Schlagwort: Partnerschaft

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    Ich stehe am Ufer der Stepenitz und schaue in das leicht getrübte Wasser. Eben noch war ich am neuen Kreisverkehr vorbei gekommen. Nun sind wir also mit zwei Kreisen ausgestattet. Als Kreisstadt eigentlich etwas wenig, hatte ich noch so gedacht. Andererseits reicht das auch wieder aus, es dreht sich ja sowieso oft genug alles im Kreise.

    Ich schaue also in das Wasser. Und was sehe ich? Gesichter von lauter Nixen. Welch entzückende Wesen! Nun gucke ich genauer hin. Alle kommen mir bekannt vor. Ja, richtig, es sind die Gesichter meiner früheren Geliebten.

    Das waren durchweg erlesene Schönheiten. Ihr Charakter war vom Feinsten, eine tugendhafter als die andere. Und alle aus Perleberg.

    Die erste Geliebte, sie trug blonde, lange Haare, Spielte Klavier, war immer voller Hoffnung. Sie erfreute sich am Heute und erwartete neue Freuden im Morgen. Es machte ihr nichts aus, Lasten zu tragen. Durch das Verbreiten von Hoffnung machte sie die Schwachen, auch mich, stark. Sie besaß auch Wagemut und Geduld.

    Die zweite Geliebte, sie spielte hervorragend Cello, war von dem Glauben an Liebe erfüllt. Glauben, sagte sie, sei leichter als Denken. Und Liebe, sagte sie, die sich nicht überwinden lässt, überwindet alles. Ein Leben ohne Liebe ist kein Leben. Liebe ist weise gewordene Begierde. Wo Freude wachsen soll, da muß man Liebe säen.

    Die dritte Geliebte hatte kurze schwarze Haare und war deutlich älter als ich. Sie spielte Blockflöte und wirkte sehr weise. Ihre Maxime war ein Sprichwort aus Mosambik: Die Weisheit ist wie ein Affenbrotbaum, man kann sie nicht umfassen. Und sie liebte das deutsche Sprichwort: An drei Dingen erkennt man den Weisen: Schweigen, wenn Narren reden. Denken, wenn andere glauben. Handeln, wenn Faule träumen. Und mit gütigem Lächeln sagte sie: Wo einer weise ist, sind zwei glücklich.

    Die vierte Geliebte, sie spielte mit Hingabe Querflöte, vertrat vordergründig die Gerechtigkeit, denn wo keine Gerechtigkeit ist, ist kein Friede. Und wo Gewalt Herr ist, da ist Gerechtigkeit Knecht.

    Die fünfte Geliebte, sie trug kastanienbraunes Haar und spielte Geige, war tapfer in ihrer Genügsamkeit. Sie meinte, den Mutigen gehöre die Welt. Und wie sagte sie so treffend? Fleiß ist des Glückes rechte Hand, Genügsamkeit die linke.

    Die sechste Geliebte hörte gerne klassische Musik und hatte häufig die entsprechenden Partituren dabei, um zu vergleichen, ob das Orchester auch richtig spielte. Sie hielt es besonders mit der Wahrheit. Ehrlich währt am längsten. Aufrichtigkeit überwindet alle Hindernisse.

    Die siebente Geliebte, sie hatte ihre Haare an den Schläfen grünlich gefärbt und sang ein wunderbares Alt, übte insbesondere Barmherzigkeit, denn diese ist größer als das Recht. Dabei sei zu differenzieren: Barmherzigkeit gegenüber den Wölfen ist Unrecht gegen die Schafe. Verbunden mit der Barmherzigkeit war bei dieser Frau ihre Friedfertigkeit. Sie ging davon aus, dass ein friedlicher Strom blühende Ufer hat.

    Die achte Geliebte, sie spielte Orgel und hatte ihre Haartracht mit kleinen falschen Zöpfchen verschönert. Sie ging davon aus, dass Güte mehr als Gewalt tut. Wer Güte erweist, kann Güte erwarten. Gleichzeitig war diese Frau voller Demut und sagte einmal: Besser demütig gefahren als stolz gegangen.

    Dann sah ich, wie sich die Geliebten alle auf der Wiese im Hagen  versammelten, ihre Masken vom Gesicht nahmen und darüber schmunzelten, dass ich ihnen all ihre Tugenden geglaubt hatte.

    Ah, dachte ich, es ist also nicht alles echt, die Frauen tragen Masken.

    Ich ging rasch nach Hause zu meiner Frau und wollte ihr die Maske vom Gesicht reißen. Doch sie trug keine.

     

  • Zum Thema: Was uns geprägt hat. 

    Waltrud Wamser-Krasznai: Sprache.

     

    Wie bin ich nur, ein gut bürgerliches hessisches Frauenzimmer, in diesen östlichen Schlamassel hineingeraten? Mein Petúr und ich passen doch überhaupt nicht zusammen. Wir sind so verschieden, dass ständig die Fetzen fliegen. Wir halten einander nur aus, weil er so viel unterwegs ist und wir vollkommen unterschiedliche Freizeit-Interessen haben. Was verbindet uns dann überhaupt? Antwort: Wir sprechen dieselbe Sprache.

    Ha, ha, ha, höre ich da. Der eine artikuliert sich zwar geläufig und endlos in fünf Sprachen, aber mit so schwerem Akzent als wäre er gerade von einer Operettenbühne heruntergesprungen. Die andere spricht außer deutsch, italienisch (und irgendwie auch englisch) ganz brauchbar eine Art Monarchie- Ungarisch. Das kann es also nicht sein.

    Unsere gemeinsame Sprache ist vielmehr die einer verflossenen Generation und eines vergleichbaren familiären Hintergrundes. Wir kennen und gebrauchen dieselben Wörter und Fremdwörter und vermeiden dieselben Klischees wie:  echt?  gut aufgestellt, Sinn machen – falsch, ganz falsch. Es heißt im Englischen: to make sense, in unserer Muttersprache aber: es hat Sinn, es ergibt keinen Sinn. Wir Deutschen sind in unserem vorauseilenden Gehorsam halt  Großverbraucher von Anglizismen, die einem schon zu den Ohren herauskommen wie das allgegenwärtige „okay“ oder gar „cool“.

    Petúr und ich wechseln unsere Umgangssprache abhängig vom Thema, nach Lust, Laune und Vermögen. Wir haben beide an Sprachen Interesse und verfügen wohl auch über ein gewisses Sprachgefühl.

    Was das Schreiben angeht – da  ist es ein bisschen anders. Einer der ersten Sätze, den ich von meinem Petúr hörte, betrifft die Unlust, um nicht zu sagen: die Unfähigkeit der Technokraten zu allem, was Schreiben heißt. So wurde ich denn eines Tages nicht ganz ohne Verdienst zur „Ober-Burgschreiberin“ ernannt, nämlich auf „Kraszna-Horka“, einem der vielen von der Kaiserin/Königin Maria Theresia an diese Krasznais verliehenen Stammsitze.

    Was uns geprägt hat, hängt meiner Meinung und Erfahrung nach ganz entscheidend mit „Sprache“ zusammen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei meinen Klassenkamerad/inn/en, deren Väter gewöhnlich die einzigen Ernährer der Familie waren, abends spät und völlig kaputt von der Arbeit kamen und nur noch ihre Ruhe haben wollten, saß mein Vater bereits mit uns am Mittagstisch, bereit zu hören, zu reden und Auskunft zu geben. Zu dieser Zeit herrschte  Mangel an Lateinlehrern, und Papa, der seinem Studium entsprechend  naturwissenschaftliche Fächer unterrichtete, in der Schule aber neun Jahre lang Lateinunterricht gehabt hatte, konnte einspringen. Auch als Nachhilfelehrer war er gefragt. An diesen Stunden durfte ich stillschweigend teilnehmen. Sie gerieten zu einer Fundgrube der Allgemeinbildung, denn mein Vater leitete lateinische (und griechische) Ausdrücke, die man damals noch in der Umgangssprache verwendete, bis zu ihrem Ursprung ab. Da gab es immer wieder freudige Überraschungen. Später hatte ich das Glück, bei der Vorbereitung auf das Graecum einen Lehrer zu treffen, der diese Methode ebenfalls praktizierte und vom Alt-Griechischen bis hin zum Italienischen ableitete. Sehr einprägsam!

    Als ich meinen Petúr kennenlernte, ärgerte ich mich anfangs schrecklich, wenn er mit anderen Ungarn stundenlang unverständliches Zeug redete. Ich beklagte mich und erhielt die lakonische Antwort: „Dann lern‘ s halt“. Recht hat er gehabt. Auch Ungarisch ist nicht un-lernbar.

    Die Kehrseite der Medaille: Ich verstehe die Sprache der heutigen jungen Leute nur mühsam und unvollkommen, verabscheue ihre Abkürzungen und Amerikanismen und muss mir Mühe geben, in meinem Alltag nicht allzu weit  entfernt von der Lebenswelt sitzen zu bleiben  –  eine Gestrige also ganz gewiss, hoffentlich nicht eine „Ewig-Gestrige“!

     

  • Helga Thomas

    Was uns geprägt hat

     

    Ja, was hat uns geprägt? Uns alle als Kollektiv unserer Zeit, uns, jeden Einzelnen als Individuum? Aus der Trauma-Forschung wissen wir (eigentlich wissen wir es schon lange, aber seitdem ist es offensichtlicher geworden), dass Kinder vor ihrem individuellen Bewusstsein besonders nachhaltig geprägt beziehungsweise traumatisiert werden. Zur Sicherheit, denn wir wollen es nicht wirklich wahrhaben, wollen es selbst verdrängen, wiederhole ich es überdeutlich: Ein Baby in Bombenangriffen wird für das ganze Leben gezeichnet, ist seinen nicht fassbaren Erinnerungen ausgeliefert wie dem erlittenen Leid einst als Kind; ein dreijähriges Kind kann, weil es sich erinnert, sich dagegen wehren und so die Prägung beziehungsweise das Trauma ein Stückweit überwinden.

    Und doch hat jeder noch sein ganz individuelles Schicksal, es beginnt im Leib der Mutter, alle emotionalen Erlebnisse und akustischen Eindrücke lassen den Embryo schon am kollektiven Leben teilhaben.

    Ich habe selbst in der Hinsicht etwas Eindrückliches erlebt: In den letzten Wochen meiner Schwangerschaft mit meinem Sohn hatte ich eine Regenbogenhautentzündung. Ich konnte fast nichts tun von den Tätigkeiten, bei denen die Augen erforderlich waren: kein Lesen, kein Schreiben, Malen, Handarbeiten …  Schallplatten auflegen war auch nicht möglich. Ich kaufte meine Lieblingsliederzyklen der Romantik als Kassetten und … Mozarts Zauberflöte. Vor allem sie hörte ich nach meinem heutigen Empfinden endlos.  Das fiel mir wieder ein, als mein Sohn im Alter von 2-3 Jahren bei Mozartklängen angerannt kam und lauschte. Immer wieder, plötzlich stand er steht da und lauschte mit einem glücklichen Lächeln auf seinem Gesicht. Ich erzähle jetzt nicht, was das später für weitere Folgen hatte. Statt wie andere Kinder Kinderlieder zu singen, sang er Lieder von Papageno.

    Wenn ich mich heute als Erwachsene frage, was mich geprägt hat, dann fallen mir drei, nein vier Dinge ein: die strenge preußische Erziehung meines Vaters. Hier könnte ich die Geschichte erzählen, wie ich für jede Minute zu spät kommen einen Tag Hausarrest erhielt, wie ich schließlich resignierte und mich mit meinem Schicksal abfand, was ihn noch wütender machte und wie alles schließlich damit endete, dass seine Mutter – die vorübergehend meine kranke Mutter vertrat, energisch wurde und sagte: „Ein krankes Kind ohne Luft und Sonnenschein wird nicht gesünder, wenn es pünktlich ist!“

    Mich prägte auch die Angst meiner Mutter vor dem Gerede der Leute: Was sollen denn die Nachbarn von uns denken, dazu gehörte die unordentliche Frisur, der Fleck auf dem Kleid, der beim Staubwischen übersehene Staub, aber auch: Niemand darf die westliche Zeitung sehen, die zum Trocknen aufgehängte Salami in der Speisekammer (wahrscheinlich stammte sie von einer Schwarzschlachtung).  Das dauernde Aufpassen, dass ich nichts sage von dem, was ich im RIAS – dem amerikanischen Radiosender – gehört habe und worüber Zuhause mit Freunden gesprochen wurde. Das war mühsam, vor allem, weil es doch hieß: du sollst nicht lügen! War denn so tun als ob keine Lüge? Das Verschweigen auch nicht? Ich schuf in meinem kleinen Kopf ein Ordnungssystem: Im Treppenhaus und auf der Straße sprachen die Erwachsenen auch von anderem als von dem, was zu Hause geschehen war. Also: Fremden gegenüber war ich im Treppenhaus, lächelte, grüßte freundlich, schwieg höflich. In der Pubertät entwickelte ich eine andere Strategie: zuerst reden und zwar von dem, was ungefährlich ist, was ich auf der Straße gesehen hab, was ich in der Schule lernte… vielleicht  einen lustigen Witz über kleine freche Berliner Jungs? Jahrzehnte später konnte es mir noch passieren, dass ich zusammenzuckte, wenn man mich fragte, was ich zu XY denke.

    Aber … mich prägte auch die Liebe und Zuversicht meiner Großeltern, besonders meiner geliebten Oma. Sie erzählte Geschichten, die zeigten, einen Menschen versuchen zu lieben, macht das Leben und auch das Sterben leichter. Und – mein Opa zeigte mir an den Bäumen, die aus Urnengräbern wuchsen: Das Leben geht weiter. Ich stellte mir vor, dass ich nach meinem Tod vielleicht als Vogel im Baum sitze.  Das gefiel sogar meiner Großmutter (die Mutter meines Vaters, zu der ich nicht solch inniges Verhältnis hatte wie zur „Berliner Oma“, der Mutter meiner Mutter). Sie wollte als Singvogel wieder geboren werden.

    Es gibt eine weitere Zeit der Prägung, die Pubertät. Eine Übergangszeit, in der der junge heranwachsende Mensch wieder sehr offen und allen Einflüssen von innen und außen ausgeliefert ist. Vorhandene Prägungen, Traumatisierungen können verstärkt werden (die Axt, die immer wieder in die gleiche Kerbe haut) oder sie können abgemildert, vielleicht sogar überwunden werden. Ich hatte ein Erlebnis, das mich innerlich veränderte. Ich erlebte die Gewissheit, dass es eine geistige Welt gibt, dass ich den destruktiven Kräften des Kollektivs nicht hilflos ausgeliefert bin! Ich meinte, die Nähe Gottes erlebt zu haben, zumindest die meines Schutzengels.

    Ich zitiere mich selbst aus meiner kleinen Erzählung „Orte der Kindheit, Wiedersehen nach 46 Jahren“. Ich war den Spuren meiner Kindheit gefolgt und erlebte nun das oben erwähnte Ereignis, das ich mein ganzes Leben nicht vergessen hatte:

    November.  Papa ist seit einem Vierteljahr illegal im Westen, bei den Großeltern. Wir werden bald nachkommen, aber noch versucht Mama vom Haushalt und all dem beweglichen Besitz so viel wie möglich in den Westen zu bringen. Heute hatte sie versucht, den eigentlich noch neuen schönen grünen Teppich in den Koffer zu kriegen. Es gelang. Sie wollte es wirklich versuchen, ihn in den Westen zu schmuggeln. Und ich Schaf ermutigte sie noch. Ich erhoffte mir so ihre Zuwendung und außerdem, wenn sie etwas „retten“ konnte, war sie fröhlich und nicht so gereizt oder noch schlimmer: so traurig. Wir sprachen alles genau ab. Ich renne an der Warschauer Straße von der S-Bahn über die Eisenbahnbrücke zur U-Bahn, schaue, ob Licht bei den Vopos (Volkspolizisten) ist (deshalb durften wir nicht so früh fahren). Wenn ja, komme ich zurück, und wir geben es für heute auf oder versuchen es bei der Jannowitzbrücke.  Ich gehe in den Bahnhof – Blick nach links – dunkel– aufatmen – durch die Sperre gehen – Umdrehen – warten– Blick nach rechts, nur so, fast automatisch – Schreck, denn jetzt brannte Licht –wie gelähmt stand ich da – eine Volkspolizistin tritt heraus – Mama kommt – eine Stimme befiehlt mir: „Bleib einfach stehen“. Und das tat ich dann. Blieb einfach stehen, bis Mama an mir vorbei war. Wir gehen in die U-Bahn – Mama stellt den Koffer ab, wir stellen uns woandershin (eine immer praktizierte Sicherheits-maßnahme, falls ein Sicherheitsbeamter in Zivil fragt, wem der Koffer gehört). Mama atmet auf, ich schüttle unmerklich aber ernst und vorwurfsvoll den Kopf. Noch waren wir nicht drüben auf der anderen Seite der Spree. Da atmete ich dann auch auf.

    Ich habe meinen Eltern dieses grässliche Erlebnis nie erzählt, aber es verfolgte mich, und dann trat aber immer auch das Gefühl auf: Wenn es unerträglich wird, sagt dir jemand,

    was du tun musst, du bist nicht verlassen, du wirst geschützt. Trotzdem unterstützte ich nun das erste Mal meinen Vater, dass wir mit dem „Retten“ aufhören und selber endlich rüberkommen sollen (außerdem wurde ich ja schon beobachtet, was ich aber auch für mich behielt).

     

     

  • Beitrag Dietrich Weller zum BDSÄ-Kongress 2019 in Bad Herrenalb

    Moderation Helga Thomas, Samstag, 22. Juni 2018, 11 h 

    Was wäre, wenn wir alle immer ehrlich wären?

    In der Bibel steht: „Deine Rede sei ´ja, ja`, oder ´nein, nein`.- Alles andere ist vom Übel.“

    Das wird bestätigt durch den Satz eines Autors, dessen Namen ich nicht mehr erinnern kann:

    „’Ja‘ ist richtig. ‚Nein‘ ist richtig. ‚Ja aber‘ ist immer falsch.“

    Wenn doch alles so einfach wäre!

    Wikipedia definiert Ehrlichkeit als

    Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, auch als Zuverlässigkeit, besonders in Hinblick auf Geld- und Sachwerte.

    Um aufrichtig und der Wahrheit verhaftet zu uns selbst stehen zu können, müssten wir zuerst einmal wissen, was wir selber wirklich, also authentisch und nicht angelernt – sind und wollen!

    Damit meine ich, dass es nicht darum geht, umzusetzen, was uns anerzogen wurde. Sondern es geht darum zu erkennen, was in uns wirkt, wenn wir auf unsere „innere Stimme“  hören und nicht auf die Menschen, die uns prägen mit Schuldgefühlen und Gewalt aller Art und sogenannten gesellschaftlichen Regeln. Diese sind ohnehin von Gesellschaft zu Gesellschaft von Land zu Land und von Kultur zu Kultur verschieden.

    Grob gesagt gibt es zwei Gruppen von Menschen: Die eine Gruppe weiß, was sie will; die andere weiß, was sie nicht will. Wenn man die zweite Gruppe fragt, was sie will, hat sie darauf keine Antwort. Ihre Welt ist dominiert von Ablehnung.

    Wenn wir dazu berücksichtigen, dass wir immer am Anderen das am schnellsten erkennen und ablehnen können, was wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, wird die Sache schon komplizierter.

    Um ehrliche Kinder erziehen zu können, müssen die Eltern ehrliche Leute sein. Aber wer erzieht die Eltern?

    Die Vermittlung von Schuldgefühlen ist eine der wirksamsten Formen der Gewaltausübung, denn sie scheint die Selbstgerechten zu berechtigen, ihre Mitmenschen auf den angeblich rechten Weg zu führen. Und das meine ich im weitesten Sinn – vom Elternhaus, im Freundes- und Arbeitsbereich und nicht zuletzt in der Schule und Kirche. Und Schuldgefühle verführen oder zwingen sogar manchmal zu Unehrlichkeit.

    Natürlich wird normalerweise Gewalt nicht als solche deklariert. Sie kommt durch die Hintertür: „Du solltest das tun, was ich für richtig halte. Wenn du das nicht tust, geht es mir schlecht.“ Noch hinterhältiger: „Du solltest immer gehorchen, denn dann kommst du besser zurecht im Leben.“- Oder mit dem Versprechen: „Wenn du gottgefällig lebst, kommst du in den Himmel, sonst erwartet dich die Hölle! Und ich sage dir, was Gott will!“ Ketzerische Frage: Woher wissen wir, was er gesagt hat, wenn ihn noch keiner gesehen oder gar gehört hat?

    Wenn die Anpassung lang genug gefordert wird, verstummen in uns die Empfindungen, was wir „eigentlich“ fühlen und tun würden. Statt primärer Gefühle von Ablehnung und Protest entstehen in uns Ersatzgefühle, die helfen, den Druck in eine andere Richtung lenken und besser zu ertragen: Statt des Gefühls der Unterordnung macht sich zum Beispiel das Pflichtgefühl zum Helfen breit. Dort erhalten wir soziale Anerkennung, die wir brauchen und wollen, und das verstärkt unsere angepasste Meinung als angeblich richtig.

    Ein anderes Ersatzgefühl ist Müdigkeit, die sich bis zur Trauer und Depression steigern kann. Der Druck von außen entfacht Gegendruck in uns, der aber nicht nach außen geäußert werden darf. Also bleibt die Energie in uns und wendet sich gegen uns selbst. Wir glauben schließlich sogar, dass wir selbst nicht gut genug sind. Wer lange genug Druck – also Aggression! – anstaut, ohne Erleichterung  zu erfahren, verhält sich wie ein Dampfkessel, der platzt, wenn der Druck zu hoch ist. Überspitzt gesagt: Wenn jemand sich selbst tötet, muss man fragen, wem die Aggression wirklich galt.

    Fremdbestimmung sorgt typischerweise auch dafür, dass wir unsere eigene Überzeugung und unsere eigenen Gefühle zunehmend infrage stellen und nicht mehr wahrnehmen oder gar als störend empfinden. Deshalb brauchen wir auch so viele Psychiater und Psychologen, die uns bei der Erkennung und Bewältigung unsere Konflikte helfen.

    Wenn wir wirklich immer ehrlich sein wollen, müssen wir zuerst erkennen, welche Gefühle und Glaubenssätze in uns echt und welche aufgesetzt, anerzogen, fremdbestimmt sind.

    Selbst wenn wir diese Grundbedingung weglassen und überlegen, was wir in dem Zustand, in dem wir gerade jetzt sind, denken, fühlen und tun wollen, werden die Meinungen ungedämpft aufeinander prallen. Ich sehe da schwarz: Bei totaler Ehrlichkeit kommt der totale (Über-) Lebenswille sofort hinterher. Hauen und Stechen um Macht bricht offen aus – und zwar schlimmer als ohnehin schon.

    Ehrlichkeit ist nicht immer befreiend, gut und erstrebenswert. Ehrliche Aussagen können entmutigend, beleidigend, zerstörerisch, rechthaberisch und gemein sein.

    Wenn wir alle immer ehrlich wären, müsste ich manchen Patienten sagen, dass ich sie fett, unästhetisch, ungezogen, ungepflegt, ungerechtfertigt anspruchsvoll finde. Und ich müsste damit rechnen, dass sie mich als arrogant, hochnäsig, egoistisch und eingebildet bezeichnen.

    In den vergangenen Jahrtausenden hat es sich als lebenserhaltend erwiesen, dass Menschen nach außen freundlich und hinter den Kulissen heimlich und oft hinterhältig sind. Dadurch entstanden einerseits die Diplomatie und offizielle Politik und anderersetis die Geheimdiplomatie und Geheimdienste, die meist das Gegenteil beabsichtigen. Skrupellosigkeit, Hass, Menschenverachtung werden kaschiert und schöngeredet. Erst wenn Verrat und Betrug nicht mehr zu verbergen sind, werden sie zögernd zugegeben und durch das Verhalten des Gegners begründet und gerechtfertigt.

    Mit Ehrlichkeit würde die Kommunikation einfacher, direkter und schonungsloser. Eigentlich ist es ja gut, wenn Aussage und Verhalten des Gegenübers unmissverständlich sind. Dann wissen wir, woran wir sind und können, ehrlich, wie wir sind, unmissverständlich reagieren.

    Ich vermute, das wird noch lebensgefährlicher als ohnehin schon. Es sei denn, der Drang zur Ehrlichkeit ist größer als der Überlebenswille.

    Wenn alle ehrlich wären, könnten viele Priester und andere Männer offen zu ihrer Pädophilie stehen. Die Katholische Kirche müsste auch das Verhalten einiger Priester nicht decken, die – wie eine sorgfältig recherchierte Dokumentation von ARTE nachgewiesen hat[1]– ihre Macht missbrauchend weltweit Nonnen zum regelmäßigen Sex zwingen unter dem Vorwand, ihnen Jesu Liebe zuteilwerden zu lassen. Doris Wagner ist eine der Frauen, die als Nonne regelmäßig von ihrem vorgesetzten Mönch und später von dessen Bruder, ebenfalls Mönch(!), missbraucht wurde und inzwischen mit ihrem Schicksal an die Öffentlichkeit ging und zwei Bücher[2] schrieb. Sie ist eine der wichtigen Stimmen, um den Vatikan zur Aufarbeitung der Skandale zu bringen.[3]

    Es gibt laut ARTE nachgewiesene Fälle, wo Priester den Oberinnen eines Ordens Geld gegeben haben und diese dafür den Priestern die Nonnen lieferten. Nonnen, die schwanger werden, müssen oft auf Geheiß ihres Ordens abtreiben und werden dann mittellos aus dem Orden verstoßen. Das alles wurde vom Vatikan verschwiegen, der sich damit selbst der Vertuschung und Unterstützung krimineller Handlungen schuldig gemacht hat. –  Man müsste mal juristisch klären, ob dieses Verhalten der Katholischen Kirche die Merkmale des organisierten Verbrechens erfüllt.

    Jetzt beginnt erst die Aufklärung, nachdem die Medien zunehmenden Druck gemacht haben und der Papst den „Missbrauchsgipfel“ im Februar 2019 einberufen hat. Allerdings muss der Verdacht oder die Tatsache des Missbrauchs nur an kirchliche Stellen gemeldet werden. Die Organisation, zu der die Übeltäter gehören, kontrolliert sich selbst. Damit bleibt von vornherein und wie bisher die Transparenz ausgeschlossen.

    Wer diese Missstände nicht wahrhaben will, sie ableugnet, ihnen aus dem Weg geht, trägt seinen Teil dazu bei, dass sie weiter so bestehen. wie sie schon immer waren. Quis tacet, consentire videtur. Wer schweigt, scheint zuzustimmen.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würde Herr Trump sagen: „Ich bin einer der größten Lügner, die jemals US-Präsident waren.“

    Konkretes Beispiel: Die Washington Post veröffentlicht täglich nach sorgfältiger Faktenüberprüfung die Lügen und irreführenden Behauptungen von Donald Trump seit seinem Amtsantritt. Am 07. Juni 2019, also 869 Tage nach Amtsantritt, war Trump bei 10.796 Lügen und irreführenden Behauptung angekommen. Interessant ist, dass er im ersten Jahr als Präsident durchschnittlich täglich etwa 5,9 falsche oder irreführende Behauptungen aufgestellt hat, während es im zweiten Jahr 16,5 pro Tag waren, also fast dreimal so viele!

    Und viele Republikaner könnten offen zugeben, dass sie Trump nur unterstützen, weil sie um ihren eigenen politischen Posten bei der nächsten Wahl fürchten.

    Was mich wirklich besorgt, ist die Tatsache, dass immer noch so viele Amerikaner Trumps Verhalten und Politik sehr gut finden. Es ist also keineswegs nur Trumps Verantwortung, dass er so rücksichtslos und kriegstreiberisch handelt. Die Überzeugung, das naturgegebene Herrschervolk der Welt zu sein, ist offen erkennbar seit vielen Jahrzehnten tief in der amerikanischen Bevölkerung verwurzelt. Die US-Politik der Neuzeit war und ist eine hegemoniale Politik, die nach Verwirklichung des einzigen weltweiten Imperiums strebt. Und dafür sind den Vertretern dieser Politik alle Mittel recht. Die meisten Kriege, in die die USA verwickelt waren und sind, stellen klare Brüche des Völkerrechts dar: Es sind Angriffe auf fremde Länder, die die USA nicht angegriffen haben. Und die UNO hat diese Angriffe nicht genehmigt!

    Wenn wir alle ehrlich wären, würden viele Eheleute sofort auseinander gehen, statt auf Dauer vergiftet und entmutigt nebeneinander her zu leben. Viele gedemütigte Frauen würden die Kraft finden, zu ihrem Wissen um die Freundin des Ehemanns zu stehen und die Ehe mit erhobenem Haupt verlassen, statt weiterhin deprimiert und verzagt die brave Ehefrau zu spielen. Viele Ehemänner würden ehrlich sagen, dass sie fremdgehen, und sie würden die Konsequenzen ziehen.

    Diplomaten würden keine Politik der vielen Gesichter machen, sondern in den Verhandlungen und dem Volk gegenüber(!) Klartext reden.

    Viele Ärzte würden häufiger ihre Unwissenheit zugeben, statt die Überlegenen zu spielen.

    Wenn der Drang zur Macht größer bleibt als die Macht der Ehrlichkeit, wird sich nichts ändern am derzeitigen Zustand der Menschheit.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würden wir die Lüge gar nicht kennen. Die Ehrlichkeit lebt ihren hohen ethischen Wert nur im Kontrast zur Lüge. Licht erkennen wir auch nur, weil wir das Dunkel kennen.

    Wenn wir alle ehrlich wären, könnten wir trotzdem versuchen, Kompromisse zu schließen, aber dann keine faulen, sondern ehrliche.

    Jetzt leben viele Berufsgruppen von der Unehrlichkeit. Die Werbeindustrie zum Beispiel hat als Maxime, den Umsatz ihrer Auftraggeber zu steigern und nicht etwa, die Wahrheit zu verbreiten. Das macht sie, indem sie gute Gefühle in den Menschen weckt, die wiederum glauben, mit dem Kauf des beworbenen Produktes eben diese Gefühle zu erwerben. Es geht nicht darum, ehrlich mit dem Kunden umzugehen, sondern ihm seine Wunschwelt vorzuspielen, ihm sein Geld aus der Tasche zu ziehen und Einfluss auf ihn auszuüben. Wenn die Werbeindustrie immer ehrlich wäre, dürfte sie viele Aufträge gar nicht annehmen, weil diese nichts anders bezwecken, als die Vorspiegelung falscher Tatsachen so alltäglich zu machen, dass sie als Wahrheit akzeptiert werden. Das Motto lautet: Eine Lüge wird umso mehr zur Wahrheit, je häufiger sie überall wiederholt wird.

    Ebenso ist es mit der PR-Industrie, die eine Imagekampagne nach der anderen zu enorm hohen Preisen führt, um bestimmte Menschen und ihre Ideen zu preisen und andere zu diffamieren. Das ist der übliche Propagandarummel vor den Wahlen, vor Kriegen, vor wichtigen politischen Entscheidungen. Das erste, was schon vor dem Krieg stirbt, ist die Wahrheit. Zuerst muss eine Ideologie entwickelt und propagiert werden, der das Volk folgt. Denn nur damit lassen sich Lug und Trug, Mord und andere Grausamkeiten scheinbar rechtfertigen. Nur drei solche historische Propagandasätze als Beispiele: „Die Polen haben unsere Grenzsoldaten angegriffen!“ – „Der Irak besitzt Massenvernichtungswaffen!“ – „Die Juden sind eine minderwertige Rasse!“

    Die PR-Firmen müssten komplett ihre Strategie umstellen, wenn sie immer ehrliche Aussagen veröffentlichen wollten. Stellen wir uns mal vor, wie die Zeitungen, Fernsehsendungen und sozialen Medien langweilig werden, wenn alle dieselben Tatsachen bringen! Dann gibt es keine Verleumdung, keine Hassbotschaft, keine Lügen mehr! Dann sind die Beschuldigungen und Angriffe ehrlich und offen auf dem Markt und werden mit Namen und nicht mehr anonym veröffentlicht.

    Die Verteidigung der Wahrheit und des Rechts obliegt den Juristen. Es ist bekannt, dass im Allgemeinen nicht der Recht bekommt, der Recht hat, sondern der den besseren Anwalt hat. Das weiß ich aus meiner Lebenserfahrung und aus mehreren Gesprächen mit Anwälten und Richtern. Zeitung und Fernsehen liefern täglich Beweismaterial zu dieser These. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, aber manche sind eben doch ein bisschen gleicher.

    Wenn wir alle ehrlich wären, würde nur noch offen um das gestritten, was jetzt hinter vorgehaltener Hand umkämpft wird. Man kann dann ehrlich sagen, dass der Neid die Welt antreibt und nicht das Geld und schon gar nicht die Ehrlichkeit. Denn hinter jedem angestrebten Wertgegenstand oder Zustand steht der Wunsch, ein Gefühl zu verwirklichen. Dann brauchen wir Anwälte, die unsere tiefsten menschlichen Bedürfnisse nach Geltung, Ansehen und Macht offensiv vertreten. Welches Gericht wird das be- und verurteilen, wenn es sich doch um ehrliche und authentische Anliegen handelt?

    Wir können auch den „halben Weg“ der Wahrheit gehen: „Alles, was du sagst, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, musst du sagen!“

    Dieses Prinzip kann uns zum Beispiel in schwierigen Lagen bei einem Schwerkranken helfen, von dem wir glauben, dass er die ganze Wahrheit mit allen Konsequenzen jetzt nicht auf einmal erträgt. Die Grenze dessen, was ich sage, prüfe ich nach meiner Darstellung der Diagnose mit der Frage „Möchten Sie noch etwas wissen?“ und dem Satz „Wenn Sie mehr wissen wollen, sagen Sie es mir bitte.“

    Jeder Patient hat das Recht auf Information und auf Nicht-Information. Ich denke, wir dürfen ihn nicht überfrachten mit Wissen, das er möglicherweise nicht ertragen kann. Aber wichtig ist, dass – wo immer das noch möglich ist – der Patient das Ausmaß der Information entscheidet und nicht der Arzt oder Pfarrer oder Ehepartner. Die Zeit der patriarchalischen Haltung ist vorüber, in der wir glaubten, es besser wissen und über den Patienten erhaben zu sein und über ihn bestimmen zu dürfen.

    Eine richtige und für mich lebens- und berufsprägende Antwort bekam ich von einem früheren Oberarzt, der eine Sprechstunde für Brustkrebspatientinnen leitete. Ich fragte ihn, ob er allen Frauen die Wahrheit sage. – Er sagte: „Ja, ich sage allen Frauen die Wahrheit. Denn erstens bin ich Christ und glaube, dass ich nicht lügen darf. Und zweitens habe ich so ein schlechtes Gedächtnis, dass ich morgen nicht mehr wüsste, wen ich angelogen und wem ich die Wahrheit gesagt habe. Ich nehme mir immer Zeit, auf die Reaktionen und Gefühle der Frauen einzugehen.“

    Auch in der Beziehung unter Partnern ist das Vertrauen auf Ehrlichkeit eine Voraussetzung für das Gelingen. Trotzdem muss man nicht alles wissen, nicht alles fragen, nicht alles erzählen. Wichtig sind Verständnis für den Partner, Rücksicht auf seine Gefühle, Verletzlichkeit und Eigenständigkeit. Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist die Voraussetzung, dem Partner gegenüber ehrlich sein zu können.

    Der Begriff der Notlüge ist allgegenwärtig. Wir meinen damit Situationen, in der wir uns selbst oder jemand anderen schützen wollen, indem wir bewusst etwas Falsches sagen.

    Lüge ist eine Form von Gewalt, weil sie das Vertrauen, mit dem wir leben wollen, erheblich stört.“ Dieser Gedanke steht im Katholischen Jugendkatechismus. Ausgerechnet die Katholische Kirche sagt so etwas!

    Aber im DUDEN steht nicht das Wort Not-Ehrlichkeit! Trotzdem kenne ich Situationen, in denen es wichtig ist, jemanden mit Tatsachen zu konfrontieren, die ihn von Entscheidungen abhalten, die er nicht trifft, wenn er diese Tatsachen kennt. Beispiel: Jemand will unbedingt dieses Haus kaufen, und seine ganze Seligkeit hängt von diesem Kauf ab, aber ich weiß, dass er schwer krank ist und die Schulden nie abzahlen kann, sondern sie seiner Frau hinterlässt, die damit in die Armut stürzt. Dann denke ich, sollte ich taktvolle und ehrliche Wege finden, um ihn von dem Kauf abzuhalten.

    Ich bin mir nicht sicher, ob das Leben leichter und besser wäre, wenn wir alle ehrlich wären. Wir wären uns aber sicher über unsere echten und ehrlichen Gefühle und Gedanken, und wir könnten dazu immer stehen. Wir müssten wenigstens nicht fürchten, betrogen und belogen zu werden. Stattdessen werden wir ehrlich und offen angegriffen. Dann werden wir aber auch ehrlich und offen geliebt.

    [1] In ARTE am 04.03.2019 um 20.15 h gesendet.

    [2] Nicht mehr ich, Taschenbuch und Spiritueller Missbrauch, Herder-Verlag

    [3] Siehe auch Interview mit Doris Wagner und Kardinal Schönborn, Wien: www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/videos-und-manuskripte/missbrauch-kirche100.html

  • Begleiter

    (23.5.2019)

     

    Wenn du Schulter an Schulter mit mir gehst
    überzeuge dich gründlich
    von dem Dasein des gemeinsamen Weges
    Wenn du dieselbe Sprache sprichst
    überzeuge dich gründlich
    von der übereinstimmenden Deutung der Worte
    Sei ein wacher Beschreiter
    der die Wege mit mir bestreitet

    ֎֎֎

  • Die Würde des Menschen ist unantastbar

    Unser Grundgesetz ist gut. Es ist vorbildlich. Was der Parlamentarische Rat der noch nicht konstituierten Bundesrepublik erarbeitet hat, war neu, so kannte man die Wertschätzung des Individuums, der Freiheit, des Rechts eigentlich bisher nicht.

    Der Artikel 1

    „Die Würde des Menschen ist unantastbar“

    wird gerade landauf, landab, im Weserkurier und in den Kieler Nachrichten, seitenlang gefeiert.’Man meint zu erkennen, was die Herrschaften damals sagen wollten.

    Es ist aber auch eine sehr diplomatische Formulierung.
    Man kann das auch ganz anders verstehen.

    Die Würde des Menschen ist nämlich durchaus antastbar.

    Die Weisheit „Kleider machen Leute“ deutet schon darauf hin.

    Mit guter Kleidung strahlt man Würde aus. Mit schlechter eben nicht.

    Der Chefarzt im Eppendorfkittel mit Goldknöpfen, der Oberarzt mit (nur) Silberknöpfen, der Assistenzarzt im Kasack,

    der Viersternegeneral und der Hauptfeldwebel, alle mit ihren hirarchiegerechten Sternchen und Rauten und Fähnchen und Anstecknadeln.

    Der Häftling im Streifenanzug.

    Bei der Einlieferung ins Konzentrationslager wurden den Insassen die Köpfe kahlgeschoren. Was hat das mit ihrer Würde gemacht?

    Das wussten die Herren im Parlamentarischen Rat genau. Die hatten diese Zeit alle miterlebt.

    Und doch haben sie diesen Satz formuliert.

    Die Würde des Menschen ist unantastbar.

    Wir wollen den Satz so stehen lassen. Es gibt ihn seit 70 Jahren. Jeder weiß, wie er gemeint ist.

    Aber wir wollen daran denken, wie leicht die Würde des Menschen antastbar ist: Durch Prügelstrafe, Missachtung, Missbrauch, Mobbing.

    Und wir wollen diesen Satz nie, und nie wieder, als Entschuldigung gelten lassen.

    Heiner Wenk, Mai 2019

  •  

    An ancient Zen story describes a despondent horse, which lies down and no longer wants to learn to get up. The desperate owner, after trying everything, calls the horse-healer. After the profound examination of the horse, he states: „Such cases are serious; let’s try for a couple of days with these plants. If it does not react, it will be necessary to bring the horse down“.
    A pig eavesdrops, and runs to the horse:  „Get up, otherwise throw badly !!!“  The horse  turns its head on the other side.

    A day after, the horse- healer returns and administers the medicinal plants again and declares: „The horse doesn’t react: we should wait a little longer, but I don’t think there is anything we can do. „Again, the pig has  heard everything and runs to the horse «You MUST get up!!!».                        But the horse still remains immovable.

    On the third day, the horse- healer verifies the progress, „Give me the rifle: it’s time to put down that poor beast.“ The pig runs desperately to the horse: „Please you have to react, they’re coming to kill you!! The horse rises abruptly and starts to run, jumping over the obstacles.The owner turns delighted to the horse-healer:  „Thank you, thank you!!!  You are a wonderful healer, you did a miracle!  We absolutely have to have a big festivity: Come on, let’s kill the pig!!! “

    Moral:

    Mind always your own business!! In this way you`ll stay busy all the time and not meddle with other men’s concerns.

     Dr. med. André Simon © Copyright

     

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Eine Zen-Geschichte

    Eine alte Zen-Geschichte schildert ein bedrücktes Pferd, das sich niederlegt und nicht mehr lernen will aufzustehen. Der verzweifelte Eigentümer ruft einen Pferdeheiler herbei, nachdem er vergeblich alles versucht hat. Nacheiner gründlichen Untersuchung des Pferdes stellt dieser fest: „Solche Fälle sind ernst: Lass es uns ein paar Tage lang mit diesen Pflanzen versuchen. Wenn es nicht reagiert, muss das Pferd getötet werden.“

    Ein Schwein lauscht der Unterhaltung und rennt zu dem Pferd: „Steh auf, sonst geht es dir schlecht!“

    Das Pferd reagiert dreht seinen Kopf auf die andere Seite.

    Einen Tag später kommt der Pferdeheiler zurück und verabreicht wieder die Pflanzen und erklärt: „Das Pferd reagiert nicht: Wir sollten noch ein bisschen länger warten, aber ich denke, da gibt es nichts, was wir tun können.“

    Wieder hat das Schwein alles gehört und rennt zu dem  Pferd: „Du musst aufstehen!!“

    Aber das Pferd bleibt unbeweglich liegen.

    Am dritten Tag vollzieht der Pferde-Heiler die Entwicklung: „Gib mir die Flinte, es ist Zeit, das arme Vieh zu erledigen!“

    Das Schwein rennt verzweifelt zu dem Pferd: „Du musst bitte reagieren! Sie bringen dich sonst um!“

    Das Pferd steht plötzlich auf und rennt weg, indem es über die Hürden springt. Der Eigentümer dreht sich vergnügt zu dem Pferde-Heiler um: „Vielen Dank, vielen Dank! Du bist ein wunderbarer Heiler, du hast ein Wunder vollbracht. Wir müssen unbedingt ein Riesenfest veranstalten. Komm, lass uns das Schwein schlachten!“

    Moral:

    Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Dann bist du immer beschäftigt  und mischst dich nicht in die Sache anderer Menschen ein.

  • Wie viele Freundinnen habe ich schon verloren, auf die eine oder andere Weise. Ich gehe ihren Spuren nach.

    B., die Schwierige

    Mit dem Aufsätzchen „Spaziergang mit schweren Folgen“ habe ich ihr schon ein kleines, wie ich finde durchaus positives, Denkmal zu Lebzeiten gesetzt (W. Wamser-Krasznai, Mäander, Filderstadt 2018, 39 f.). Bald darauf wurde unsere Beziehung wirklich schwierig. Da ist ihre Sprechweise mit einer Menge höchst überflüssiger Füllwörter, die sie selbst gar nicht als solche registriert wie „und-und-und“,  „wie gesagt“ (wenn sie es noch gar nicht gesagt hat), „und so weiter und so fort“, „pi pa po“, oder mit Phrasen wie „vom Feinsten“. Wenn man das einmal gemerkt hat, kann man es kaum noch ertragen.

    Dass wir in weltanschaulicher Hinsicht nicht übereinstimmen, fand ich weniger schlimm. Die Beschäftigung mit Politik überlasse ich weitgehend meinem sehr informierten Mann, mit dem sie deshalb ebenfalls schon mehrfach zusammengestoßen ist. Eine wirkliche Last sind mir ihre pessimistische Weltsicht, ihre depressive Gemütslage und die negative Stimmung, mit der sie in aller Regel von ihren vielen, vorher geradezu hektisch betriebenen Fernreisen zurückkommt.

    An das Thema unseres letzten, entscheidenden Streitgesprächs kann ich mich kaum erinnern, es war etwas Banales und gipfelte in dem gegenseitigen Vorwurf „Du lässt mich ja nie ausreden“. Nun muss ich zugeben: es kann mir schon passieren, dass ich jemanden nicht ausreden lasse, in dem Gefühl sonst selbst nicht mehr zu Wort zu kommen. Wir saßen zu zweit in einer Kneipe, einem Familienbetrieb – alle sind meine ehemaligen Patienten – wo die immer lauter, am Ende fast schreiend ausgetragene Debatte coram publico, aber glücklicherweise ohne weitere Gäste, stattfand.

    Die Situation war etwa seit einem Jahr eskaliert. Es hatte sich eingespielt, dass B. bei uns nächtigte und ihren Wagen solange bei uns einstellte, während sie mit dem Zug weiter zum Flughafen und zu ihren Fahrten in die Welt aufbrach. Wir hatten ihr einen Hausschlüssel gegeben. Im Jahr 2018 nahm sie die Möglichkeit bereits siebenmal in Anspruch, revanchierte sich meist mit einer Einladung zum Abendessen oder mit einem Mitbringsel. Wenn mir auch unsere zunehmend aggressiven Gespräche langsam zu viel wurden, bekam ich doch kurz darauf immer Mitleid und ein schlechtes Gewissen, weil ich zwei Beine habe und sie nur eines. Deshalb meinte ich, ihr trotz allem etwas Gutes tun zu müssen. Am Morgen nach dem dramatischen Abend kam von ihr so etwas wie eine halbe Entschuldigung, wir gingen aber nicht mehr darauf ein und wünschten ihr nur gute Reise.

    Inzwischen entschloss ich mich, diese Sache im Hinblick auf meine Seelenruhe zu beenden. Das Dumme war, dass ich bei ihrer Rückkehr nicht da sein würde, und auch mein Mann wollte sie lieber nicht treffen. Ich schrieb ihr also einen „Scheidebrief“, der mir ganz gelungen schien. Jede Schuldzuweisung vermeidend – zu einem Streit gehören ja immer mindestens zwei – bat ich sie, den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen. Überhaupt bin ich ja besser mit dem geschriebenen Wort bei der Hand als mit dem gesprochenen. Petúr informierte mich telefonisch über den Fortgang. Sie deponierte den Schlüssel richtig im Briefkasten und schrieb dazu, sie habe schon länger darunter gelitten, unsere Gastfreundschaft so oft in Anspruch genommen zu haben. Sie meine aber, zwei alte Leute wie wir sollten sich trotz aller Verschiedenheit lieber vertragen und ich könne sie jeder Zeit besuchen, wenn ich in ihre Gegend komme. Alle Achtung, ein nobler Brief, sie hat ja aristokratischen Wurzeln. Lassen wir die Angelegenheit erst einmal auf sich beruhen und sehen dann weiter.

    Vier Wochen später: Ich habe den Eindruck, dass wir sehr gut ohne einander auskommen.

    A., die Kämpferin.

    Sie ist an Brustkrebs gestorben, ein handfestes Frauenzimmer, Kollegin, ihrem Mann, mit dem sie eine Gemeinschaftspraxis betrieb, weit überlegen. Als er ihr gegenüber im Suff einmal tätlich wurde, überlegte sie, ihn zu verlassen und besprach das mit mir. Von meinem damaligen Rat bin ich heute noch überzeugt: trennt euch innerhalb des Hauses und bezüglich der Freizeitaktivitäten, bleibt aber im Übrigen zusammen, für die Praxis und wegen der Familie. Bald danach wurde sie krank. So weit ich das beurteilen kann, war er ihr eine verlässliche Stütze auf dem Weg zu den verschiedenen Therapieversuchen, ein Beistand in Verzagtheit und Schmerz. Manchmal suche ich nach Spuren der Familie. Sie sind für mich nicht mehr auffindbar.

     

    H., die Handfeste.

    Eine verlässliche Gefährtin, auf Reisen und auch sonst, immer dann wenn Hilfe gebraucht wurde. Sie ging „nur“ zu einer Routine-Untersuchung, wäre am liebsten selbst mit dem Auto dorthin und auch wieder zurück gefahren. Aber sie kam nicht zurück. Der Schreck war furchtbar. Er übertraf sogar den Schmerz über den Verlust, er hält heute noch an. Mit ihr konnte ich singen; sie kannte dieselben Lieder und mochte dieselben Gedichte wie ich. Manchmal hat sie mich etwas zu sehr bewundert, aber ein bisschen Bewunderung kann man ganz gut vertragen. Mit ihrer Familie stehen wir in freundschaftlicher Verbindung.

     

    M., die Fromme.

    Um M. musste ich richtig kämpfen. Sie war meinen Altvorderen zu „einfach“, mir aber viel lieber als die feinen Honoratiorentöchter, mit denen meine Großmutter mich lieber gesehen hätte. Wir haben nebeneinander die Schulbank gedrückt bis sie den Schulort verließ. Die Freundschaft bestand weiter. Einmal besuchte ich sie, um mit ihr zusammen zu lernen, es war wohl kurz vor dem Physikum. Sie behandelte ihre Mutter schlecht, was mich ebenso störte wie ihre immer stärker hervortretende Frömmigkeit. Sie fing an, mich zu katechisieren. Ich habe mir Mühe gegeben, sie zu verstehen. Einmal nahm ich sogar an einer wie mir schien sektiererischen Gruppenveranstaltung teil. Man stand im Kreis, einzelne Teilnehmer traten vor („aus sich heraus“?) und erzählten etwas von sich. Das sollte einen oder sie selbst wohl näher an ein angestrebtes Ziel heranführen. Nun, ich entzog mich, geriet nicht in dieses Fahrwasser, hielt das Missionieren aber noch einige Jahre lang aus. Schließlich schrieb ich ihr einen Abschiedsbrief . Gelegentlich habe ich ein wenig ihren Werdegang verfolgt, und auch den ihres Mannes, der es zu einer Chefarztstelle brachte. Die Trennung war richtig, nur hätte ich mich schon früher dazu entschließen sollen.

     

    E., die Verhängnisvolle.

    Mit ihr war es viel schlimmer, eine richtig unangenehme Geschichte. Während des Krankenpflege-Praktikums lud mich eine Schwester zum Kaffee ein. Als ich mich nach diesen acht Wochen verabschiedete, bat sie mich um das Du. Wir korrespondierten. Sie war Gast bei meiner Hochzeit Nr. 1. Inzwischen hatte sie zu anderen Krankenhäusern gewechselt, wurde irgendwann Oberin, bewarb sich dann aber (!) in meiner ersten Praxis als Assistentin! Ich hätte jemanden Tüchtiges und Loyales gebrauchen können und machte einen meiner großen Fehler. Wie naiv kann man bloß sein? Mit „Freunden“ macht man doch keine Geschäfte! Vor allem war es unmöglich durchzuhalten, dass wir privat per Du waren, sie mich in der Praxis aber siezte und mit Frau Doktor anredete. Sie war häufig krank geschrieben, oft aus orthopädischen Gründen, also auch von mir selbst. Ein Krankenstand dauerte so lang, dass sie wieder in ihre Heimat wechselte. Eines Abends erhielt ich den Anruf ihres Bruders, der mir in wohlgesetzten Worten ihre Opiat-Sucht verriet. Man hatte entsprechende Einstiche an ihren Armen gefunden.

    Glücklicherweise wurde es dann nicht ganz so fatal wie es klingt, denn das Mophin stammte nicht aus meiner Praxis, konnte es gar nicht, da ich überzeugt war, als Orthopädin weder Opiate noch Giftschrank nötig zu haben. Immerhin kam es zu einer außerordentlichen Kündigung und einer schmerzhaften Abfindungs-Zahlung.

    Später schrieb sie einen langen Entschuldigungsbrief und wollte die Sache wieder begradigen. Das habe ich abgelehnt. Während dieser Affäre hat mich mein Ehemann Nr. 1, das muss ich ihm lassen, beraten und moralisch unterstützt. Gerade habe ich nach ihren Spuren gesucht. Auf der Traueranzeige zum Tod ihres wenig jüngeren Bruders ist sie nicht genannt. Entweder war sie vor ihm gestorben oder er hat sich ebenfalls von ihr distanziert.

    Ende der Geschichte.

     

    F., die Besondere

    Sie hat mir von allen vielleicht am nächsten gestanden, un‘ amicizia particolare. Wir reisten zusammen, lernten Italienisch zusammen, studierten Orchideen-Fächer zusammen. Ich habe sie oft zum Heulen gebracht, indem ich sie ablehnend behandelte, da ich allzu viel Nähe schwer ertrage. Auch die Heulerei stieß mich ab. Dann „verließ“ sie mich, indem sie vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausschied. Sie sagte kein Wort, stellte mich vor die vollendete Tatsache. Damit rächte sie sich für die Zurückweisung, die sie allzu oft von mir erfahren hatte. Natürlich fühlte ich mich allein gelassen im täglichen Kampf, was aber kein Grund zum Aufgeben war. Jetzt erst recht! Bald ereilte sie eine tödliche Krankheit. Ich habe sie getreulich begleitet, abgesehen von einer Ausnahme, die ich mir heute noch übel nehme. Täglich war ich bei ihr, oft zwei- bis dreimal, nur am Abend vor ihrem Tod nicht. Ein nicht wieder gut zu machendes Versäumnis.

    Einmal habe ich ihr richtig schlecht geraten. Wir waren mit ihrem Wagen zusammen in Apulien unterwegs. Jeder weiß, dass anständige Autos dort keine Minute sicher sind. Unser Quartiergeber riet, den Wagen in eine verschließbare Scheune zu stellen. In meiner Verblendung hielt ich den Parkplatz vor dem Haus für sicher genug. Der Wagen wurde sozusagen vor unseren Augen entführt, auf Nimmerwiedersehen. Wir fuhren mit der Bahn zurück, von Bari aus dauert das eine Weile. Meine Zerknirschung war groß, nützte aber nichts. Sie war  großzügig und nachsichtig. Es blieben nur eine völlig zwecklose Anzeige gegen Unbekannt, die Versicherung und ein verlustreicher Neukauf. Auch das geht mir  heute noch nach.

     

    T., die Pragmatische.

    Sie hatte hoch begabte Geschwister, einen Schauspieler, einen Professor, eine Sängerin, gehörte selbst zu den „ganz Normalen“, zu ihrem Glück, wie ich meine. Ihre Mutter war eine interessante, tüchtige, aparte Frau, allzu früh verwitwet. In der Oberstufe verbrachte ich viele Nachmittage dort, wurde in die Familie integriert, aß Marmeladenbrot und trank Zichorienkaffee mit ihnen. Die Mutter war oft mit ihrer Schwiegermutter, die ihre Wurzeln in unserer kleinen Stadt hatte und für alle sorgte, unterwegs, und die beiden standen allem Anschein nach im besten Einvernehmen. Dann trat ein Mann hinzu, ein entfernt Verwandter. Er und die Mutter gewöhnten sich an einander, was von den Familienmitgliedern, auch von der Schwiegermutter, offenbar wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Nach einem kleinen Autounfall, der für das ältere Paar glimpflich ausging, veränderte sich ihr Wesen (wie ich sehe, meine ich die Mutter wenn ich „sie“ sage und von „ihr“ schreibe; so muss ich meine Freundin konsequent mit ihrem Kürzel bezeichnen). Wahrscheinlich hatte sie primär eine depressive Veranlagung, die nun durchschlug. Sie ging in Therapie, zu Schlafkuren, war aber weiterhin, wenn sie konnte, beruflich tätig. Was zu dem gewaltsamen Ausbruch führte, wurde nie ganz klar. Jedenfalls fand die jüngere Tochter eines Tages die beiden Leichen, die Schwiegermutter erschlagen und die Mutter erhängt. Das junge Mädchen erholte sich nie mehr von dem Schock, wurde ihrerseits depressiv. Eine Zeitlang kam sie in meine Praxis, immer mit orthopädischen Symptomen, hinter denen die psychosomatische Grundstruktur leicht zu erkennen war. Die Tragödie ging natürlich durch den Blätterwald.

    T. führte mit Mann, Kindern und Beruf ein „normales“ Leben. Wir sahen uns regelmäßig bei Klassentreffen und bei anderen Gelegenheiten. Dann bekam sie ein Sarkom, ein sehr aggressives, das sie ganz schnell dahinraffte. Ich hielt telefonisch Kontakt mit ihr. Das Sprechen fiel ihr schwer, aber sie wollte doch immer von mir angerufen sein. Ihre Spuren verblassen.

     

    S., die „Weibliche“.

    Wieder war die Mutter in der fünfköpfigen Familie bei Weitem die Interessanteste, auch, mit Verlaub, die Klügste. Ich hätte sie mir als meine Ersatz-Mutter vorstellen können, aber meine Großmutter biss alle Kandidatinnen weg, die sich ihrem Schwiegersohn nur zu nähern wagten. Diese  Mutter, von mir Tante genannt, war diplomatisch und hielt das aus, benahm sich reizend zu meiner Großmutter und blieb meinem Vater gegenüber ausreichend distanziert. Ich war oft und gern dort. S., ein weiteres Mädchen und ich hatten zusammen ein „Kränzchen“, rauchten die ersten Zigaretten miteinander und veranstalteten gemeinsam kleine Theateraufführungen.

    S. war graziös, ein wenig kokett, hatte im Gegensatz zu mir „Verehrer“. Ihre Ehe blieb lange kinderlos. Schließlich überredete sie ihren Mann, ein Sohn kam, vom Vater nicht gewollt, es ging auch alles schief mit dem Jungen. Trotzdem überlebte er beide Eltern, die kurz hintereinander an malignen Tumoren verstarben. Zur Familie haben wir weiterhin gute Beziehungen.

     

    Maren, die Tapfere.

    Dem „Requiem für eine Kommilitonin“, Homepage des BDSÄ, Bundesverband Deutscher Schriftsteller-Ärzte 2017,  ist nichts mehr hinzuzufügen.

     

    U., die Erfolgreiche.

    Obwohl wir beide das Physikum in Marburg absolviert hatten, lernten wir einander erst in Freiburg richtig kennen. Wir siezten uns, nannten uns „Fräulein“, wie es damals Brauch war. Doch das änderte sich bald, als wir uns bei der Sportmedizin trafen. Sie machte Karriere, legte eine ansehnliche experimentelle Promotion hin, habilitierte sich, wurde Oberärztin, Professorin, Institutsleiterin. Männer an sich heran zu lassen, fiel ihr schwer. Einmal lernten wir jemanden kennen, der sich sehr um sie bemühte; das ging aber schnell zu Ende als er, wie ich vermute, „mehr“ wollte. Ihre Prüderie war vielleicht auf das von der Familie missbilligend und nur mühsam ertragene Doppelleben ihres Vaters zurückzuführen.

    Ich nahm an allen ihren Auszeichnungen und Festlichkeiten teil. Wir hatten gemeinsame Liebhabereien, Musik, Literatur, antike Kunst, reisten ein paarmal zusammen. Anfangs war ich ein bisschen eifersüchtig auf ihre Lebensgefährtin – wie weit das geht, haben wir nie vertieft – aber dann lernte ich diese näher kennen und schätzen. U. und ich standen ständig in Verbindung, wenn es  persönlich nicht möglich war, dann brieflich und telefonisch, später per E-Mail.

    Seit etwa drei Jahren lässt das alles nach. Es geht nicht von mir aus, ich habe nachgefragt, nachgebohrt, meinerseits geschrieben und telefoniert. Einmal machte die Gefährtin eine Andeutung zum Thema „Gedächtnis“. Da hatte ich es auch schon gemerkt. Sie vergisst, was besprochen oder schriftlich mitgeteilt wird. Neulich bekam ich gleichzeitig vier nahezu inhaltsgleiche E-Mails von ihr. Sie sagte kürzlich selbst einmal von sich, dass sie nicht mehr so könne, wie sie gern wolle. Ihren Fachbereich und ihre Steckenpferde hat sie nach wie vor im Griff, spricht dann lebhaft und interessant. Aber die Kommunikation lässt nach; die Initiative geht fast immer von mir aus. Ich fürchte, dass ich sie eines Tages ganz an das, sagen wir: abnehmende Gedächtnis, verlieren werde. Aber wer kann schon in die Zukunft schauen?

     

     

  • Gemeinsame Werke

    (1.1.2019)

     

    Manche Schriften und Gedichte
    aus meiner Heimat
    und anderen Teilen dieser Erde
    behüte ich wie Schätze in meiner Brust
    Ihre Aussagen verbinde ich
    bei neuen Wahrnehmungen
    Begegnungen und Berührungen
    mit gegenwärtigen Klängen, Farben und Düften
    Das Ergebnis teile ich meiner Umwelt
    bedacht  in der Hoffnung mit
    dass Betrachtungen und Behandlungen allgemein
    umsichtiger, zärtlicher
    und barmherziger werden

    ֎֎֎

  • Die Hand der Liebe

    (1975)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wenn der Vogel nicht singt,
    das Wasser nicht tanzt,
    das Grüne nicht wächst,
    was wird die Erde machen? 

    Wie eintönig und armselig wird das Dasein sein,
    wenn die Liebe nicht lacht,
    die Hoffnung nicht leuchtet,
    wenn die Freude fehlt
    und gelegentlich der Schmerz. 

    Ich mache demjenigen Vorwürfe,
    der Trübsal bläst
    und wie der Winterschnee
    die Umgebung in die Kälte treibt
    überall, wo er sich hinsetzt. 

    Wie glanzvoll ist es,
    die Hand der Liebe zu küssen.
    Aber wie schmachvoll ist es,
    wenn ein Mensch die Hand der Macht küsst.
    Die Sonne und die Erde sind ineinander verliebt.
    Wenn deine und meine Hände,
    die wie grüne Zweige sind,
    sich warm vereinigen,
    werden sie tausende roter Blumen hervorbringen
    und tausende gelber Früchte.

    ֎֎֎