Jahr: 2019

  • Wer hat den Scherenschnitt
    Geschaffen?
    Die Zweige der Himmel
    Der Baum das Licht?
    Mein Auge?
    Mein Ich?

    Im Blättertanz
    wispert der Wind
    Wir alle zusammen!

  • Denn bald wird es Herbst werden…

    … Vielleicht hat er ja schon angefangen

    Jetzt kann ich mich endlich wie ein Igel in mich zusammenziehen und mich in warme Umhänge hüllen, denn ich friere in dieser kalten Welt, aber jetzt wundert sich keiner oder sorgt sich um mich, denn bald wird es Herbst werden. Jetzt kann ich endlich zu Hause bleiben, lesen, Löcher in die Luft starren, den fernen Geräuschen draußen nachlauschen und keiner wundert sich oder will mich nach draußen locken, denn bald wird es Herbst werden.

    Aufrecht kann ich den anderen auf ihren eiligen Wegen entgegengehen und ihnen in die Augen blicken und keiner meint, ich sei traurig, denn meine Augen spiegeln nur das Regengrau des Himmels, denn bald wird es Herbst werden. Ich kann mich vom Wind streicheln lassen, und schon die Vorfreude genießen, wenn es nun bald Herbst wird.

    Endlich kann ich ungestört in der Dämmerung des Tages mit meinem Hund spazieren gehen und mich an den letzten grünen Blättern erfreuen und winzigen gerade noch erblüten Blumen, denn bald wird es Herbst werden. Keiner wundert sich über meine Eile am Tag, über meine Hektik, denn jeder versteht, dass ich noch Ernte einbringen will, denn bald wird es Herbst werden.

    Ich kann mich nun an den Sommer erinnern, an seine Schönheiten, all das Unangenehme, Lästige hat der Wind wie welkes Laub hinweg geweht.

    Eigentlich könnte ich mich nun schon auf den Winter freuen, denn bald wird es Herbst werden. Eigentlich ist er schon da. Ich kann dann meinen Innenraum neu einrichten und mich auf die Einsamkeit freuen, die ermöglicht, dass ich Wesen aus der anderen Welt begegnen kann. Ich kann in der dunklen Stille oder im stillen Dunkel auf das helle Klingen der erblühenden glänzenden Schnee- und Eiskristalle warten.

    Aber jetzt muss ich aufräumen, Ordnung machen, Vorräte anlegen, denn bald wird es Herbst werden. Nein, er ist schon da.

     

  • IMPRESSIONEN VON DER ZUGSPITZE

    Wenn mich ein jüngerer Mensch fragt (unter jüngeren Menschen verstehe ich alles von 60 Jahren an abwärts), wie es bei mir in meinem Alter jetzt mit der Liebe sei, mit dem Gefühl des Verliebtseins, mit der Sexualität …  dann muss ich sagen: Die Liebe ist weiter gewachsen, verlieben tue ich mich mehr denn je, auch wenn es nur eine letzte sich entfaltende Blütenknospe im Herbst ist oder der erste grüne Grashalm im Frühjahr oder ein vertrocknetes Blatt in Herzform … Sexualität? Ich weiß es nicht. Im Moment spielt sie keine Rolle. Ich merke aber mehr als vorher, wenn ich junge Liebespaare sehe, wann der Funke der Sexualität in das Gefühl des Verliebtseins eindringt, beziehungsweise, wem von den beiden es mehr um die Befriedigung der Sexualität geht und er den anderen dazu braucht. Die Beziehung zum anderen ist zweitrangig. Im Moment spielt sie für mich keine Rolle. Vielleicht ändert es sich noch. Das Leben ist ja voller Überraschungen! Was ich aber – wie ich heute entdeckte – nicht mehr erlebt habe, war, wie sich das Gefühl des Verliebtseins im Körper äußert. Heute erlebte ich es wieder.

    Ich muss neu anfangen: wenn mich einer fragt … siehe oben… Dann würde ich heute sagen: Wenn ich das Gefühl des Verliebtseins wieder erfahren will, dann muss ich nur mit der Seilbahn auf die Zugspitze fahren. Der plötzliche Höhenunterschied löst nicht nur einen unangenehmen Druck in Ohren und Hinterkopf aus, er verursacht auch im Sonnengeflecht das Gefühl des Verliebtseins … aber es ist nicht nur angenehm…

     

  •  

    Auch eine Art von Flüchtling?

    Rausgerissen aus der gewohnten Umgebung
    wird dieser kleine Zweig
    von den einen
    als Abfall betrachtet
    andere
    deren Augen sehen können
    erfreuen sich dankend an ihm
    als Meditationsinhalt
    Lass die Formen  Bewegungen
    Rhythmen und Zwischenräume
    in Dir weiter wachsen!

     

  • Ein Quell entspringt
    ein Brunnen wird gebaut
    Wer war der Brunnenbauer?
    Wie ist der Name des Wesens
    das dort
    im Wasser lebt?

    Tiere kommen und Vögel fliegen herbei
    löschen ihren Durst
    ein müder Wanderer
    schöpft Wasser mit seiner Hand
    und erfrischt geht er weiter
    seinen Weg
    Kinder kommen und spielen
    Frauen füllen Krüge
    und tragen sie heim
    um Nahrung zu bereiten
    Blumen zu gießen
    Tiere zu tränken
    Kleider Räume und Menschen
    zu reinigen
    Wer denkt an den Brunnenbauer
    und dankt ihm?
    Händler kommen
    füllen das Wasser in Flaschen
    und verkaufen sie
    an anderen Orten
    wo Wasser rar ist

    Einer nimmt
    eine Flasche mit Wasser
    träufelt starkes Gift hinein
    und schenkt es
    einem Feind
    aus eigenem Willen
    oder im Auftrag

    Wer den Brunnen
    den Quell nicht kennt
    kann er wirklich meinen
    es sei ein und dasselbe Wasser?

    Welchen Namen
    wird man ihm geben?

     

     

  • Tschüß, süßes Mädchen!

    Gestern waren wir in Bremerhaven und haben uns von der „Seuten Deern“ verabschiedet.

    Sie sieht erbärmlich aus.

    Sie war im Hafenbecken gesunken, dann hat man sie ausgepumpt und mit Luftsäcken und Leinen wieder hochgehoben. Zwei  Millionen Liter Wasser müssen pro Stunde aus dem Schiffsrumpf gepumpt werden, damit sie nicht wieder absäuft.

    Das Absaufen der Seuten Deern ist ein Menetekel.

    Es zeigt, was passiert, wenn man sich nicht kümmert, wenn man den Dingen ihren Lauf, wenn man alles verrotten läßt.

    Wir wird bange um die „Deutschland“, um die Alexander von Humboldt.

    In die Schulen in Bremen, die Universität, überall regnet es hinein.

    Die Krankenhäuser und der Flughafen, alle haben Aufsichtsräte, die das Absaufen gar nicht bemerkt haben. Die Bremer Landesbank hatte gar die Finanzsenatorin als Aufsichtsratsvorsitzende. Nun steht von der Bremer Landesbank nur noch das Gebäude auf dem Domshof, die Bank selber ist weg.

    Lothar Probst, Politikwissenschaftler aus Bremen, schreibt im Weserkurier über den Kampf um die Schwarze und die Grüne Null.

    Es ist schon klar, was er damit meint. Der fiskalischen Sparpolitik steht das Klimaschutzpaket gegenüber.

    Aber die Politik der grünen Null besteht darin, zur Weltklimakonferenz zu fahren und anschließend an den Leichtathletikmeisterschaften in Katar teilzunehmen, wo die Sportler um Mitternacht Marathon laufen müssen, und selbst dann noch reihenweise umkippen.

    Es ist ein schönes Wortspiel, und es ist ein schönes Farbenspiel, der Kampf um die grünen und schwarzen Nullen.

    Trotzdem gibt es noch andere Nullen.

    Es gibt auch viele Standpunkte.

    Es gibt Menschen mit einem geistigen Horizont mit dem Radius von Null, die genau das als ihren Standpunkt bezeichnen.

    Und so geben wir unser Geld dafür aus, pro Stunde 2 Millionen Liter Wasser aus dem Bauch der Seuten Deern in das Bremerhavener Museumshafenbecken zu pumpen, und unser CO2-Abdruck entsteht durch das Klimatisieren einen Leichtathletikstadions in der Wüste von Katar. Wir sind dafür mitverantwortlich, weil wir da mitmachen.

    Erich Kästner schrieb:

    Allein ging jedem alles schief.
    Da packte sie die Wut.
    Und man bildete ein Kollektiv
    Und meinte, nun sei’s gut.
    Addiert die Null zehntausend Mal,
    rechnet‘s nur gründlich aus,
    multipliziert‘s mit jeder Zahl:
    Steht Kopf, es bleibt Euch keine Wahl:
    Zum Schluss kommt Null heraus.

    Bitte: Stellt die Pumpen ab und gebt der Seuten Deern ihren Frieden.

    30.9.2019

  • Lagebericht

    (28.9.2019)

     

    Betrachte ich bewegt-beunruhigt diesen Haufen
    in goldenen Tretmühlen verloren
    selbstzufrieden, satt, gefräßig
    behäbig beschäftigt mit blendenden Blasen
    in untätiger stumpfsinniger Mitläuferschaft
    an nahen und fernen Verbrechen beteiligt
    blicke ich in diese aufgerissenen dunklen Gründe
    kommt in mir Bitterkeit und Groll gewaltig auf 

    Dann sage ich zu mir wiederholt warnend
    der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge*
    der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser* 

    In solchen schmerzenden Phasen
    brauche ich Tränen klärender als der Frühlingsregen
    einen Blickwinkel breiter als die Ozeane
    einen Standpunkt höher und fester als die Berge
    ein Farbbrett bunter als die Herbstpalette
    In solchen Zeiten brauche ich
    die aufrichtende Wärme der Erde
    die gütigen Augen der Liebe

    ֎֎֎

    * In Anlehnung an Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen; 1939 veröffentlicht in Svendborger Gedichte

  • Zärtliche Wärme

    (28.9.2019)

     

    für Heidi

     

    Mitten in der dunklen Nacht
    bin ich erschrocken aufgewacht
    Den Grund wusste ich freilich nicht
    verschwommen war die benötigte Sicht
    Dein zärtlicher Atem war zu spüren
    Deine tröstende Wärme war zu berühren
    Es wurde mir schleunig klar
    Glück ist nah und wunderbar 

    ֎֎֎

  • Once, in the great China Empire in the province of Shandong, there lived a left-handed boy Sev Lin, who had an extraordinary ability of painting. His father brought him for apprentice in the private school of a renowned painter. The master-painter recognized in short time the boy’s talent, and became envious.

    „No, that is not the way to do it!“ he would shout. „You will do better painting walls than drawing.“ Slowly the boy’s confidence receded. No matter how hard he tried, the painter found faults, and humiliated Sev Lin in front of the other students.

    One day, the assignment was “Draw  a goldfish!” Sev Lin closed his eyes and tried to visualize a splendid fat fish from his grandfather’s aquarium, and created an astonishing painting. „No. No. No!“ screamed the teacher and threw the boy’s painting into the nearby pond. Once in water, to everyone’s amazement, the painted fish miraculously converted in alive goldfish and proceeded to swim away.

    Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Wunderschön

    In dem großen chinesischen Imperium in der Provinz Shandong lebte einmal ein linkshändiger Junge namens Sev Lin, der außergewöhnlich gut zeichnen konnte. Sein Vater brachte ihn als Lehrling in die Privatschule eines bekannten Malers. Der Meistermaler erkannte ganz rasch das Talent des Jungen und wurde neidisch.

    „Nein, so darf man das nicht machen!“, rief er. „Du solltest lieber Wände anstreichen als Bilder zu zeichnen!“ Langsam verlor der Junge sein Selbstvertrauen. Auch wenn er es noch so hart probierte, fand der Maler Fehler und demütigte Sev Lin vor allen anderen Schülern.

    Eines Tages hatten die Schüler die Aufgabe, einen Goldfisch zu malen. Sev Lin schloss die Augen und versuchte, sich einen prächtigen dicken Fisch im Aquarium seines Großvaters vorzustellen und schuf ein erstaunliches Bild.

    „Nein, nein, nein!“, schrie der Lehrer und warf die Zeichnung des Jungen in den nahe gelegenen Teich. Zum Erstaunen aller verwandelte sich der gezeichnete Fisch wunderbarerweise in einen lebendigen Goldfisch und schwamm davon.

     

     

  • Gedeihliches Leben

    (16.9.2019)

     

    für Svea

     

    Auf meinem Unterarm
    schaukle ich ein Wunder
    frohgemut hin und her 

    Dein Blick gewinnt täglich
    an willentlicher Aufmerksamkeit
    Ich merke gerührt-glücklich
    dass du deine Umwelt
    umfassender wahrnimmst
    und besser Botschaften abgibst
    Wenn du auf meinem Arm einschläfst
    durchströmt mich tröstliche Wärme
    begleitet von den schönsten Melodien
    meines tanzenden Herzens 

    Immer und immer wieder
    frage ich mich sehnsüchtig suchend
    mit tiefstem Heimweh nach Frieden
    wie wir uns verhalten sollen
    gerade in diesen turbulenten Tagen
    damit zerbrechliche Wesen wie du
    auf diesem Planeten gedeihlich leben
    und ihre wunderbaren Fähigkeiten
    vollkommen entwickeln können

    ֎֎֎