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(22.1.2021)
Werner Rügemer gewidmet
Eins, zwei, drei! Kinder kommt zusammen!
Augen auf! Bleibt behutsam beisammen!
Wenn die Wolken die Sonne bedecken
über ihnen ist sie doch zu entdecken
Zeigt der Mond auch den Sichel-Stand
seine Kugel-Form hat dennoch Bestand
Wenn die Rosen allmählich verblühen
träumen die Hagebutten von neuem Erblühen
Und sind die Bäume im Winter nackt
Stamm und Triebe bleiben munter intakt
Menschen können lernen und selbstlos aufstehen
Die Welt bleibt im Fluss und stets im Entstehen
Eins, zwei, drei! Kinder kommt zusammen!
Augen auf! Bleibt behutsam beisammen!֎֎֎
* Inspiriert durch das folgende Gedicht von Matthias Claudius (1740-1815) entstand der vorliegende Text:
„Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön:
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.“ -
Der aufrechte Gang
(17.1.2021)
für Julian Assange
Im sechsten Stock angekommen
bleibe ich im Treppenhaus
eine Weile verzaubert stehen
Bei aufgehender Sonne
spendet der Himmel
kraftvoll Trost und Freude
An solch einem Mahl
kann ich mich täglich
selig satt ernähren
Und was ist mit dir
dem Helden unserer Zeit?
Seit Jahren sitzt du
hinter verschlossenen Türen
seit Monaten in Isolationshaft
Die Schergen einer Weltmacht
dokumentierten prahlend
ihre eigenen Kriegsverbrechen
Du veröffentlichtest diese Dokumente
Die großen Banditen sind weiterhin frei
planen offen weitere Kriege
und du sitzt voller Ungewissheit
in deiner zermürbenden Zelle
Der Preis des aufrechten Ganges
wird bedrückend hoch bleiben
solange die Mehrheit der Menschen
den Banditen dienlich
schwerfällig schweigend wegschaut֎֎֎
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Der törichte Tiefschlaf
(16.1.2021)
Als sie sich schlafen legten
schien die Welt in Ordnung zu sein
So dachten sie nur
So wollten sie
aus Bequemlichkeit
aus Feigheit
das Geschehen wahrnehmen
Als die gesellschaftlichen Ereignisse
sie unweigerlich wachrüttelten
war der umfassende Aufbau
des gigantischen Kerkers
weit fortgeschritten֎֎֎
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Prolog 1: Die „Fritz“ ist ein Renndoppelzweier unseres Ruderclubs RV OSCH (Osterholz-Scharmbeck), ein in die Jahre gekommenes Boot des Herstellers Filippi, einer Ruderwerkstatt aus Wetzlar. Zugelassen bis 90 kg. Es fährt nicht mehr so richtig geradeaus, es ist ein bisschen „weich“, aber ich liebe es.
Prolog 2: Alexander von Humboldt reiste im Jahr 1800 ins Orinoco-Tal. Zusammen mit seinem Begleiter, dem französischen Botaniker Aimé Bonpland sammelte er wichtige geographische, zoologische und botanische Daten, die viele Mythen um die unerforschte Region entkräften konnten. Humboldt faszinierten vor allem die für den gewaltigen Strom so charakteristischen „zerstreuten Landschaftszüge, dieses Gepräge von Einsamkeit und Großartigkeit.“ (Wikipedia)
Sonntagmorgen im Januar 2021, Temperatur knapp unter Null, Windstille, die Sonne möchte rauskommen, traut sich aber nicht richtig.
Zu zweit gehen wir aufs Wasser, und wir müssen aufpassen: Es sind noch zwei Rennzweier unterwegs.
Richtung Ritterhude passieren wir die bewaldete Mündung des Scharmbecker Bachs.
Solange wir hier rudern, fällt mir an dieser Stelle der Orinoco ein.
Witzig, der Scharmbecker Bach ist vergleichsweise klein, und der Orinoco ist der viertgrößte Strom der Welt.
Aber: Diese Gegenden haben etwas gemeinsam: So, wie der Orinoco und der Amazonas über den Rio Negro miteinander in Verbindung stehen, und vom Rio Negro haben die Entdecker mal behauptet, es sei der einzige Fluß, in dem das Wasser bergauf fließen kann, so ist es auch in diesem Wassernetzwerk von Hamme und Wümme.
Auch die fließen (wegen der Tide) mal bergauf, mal bergab, stehen miteinander in Verbindung, beispielsweise durch die Semkenfahrt bei Waakhausen.
Durch diese Amphibienlandschaft kurven wir, unter der Hammebrücke hindurch, wo man sehr aufpassen muß, der Durchlaß ist für das Ruderboot gerade ausreichend. Dann passieren wir den ersten Zweier, ohne Berührung, mit Begrüßung.
An der Ritterhuder Schleuse treffen wir den zweiten Zweier ohne Berührung.
Der Rückweg ist dann frei, hinter der Brücke.
Heute fließt das Wasser weder bergauf noch bergab. Dafür ist es windstill.
Warum das Wasser beim Orinoco bergauf fließen kann?
„Der Orinoco führt nach der Einmündung sedimentreicher Nebenflüsse aus dem höheren Bergland trübes Wasser und bildet hier bei seinen Verzweigungen nicht nur Inseln, sondern auch eine – in Oberläufen von Flüssen sehr seltene – Flussbifurkation; sie gilt als die bedeutendste Flussverzweigung weltweit. Der Brazo Casiquiare zieht vom Wasser des Orinoco (1.400 m³/s[4]) zwischen 12 % bei Niedrigwasser und mehr als 25 % bei Hochwasser ab und wächst im weiteren Verlauf zum linken Quellfluss des Rio Negro heran, der wiederum in den Amazonas mündet.“
Der Hamme fehlt einfach so eine Flußbifurkation.
Aber das ist auch gut so.
Sonst würden wir uns ständig verfahren oder nicht entscheiden können, in welche der Bifurkation wir hineinrudern sollen.
Wir haben auch keinen Fitzcarraldo.
Wir haben dafür „Fritz“.
Die „alte Fritz“.
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am 05. Mai 2016 in Würzburg beim BDSÄ-Kongress mit seiner Frau Hadie (Hadwiga), am 26. Juni 2019 in Bad Herrenalb beim BDSÄ-Kongress
beide Fotos von Dietrich Welleraus alter Schweizer Familie stammend – geb. am 25.05.1931 in Berlin-Charlottenburg –unerwartet verstorben am 03.01.2021 in Marburg
Horst Ganz verkörperte einen willensstarken und gleichwohl lustigen Kollegen, stets einem lebhaften Dialog zugeneigt. An einer ungewöhnlichen Lebenskarriere hielt er bis zum Schluss fest. Seine Gedanken boten dem hartnäckigen Wandel zur technisierenden Lebensweise die Stirn.
1942 erlangte die Familie Ganz die deutsche Einbürgerung. Horst Ganz besuchte das humanistische Gymnasium zu Regensburg. Nach dem Abitur 1950 absolvierte er das vorklinische Medizinstudium in Regensburg, die klinischen Semester in Heidelberg. Dort schloss er 1955 das Studium mit dem medizinischen Staatsexamen und der Promotion ab.
Nach der Medizinalassistentenzeit an den Städtischen Krankenanstalten in Mannheim begann er 1957 die Fachausbildung in der HNO-Universitätsklinik Heidelberg bei Prof. Kinder und in der Praxis mit Beleg-Klinik bei Dozent Uffenorde. 1961 erhielt er die Anerkennung als HNO-Facharzt. Danach verbrachte er in der HNO-Universitätsklinik Marburg bei Prof. Berendes fünfzehn Jahre, davon drei dienstliche Monate in den USA, neun Jahre als Oberarzt und drei Jahre als leitender Oberarzt. Er wird 1964 mit einer biochemischen Arbeit zur Atmungs- und Stimmfunktion des Kehlkopfes habilitiert.
Dennoch ließ Horst Ganz sich 1974 in Marburg nieder, ist seitdem Honorarprofessor, unterhält Belegbetten und erwirbt die Zusatzbezeichnung „plastische Operationen“.1988 empfängt er den „Friedrich-Hofmann-Preis“ der Deutschen Gesellschaft HNO-Heilkunde. Friedrich Hofmann war der Erfinder des Hals-Nase-Ohren-Spiegels; der nach ihm benannte Preis wird „zur Anerkennung und Förderung in freier Praxis niedergelassener Mitglieder der HNO-Gesellschaft verliehen, die sich durch besondere wissenschaftliche Leistungen hervorgetan haben.“
Als Praktiker und als Hochschullehrer war Horst Ganz von der Entwicklung eines Gerätes begeistert, mit dessen Hilfe die Richtung des Lichts in die Körperöffnung und des untersuchenden Sehens, also Blick und Lichtstrahl übereinstimmen. Er legt großen Wert darauf, dass die Studierenden Respekt vor dem HNO- und Augenspiegel gewinnen. Achtunddreißig Spiegelkurse hat er während seiner Lehrtätigkeit gegeben.
Natürlich entwickelt sich schon in seiner Zeit die Beleuchtungstechnik weiter, z.B. als Stirnlampe, Kaltlichtlampe oder Operationsmikroskop. Aber keine dieser Konstruktionen kommt ohne Elektrizität aus, während man mit dem Hofmannschen Reflektor jede Lichtquelle nutzen kann! In den sechziger Jahren rief man Horst Ganz einmal in die alte Marburger Nervenklinik, um einen dringenden Luftröhrenschnitt auszuführen. Als er am Bett des Patienten stand, fiel die Stromversorgung aus. Notaggregate gab es damals nicht. Glücklicherweise schien die Sonne hell durchs Fenster herein. Als er schließlich die Luftröhrenkanüle eingeführt hatte, war mit Hilfe der Sonne und Hofmanns Reflektor der Eingriff fehlerfrei gelungen.
Horst Ganz hat 135 wissenschaftliche Arbeiten publiziert, sich an Lehrbüchern und Nachschlagewerken beteiligt, zwei belletristische Prosa-Bände herausgegeben („nebenbei“ und „nebenbei zwo“) und liebte es, sich als scharfzüngiger Redner zu offenbaren. Daher arbeitete er in Gremien der Berufsverbände mit, der Hochschule, Ärztekammer, Kassenärztlichen Vereinigung und des BDSÄ, sei es als Vorstandsmitglied, Vorsitzender oder Beratender.
Die Universität Marburg ehrte ihn deshalb 1996 mit der Ehrenpromotion im Fachbereich Medizin. 2011 empfing er als bislang Letzter die Ehrung mit der Schauwecker-Medaille des BDSÄ.
Auf unseren Kongressen moderierte er folgende Themen: Essay (Seminar); der literarische Brief; kurz und treffend; Nonsens – Lachen ist gesund; Harmonie und Dissonanz; Erotik. Im nächsten Kongress wäre er Moderator des Themas „Eigene Gedanken und eigene Taten“ gewesen. Dabei war ihm das Wort eigene besonders wichtig! An den Diskussionen nahm er mit überraschenden Anmerkungen teil.
Das sagte er beim Empfang des Friedrich-Hofmann-Preises zu seiner beruflichen Zugehörigkeit:
„Ich behaupte nämlich: Der Hals-Nasen-Ohrenarzt ist der populärste Mediziner! Sie glauben das nicht? Dann sehen Sie sich einmal die Arztkarikaturen in den Medien an. Was sehen Sie? Nichts als Ohrenärzte! Jedenfalls hat ein Jeder den so eindrucksvollen Hofmann‘schen Reflektor auf dem Kopf. Wenn das Ideal der Engländer auch das unsere ist, dass nämlich eine Karikatur in einer bekannten satirischen Zeitschrift den Gipfel der Popularität bedeutet, dann sind wir HNO-Ärzte der Gipfel! Auch dafür danken wir Friedrich Hofmann, und ich danke Ihnen fürs Zuhören.“
Seiner Frau Hadie und den Söhnen sprechen wir unsere tiefe Anteilnahme aus; Hadie berichtete uns voller Dankbarkeit für die zahlreichen Anrufe. Wegen der pandemischen Umstände findet das Begräbnis im engsten Familienkreis statt. Wir werden Horst Ganz nicht nur auf dem nächsten Kongress vermissen.
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(2.1.2021)
Die nächsten weißen Wolken
werde ich bitten
mich mitzunehmen
Ich halte es hier
nicht mehr aus
Endlich möchte ich
glücklich sein
dachte einst ein Mitmensch
unruhig, beschwert
Bald erschienen am Himmels Zelt
weise Wolken
und dachten wohlwollend
Seine Definition des Glücks
sein Verhältnis zur Ruhe und Beständigkeit
bedingen seine Rastlosigkeit
Wir haben längst
diesen stetigen Fluss des Lebens
gründlich begriffen
und tragen ihn in uns
So haben wir
mitten im beständigen Wandel
glückliche Gelassenheit gefunden
leichtfüßig, federleicht֎֎֎
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(2.1.2021)
Liebste! Gehe ein paar Schritte zurück
Aus der Ferne
lässt sich dieses grauenvolle Gebäude
besser betrachten
Schau dir gründlich
seine Grundsteine an
Sie bestehen aus hohlen Halbwahrheiten
Liebste! Habe Zuversicht
Selbstvertrauen
und einen langen Atem
Früher oder später
wird ein Lufthauch
dieses Kartenhaus umblasen֎֎֎
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(2.1.2021)
Inspiriert durch ein Gedicht des iranischen Lyrikers Siavash Kasra’i (1927-1996) entstand der folgende Text.
Schau andächtig hin!
Auf dem steilen Gefälle der Blätter
bin ich eine tanzende Tauperle
voll Blick und Betrachtung
Einst die Träne der Nacht
jetzt das Lächeln des Morgens
werde ich bald
auf den Lippen der Blume
zum Abbild des Seufzers
Unterschätze nicht
das Beben meines Lebens
Mein Körper ist die Wiege vieler Sonnen
meine Brust voller Sturm und Wellen
mein Auge randvoll mit Hoffnung
Hör aufmerksam hin!
In meinem Herzen
tobt der Donner der Wut
In meinem Kopf
gedeiht der Gedanke
ein Meer zu sein
das kristallene Kleid abzulegen
und sich zu verwandeln
in Flügel, Gesang und Steppe
Betrachte mich besonnen!
Auf meinem Antlitz
bildet sich das Leben ab
wie die betörenden Bilder
des Regenbogens
Mein Lachen ist frei
von irdischen Bösartigkeiten
und mein Herz
voll vom Anblick des Himmels
Erinnere dich an mich ergriffen!
Ich bin ein Hauch der Zeit
ohne Stillstand
getrennt von gestern
versteckt in morgen
Im Angesicht meines Todes
von Freude erfüllt
beschreite ich meinen Weg֎֎֎