Schlagwort: Sprache

  • Zum Thema: Was uns geprägt hat. 

    Waltrud Wamser-Krasznai: Sprache.

     

    Wie bin ich nur, ein gut bürgerliches hessisches Frauenzimmer, in diesen östlichen Schlamassel hineingeraten? Mein Petúr und ich passen doch überhaupt nicht zusammen. Wir sind so verschieden, dass ständig die Fetzen fliegen. Wir halten einander nur aus, weil er so viel unterwegs ist und wir vollkommen unterschiedliche Freizeit-Interessen haben. Was verbindet uns dann überhaupt? Antwort: Wir sprechen dieselbe Sprache.

    Ha, ha, ha, höre ich da. Der eine artikuliert sich zwar geläufig und endlos in fünf Sprachen, aber mit so schwerem Akzent als wäre er gerade von einer Operettenbühne heruntergesprungen. Die andere spricht außer deutsch, italienisch (und irgendwie auch englisch) ganz brauchbar eine Art Monarchie- Ungarisch. Das kann es also nicht sein.

    Unsere gemeinsame Sprache ist vielmehr die einer verflossenen Generation und eines vergleichbaren familiären Hintergrundes. Wir kennen und gebrauchen dieselben Wörter und Fremdwörter und vermeiden dieselben Klischees wie:  echt?  gut aufgestellt, Sinn machen – falsch, ganz falsch. Es heißt im Englischen: to make sense, in unserer Muttersprache aber: es hat Sinn, es ergibt keinen Sinn. Wir Deutschen sind in unserem vorauseilenden Gehorsam halt  Großverbraucher von Anglizismen, die einem schon zu den Ohren herauskommen wie das allgegenwärtige „okay“ oder gar „cool“.

    Petúr und ich wechseln unsere Umgangssprache abhängig vom Thema, nach Lust, Laune und Vermögen. Wir haben beide an Sprachen Interesse und verfügen wohl auch über ein gewisses Sprachgefühl.

    Was das Schreiben angeht – da  ist es ein bisschen anders. Einer der ersten Sätze, den ich von meinem Petúr hörte, betrifft die Unlust, um nicht zu sagen: die Unfähigkeit der Technokraten zu allem, was Schreiben heißt. So wurde ich denn eines Tages nicht ganz ohne Verdienst zur „Ober-Burgschreiberin“ ernannt, nämlich auf „Kraszna-Horka“, einem der vielen von der Kaiserin/Königin Maria Theresia an diese Krasznais verliehenen Stammsitze.

    Was uns geprägt hat, hängt meiner Meinung und Erfahrung nach ganz entscheidend mit „Sprache“ zusammen. Im Gegensatz zu den Verhältnissen bei meinen Klassenkamerad/inn/en, deren Väter gewöhnlich die einzigen Ernährer der Familie waren, abends spät und völlig kaputt von der Arbeit kamen und nur noch ihre Ruhe haben wollten, saß mein Vater bereits mit uns am Mittagstisch, bereit zu hören, zu reden und Auskunft zu geben. Zu dieser Zeit herrschte  Mangel an Lateinlehrern, und Papa, der seinem Studium entsprechend  naturwissenschaftliche Fächer unterrichtete, in der Schule aber neun Jahre lang Lateinunterricht gehabt hatte, konnte einspringen. Auch als Nachhilfelehrer war er gefragt. An diesen Stunden durfte ich stillschweigend teilnehmen. Sie gerieten zu einer Fundgrube der Allgemeinbildung, denn mein Vater leitete lateinische (und griechische) Ausdrücke, die man damals noch in der Umgangssprache verwendete, bis zu ihrem Ursprung ab. Da gab es immer wieder freudige Überraschungen. Später hatte ich das Glück, bei der Vorbereitung auf das Graecum einen Lehrer zu treffen, der diese Methode ebenfalls praktizierte und vom Alt-Griechischen bis hin zum Italienischen ableitete. Sehr einprägsam!

    Als ich meinen Petúr kennenlernte, ärgerte ich mich anfangs schrecklich, wenn er mit anderen Ungarn stundenlang unverständliches Zeug redete. Ich beklagte mich und erhielt die lakonische Antwort: „Dann lern‘ s halt“. Recht hat er gehabt. Auch Ungarisch ist nicht un-lernbar.

    Die Kehrseite der Medaille: Ich verstehe die Sprache der heutigen jungen Leute nur mühsam und unvollkommen, verabscheue ihre Abkürzungen und Amerikanismen und muss mir Mühe geben, in meinem Alltag nicht allzu weit  entfernt von der Lebenswelt sitzen zu bleiben  –  eine Gestrige also ganz gewiss, hoffentlich nicht eine „Ewig-Gestrige“!

     

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    Die Verhaltensforschung bezeichnet mit „Prägung“ ein angeeignetes Verhalten, das nicht zu ändern ist. Während eines frühen, für Prägungen sensiblen Lebensabschnitts werden eng begrenzte Verhaltensweisen dauerhaft ins Repertoire aufgenommen, als ob sie mit dem Instinktgefüge angeboren wären.

    Ein typischer Schlüsselreiz ist die plötzliche Bewegung in der Nähe eines geprägten Tiers, z.B. einer Wildgans. Kinder haben Spaß daran, sich langsam einem dahin watschelnden Schwarm von Wildgänsen zu nähern und plötzlich heftig mit den Armen zu rudern. Die erste Gans rennt los und fliegt auf, ein Klatschen, Schnattern und rudernde Arme lassen die nächste und übernächste Gans auffliegen, deren Flügelschlag den ganzen Schwarm nachzieht.

    Kinder wissen, dass sich das Experiment wiederholen lässt. Denn ungezählte Generationen Wildgänse lernen, dass man damit einer bedrohlichen Situation entkommt. Prägen Wildgans-Eltern indirekt auch Menschenkinder?

    Nimmt man Prägung bei Menschen an, wenn sie in Stress geraten und weglaufen, weil die Urahnen wegrannten, um dem Stress mit einem Bären zu entkommen, würde Heraklit, ein vorsokratischer Philosoph, Recht behalten, dass Mensch-Sein eine leere Vorstellung sei. Aristoteles entwickelt im 4. Jahrhundert v. Chr. mit der Nikomachischen Ethik ein modern anmutendes Charakterkonzept. Die Kultivierung des Charakters ist für Aristoteles ein langwieriger Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens.

    Aristoteles geht nicht darauf ein, ob ein Üben und Eingewöhnen die Auswahl von Tugenden beeinflusst. Denken wir nach, ob uns neben fremden Ideen auch eigene prägen könnten! Ist das Unbewusste etwas, das absichtlich unbewusst bleiben will? Ver-ändert es Ideen und Gefühle, ohne dass wir es merken?

    Jeder gestehe sich seine guten und schlimmen Ideen ein! Viele glauben, glaubenslos zu denken. Wieviel mehr muss man glauben, um gut- oder ungläubig zu werden! Beeinflusst eine unbewusste Geschichte intensiver als die bewusste Geschichte die persönliche Zukunft?

    Was gilt? Der menschliche Rhythmus bedarf des Schlafs und Vergessens. Jede Kommunikation beginnt in einer materiellen Stille, eingebettet in Medien wie z.B. Bücher, Chipkarten, Festplatten, Tastsinn, Augen oder Gehör, die alle von sich aus kein Signal geben, um eine Kommunikation einzuleiten.

    Mag auch Homo sapiens sapiens die einzige Spezies sein, die weiß, wann er die Grenzen der Fähigkeit erreicht, sich selbst zu verstehen: Was prägt den jagenden und sammelnden Urmenschen? Er eignet sich Antworten auf Gefahren durch Strategien seiner Horde an. Was prägt den Sesshaften? Er eignet sich Verstandestugenden an, die durch Belehrungen und einen langwierigen Prozess moralischen Übens und Eingewöhnens erworben werden – unter Aufsicht komplex organisierter Sippen.

    Was prägt den König, Diktator, Revolutionär oder Demokraten? Sie dürfen um der Karriere Willen nie die schlimmste Idee aussprechen, die sie haben! Gibt es Vermutungen, wie viele Fragen unbeantwortet und wie viele Antworten verschwunden sind, und welche der überlieferten Ideen sich durchsetzten?

    Warum sind Vernunft, Wissenschaft und Beweise so machtlos gegen Aberglaube, Religion und Dogma? Menschen, die Macht über andere gewinnen, missbrauchen sie gern. Die Prägung im biologischen Sinn wandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Mit Sesshaftigkeit und Staatenbildung bilden sich die dynamischen Hauptsätze der Soziologie heraus.

    Jede Befreiung von Wertvorstellungen und Beziehungsmustern führt nicht in Freiheit, sondern zur Befangenheit in neuen Wertvorstellungen und Beziehungsmustern. Schon in Tierpopulationen mit mehreren Rangebenen entstehen soziale Beziehungsmuster, die individuelle Vorteile bieten. In sozialen Systemen jedoch führt die Gewinnsteigerung der Einen zu Verlusten der Anderen, wie z.B. Produktivitätsgewinne zu Arbeitsplatzverlusten führen.

    Jeder Sieg führt zu Niederlagen einer Gegenseite. Sesshaftigkeit fördert Seuchen, Erfolge der Medizin belasten Sozialsysteme, das Sozialparadoxon, mehr herauszuholen als eingezahlt zu haben, schwächt die Sozialkassen. Globalisierung erwürgt Heimatgefühle, Entmilitarisierung bringt Terroristen Vorteile.

    Was prägt den Christen? Glaubt er, ohne Glauben leben zu können? Wieviel musst du glauben, wenn du Politikern oder Wissenschaftlern glaubst! Eine Tragikomödie wird geboren: wer nicht mitspielt, dem wird mitgespielt. Schnell passt man sich der öffentlichen Meinung an und verliert den Mut auszubrechen. Den dynamischen Hauptsätzen gemäß verdichten sich soziologische Umstände, und jeder erlebt es. Die Prägung im biologischen Sinn verwandelt sich zur Prägung im kultischen oder soziologischen Sinn. Sind wir schlau genug, wenn wir die Grenze unserer Fähigkeit erkennen, Geist und Seele zu verstehen?

    Befreie den Menschen vom Kampf um die Existenz – und nach einer Weile wird er aufhören zu existieren, Mensch zu sein. Rückblickend ist das Leben wie ein Märchen: Es war einmal. Denn der Preis eines jeden Lebensweges sind die vielen, an Gabelungen nicht eingeschlagenen Wege. Unser Leben ist kein Traum, aber es soll ein schöner Traum werden.

     

  • Was ist Prägen?
    E. Grundmann 23.01.2019

    Zuerst frage ich gern die Etymologie, denn ἔτυμος (ἔτυμον, ἐτύμη) heisst wahr, echt, wirklich – und bedeutet hier der wahre Wortsinn.

    Prägen geht auf das Alt- und Mittelhochdeutsche zurück und bedeutet pressen, einpressen, vielleicht auch in die Oberfläche einbrechen. Wenn mich also etwas prägt, dann wirkt etwas von aussen auf mich ein und hinterlässt einen Eindruck, einen bleibenden nämlich, wenn von Prägung die Rede sein soll. Da fällt jedem sofort ein, dass ihn Eltern, Familie, Lehrer geprägt haben, dann natürlich auch beeindruckende Erlebnisse. Das ist uns geläufig und bedarf keiner weiteren Ausführung. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, dass alles und jedes jedes und alles prägt, id est aufeinander Einfluss nimmt, und, wenn man es auf die Spitze treiben will, in einem kosmischen Zusammenhang steht. In den letzten Feinheiten ist das dann so gering, dass zwar nicht mehr von wesentlicher Prägung gesprochen kann – aber es ist vorhanden! Auch in der unbelebten Natur finden Prägungen statt, etwa wenn geologische Schichten aufeinanderpressen oder auch nur Molekül- und Kristallstrukturen sich aneinanderlagern.

    Alles, was ist, wechselwirkt, um so mehr, je näher die Beteiligten und je stärker der Impuls. Es gibt keine vollständige Inertia, Trägheit, insofern, als auch der Schwächste mitwirkt, nämlich im Passivum, indem er sich beeinflussen lässt.

    Auch wir prägen uns hier gegenseitig in unserem schönen BDSÄ, selbst wenn wir das typische Prägealter doch schon mehr oder weniger überschritten haben. Aber so lange wir ein Sensorium besitzen und einen Hauptrechner, der das alles verarbeiten kann, spielen die Eindrücke hin und her.

    Die Überlegung gibt Anlass, über die Verantwortung nachzudenken, die mit einem solchen Einflussgespinst einhergeht. Wir als Sprachschöpfer spüren die Prägungen, welche die öffentliche Sprachkultur auf die Völker ausübt. Wir sehen den Zusammenhang von Verrohung der Sprache und Verfall der Sitten bis hin zur Straftat. Wir sehen die Verführbarkeit der Massen. Victor KLEMPERER hat in seiner LTI[1] bezeugt, wie die Nazi-Propaganda sogar bei ihm, dem Opfer und Gegner der Nazis, in die Oberfläche einbrach und zu prägen versuchte. Ja, es gibt sie, die Prägung wider Willen, die Prägung mit Gewalt, mit List, mit Überredung: Wenn teuflische Ideologien Köpfe verführen, selbst hochgebildete, wenn katastrophale Kindheiten Seelen verbiegen.

    Achten wir wachsam auf das, was uns prägen will. Hinterlassen wir selbst möglichst einen guten Eindruck. Die Naturschützer sagen: Leave nothing but your footprints. Ich erweitere: Leave nothing but good footprints in history! Freunde, prägt euch das ein!

     

    Prägen

    1.      Etymologie

    1.1.   KLUGE < 9. Jh mhd præch(en), bræchen, ahd brähhen – vergleichbar ae abracian einpressen, ostfr. prakken pressen. Verwandtschaft zu brechen besser offen lassen – wictionary: Belege fehlen.

    1.2.   WAHRIG < ahd prahhen, brahhen «brechen machen, gebrochene Arbeit hervorbringen» < germ *brahhjan -> brechen

    1.3.   Wiktionary mhd bræchen, præchen „einpressen, abbilden“ < ahd giprāhhan, prāhhan „indem die Oberfläche eingebrochen wird, etwas einpressen, einritzen“

     

     

     

    [1] Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Leipzig: Reclam jun., 1978

  • Begleiter

    (23.5.2019)

     

    Wenn du Schulter an Schulter mit mir gehst
    überzeuge dich gründlich
    von dem Dasein des gemeinsamen Weges
    Wenn du dieselbe Sprache sprichst
    überzeuge dich gründlich
    von der übereinstimmenden Deutung der Worte
    Sei ein wacher Beschreiter
    der die Wege mit mir bestreitet

    ֎֎֎

  • Gedichte wie …

    (1.5.2019)

    Meine Gedichte! Ihr sollt farbenfroh sein
    wie die Tulpen und Veilchen im April
    die Menschen zum Frohsinn einladend
    Ihr sollt Zuversicht sprühen
    wie die kleine Gurke im Blumentopf
    die ich demnächst auspflanzen werde
    Ihr sollt der Erde verbunden sein
    wie fleißige Regenwürmer
    die den Boden geduldig
    für das Wurzelwerk vorbereiten
    Ihr sollt hell, klar und erquickend sein
    wie Tauperlen auf Grashalmen
    oder Regentropfen auf bunten Blättern
    tausend Sonnen in sich tragend
    Ihr sollt Botschafter meines Herzens sein
    frei wie Zugvögel Grenzen überschreiten
    und blühend Brücken bauen

    ֎֎֎

  • Im Rom der Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz

    Stand 06.05.2019

     

    In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Rom voller Katzen und „eine brüllende, ratternde Verkehrshölle, in der gehetzte und mürrische Leute ihren mühsamen Tag bestehen“ (In Rom zu leben, Engelsbrücke, 11).

    Heute gibt es keine Katzen mehr in Rom, wenigstens keine „öffentlichen“. Früher wurden sie in manchen Winkeln von alten Weiblein gefüttert. Man kann Betrachtungen darüber anstellen, wie sich die Römer der Katzen entledigt haben; ich weiß es nicht, denke mir aber, dass diese Tiere ihr Leben z. B. in den Laboratorien der pharmazeutischen Industrie gelassen haben – aus heutiger Sicht eine abscheuliche Vorstellung. Angeregt durch Picassos Gemälde <Katze und Vogel> skizzierte Marie Luise Kaschnitz Betrachtungen zu diesem Thema in ihrem Tagebuch[1] und verfasste einen Essay (Die Katze, Engelsbrücke  66) und ein Gedicht (Picasso in Rom[2]). Das von dem Bild ausgehende Unheimliche und Fürchterliche nimmt einen breiten Raum ein, vor allem weil zu der „grinsenden Verschlagenheit und Bosheit“ des Tieres „noch die Heimtücke des Menschen“ komme, der im Gegensatz zur unbewusst handelnden Kreatur für seine mörderischen Taten selbst verantwortlich ist.

    „Dachüber[3]

    Schleicht die dämonische

    Katze. Zerrissenen

    Vogel im Zahn.“

    Mit Rom hat das Gedicht wenig zu tun. Die Überschrift bezieht sich auf die große Picasso-Ausstellung in der Galleria d’Arte Moderna im Jahr 1953[4].

    Auch der Durchgangsverkehr ist jetzt aus der Innenstadt verbannt. Personenwagen benötigen eine Sonder-Erlaubnis, und die öffentlichen Verkehrsmittel sind natürlich ständig überfüllt, aber von einer „brüllenden Verkehrshölle“ kann nicht mehr die Rede sein. Selbst langsame Fußgänger sind imstande eine Straße unangefochten zu überqueren.

    Die Kaschnitz, Gattin des österreichischen Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg, der von 1953-1956 das Amt des 1. Direktors im Deutschen Archäologischen Institut bekleidete, lebte ab 1925 immer wieder in Rom, zunächst in der  stillen „Via Sardegna, nahe der ebenfalls noch stillen Via Veneto“ (Orte, 51 f.). Zu dieser Zeit war Walter Amelung „Erster Sekretar“, wie man damals sagte, des Istituto Archeologico Germanico ROMA. Er „ist einmal Schauspieler gewesen, hat eine sonore Stimme und ein gewaltiges, mitreißendes Lachen … nennt seine Mitarbeiter, die alle schon in den Dreißigern sind ,… Ragazzi und setzt ihnen, wenn sie einmal Vorträge halten dürfen ,.. Schokolade und Kuchen vor. … Ein strenger, todernster Schweizer ist Bibliothekar, einen unschuldigen Kuss hat er einmal mit den Worten <man bittet, in der Bibliothek jedes unnötige Geräusch zu unterlassen> gerügt.“

    „Die Via Treviso ist in den dreißiger Jahren eine hochmoderne Straße, siebenstöckige Mietshäuser mit Zentralheizung und Lift, da bewohnen wir bei einem Bankdirektor, der vor kurzem Konkurs gemacht hat, zwei Zimmer. … gleich hinter den neuen Häusern beginnt die Campagna …Viel später werde ich erfahren, dass der Bankdirektor einmal einen Angestellten mit dem Namen James Joyce gehabt hat.“(Orte, 67 f.)

    Im Oktober 1937 sieht die Kaschnitz im Palazzo delle Esposizioni eine  Ausstellung: Mostra Augustea della Romanità, in der die „vermeintlich spirituelle … Kontinuität“ zwischen der Herrschaft der römischen Kaiser und derjenigen Mussolinis in Szene gesetzt ist. Die heutige Via dei Fori Imperiali, anfangs Via dell‘ Impero, zu deren Anlage der Duce das Ausgrabungsgebiet der Kaiserfora rücksichtslos hatte durchschneiden lassen[5], ist ein eindrucksvolles Zeichen dieser Zeit.

     

    Nachsommer auf dem Palatin (Engelsbrücke 57 f.)

    „Zu Füßen der Treppe am Westabhang das Heiligtum der Großen Mutter…Ein Teppich von Steineichelsaat um den Altar der Magna Dea, um die Bruchstücke von Stucksäulen, um die sitzende Frauenstatue, die den von der düsteren Größe des Ortes erweckten Vorstellungen der Kybele nicht entspricht. Noch weiter dem Abhang zu frührömische Dörfer, Pfahllöcher viereckiger und eiförmiger Hütten, die sich im neunten Jahrhundert vor Christus die neuen Ansiedler bauten, schön in der Sonne und den aus dem Osten Eingewanderten gewiss sehr angenehm. Später wurde dort alles enteignet, kaiserliche Zone, für Paläste und öffentliche Bauten bestimmt. Des Augustus Haus, mit schäbigen Kämmerchen und Innenhöfchen, ist noch bescheiden, fast kleinbürgerlich, gemessen an dem Goldenen Haus des Nero oder an den Riesenbauten der flavischen Zeit.“

     

    Zimmer der Livia (Engelsbrücke 69 f.)

    „Der Ort ihrer ländlichen Rast [gemeint ist die Villa der Livia in Prima Porta] blieb ihr lieb…Dort wurde ihr später die Statue ihres Mannes aufgestellt, Augustus [<von Prima Porta>] mit der Siegergebärde, mit dem Panzer, auf dem zurückgegebene Feldzeichen und eroberte Provinzen und, als Sinnbild des Imperiums, Himmel und Erde dargestellt waren.“

     

    Schlange des Äskulap (Engelsbrücke 71 f.)

    „Wie die Sage erzählt, war es die Schlange des Heilgottes Aesculap, die, von Epidaurus übers Meer geholt und tiberaufwärts gebracht, an dieser Stelle das Schiff verließ und sich auf der Insel heimisch machte. Aber wer sich heute über die Brüstung beugt, sieht im Wasser keine heilige Schlange, sondern faules Stroh, verdorbene Früchte…Seit den Zeiten des Tempelschlafes ist der Ort Heilstätte geblieben; zu Bestrahlungen und Behandlungen wandern die Römer über die beiden kurzen Brücken ins uralte Hospital. Dort geht es … sauber zu, da wird der alten Heilüberlieferung noch immer Genüge getan…“

     

    Torre Pignatara (Engelsbrücke 77 f.)

    „… zu beiden Seiten der Via Casilina … die Torre Pignatara ist ein Grab, erbaut vom Kaiser Constantin am Anfang des 4. Jahrhunderts nach Christus und wohl zunächst zu seiner eigenen Ruhestätte und erst später zu der seiner Mutter bestimmt. Der große Porphyrsarkophag, den man an dieser Stelle gefunden hat, ist der der Kaiserin Helena…Dass der Rundbau aus constantinischer Zeit stammt, steht außer Zweifel … Die Kuppel ist eingestürzt, auch ein Teil der ehemals mit Marmor verkleideten Ziegelmauern … der Sarkophag der Kaiserin Helena steht im Museum im Vatikan. Die Torre aber, dieses letzte Zeugnis einer großen Vergangenheit, gibt dem Ort eine melancholische Würde, der Geruch des frischen Grases und der schwarzen Erde … erwecken die Empfindung eines zeitlosen römischen Lebens und einer, bei aller Armut und Verwahrlosung, unverwüstlichen Kraft.“

     

    1961 – da ist die Kaschnitz längst verwitwet – hat sie einen so guten Namen als Schriftstellerin, dass sie eine Einladung als Ehrengast der Deutschen Akademie in die Villa Massimo in Rom erhält. Die meisten anderen Stipendiaten sind Maler und Bildhauer  „… da saß ich unter Glyzinien in der Sonne und machte römische Gedichte“. Eine Tagebuchnotiz: „Cocktail Bibliothek … 2 Staffeleien, moderner Maltisch voller Farbkleckse. Terrasse … Steineichenallee. Zypressen – umrandet von lärmender Großstadt…“ wird zur Folie für das Gedicht „Villa Massimo“[6]. „… Italienisch konnte kaum einer“ von den Gästen (sie natürlich ausgenommen), „lernte es auch nicht in den neun Monaten … die Worte <quanto costa> und <troppo caro> waren „ihre einzigen Versuche“ (Orte 104 f.).

    „Einen gewissen römischen Weg“ ist sie oft gegangen, „die schmale Via Vittoria … an der Piazza di Spagna hin … immer auf den …Pincio zu … vom Brunnen vor der Villa Medici weht das Wasser und benetzt mein Gesicht … ist man schon hoch über … der Innenstadt … schenkt der Kuppel von Sankt Peter einen milde anerkennenden Blick.

    … Dann … verliere ich mich in den hinteren Gründen … wo ich mein Schreibheft aufschlagen kann, und einmal wird über mir die Mimose, einmal der Magnolienbaum und einmal der Judasbaum blühen.“ (Orte 132 f.)

    „Das ewige Rom wollte der Professor uns … nahebringen … zeigte … das Reiterstandbild des Marc Aurel, nicht auf dem Kapitol, sondern auf dem noch wüsten Gelände von San Giovanni …“ Der Reiter war „für den Stifter der Staatskirche, … Kaiser Konstantin“, gehalten worden. Erst 1941erhielt Marc Aurel seinen Platz auf dem nach Entwürfen von Michelangelo hergestellten Pflaster mit dem „prachtvollen Zirkelstern“ (Orte 232).

    Bekanntlich steht das restaurierte Original heute gut geschützt im Kapitolinischen Museum; den Platz schmückt eine Kopie.

     

    Mythos und Politik (Engelsbrücke, 30 f.)

    „… In der stadtrömischen Plastik riecht alles nach Staatsauftrag und Propaganda, das allgemein Menschliche ist kein Stoff mehr, die Phantasie ist tot. Mit den republikanischen Togastatuen fängt es an, mürrischen, glatzköpfigen Beamten, am Forum aufgestellt, bis ihrer zu viele wurden und man die jeweils ältesten in den Kalkofen warf .. .Die historischen Reliefs sind der reinste Ausdruck des Wirklichkeitsfanatismus, neben dem es nur noch etwas Aberglauben [und] Zeichendeutung … gab. … Was … sich die berühmten Säulen hinaufwindet, sind immer wieder Soldaten, vor der Schlacht, nach der Schlacht, am Haarschopf gezerrte Gefangene und der Kaiser, der anfeuert oder belohnt. … so etwas wie die sterbende Niobide oder andere vom Schicksal getroffene Zivilpersonen gibt es nicht. Das Bedürfnis nach solchen Dingen wurde durch endlose, oft serienmäßige Nachbildung griechischer Originale befriedigt … eine in Stein gehauene Gruppe von Juristen ist eine dürre Gesellschaft, und die auf den Säulen verewigten Maßnahmen zur Verteidigung des Reiches sprechen weniger deutlich für die gute Sache als für die Gewalt.“

    „Weihnachtsmarkt auf der Piazza Navona unter einem goldrauchigen Sciroccohimmel, das Pflaster vom letzten Regenguss noch spiegelnd nass…Wir standen ein wenig ratlos herum und betrachteten bald die in Goldpapier gewickelten und zum Anhängen an den Christbaum bestimmten Kleinrevolver, bald die Niklasse, die auf blanken aufziehbaren Motorrädchen thronten … Tannenbäume lehnten am Marmorbrunnen, hager und melancholisch, wie schlecht eingebürgerte Fremdlinge, die sich nach dem Geruch von Lebkuchenherzen und Springerles [für die Unkundigen: ein knochenhartes Anisgebäck aus hölzernen Modeln geformt] sehnen.“ (Engelsbrücke 84 f.)

     

    Colosseum (Engelsbrücke 176)

    … „Der großen Ruine aus der flavischen Epoche noch solche mitreißende Kraft zuzubilligen, fällt heute schwer…Die Übergröße als solche beeindruckt nicht mehr, und was sich dort drin begab an Tier- und Menschenschinderei, wirkt abstoßend, alle römischen Amphitheater haben diesen Geruch von Schweiß, Blut und Massenerregung, daran“ kann auch „das ahnungslose Gebaren der heutigen Jünglinge und Mädchen“ nicht viel ändern, „die in den Mondscheinnächten ihre Kofferradios dort spielen lassen und tanzen, irgendwo zwischen Himmel und Erde auf dem Gebirge von Stein.“

     

    Das Recht der Massen auf die Cappella Sistina (Engelsbrücke 205 f.)

    „Über … die Unmöglichkeit vor irgendeinem der großen Kunstwerke in Rom noch einen Augenblick still zu verweilen, erhebt sich oft ein großes Klagegespräch, das am Ende fast immer in einen Streit ausartet. Die Frage ist, was hat der durch sein Arbeitsleben an einer rechten Vorbildung verhinderte Reisende aus Amerika, Deutschland, Holland usw. von solchem Durchgetriebenwerden, hat er überhaupt etwas anderes davon als Kopfweh und Minderwertigkeitsgefühle, Beschämung und Zorn. Man sollte, schlagen die Unerbittlichen vor, die Massen vom Besuch der römischen Museen ausschließen, einen Befähigungsnachweis verlangen und damit für die Studierenden und wirklich Genießenden Raum und Stille schaffen. Eines Wortes von L. C. [Ludwig Curtius] wird gedacht, man sieht nur, was man weiß, also was man schon im Geiste kennt und sucht und was man mit anderen Dingen in Beziehung setzen kann.“

    „Geht nicht in die Nähe des Obelisken
    Er stürzt
    Sprünge durchlaufen ihn
    Risse hieroglyphisch
    Seine Zeit ist gekommen.“ (Römischer Sommer 3, Strophe 3[7])

    Welchen von den vielen Obelisken in dieser Stadt der Obelisken meint die Autorin? Hat sie überhaupt einen bestimmten Vertreter vor Augen? Ihr Essay „Der Obelisk“ (Engelsbrücke, 213 f.) handelt von einem Exemplar, das von „Augustus aus Ägypten hergeschleppt … aus Heliopolis stammend … 1586 … aus dem nahgelegenen Circus auf den Platz vor St. Peter gebracht und dort unter großen Mühen aufgerichtet“ wurde.

    Nicht immer ist die Lyrik der Kaschnitz so gegenständlich wie in der Strophe vom Obelisken, der doch einige (fast) vollständige Sätze enthält. Oft ballen sich eigenwillige Kontraktionen und Verknappungen, wenn die Verfasserin etwa in dem Gedicht Picasso in Rom „die zuckergussweiße Säulenhalle“ beschwört[8]; oder man erinnert sich, wenn die „Kinder strotzen im bleichen gierigen Fettfleisch“, an die Erzählung „Das dicke Kind“, in deren unangenehmer Protagonistin die Autorin sich selbst erkennt[9]. Nur dass die Kaschnitz keineswegs dick war, wenigstens nicht in den sechziger Jahren, als ich sie in Marburg sah und hörte, wo sie während einer Autoren-Lesung ihre Texte eindrucksvoll interpretierte.

     

    Ausgewählte, abgekürzt zitierte Literatur:

    Dagmar von Gersdorff, Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie (Frankfurt am Main 21995)

    Marie Luise Kaschnitz, Gesammelte Werke, Fünfter Band. Die Gedichte (Insel Frankfurt am Main 1985)

    Marie Luise Kaschnitz, Orte (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992)

    Marie Luise Kaschnitz, Engelsbrücke. Römische Betrachtungen (dtv München 51983)

    Marie Luise Kaschnitz, Lange Schatten (dt—b München 71971)

    Marie Luise Kaschnitz, Beschreibung eines Dorfes (Suhrkamp Frankfurt am Main 1980)

    Marie Luise Kaschnitz, Griechische Mythen (dtv München 61984)

    Marie Luise Kaschnitz, Eisbären (Insel, Frankfurt am Main 1972)

    Katharina Weil, „Meine Adern Porphyr“. Antikenrezeption im Werk von Marie Luise Kaschnitz (Heidelberg 2017)

     

    [1] Weil 2017, 630 f.

    [2] Kaschnitz, Die Gedichte 283 f.

    [3] Ein „Neologismus“, Weil 2017, 640.

    [4] Weil 2017, 625 mit Anm. 3.

    [5]  Weil 2017, 309-311.

    [6] Weil 2017, 643.

    [7]  Kaschnitz, Die Gedichte S. 422 f.

    [8] Oder auch: „Wölfinnenrom“, in: Römischer Sommer 1, S. 422, Gesammelte Werke 5 Die Gedichte.

    [9] In: „Lange Schatten“, 106-112; sehr instruktiv zu dieser autobiographischen Erzählung: Dagmar von Gersdorff 1995, 22-24.

  • Mitbringsel

    (9.3.2019)

     

    Bei länger werdenden Tagen
    in Erwartung des Frühlings
    durchströmt von der Morgenröte
    gehe ich auf Meditationsreise
    Als Mitbringsel schenke ich dir
    den Glanz der Augen
    beim Pflücken der Träume
    die Zärtlichkeit des Lachens
    bei Wahrnehmung befreiender Erkenntnisse
    die Gesänge des Herzens
    beim Berühren der Glückseligkeit

    ֎֎֎

  •  

    Hall. George Hall. Protagonist in Mark Haddons Roman „Der wunde Punkt“, Oberhaupt einer typisch amerikanischen Familie. Ehefrau, zwei erwachsene Kinder. Sohn homosexuell, Tochter geschieden. Jeder hat seinen wunden Punkt. Bei George war

    es die Stelle gewesen, die ihn umgehauen hatte. Er hatte seine Hose ausgezogen, als er ein kleines Oval hochgewölbter Haut sah, das dunkler als die Haut drum herum war und leicht schuppte.

    So sieht er aus, der schwarze Hautkrebs. Auf den ersten Blick ein Mal wie andere Male auch, beim zweiten Blick die Ahnung, dass dieses Mal bösartig sein könnte, ein schwarzes Schaf.

    Der Magen drehte sich ihm um.

    Dieser Verdacht wirft ihn fast um, Hoffnungslosigkeit und schreckliche Vorstellungen vom nahen Ende machen sich breit.

    Er würde sich umbringen müssen.

    Aber wie? Etwa wie Hemingway, der sich das Hirn in den Orangensaft geballert hatte, wie das Charles Bukowski auf seine brutal-ehrliche Weise formuliert hatte? Oder wie Sylvia Plath, den Kopf im Backofen, den Gashahn geöffnet? Doch warum sich umbringen, der Tod kommt doch heutzutage sanft, begleitet von schmerzstillenden Medikamenten, nicht wie bei Rilke und Benn mit heillosen Schmerzen.

    Ist Krebs nicht eine Erkrankung wie jede andere auch, wie Diabetes oder Bluthochdruck? Oder wie Tuberkulose, an der so viele Berühmtheiten vergangener Jahrhunderte gestorben sind? Diese ästhetisierende Krankheit, die Thomas Mann in seinem Zauberberg so romantisiert hat. Oder hat Susan Sontag in ihrem klugen Essay über Krankheit als Metapher Recht, dass Krebs eine andere metaphysische Dimension hat als Tuberkulose, Syphilis und Lepra? Krebs nicht als Krankheit, sondern als dämonischer Feind, als anti-soziales, nicht zu akzeptierendes Ereignis, das mit allen Mitteln vom Patienten selbst zu bekämpfen ist, gemeinsam mit einem Heer von Onkologen, die sich dem Kreuzzug gegen den Krebs verschrieben haben?

    Dann ging er nach oben und klebte ein großes Pflaster über das Wundmal an der Hüfte, damit er es nicht mehr zu sehen brauchte. Das Aus-dem-Auge-aus-dem Sinn funktioniert meistens nicht, und schon gar nicht, wenn es sich um Krebs handelt.

    Ein kleines Problem ergab sich, als George seine Arbeitskleidung auszog. Er wollte gerade Hemd und Hose ausziehen, als ihm wieder einfiel, was sich darunter verbarg.

    Das Mal, durch das Pflaster dem Blick entzogen, macht sich auf andere Art und Weise bemerkbar.

    Sie waren gerade beim Brombeerstreuselkuchen, da fing die Stelle an zu jucken wie ein Fußpilz. Das Wort „Tumor“ drängte sich in seinen Kopf, und es war ein hässliches Wort, das er nicht hören wollte, aber auch nicht loswerden konnte.

    Die von der Krebsdiagnose überreizten Sinne spielen verrückt, die fatale Diagnose geht nicht mehr aus dem Kopf.

    Während er am Tisch saß, konnte er spüren, wie er wuchs, … genau wie der Schimmel auf der Brotkante.

    Wie zum Hohn kommt George auch noch an Plakaten vorbei, auf denen die sogenannte gesunde Bräune in direkte Verbindung mit Hautkrebs gebracht wird! Die Zeiten, in denen ein Hemingway völlig hemmungslos tief gebräunte Haut und von der Sonne gebleichte Haare fetischisieren konnte, sind längst vorbei. Für George bedeuten Bräune nur mehr Hautkrebs, Siechtum und Gedanken an den drohenden Tod.

    Er würde umrundet von Medizinstudenten und Gastprofessoren der Dermatologie an Krebs sterben.

    Doch halt: Die Diagnose ist ja nicht gesichert. Handelt es sich wirklich um Krebs oder nicht doch um etwas so Harmloses wie ein Ekzem? Aber selbst wenn es sich um Krebs handelte – wäre das so schlimm, schließlich muss doch jeder sterben?

    Die Vorstellung, wirklich Krebs zu haben, erschien ihm allmählich fast wie eine Erleichterung.

    Langsam nimmt die Idee Gestalt an, den oberflächlichen Hautkrebs durch einen schnellen Schnitt selbst zu eliminieren. Es wird zwar bluten, aber bestimmt nicht allzu sehr. Es gibt blutigere Eingriffe, etwa die Selbstkastration der Skopzen, ausgeführt, um eine höhere Stufe des Daseins zu erreichen. Oder um sich von der Fleischeslust zu befreien, wie der junge Mann in Hemingways Erzählung „Gott hab euch selig, ihr Herren“, oder der „Hofmeister“ in der Komödie von J. M. R. Lenz?

    Er nahm die Schere in die rechte Hand und fuhr auf der Suche nach dem wunden Punkt mit den Fingern der linken Hand über seine Hüfte.

    George täuscht sich über das Ausmaß der Blutung.

    Eine solch große Menge Blut hatte er nicht erwartet. … Es war dicker und dunkler, als er gedacht hatte, fast ölig und erstaunlich warm.

    Als Laie kann George nicht wissen, dass man schon einige Liter Blut verlieren muss, bevor es bedrohlich wird, eine derartige Schnittwunde reicht da nicht.

    Die Badewanne sah aus, als hätte man darin ein Schwein abgestochen.

    George landet im Krankenhaus. Aus Scham über die stümperhafte Selbstbehandlung erfindet er eine Verletzung, hervorgerufen durch einen unsachgemäß gehandhabten Meisel. Doch Lügen haben bekanntlich kurze Beine, die Verwandtschaft findet schnell die Wahrheit heraus.

    Er wollte sich den Tumor offensichtlich rausschneiden.

    Der Tumor ist zwar weg, nicht aber die Todesfurcht, die untrennbar mit dem Schwarzen Krebs verbunden ist, diesem „Schwarzen Tod“ der Neuzeit, der heutzutage angeblich Zigtausende jedes Jahr tötet, so wie im Mittelalter die Pest, von der die Menschen reihenweise dahingerafft wurden. Nicht nur Laien, auch viele Ärzte und selbst Hautärzte sind der anachronistischen Überzeugung, dass der Schwarze Krebs ein Todesurteil ist, obwohl wir doch seit mindestens zwei Jahrzehnten wissen, dass 9 von 10 Betroffenen überleben. Da verwundert es nicht, dass auch George sich fürchtet.

    Ich habe Angst, Jamie. Solche Angst. Vor dem Sterben. Vor dem Krebs. Eigentlich fast ständig. Viele Ärzte taugen wirklich gar nichts. Man braucht nur drei Jahre mit Medizinstudenten zu verbringen, um den Glauben an diesen Berufsstand ein für alle Mal zu verlieren.

    Auch George projiziert seine Ängste auf die Ärzte, von denen er annimmt, dass diese ihr Handwerk nicht verstehen oder zu wenig empathisch sind. Wo gibt es noch Ärzte, die wie Bulgakow, tief im Innern eines rückständigen Landes, in einem Jahr Tausende von Patienten behandeln, bis hin zur Selbstaufgabe und um den Preis der Morphiumsucht? George tröstet sich mit dem Wissen, dass alles Leben mit dem Tod endet, allen ärztlichen Bemühungen zum Trotz.

    Was sollte denn eigentlich so schlimm am Tod sein? Früher oder später musste jeder dran glauben. Es war Teil des Lebens. Als schliefe man ein.

    Schmerzen, für viele Menschen ein Grund, sich vor dem Krebstod zu fürchten, spielen in Georges Überlegungen keine Rolle. Er weiß, dass die moderne Medizin nicht nur Krebs, sondern auch Schmerzen mit allen Mitteln bekämpft. Es ist nicht wie bei Rilke, der in einem Gedicht den Herrn darum bittet, jedem seinen eignen Tod zu geben, ein Sterben, das aus jenem Leben geht, darin Liebe, Sinn und Not waren. Rilke hat seine eigene Not, seine furchtbaren Schmerzen, bewusst bis zum Ende durchlitten.

    Haddons George hat seinen Krebstod nicht so ganz akzeptiert, immer wieder tröstet er sich mit dem Gedanken, an einer harmlosen Entzündung zu leiden.

    Er litt an einem Ekzem. Jetzt konnte er das einsehen.

    Also eine Entzündung, die vor der Zeit des aufgeklärten Patienten und des shared decision making übliche, verharmlosende Diagnose selbst in fortgeschrittenen Stadien der Krebskrankheit. Der Arzt damals als notorischer Überbringer guter Nachrichten? Wie im Fall von Theodor Storm, dessen Arzt die Diagnose Magenkrebs auf Wunsch des Patienten korrigierte. Doch ob mit oder ohne ehrliche Information des Patienten: die meisten leben vom Prinzip Hoffnung, von der Vorstellung, zu denen zu gehören, die ihren Krebs überleben. Für manche Patienten mit fortgeschrittenem Schwarzen Krebs ist diese Vorstellung heute kein Wunschdenken mehr. Als Haddon seine Geschichte schrieb, war noch nicht abzusehen, dass die fulminanten Fortschritte in der Therapie des Schwarzen Krebses dieses Wunschdenken langsam Realität werden lassen. Haddon lässt, unabhängig vom medizinischen Fortschritt, Georges Schicksal offen, der davon träumen kann, dass er seinem Krebs nicht vor der Zeit zum Opfer fallen wird.

     

    Mark Haddon: Der wunde Punkt. Heyne Verlag, München 2006 [Zitate kursiv]

     

  • zum Weltkrebstag 2019

    Theodor Storm und der Magenkrebs

     

    Theodor Storm war –wie viele von uns – bekennender Norddeutscher:

    „hin gen Norden zieht die Möwe,
    hin gen Norden zieht mein Herz;
    fliegen beide aus mitsammen,
    fliegen beide heimatwärts.

    Ruhig, Herz! Du bist zur Stelle;
    flogst gar rasch die weite Bahn-
    und die Möwe schwebt noch rudernd
    überm weiten Ozean.“

    1817 wurde Theodor Storm in Husum geboren. Also in die Zeit der Aufklärung, Goethe war da schon 20 Jahre alt.

    (mehr …)

  • Jene Melodie

    (1972)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die Tulpe des Wunsches wird wieder aufblühen,
    des Herzens verschlossene rote Knospe wird aufgehen.
    Ich sage nicht, dass der vergangene Frühling zurückkehrt,
    dass die abgelaufene Zeit beginnt.
    Es gibt eine andere Zeit und einen anderen Frühling … 

    Es ist eine Kunst,
    fröhlich zu sein.
    Freude spenden ist eine noch erhabenere Kunst.
    Jedoch werden wir es uns nie zubilligen,
    wie eine leblose Figur Tag und Nacht
    ohne Kenntnis der Lage aller anderen Menschen
    fröhlich zu sein.
    Sorglosigkeit ist ein großer Fehler,
    der uns fern sein sollte. 

    Wie schön wäre es,
    wenn es einen Spiegel gäbe,
    der das Innere zeigen würde,
    damit wir uns in ihm betrachten könnten,
    all das sehen würden,
    was den Spiegeln verborgen bleibt.
    Wir würden uns jener erhabenen Kraft bewusst,
    die uns lehrt,
    zu leben,
    Beständigkeit zu erlangen,
    der Bote des Sieges und der Hoffnung zu werden … 

    Es ist eine Kunst, fröhlich zu sein,
    wenn sich andere Herzen an deiner Freude ergötzen.
    Das Leben ist die einzigartige Bühne unserer künstlerischen Tätigkeit.
    Jeder trägt seine Melodie vor und verlässt die Bühne.Die Bühne ist stets vorhanden.

    Blühend ist jene Melodie,
    die die Menschen in ihrer Erinnerung bewahren …

    ֎֎֎