. Die Hirnstromlinien blieben unverändert. Biopsien und sämtliche Laborergebnisse waren allesamt unauffällig. Intelligenztests und diverse Testbatterien offenbarten nicht, was wirklich geschehen war.

    Nur eines stand fest: Sie verhielten sich anders.

    Sie verlagerten ihr Interesse auf andere Gegenstände und Subjekte. Juno betrachtete bevorzugt menschliche Babys, die von ihren Müttern versorgt wurden. Juno schaute Kinderfilme, fand aber keinen Gefallen an Krimis und schaltete den Bildschirm aus, wenn einem Lebewesen etwas Negatives widerfuhr. Junos Laune war um Längen besser. Nichts und niemand konnte sie ärgern oder frustrieren. Eines Tages saß sie stundenlang am gleichen Fleck, bis den Verhaltensforschern klar wurde:

    Juno meditierte.

    An einem sehr regnerischen Tag war Juno die einzige Schimpansin, die sehr glücklich auf das Erscheinen von Eram reagierte, der soeben von EVA zurückgekehrt war. Beide Tiere schlossen sich in die Arme und wurden unmittelbar ein Pärchen. Und das, obwohl sie vor Junos Verwandlung sehr oft miteinander gestritten hatten.

    Juno und Eram waren in der Lage, andere Tiere, die von EVA untersucht worden waren, zu erkennen. Es war, als würden die Tiere Frieden schließen und gemeinsame Pläne schmieden, sobald sie mit EVA in Kontakt geraten waren.

    Nachdem die Testreihe abgeschlossen war, stand zweifelsfrei fest, dass keine Ethikkommission dieser Welt die Durchführung an einem menschlichen Probanden genehmigen würde. Das hieß aber nicht, dass dieser Versuch unversucht blieb.

    »Wir haben Millionen investiert und unsere Karrieren aufs Spiel gesetzt, um eine der bedeutsamsten Fragen der Menschheit zu klären, und nun sollen wir kurz vor dem Ziel alle Zelte abreißen?«, beschwerte sich Chefingenieur Marquês, der die grenzenlose Dummheit der Mediziner nicht begriff. Zwei philosophische, nicht harmonisierbare Weltansichten prallten aufeinander.

    Niedergeschmettert trabte nach der Pressekonferenz der engste Kreis des Forschungsteams in die Küche, kochte Kaffee und bemitleidete sich gegenseitig.

    »Wir brauchen einen Wissenschaftsjournalisten, der so lebhaft und exakt wie möglich berichten kann«, erklärte Marquês.

    Maria sah ihn skeptisch an. »Was hast du vor?«

    »Allen Affen geht es gut, um nicht zu sagen: besser«, grinste er diabolisch.

    Sie ahnte bereits, zu was ein Marquês in der Lage war. »Du verlangst einen Zeugenbericht?«

    Marquês nickte. »EVA ist ein Orakel«, antwortete er. »Ein Meisterwerk.«

    Entschlossen blickte Marquês in die Runde. »Ich werde euer erster Proband sein.«

    Eine Mischung aus Überraschung und Entsetzen schwappte über ein Dutzend Kaffeebecher, und einer davon tränkte die Jeanshose von Harry nass.

    »Auf gar keinen Fall!«, verkündete er, denn er war keinesfalls gewillt, die Knöpfchen für Marquês zu drücken. Seine Hände beschmutzen? Niemals!

    Doch Marquês hatte vorgesorgt. »Die Maschine läuft vollautomatisch. Sie startet auf meinen Befehl und stoppt, wenn ich es verlange.«

    Maria verschluckte sich. »Irrtum«, widersprach sie als Erste. »Du bist nicht in der Lage, die Untersuchung abzubrechen, sobald du in Schwierigkeiten gerätst. Und bevor wir erkennen, was geschehen ist, ist es möglicherweise zu spät.«

    Marquês schüttelte den Kopf. »Nach zwanzig Minuten liegen alle Bilder vor, und die Maschine bricht selbst ab.«

    Maria stöhnte und schnaufte. »Was ist, wenn uns das Orakel überlistet, bevor du und wir intervenieren können?«

    Marquês zuckte mit den Schultern. »Na und? Vielleicht ist es exakt das, was ich will. Überlegt doch mal! Den Affen ist ein Licht aufgegangen. Wer von diesen Schwachköpfen da draußen befürchtet die Erleuchtung der Welt? Falls ich Recht habe, ist es die Erlösung, nach der wir uns alle sehnen; wenn nicht, dann bin ich im Anschluss wenigstens entspannt und es ist mir völlig gleichgültig, dass unser wichtigstes Forschungsprojekt auf Eis gelegt wurde.«

    Marquês seufzte kurz, dann setzte er grinsend fort. »Schiebt mich in EVAs Röhre, ich will mich mit der Erkenntnis ordentlich vereinigen.«

    Maria verdrehte die Augen. Ohne auf seine sexistische Anspielung einzugehen, blieb sie vehement beim Nein.

    Stillschweigend öffnete Marquês den Käfig seiner Lieblingsratte Emma. Er streichelte das Tier und ließ es auf seiner linken Schulter sitzen. »Emma«, sagte er. »Zeig ihnen, was du kannst.«

    Das kleine Wesen wartete auf Befehle. »Harry, such dir ein Ziel aus, wo sich Emma hinbewegen soll, ohne dass du auch nur hinschaust oder es laut aussprichst«, verlangte Marquês.

    Bevor er sich gegen den Wunsch seines Chefs äußern konnte, hatte Emma längst ihren Bestimmungsort erreicht. Sie war blitzschnell auf Harrys rechte Schulter gesprungen. Zur selben Zeit ließ er seinen Kaffeebecher fallen. Und dann wünschte er, sie möge verschwinden. Da dies aber kein konkreter Bestimmungsort war, blieb Emma verwirrt sitzen. Maria wünschte sich das Tier dort hin, woher es gekommen war, bevor noch mehr Unsinn geschah. Emma gehorchte und lief auf schnellstem Weg zu ihrem Käfig. Das gefiel Sophia nicht. Sie wollte es auch ausprobieren. Ergo wünschte sie, Emma solle zur PC-Tastatur laufen und auf die größte Taste drücken. In diesem Falle handelte es sich um die Leertaste, und erneut hatte Emma ihre Fähigkeiten bewiesen. Sophia erblasste, so entsetzt war sie. Blieb nur noch Michael übrig, der zu wählerisch war, sich festzulegen. In letzter Sekunde fiel ihm doch noch was ein. Über dem Stuhl hing Marias Strickjacke, die über eine üppige Seitentasche besaß.

    Maria schrie laut auf. »Schluss jetzt!«, forderte sie, und Marquês entfernte Emma kommentarlos aus Marias Jacke und befahl seiner Freundin, sich ruhig zu verhalten.

    »Emma war in der Röhre«, fasste Michael seelenruhig zusammen. »Und scheint intakt geblieben zu sein.«

    »Also so würde ich das nicht bezeichnen«, erhob Sophia Einspruch.

    Harry war sauer über seine zerbrochene Lieblingstasse. »Wenn dieses Biest Gedanken lesen kann, will ich nicht wissen, was die Affen planen zu tun.«

    »Ganz recht«, stimmte Maria zu. »Und darum wird niemand von euch in die Maschine kriechen. Niemand!«

    Marquês lachte. Er wollte gar nicht damit aufhören.

    Maria bedachte ihn mit bösen Blicken, bis ihr dämmerte, was sein Lachen bedeutete. »Marquês? Marquês!«

    Er unterbrach jäh das Lachen und tippte auf die PC-Tastatur ein. »Hier, das sind meine Bilder. Brilliante Bilder eines brillianten Genies, nicht wahr? Sucht, solange ihr wollt. Die wesentliche Information kann man darin nicht erkennen. Weder bei mir noch bei den Affen oder bei Emma.«

    »Marquês!«, schimpfte Maria dazwischen, aber er wusste es zu ignorieren.

    »Es fühlt sich wie ein Upgrading an. Es ist, als wären zwei Welten voneinander getrennt gewesen, die jetzt eng miteinander verwoben sind. Ich habe den Apfel gegessen und bin EVA mehr als dankbar dafür«, erklärte er.

    Entsetzt starrte ihn das Team an. »Was hast du getan!«, beklagte sich Maria.

    Marquês zuckte mit den Schultern. »Die Maschine der Erkenntnis entwickelt.«

    Maria tobte. »Hast du eine Ahnung, was das bedeutet!«

    »Na klar«, schaute er sie amüsiert an. »EVA koppelt das Bewusstsein an die Seele.«

    »Das meine ich nicht«, schrie sie fast. »Sie werden es erfahren, und wahrscheinlich wissen sie es bereits.«

    Er ignorierte sie. »Ich erzähle euch meine Geschichte. Dann entscheidet einfach selbst, ob ihr den Apfel erntet, oder nicht.«

    Es folgte ein langer Seufzer.

    Alle schwiegen, als Marquês seine Runde fragend anschaute.

    »Was muss geschehen, damit sich das Bewusstsein seiner Seele bewusst wird?«

    Marquês erwartete keine Antwort. Er räusperte sich und begann seine Geschichte zu erzählen, als würde der Schöpfer selbst durch ihn sprechen.

    »Was geschieht, wenn sich das Bewusstsein seiner Seele bewusst wird?«

    Die Menschheit stand erst am Anfang ihrer geistigen Entwicklung. Das Wissen, das Marquês mit seinen Kollegen zu teilen gedachte, war nicht für ihre Ohren bestimmt.

    Marquês sprach ungeachtet dessen weiter.

    »Die Schnittstelle hat keine dreidimensionale Adresse, zu der man sich navigieren lassen kann. Den Nachweis für die Existenz einer Seele mit Hilfsmitteln der dreidimensionalen Welt durchführen zu wollen, ist weder angebracht noch möglich. Der beste Radiologe wird im Schädel-MRT und der beste Pathologe im Mikroskop nicht fündig. Jeglicher Versuch, die Seele mit irdischen Messinstrumenten vermessen zu wollen, wird scheitern.«

    »Wir haben die Maschine nicht konstruiert, um die Seele ausfindig zu machen«, intervenierte Maria.

    Marquês nickte zustimmend. »So ist das in der Forschung. Man sucht den Hausschuh unter dem Sofa, und am Ende findet man versehentlich die Ehefrau.«

    »Das ist nicht komisch«, fand Maria.

    »Wie erwartet, könnt ihr mit all diesen Informationen nichts anfangen. Ihr könnt es nicht begreifen. Ihr müsst es schon selbst erleben, um es zu verstehen.«

    Maria schüttelte den Kopf. »Mir wird schon übel, wenn ich die Achterbahn fahren sehe. Ich setze mich nicht hinein, wenn ich weiß, dass sie mir nicht bekommt.«

    Marquês zuckte mit den Schultern. »Die Maschine der Erkenntnis macht aus einem Saulus einen Paulus. EVA ist die Erlöserin: Sie bringt uns Erleuchtung und den Frieden der Welt.«

    Kaum hatte Marquês sein letztes Wort gesprochen, wurde der Raum vom Spezialeinsatzkommando gestürmt. Innerhalb von zwei Sekunden war das Forschungsteam von Marquês ausgelöscht. Die erleuchteten Tiere fanden ebenfalls den Tod. EVA wurde demontiert und an einem geheimen Ort tief unter der Erde neu aufgebaut.

     

  • Als die erste Generation der Marsmenschen den roten Planeten urban machte, entdeckte sie ungewöhnliche Artefakte und Kuriositäten. Offiziell wurde dies aus tausenderlei Gründen nicht publiziert.

    Ein kleines Gremium eingeweihter Akademiker beschäftigte sich ausführlich mit solchen Rätseln und Absurditäten, ohne auf eine sinnvolle Erklärung zu stoßen.

    In den Nachrichten wurde nichts dergleichen berichtet, denn es war noch nie vorgesehen, in der Öffentlichkeit über Phänomene zu diskutieren, für die man keine Lösung fand oder auf neuartige Technologien hinzuweisen, die man auszuschlachten gedachte.

    Währenddessen erfreute sich die Menschheit über den ersten gesicherten Nachweis von Bakterien außerhalb der irdischen Grenzen. Ebenso wurde das üppige Wasservorkommen unterhalb der Marsoberfläche und die Existenz von neuartigen Erzen gewürdigt, die die Erde nicht hervorgebracht hatte.

    Plausible Erklärungen für Entdeckungen, die der logische Verstand gegenwärtiger Menschen nicht zuließ, standen erst achttausend Jahre später zur Verfügung.

    Zu diesem Zeitpunkt war die Menschheit wider Erwarten am Leben. Sie bewirtschafteten das gesamte Sonnensystem, welches sie jedoch nicht verlassen durften oder konnten. Die Mieten im Galaktischen Imperium waren extrem teuer. Deren Mitglieder hatten kein Interesse, den tendenziell kriegslustigen Menschen noch mehr Lebensraum zuzugestehen.

    Das Heimatsonnensystem war zum Käfig mutiert.

    Innerhalb eng gesteckter Grenzen wurde der Kampf um Ressourcen verbittert fortgeführt, da die Menschheit nicht in benachbarte Sonnensysteme ausweichen durfte. Das Sonnensystem war überbevölkert. Geburten wurden streng reguliert. Nur ausgewählte Paare durften Kinder zeugen.

    Es schien nur einen Ausweg aus dieser verzweifelten Lage zu geben: Die Anwendung einer verbotenen Technologie eröffnete den Menschen der Zukunft eine Lösung.

    »Ein- und dieselbe ökologische Nische kann genutzt werden, wenn sie zu unterschiedlichen Zeiten in Anspruch genommen wird«, erklärte Commander Higgs Kaugummi kauend. »Wenn nachts die Füchse auf Hasenjagd gehen, erbeutet der Habicht am Tage Mäuse.«

    »Was wollen Sie damit zum Ausdruck bringen?«, erwiderte Lieutenant Helena, die eher geistesabwesend die Flugroute, die ihr Commander eingegeben hatte, studierte.

    Im Raumfrachter Newton, der wertvolle Rohstoffe und Touristen zweiter Klasse beförderte, herrschte Stille. Commander Higgs träumte insgeheim von einer schönen neuen Welt. Er war Astronaut geworden, um den Weltraum zu erkunden, und nun fühlte er sich wie ein Taxifahrer, der zwischen Neptun und Sonne pendelte. Die Raumschiffe funktionierten ebenso gut mit Autopilot. Selbst das Einparken übernahm der Bordcomputer, wenn man es ihm überließ. Sie waren für interessantere Missionen konstruiert worden: für interstellare Reisen. Die erste und letzte illegale Überfahrt nach Proxima Centauri zweitausend Jahre zuvor wurde durch die Weltraumaufsicht mit einem Abschuss ohne Vorwarnung quittiert. Rohstoffverknappung war ein galaktisches Thema, aber nicht der einzige Grund, um sich unliebsame Zivilisationen vom Leibe zu halten. Wer sich etablieren wollte, musste intergalaktisch reisen können. Das aber beherrschte die Menschheit noch nicht. Außerdem fehlten ihnen die Erfahrungswerte, die man auf interstellaren Reisen hätte machen können. Nicht einmal Schwarze Löcher konnten sie aus der Nähe betrachten. Sie fühlten sich im wahrsten Sinne des Wortes eingesperrt wie ein Jugendlicher unter Hausarrest.

    »Wir flüchten mit Sack und Pack«, grinste ihr Chef.

    Helena runzelte die Stirn. Manchmal hatte er Flausen im Kopf. »Und wohin?«, fragte sie gelangweilt.

    Sie würde es früh genug erfahren. Dass er sich mit seinem Plan strafbar machte, war ihm gleichgültig. Denn dort, wo er beabsichtigte hinzufliegen, herrschten weder irdische noch galaktische Jurisprudenzen.

    Higgs hätte nicht Higgs geheißen, wenn nicht sein Großvater die Higgsmaschine entwickelt hätte, mit der sich die Raumzeit manipulieren ließ. Sie funktionierte im kleinen Maßstab, und auch nur, wenn die kosmischen Wächter es nicht bemerken würden.

    Der Übergang in die neue Welt war unspektakulär: als hätte jemand einen Film pausiert, einen Knopf gedrückt und das Programm gewechselt. Die Higgsmaschine war nichts weiter als eine App, die auf sämtliche Raumkoordinaten zugreifen konnte und im Unterschied zum gewöhnlichen Navigationssystem Raumkoordinaten von benachbarten Universen durch die Vermessung des Higgsfelds vorausberechnen konnte. Auf diese Weise kalkulierte die App attosekundenschnell potentielle Sprungstellen. Wenn sich zwei benachbarte Universen eine raumzeitliche Schnittmenge teilten, konnte man solange im Nachbaruniversum verweilen, bis man wieder ins Heimatuniversum zurückzuspringen gedachte. Der Sprung erfolgte je nach Schnittmengenmuster in die Zukunft oder Vergangenheit. Der Begriff Zeit verlor in diesem Zusammenhang seine vertraute Bedeutung. Jeder Punkt auf der Zeitskala existierte bereits. Die Vergangenheit war gewissermaßen gegenwärtig geblieben. Die Zukunft hingegen existierte bereits. Durch den Zufallsfaktor war sie nicht zu hundert Prozent entschieden. Sie blieb grundsätzlich etwas unbestimmt und manifestierte sich erst im Moment der Ankunft. Die Macht der Zukunft war nicht zu unterschätzen. Durch ihren Gehalt an Unbestimmtheit war sie sogar in der Lage, rückwirkend die Vergangenheit zu verändern. Das bedeutete mit anderen Worten, dass jeglicher Moment einer Gegenwart sowohl Einfluss auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft hatte.

    Higgs Finger tippten flink über die Tastatur. Die App berechnete zwei Sprungstellen innerhalb der nächsten Minute. Intuitiv entschied er sich für die zweite Version, für die ein weniger intensives Higgsfeld benötigt wurde, welches die gemeinsamen Raumkoordinaten des Nachbar- und Heimatuniversums stabilisieren würde. Hätte er vorab keine Zielkoordinaten vorgegeben, wären sie in der scheinbaren Ewigkeit stecken geblieben. Da sie aber nur 42 Attosekunden währte, spürte es keine Menschenseele.

    Nun, die Wächter registrierten den Vorfall, aber sie ignorierten das verräterische Signal. Dafür gab es einen guten Grund. Higgs Maschine täuschte andere Raumkoordinaten vor. Gelegentlich spuckten Schwarze Löcher der Umgebung ebenfalls gewaltige Higgswolken aus. Die Eruption, die Higgs Raumschiff augelöst hatte, war im Vergleich hierzu minimal.

    »Hier hin«, antwortete er, und Helena ließ den zwischen den Lippen befestigten Joint vor Schreck fallen.

    Panisch huschte ihr Blick über alle Displays. Das Schiff war in Ordnung, die Crew lebte, und die Weltraumtouristen waren mit ihrem Mittagessen zufrieden. Der kosmische Funkverkehr innerhalb des Sonnensystems war verebbt. Die Erde verhielt sich wie ein taubstummer Patient. Helena stand auf und starrte auf die Raumzeitkoordinaten. Sie kontrollierte zweimal, vertraute dem Bordrechner nicht, schnappte sich ihr Tablet und rechnete selbst nach. Danach verglich sie ihre Daten mit dem äußerlichen Erscheinungsbild der Erde und kam zu einem erschreckenden Ergebnis. Außerdem bestätigten die Spektralanalysen ihren Verdacht.

    Amüsiert schaute Higgs ihrem Treiben zu.

    »Finden Sie das etwa witzig!«, beschwerte sie sich.

    »Unsere Heimat zu einer anderen Zeit«, meinte er achselzuckend. »Wir erschließen uns lediglich eine neue ökologische Nische.«

    Sie schnaubte und stemmte wütend ihre Fäuste in die Hüfte. »Sie entführen ungefragt die gesamte Crew und Bordmannschaft in eine andere Zeit, um Ihren Traum zu erfüllen?«

    Flüchtig kniff er das rechte Auge zu. »Allein auf Dinojagd gehen macht keinen Spaß, oder?«

    »Ich hasse Dinos«, verdrehte sie die Augen. »Sie sind ein verfluchter Idiot!«

    Er ließ Helena schimpfen, bis sie keine Worte mehr fand. Dann war er an der Reihe.

    »Die Auswahl der Touristen oblag diesmal mir. Das bedeutet, wir befördern keine Touristen.«

    Helena schaute ihn verwirrt an. »So? Und was ist mit mir?«

    »Sie und ich sind Vollwaise, die keinerlei Ambitionen aufweisen, langfristig auf der zukünftigen Erde sesshaft zu werden«, antwortete Higgs. »Wo ist Ihr Abenteuergeist?«

    Sie ignorierte ihn. »Was für Touristen sind das, die keine Touristen sind?«

    »Ein Viertel Roboter, die uns die Drecksarbeit abnehmen, ein Viertel Söldner, und die andere Hälfte gut ausgebildete junge Wissenschaftler aller Fachrichtungen. Tausende Menschen aus aller Herren Länder, um einen großen genetischen Pool zu gewährleisten. Der Frachtraum ist gefüllt mit Technik, Medizin und elementaren Rohstoffen, um eine neue Zivilisation aufzubauen.«

    »Söldner?«, wiederholte Helena. »Sie haben nichts Besseres zu tun, als Krieg in die Vergangenheit der Erde zu exportieren? Wie soll das eine friedliche Mission werden?«

    Higgs atmete geräuschvoll aus. »Wir brauchen sie, um uns gegen Feinde zu verteidigen.«

    »Die Söldner übernehmen die Macht, sobald sie erfahren, dass sie gegen ihren Willen 144 Millionen Jahre zurück katapultiert wurden!«

    Higgs schüttelte den Kopf. »Nein, werden sie nicht. Es war ein Unfall, nicht wahr, Helena? Diese Jungs schnappen das erste Mal in ihrem Leben frische, naturgemachte Luft. Sie können so viel Landfläche beanspruchen, wie sie brauchen. Nie wieder werden sie in einem Bunker unter der Erde auf zehn Quadrat vegetieren. Sie werden bald die glücklichsten Menschen sein, die es jemals gab.«

    Helena bezweifelte das. »Higgs«, seufzte sie. »Schlimmstenfalls vernichten sie die Erde, bevor die Evolution die Menschheit hervorbringt.«

    »Nein«, widersprach er lächelnd. »Werden sie nicht.«

    »Ach ja?«, schüttelte sie vehement den Kopf.

    »Wohl eher unseren Nachbarplaneten«, versprach er grinsend.

    Helena hielt die Luft an. Sie zoomte sich den roten Planeten heran, der nur in Wüstenzonen eine Rotfärbung aufwies.

    Da!

    Da erschien er in prächtiger Schönheit auf dem Bildschirm.
    »Mars«, flüsterte sie staunend.

    »Helena, wir sind die Menschen, die im Paradies leben dürfen. Die Vergangenheit ist unsere Zukunft!«

    Langsam sank sie in ihren Sessel und bewunderte das Naturschauspiel, bis ihr still die Tränen über die Wangen rannen.

    »Er lebt«, sagte Higgs feierlich. »Er ist kein staubiger Wüstenplanet. In dieser Epoche ist Mars eine sauerstoff- und wasserreiche Oase.«

    Das erklärte auch die Rotfärbung des eisenhaltigen Wüstenstaubs. Er glänzte nicht metallisch. Der Wüstensand war rot, weil der Sauerstoff das Eisen in Rost verwandelt hatte. Das marsianische Magnetfeld war viel stärker als das irdische, und Higgs fragte sich, wie es dem Mars in der Zukunft abhanden kommen würde.

    »In der aktuellen Marsatmosphäre messen die Sensoren 25 Prozent Sauerstoff. Mehr, als wir bräuchten«, ergänzte Helena.

    »Und 1.500 ppm Kohlendioxid bei mittelmäßiger Vulkantätigkeit und subtropischen Witterungsverhältnissen«, bestätigte Higgs. »Das wird den C3-Pflanzen besonders gut gefallen.«

    »Und mir, solange auf dem Mars keine T-Rexe nach meinem Leben trachten«, meinte Helena.

    »Die tauchen erst später auf. Momentan stehen Allosaurier auf dem Plan«, korrigierte Higgs.

    »Wie beruhigend«, antwortete sie. »Gefräßig und gefährlich sind sie alle.«

    »Wir fliegen hin und schauen nach«, schlug er vor. »Es dürfte sehr unwahrscheinlich sein, Dinosaurier auf dem Mars vorzufinden. Aber wir könnten ein paar Pflanzenfresser einfangen und auf den Mars umsiedeln, um uns Fleischquellen zu sichern.«

    Helena schaute Higgs erschrocken an.

    »Was ist?«, fragte er. »Natürlich eingezäunt. Ohne Fressfeinde vermehren sie sich rasant.«

    »Das meine ich nicht«, sagte sie leise und erblasste. Sie befahl dem Computer, eine Datei über die Menschheitshistorie aus dem Jahr 2075 aufzurufen. »Haben Sie in Geschichte nicht aufgepasst?«

    Higgs blickte auf den Aufsatz und erkannte, was Helena damit bezweckte.
    »Sie haben Recht«, er nickte zustimmend. »Wir sind damit gemeint.«

    »Anachronistische Funde auf dem Mars:
    Titel des inoffiziellen Kurzberichtes der Mars-Crew an ihre Bodenstation,
    01. April 2075:

    Als wir das Tunnelsystem für den marsianischen Hyperloop anlegten, stießen wir auf ein bereits angelegtes Tunnelsystem. An einigen Positionen führten diese senkrecht an die Marsoberfläche. Wir nannten sie mars holes.

    Wir entschieden, das vorhandene System zu nutzen, führten die notwendigen Reparaturen durch und nahmen die historischen Labyrinthe in Betrieb. Dadurch erreichten wir in Rekordzeit unser Bauvorhaben und ergänzten den unterirdischen Highway um weitere Abschnitte.

    Magnetisches Material auf dem Mars zu beschaffen, ist keine Kunst. Davon benötigt man reichlich, um Hyperloops zu betreiben. Unsere Analysen jedoch ergaben, dass das dort verwendete Material graphenbasierte Magnete waren, deren Magnetkraft die der natürlichen Magnete um das millionenfache überstieg. Wir optimieren weiterhin. Mittlerweile produzieren wir magnetische Graphene mit tausendfacher Verstärkung.

    Die Elektronik, die verwendeten Baustoffe und Solaranlagen basieren ebenfalls auf Graphentechnologie. Bislang haben wir keinen konkreten Hinweis auf die Erbauer des Tunnelsystems. Allerdings haben wir insbesondere in der Nähe der wahrscheinlich ehemaligen unterirdischen Wohnanlagen komplett erhaltene Skelette pflanzenfressender Dinosaurier entdeckt. Darüber hinaus wurde in einer der gut erhaltenen Hyperloopkapseln ein bekleidetes Skelett gefunden. DNA-Analysen legen eine humane Herkunft nahe. Das Alter der Knochen wird auf mehrere Millionen Jahre geschätzt. Neben dem Insassen saß ein defekter Roboter, ausgestattet mit einem Quantencomputer auf Graphenchiptechnologie und den unsrigen Modellen weit überlegen. Wir arbeiten daran, den Roboter funktionsfähig zu machen.«

    Higgs lächelte. Ja, sie würden es sich auf marsianischer Erde gemütlich machen.

    »Wir müssen das rückgängig machen, Higgs«, forderte Helena.

    Er schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Ich fürchte, das geht nicht.«

    Sie betrachtete ihn vorwurfsvoll. »Warum?«

    »Um keine verdächtigen Spuren zu hinterlassen und auch, um jetzt den Zeitwächtern nicht aufzufallen, sah ich mich gezwungen, die Higgsmaschine zu zerstören. Sie vernichten uns, wenn wir in die Zukunft zurückkehren.«

    »Na und!«, rief Helena wütend aus. »Dann bauen wir eine neue.«

    »Helena«, beschwichtigte Higgs. »Wir befinden uns im Paradies, von dem wir alle träumen. Wenn wir uns geschickt anstellen, schwärmen unsere Kindeskinder aus dem Sonnensystem und entdecken das Weltall, das man uns bislang vorenthalten hat!«

    Helena schüttelte den Kopf. »Davon steht aber nichts in den Geschichtsbüchern.«

    Higgs lachte. “Warum denn wohl?”

    Er aktivierte das Mikrofon. Alle Bordinsassen hörten den Willkommensgruß. »Liebe Touristen, wir heißen Sie auf dem Dschungelplaneten Gondwana herzlich willkommen. Es ist die im Reisekatalog angekündigte Überraschung. Fühlen Sie sich wie zuhause, aber machen Sie sich auf unangenehme Überraschungen gefasst.«

  • Mozarts Weltformel – Des Himmels Töne

    Wien, 2020

    Die Wiener Staatsoper war bis auf den letzten Platz besetzt, obwohl für eine Konzertkarte tausend Euro verlangt und auf dem Schwarzmarkt die Hunderttausend geknackt wurden. Wenn das berühmte Konzerthaus kurzfristig räumlich hätte erweitern können, hätte sich ganz Wien in einen Konzertsaal verwandelt. Die Hälfte der Einkünfte war bereits für gute Zwecke verplant, der Rest für dringliche Investitionen.

    Der Hype um dieses eine einzige Konzert führte sogar dazu, dass man den europäischen Staatshäuptern dringend davon abriet, an jenem Abend zu erscheinen, der das Gesicht der Welt dramatisch verändern sollte. Die Unerschrockenen widersetzten sich und taten es trotzdem.

    Niemand glaubte an diesen Schmarren. Sie kamen aus Neugierde. Selbst diejenigen und vor allem diejenigen, die nicht einmal Fan von Mozarts Musik waren, bezahlten bereitwillig, um am Zauber der geheimen Weltformel teilzuhaben.

    Ursprünglich sollten die bislang unbekannten Werke des Meisters vom berühmtesten und natürlich besten Pianisten vorgetragen werden. Als dieser die Notation, in geheimen Tresorräumen einer weltbekannten Bank sicher verwahrt, studierte, soll er weinend und verzweifelt das verlockende Angebot abgelehnt haben. Kaum hatte er flüchtend die Drehtüren passiert, wurde er von Unbekannten einkassiert und seither nicht mehr gesichtet. Ob dummes Geschwätz oder nicht, der Presse war es zu verdanken, dass die Story den Rang eines Mythos erzielte, bevor die Uraufführung stattgefunden hatte. Der Geschmack des Übernatürlichen hing in der Luft. Die Vernunftbegabten ließen sich freilich nicht irritieren. Einige von ihnen hatten vorsorglich mehrere Konzertkarten erstanden, um sie dann wie eine Aktie zu handeln. Die Börse munkelte, sie hätten absichtlich einen Mythos geschaffen.

    Weder der Veranstalter noch die Stadt Wien oder sonst jemand hatte eine klare Vorstellung darüber, welche Art von Musik es war, die Mozart »Des Himmels Töne« getauft hatte. Nur eine Sache stand fest.

    Dem nächsten Kandidaten wurde auferlegt, die Notation frühestens zwei Stunden vor dem Auftritt studieren zu dürfen, ohne sie am Flügel gespielt zu haben. Dass hierfür blutige Anfänger nicht geeignet sind, lag auf der Hand. Von zehn Auserwählten war lediglich eine Person bereit, dieses sonderbare Risiko einzugehen.

    Thauma Anastassopoulos betrachtete die Notenblätter in Anwesenheit von acht perfekt gekleideten und bewaffneten Sicherheitsleuten, die von Musik ebenso wenig verstanden wie Babys von Molekularbiologie. Die junge Frau verkörperte die geeignete Mischung, um die Ausführung des Vertrages sicherzustellen. Ihre Befürchtung, ebenfalls in Tränen auszubrechen, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Dennoch sträubten sich ihr die Nackenhaare.

    Nun, es war wahrhaftig kein Stück, das die Existenz von zwölf Fingern notwendig machte oder gar von Händen, die zwei Oktaven gleichzeitig überspannen. Auf den ersten Blick entdeckte sie weder obskure Wechsel noch zweihundertsechsundfünfzigstel Noten, die die Finger verknoten. Die Pedalführung dagegen schien dem Komponisten sehr wichtig zu sein. Alles in allem war es für Thauma absolut machbar, das Stück beim ersten Vortrag fehlerfrei vorzutragen. Sie hatte die Komposition im Kopf. Jede einzelne Note. Im Zweifel würde sie es anderswo noch einmal vortragen können, aber das war ihr Geheimnis, und das behielt sie für sich.

    Thauma konnte sich als Kennerin von Mozart kaum vorstellen, dass ausgerechnet er dieses Stück komponiert haben sollte. Diesen Verdacht aber sprach sie nicht aus.

    Ihr blieben noch achtzig Minuten zum Durchatmen.

    Sie seufzte leise, wendete das Notenbündel und begann von vorn. Im ersten Durchgang hatte sie sich auf die technische Umsetzung konzentriert. Jetzt war die Emotionalität des Stücks zu bewerten und zu interpretieren. Nirgendwo gab es Anweisungen in der Art von »smorzando« oder »dolce e con affetto«. Als sie in die Seele des Werks eintauchte, wurde ihr bewusst, warum es solcher Anweisungen nicht bedurfte.

    In ihrem Geist entpuppte sich die Komposition als umfassende Wahrnehmung. Noten verwandelten sich in Musik, Musik in Farben, Farben in Bilder, Bilder in Szenen, Szenen in einen Film. Nachdem sie sich durchgeblätterte hatte, blieben noch vierzig Minuten, in denen sie sich mental auf musikalische Reise begab.

    Wien, 1791

    Er starb zu früh, aber nicht an Armut oder Krankheit. Sein Geheimnis wurde gemeinsam mit ihm zu Grabe getragen und zum Vermächtnis einer erlesenen Gruppe von Eingeweihten. Allerdings nicht in Wien, wie allgemein angenommen. Vor und zu seiner Zeit als auch jetzt wirken Kräfte, die eine Entfesselung überirdischen Zaubers der Musik nicht gestatten. Neben Mozart gab es freilich andere Komponisten, die unbewusst die Formel des himmlischen Codes entzifferten. Er aber hatte die Essenz gefunden.

    Die Anordnung der Töne, das Jonglieren dieser mit- und untereinander, die Kombinationen sämtlicher Eigenschaften, die ein Notenblatt hergibt, sind essentiell, um jene Schwingungen zu erzeugen, die subatomare Teilchen im CERN in die Vergangenheit oder sonst wohin verschwinden lassen. Es sind jene Schwingungen, die uns an die Musik des Himmels erinnern, weil sie Tore aufstoßen, die uns gewöhnlich verschlossen bleiben.

    Mozart scherte sich wenig um Schwarze Löcher, Geisterteilchen und Neutrinos, über die erst hundert Jahre später gesprochen werden würde. Zu seiner Zeit fuhr man mit der Pferdekutsche, und von moderner Technologie war man gefühlte Lichtjahre entfernt. Er wusste nicht bewusst von der Existenz fraktaler Muster. Er fühlte sie im Sinne einer harmonischen Musik. Er experimentierte nicht mit Pi, Euler, Primzahlen oder dem goldenen Schnitt. Er verarbeitete mathematische Gesetze und Regeln unbewusst, um Werke zu schaffen, die Jahrhunderte später noch erhört und gehört werden würden, eben weil sie den Gesetzen des Universums folgten.

    Wien, 2019

    Wie viele Zufälle in einem Universum gestattet sind, legt der Meister vor Herausgabe des Universums selbst fest. An diesen kann im Nachhinein selten oder gar nichts geändert werden. Mozart war ein Fall von ganz besonderem Zufall. Er und seine Musik existierten. Die Wächter hatten zwar beschlossen, Mozart das Handwerk zu legen, aber bei der Vernichtung seiner himmlischen Komposition waren sie nicht gründlich genug gewesen. Die originale Notenschrift aus Mozarts Hand gelangte auf Umwegen zwei Jahrhunderte später in die Hände eines Kunsthändlers in Genf und von dort zu einem seiner besten Kunden, einem musikbegeisterten Physiker. Als Akuma das historische Schriftstück erblickte, lächelte und flüsterte er:
    »Veni, vidi, vici.«

    Der Physiker hörte im Geiste die Musik des Himmels, als er die Notation überflog.

    Kaum war das Dokument in seinen Besitz übergegangen, plante er detailliert das weitere Vorgehen. Er überreichte eine Kopie an einen Studienfreund in Wien, der ihm für viel Geld versprach, ein besonderes Konzert auszurichten, um zu testen, welche Auswirkungen jene Musik auf ein unbedarftes Publikum hätte.

    Wien, 2020

    Akuma beobachtete das Spektakel nicht persönlich. Kleine Kameras zeichneten alles auf. Auch das unmerkliche Seufzen der talentierten Pianistin. Thauma Anastassopoulos setzte sich in einen bequemen Sessel, nippte ab und und zu an einem Glas Wasser und genoss das Schauspiel, das sich  ihrem inneren Auge darbot. Als würde Mozart persönlich sprechen, nein – als würde das Universum zu ihr sprechen. Währenddessen füllten sich die Reihen des gediegenen Konzertsaals.

    Wien, 1791

    Mozart fiel den Wächtern auf. Spätestens zu jener Zeit, als in einem Moment von größter Taurigkeit Melodien auf seinem Hammerklavier erklangen, die die Eigenschaften und den Verlauf der Raumzeit beeinflussten. Er hatte die Sprache des Himmels verstanden. Darüberhinaus besaß er die Frechheit, die Sprache des Himmels in Form von Noten zu sprechen, wenngleich jene kritischen Kompositionen das Gesicht der Öffentlichkeit niemals erblickt hatten. Sie geboten ihm eindringlich, jenes Stück niemals der Menschheit zu offenbaren. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, die göttlichen Melodien zu spielen, wenngleich in seinem persönlichen Reich niemand Ohrenzeuge wurde. Die Wächter kehrten zurück und drohten ihm mit dem Leben, würde er nicht aufhören, die gefährlichen Passagen zu spielen. Er tat, wie ihm geheißen. Kaum waren die Wächter verschwunden, übersetzte er sein Werk, das bis zu diesem Tage allein in seinem Geiste existierte, in Notenschrift. Als er die Arbeit erledigt hatte, fiel ihm der passende Name für das größte Werk aller Zeiten ein:
    »Des Himmels Töne«.

    Kurz darauf schlief er erschöpft ein, und als er wieder erwachte, waren sämtliche Notenblätter verschwunden. Erfüllt von Panik und Angst suchte er das kostbare Gut, das ihm gestohlen worden war. Seitdem verstrich kein Tag, an dem er nicht um sein Leben fürchtete. Und es sollte nicht lange dauern, dass die Wächter ihren Auftrag erfüllten. Selbst seine direkte Nachkommenschaft wurde im weiteren Verlauf auf Null reduziert.

    Wien, 2020

    Als Thauma Anastassopoulos den Konzertsaal betritt, entlädt sich die knisternde Spannung mit tobendem Beifall. Niemand hat eine blutjunge Pianistin in strahlend weißem Brautkleid erwartet. Wenig später ist ihr Gesicht in den sozialen Medien verewigt, tituliert als die Braut, die den Himmel erklingen lässt.

    Thauma verneigt sich. Als Ruhe einkehrt, besteigt sie den Thron, berührt einmal sanft die Notation und dann …

    Überirdische Stille überflutet die Menschen. Überwältigende Traurigkeit stellt sich ein. Tränen funkeln auf geschminkten Gesichtern. Ein jeder ist in seinem eigenen Trauma gefangen, das ihn fesselt. Niemand regt sich. Nur die Finger der Pianistin rauschen über die Tasten.

    Das Präludium ist geschafft, und plötzlich erlischt im Konzertsaal das elektrische Licht. Allein die Bühne ist in flackerndes Kerzenlicht getaucht. Thauma spielt unbeeindruckt weiter. Sie ist der weiße Fleck im Universum, der um so heller erstrahlt, als dass er von Dunkelheit umgeben ist.

    Thauma selbst wird zum Zentrum einer sich drehenden Lichtkugel, aus der warmes Licht strömt. Das Publikum erstarrt vor Faszination und schaut gebannt auf das hell leuchtende und schließlich bunte Farbenspiel, das Sicht in andere Dimensionen erlaubt. Die sich immer schneller drehende Kugel nimmt an Umfang zu, bis sie einen Durchmesser von fünf Metern erreicht. Ein Wind tobt durch die Kerzen, der sie schließlich auspustet. Notenblätter flattern davon, umkreisen die Kugel und scheinen zu verschwinden. Kleine Gegenstände folgen ihnen nach. Plötzlich wird die Rotation gestoppt. Unvermittelt schrumpft die Lichtkugel auf Punktgröße zusammen, bis sie schließlich verschwindet. Nach kurzer Finsternis ist der Konzertsaal wieder hell erleuchtet.

    Als Thauma das Ende der Komposition erreicht, erwacht sie aus ihrer Trance und wird gewahr, was geschehen ist. Erschrocken blickt sie auf blutende Fingerspitzen herab. Zehntel Sekunden später ist sie nicht mehr dort, wo sie war. Die Wächter breiten wie Engel ihre Flügel aus. Das Licht des Vergessens löscht, was nicht für Menschen zugelassen ist.

    Wien, 2020

    Unerschrocken schaute sich Akuma das Debakel an. Nicht alle seiner kleinen Kameras waren in der Lage gewesen, die kritischen Szenen aufzuzeichnen. Zwei hatten dem unerklärlichen Sturm standgehalten. Weder das Erscheinen der Wächter, die Löschung der Gedächtnisinhalte noch das Verschwinden der Pianistin konnte ihn davor zurückschrecken, ein geheimes Experiment durchzuführen.

    Entschlossen fuhr er an seine Arbeitsstätte, wo Teilchenbeschleuniger auf  Befehle warteten. Heute würden sie mit Musik gefüttert werden. Und dann geschah genau das, was die Wächter ursprünglich zu verhindern versucht hatten.

    Wie aus dem Nichts heraus tauchte ein strahlend weißes Licht auf …

    Mozarts Erbe wurde wiedererweckt. Das Tor zum Himmel öffnete sich.

    Auf Akumas Bildschirm blinkte die Nachricht: »Heureka!«

    Mozarts Klavierkonzert war die musikalische Fassung einer umfassenden Theorie der Quantengravitation:

    »Mozarts Weltformel«

    Was geschieht, wenn die Menschheit daran