Amir Mortasawi Dr. med.
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Ein Gedicht von Mohammad Reza Shafi‘i Kadkani
Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar
۞۞۞
Der Tag bricht an, steh auf,
sagt der Hahnenruf.
Und lass los diesen Schlaf und diese Müdigkeit
im Fluss der Nacht.
Ein weiteres Mal mit lauter Stimme
ruf in den Gassen
nach den Trunkenen der Mitternacht,
nach den Wissenden mit durstenden Lippen.
Zerbrich den Schlaf der Fenster
mit dem Schrei des Steins.
Ein weiteres Mal mit Freude
öffne die Tore der Nacht
der Morgenröte entgegen.“Der Hahnenruf sagt:
Stoß den Schrei der Leidenschaft aus.
Reiß dem Gefängnis der Worte
die Mauer und den Wall nieder.
Und mach durch Gesang
die Liebenden zu Gästen der Gassen.
Setz der Brise den Sattel auf,
um dieses Meer zu durchqueren.
Und durch jene beiden Fenster des Tagesanbruchs hindurch,
auf dem Gartenpfad der Trunkenheit,
verwandle den morgendlichen Regen
auf dem Ast der Akazie
in den Spiegel des Gottes.“Betrachte die Blattknospen, diese Ehrwürdigen,
da der fruchtlose gestrige Garten voller Schmutz
jetzt junge Triebe hervorgebracht hat.
Betrachte die wilden Rosen auf den Schultern der Mauern,
durchmisch den Schlaf der Veilchen mit einer Melodie.
Und gib der Erleuchtung der Morgenröte,
in der Poesie des Baches,
vom Sein, Dichten und Singen
eine freundliche Deutung.Besing laut mit mir
die Wachheit der Zeit.
Und solltest du ein Mensch des Schlafes und der Schläfrigkeit sein,
geh, leg den Kopf auf das Kissen,
und lass mich allein.*۞۞۞
Bemerkung
(*) Hier wird ein Vers des iranischen Dichters Molavi aus dem 13. Jahrhundert zitiert.
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Lied der Prostituierten
Ein Gedicht von Simin Behbahani (1927-2014)
Auszugsweise Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar
۞۞۞
Gib mir die Make-up-Dose
damit ich meine Blässe farbenfroh mache.
Gib mir das Öl
damit ich mein Gesicht
verwelkt von meiner Traurigkeit
auffrische.…
Gib mir die Spitze
damit ich in ihr meiner Nacktheit
mehr Geltung verschaffe
damit mein Kopf, meine Brust und mein Busen
mehr Begierde und Leidenschaft erwecken.Gib mir den Kelch
damit ich mich betrinke
mein Elend belächle
und diesem traurigen Gesicht
eine frohe, verführerische Maske aufsetze.…
Ich habe viele Bekannten
und bin doch einsam.
Von keiner dieser Bekanntschaften
ist Trost und Wohlwollen zu erwarten.
Sie reden viel von Mitgefühl
doch das verfliegt nach einer kurzen Weile.…
Oh, wer klopft da an der Tür?
Mein Partner für den heutigen Abend kommt!
Ach, du Leid, verlass mein Herz
jetzt ist seine Freude an der Reihe.Meine Lippen, ihr Lügner und Betrüger
verdeckt mein Leid mit einem Schleier
voller Geheimnisse.
Damit man mir paar Münzen mehr gibt
lacht, küsst, liebkost, …۞۞۞
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Spiegel
Eine iranische Weisheit
(18.10.2009)
Wenn dir der Spiegel
dein wahres Gesicht zeigt
zerbrich nicht den Spiegel
ändere dich selbst -
Frühlingsbrise
(März 2010)
Inspiriert durch Omar Khayyam (1048-1131) entstand der folgende Text.
Liebkosen soll die Frühlingsbrise
das zarte, liebliche Blumengesicht.
Die grüne Zärtlichkeit der Wiese
ergänze eine Schönheit, wie im Gedicht.
Sprich nicht über das Gestrige,
lass das Vergangene vergangen sein.
Sei froh und genieße das Heutige,
der Zauber kann bald verflogen sein.۞۞۞
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Verse von Molawi (Dschalāl ad-Dīn Mohammad Balchi) (1207-1273)
Sinngemäße Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar
۞۞۞
Lege zwei Fingerspitzen auf beide Augen.
Sei gerecht, kannst du irgendetwas von der Welt sehen?
Wenn du Nichts siehst,
ist die Welt deshalb nicht verschwunden.
Der Fehler liegt nur
an deinen Unheil bringenden Fingerspitzen.۞۞۞
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Ein Gedicht von Siavash Kasraii (1927-1996)
Freie Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar۞۞۞
An wem liegt es,
wenn keine Antwort aufkommt.
Habe ich etwas versäumt,
als ich die Botschaft aussprach,
rein und anziehend,
von dem harten Unternehmen sprechend,
auf das glückliche Ergebnis hinweisend.
Oder liegt es vielleicht an denen,
die verzaubert und verliebt in den Boten
das Antworten der Botschaft vergessen haben.۞۞۞
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Ein Lied des zeitgenössischen iranischen Dichters und Liedermachers Yaghma Golrouee
Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar (Juni 2015)۞۞۞
allen Frauen meines Landes gewidmet
Lustig, fröhlich und lachend sind wir
obwohl wir im Kerker sind
unser Weg versperrt
unsere Beine erschöpft
und doch sind wir voller Tatendrang und frohen MutesWir sind die Generation mit geballtem Aufschrei
haben uns die Hände gereicht
sind vom Blut umgeben
aber wir wissen
am Ende der Geschichte werden wir frei sein …Hundert Jahre sind wir eingesperrt gewesen
wir bleiben nicht mehr hier
werden zu Fenstern
werden zu Kehlen
singen das Gedicht der Erlösung.Wir sind die Generation mit geballtem Aufschrei
haben uns die Hände gereicht
sind vom Blut umgeben
aber wir wissen
am Ende der Geschichte werden wir frei sein …Wir teilen die gemeinsame Geschichte
und das gemeinsame Leid
sind einig in unserem Zorn
Schulter an Schulter
von Haus zu Haus
folgen wir dem TraumWir sind die Generation mit geballtem Aufschrei
haben uns die Hände gereicht
sind vom Blut umgeben
aber wir wissen
am Ende der Geschichte werden wir frei sein …۞۞۞
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Inspiriert durch ein Gedicht des iranischen Poeten Siavash Kasraii (1927-1996) entstand der folgende Text.
۞۞۞
Verlockend fordert die erwachte Blumenlandschaft
zum Spaziergang durch die hellgrüne Zärtlichkeit auf.
Die verliebten Nachtigallen umgarnen mein Herz,
der belebende Wind zieht sanft an meiner Hand.
Und ich, in meinem notgedrungenen Exil
atme die wohlriechende Brise ein,
mich zur Rückreise einladend,
liebevoll und geduldig۞۞۞
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Wasser
Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der grüne Raum“; erste Erscheinung 1967
Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar۞۞۞
Machen wir das Wasser nicht dreckig:
flussabwärts trinkt vielleicht eine Taube Wasser.
Oder in einer fernen Lichtung wäscht ein Stieglitz die Feder.
Oder in der Oase wird ein Krug voll.
Machen wir das Wasser nicht dreckig:
Vielleicht läuft dieses fließende Wasser zum Fuße einer Weinpappel,
um eines Herzens Trauer herunter zu waschen.
Vielleicht hat die Hand eines Derwischs
ein trockenes Brot ins Wasser eingetaucht.
Eine schöne Frau kam an den Flussrand,
machen wir das Wasser nicht dreckig,
das schöne Antlitz hat sich verdoppelt.
Wie belebend ist dieses Wasser!
Wie rein ist dieser Fluss!
Was für eine Reinheit haben die Menschen flussaufwärts!
Ihre Quellen sollen perlend bleiben,
ihre Kühe sollen lange Milch spenden!
Ich habe ihr Dorf nicht gesehen,
zweifelsohne ist an ihren Hütten die Fußspur Gottes.
Der Mond erhellt dort das Feld des Wortes.
Zweifelsohne sind die Mauern in dem Dorf flussaufwärts niedrig.
Seine Bewohner wissen, was für eine Blume die Anemone ist.
Zweifelsohne ist dort das Blaue blau.
Die Dorfbewohner wissen Bescheid, wenn eine Knospe aufgeht.
Was für ein Dorf muss es sein!
Seine Gassen und Gärten sollen voller Musik sein!
Die Menschen am Ursprung des Flusses verstehen das Wasser.
Sie haben das Wasser nicht dreckig gemacht,
machen wir auch das Wasser nicht dreckig.۞۞۞
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Was bedeutet das Leben?
Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980)
Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar۞۞۞
Es war eine ruhige Nacht.
Ich ging auf die Terrasse,
um mir die Frage zu stellen,
was das Leben bedeutet.
Meine Mutter,
ein Tablett mit Teegläsern in der Hand,
pflückte eine Blume des Lächelns
und schenkte sie mir.
Meine Schwester holte ein Stück Brot,
setzte sich dort an den Rand des Beckens,
wo man sich die Füße wäscht.
Um von den Fischen etwas zu erfahren,
tauchte sie ihre Hände in das Wasser.
Mit den Händen bildete sie eine Schüssel,
widerspiegelte ein warmes Gesicht in dieser Schüssel,
verzierte es mit einem Lächeln
und schenkte es den aufnehmenden Augen meines Herzens.
Mein Vater holte ein Gedichtbuch,
lehnte sich an das Kissen,
las ein wundervolles Gedicht vor
und führte mich
zum wunderbaren Frieden der Gewissheit.
Ich sprach zu mir,
das Leben ist ein großes Geheimnis,
das in uns fließt.
Das Leben ist der Abstand
zwischen unserem Kommen und Gehen.
Der Fluss der Welt ist in Bewegung.
Das Leben ist das Schwimmen in diesem Fluss.
Zum Zeitpunkt des Gehens sind wir so nackt,
wie wir beim Eintreten gekommen sind.
Die Geschichte unseres Kommens und Gehens
ist ein sich wiederholendes Stück.
Manche treten weinend ein,
manche sind beschäftigt mit den Unruhen dieses Flusses,
manche, Trauer auf den Lippen,
beabsichtigen das Austreten.
Der Unterschied zwischen uns
ist die Länge dieses Schwimmens,
oder vielleicht die Art und Weise des Eintauchens.
Wonach sucht unsere Hand am Bett dieses Flusses,
nach Nichts?
Das Leben ist der Glaube an Umwandlung der Zeit in Lebensgedanken.
Das Leben ist die Summe der Herzschläge.
Das Leben ist das Gewicht eines Blickes,
der in Erinnerungen fortbesteht.
Das Leben ist das vereitelte Spiel,
in dem du Sachen anhäufst,
die man nicht mitnehmen darf.
Und dabei vergessen wir,
was unsere Wegzehrung ist.
Vielleicht wird diese sinnlose Wehmut,
die du in deinem Herzen trägst,
die Wärme der Flammen deiner Hoffnung vernichten.
Das Leben ist das Begreifen eben dieser Gegenwart.
Das Leben ist die Freude des Erreichens jenes morgigen Tages,
der nicht kommen wird.
Du befindest dich
weder im vergangenen noch im kommenden Tag.
Die Schale des Heute
ist voll deiner Anwesenheit.
Vielleicht ist das Lachen,
das du heute verweigert hast,
die letzte Gelegenheit gewesen,
um die Hoffnung zu begleiten.
Das Leben ist eine zarte Fessel,
die sich um den Hals der Seele gelegt hat.
Das Leben ist die Gelegenheit für das Zusammengehen des Körpers und der Seele:
die Seele mit einer Beschaffenheit wie Gott;
und der Körper:
eine zusammengefügte Welt aus Vergänglichem.
Das Leben ist eine seltsame Erinnerung, die im Gedächtnis der Erde fortbesteht.
Das Leben ist die Gelegenheit für eine Erfahrung.
Damit es alle wissen,
solange es die Geburt gibt,
kann gesagt werden,
dass Gottes Hoffnung auf Befreiung der Menschen besteht.
Das Leben ist das höchste Zeichen für das Grüne
in den Gedanken eines Blattes.
Das Leben ist die Sehnsucht eines Wassertropfens nach Meer
in der Stille des Flusses.
Das Leben ist die Empfindung des Aufblühens eines Feldes
im Glauben eines Korns.
Das Leben ist der Glaube eines Fisches an das Meer,
gefangen in einem Glas.
Das Leben ist das leuchtende Abbild der Erde
im Spiegel der Liebe.
Das Leben ist das Begreifen des Unbegreiflichen.
Das Leben ist ein offenes Fenster zum Universum.
Solange dieses Fenster offen ist,
ist die Welt mit uns,
sind Himmel, Licht, Gott, Liebe und Glück mit uns.
Verpassen wir nicht die Chance,
wenn dieses Fenster offen steht.
Schlagen wir dem Lichte die Tür nicht zu.
Schlagen wir dem liebevollen Frieden der Brise die Tür nicht zu.
Enthüllen wir unsere Herzen,
das Gesicht diesem Fenster entgegen,
sprechen wir mit Freude einen Gruß aus.
Das Leben ist die Gastfreundschaft
Was das Schicksal mir beschert,
was es auch sein mag,
daran denke ich nicht.
Das Ausmaß meines Glücks
ist das Ausmaß meiner Zufriedenheit.
Vielleicht ist dieses Geheimnis
das Geheimnis des Annehmens des Schicksals
und des Eingehens von Kompromissen mit ihm.
Das Leben ist vielleicht das Gedicht meines Vaters,
das er vorlas,
der Tee meiner Mutter,
der mich erwärmte,
das Brot meiner Schwester,
mit dem sie die Fische speiste.
Das Leben ist vielleicht jenes Lachen,
das wir verwehrten.
Das Leben ist der reine Gesang des Lebendigen
zwischen zwei Stillen.
Das Leben ist die Erinnerung
an unser Kommen und Gehen.
Im Moment unseres Kommens und Gehens
besteht die Einsamkeit.
Und ich wünsche,
dass wir diese Erinnerung wertschätzen.۞۞۞