Kategorie: Allgemein

  • Was du heute kannst besorgen
    Verschiebe ruhig dir auf morgen.
    Denn morgen wird ein neuer Tag,
    Der das Verschieben sicher mag.

    Der Kuckuck ruft dich übermorgen.
    Er kann artgerecht entsorgen,
    Sein Verschiebekuckucksei
    Ins Nest legen und nebenbei

    Erklären nach der Ausbrutzeit
    Halte dich erneut bereit:

    Was du heute kannst besorgen
    Verschiebe ich dir cool auf Morgen.
    Denn Morgen kommt ein neuer Tag
    Nach dem Ausbrutflügelschlag.

    Er verschiebt auf übermorgen.
    Wird dir artgerecht besorgen
    Das Verschiebekuckucksei
    Im Nest ausbrüten, nebenbei

    Nach der Kuckucksausbrutzeit
    Ist er für dich erneut bereit
    Dir auf Morgen zu verschieben
    Was in deinem Nest geblieben.

    Und übermorgen kommt der Tag,
    den der Kuckuck wirklich mag.

    Er wird dir Zeit und Freude borgen.
    Wird dir artgerecht entsorgen
    Dies und das und allerlei
    Mit dem Verschiebekuckucksei.

    Deshalb sei froh und ohne Sorgen
    Was du heute kannst besorgen,
    …und so geht es heiter
    immer morgen, immer weiter…

  • Betrachtet wird die Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert und hier speziell auch auf die Mortalität der Scharlacherkrankungen eingegangen. Diese hatten sich in Deutschland und speziell auch 1832/33 in Erlangen, dem Wohnort und der Wirkungsstätte des Orientalisten und Dichters Friedrich Rückerts ausgebreitet. Zwei der fünf in der Familie lebenden Kindern verstarben 1833 an Scharlach und inspirierten Friedrich Rückert zu seiner mehr als 400 Verse umfassenden Kindertodtenlieder -Dichtung. Anhand der Analyse des dichterischen Werkes und von Aufzeichnungen der Mutter wird über den Verlauf der Erkrankung bei den Kindern aus medizinhistorischer Sicht berichtet. Auch wird auf den Scharlachtod von Kindern von Clemens Brentano, Gustav Mahler und des Berliner Baumeisters Hoffmann hingewiesen. Die Mängel der Medizin der Zeit werden aufgezeigt und die Trauerarbeit im 19. Jahrhundert mit unserem Jahrhundert verglichen. Das gesamte dichterische Werk von Friedrich Rückert, das er für seine verstorbenen Kinder Luise (3 Jahre) und Ernst (5 Jahre) geschaffen hat, steht unter dem Credo: “ Ihr habt nicht umsonst gelebt“.

    Kindstod im 19. Jahrhundert (Volker Hesse)

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  • Johann Wolfgang von Goethe empfand sich nicht nur als Dichter, sondern unter anderem vor allem auch als Naturwissenschaftler. Das Streben nach Naturerkenntnis nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält, hat ihn sein ganzes Leben beschäftigt und begleitet. Die Bedeutung der Wissenschaft ist für ihn hochrangig:
    „Die Wissenschaft hilft uns vor allem,   daß sie dem immer mehr gesteigerten Leben neue Fertigkeiten erwecke zur Abwendung des Schädlichen und Einleitung des Nutzbaren.

    Naturwissenschaftliche Erkenntnis erwarb Goethe bereits während seines Studiums, vertiefen könnte er sie später vor allem im Verbund mit Fachpersönlichkeiten und Spezialisten der Jenaer Universität. Der Schrift informiert über Goethes Beziehungen zu den Vertretern der Fachbereiche Botanik, Geologie, Mineralogie, Chemie, Physik, der Anatomie und Medizin. Seine Laboratorium-Szene im Faust II, mit der Erschaffung des künstlichen Menschen, des Homunculus, geht auf aktuelle naturwissenschaftliche Kenntnisse Goethes zurück.
    Aus seinem Studium der Naturwissenschaften zieht Goethe folgendes Resümee:
    Ohne meine Bemühungen, in den Naturwissenschaften hätte ich die Menschen nie kennengelernt, wie sie sind …  der Mensch muß fähig sein sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen, wie sittlichen offenbaret —“.

    Goethes Jenaer naturwissenschaftliche Lehrer und Partner (Volker Hesse)

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  • In a music school, a professor of piano had an extremely talented student. However, despite his great talent, the student was quite lazy and uninterested to practice for hours in the piano playing. In the fact, the student was convinced that only the talent he possessed was enough for him to succeed in his career.
    The professor tried to motivate the student in various ways and told him, that his talent would become worthless, if it is not combined with a constant practice and study. But the professor tried in vain, to persuade the talented lazy student.
    One day the professor came up with a way to convince his student. He invited the student to the kitchen to have coffee with him. The student came, grip the cup and the professor poured him the coffee. However, the professor did not pour coffee into the cup, but next to it. The student was astonished to see the spilled coffee on the kitchen tiles.
    „What are you doing, professor?“ The student asked, confused.
    The professor calmly explained – „You see, this coffee represents your talent and the cup you hold represents learning, exercise and practice in piano playing. If we do not pour coffee into a cup, it will spill on the floor and become completely useless. The same thing will happen to your talent, if you don’t work hard on it, it will lose its value. „

    Übersetzung von Dietrich Weller
    Ein begabter Student
    In einer Musikschule hatte ein Professor für Klavier einen besonders begabten Studenten. Aber trotz seines großen Talents war der Student recht faul und hatte kein Interesse, stundenlang Klavier zu üben. In der Tat war der Student überzeugt, dass allein das Talent, das er besaß, für ihn ausreichte, in seiner Karriere Erfolg zu haben.
    Der Professor versuchte, den Student auf verschiedenen Wegen zu motivieren und erklärte ihm, seine Begabung sei wertlos, wenn er sie nicht mit ausdauerndem Üben und Studium verbinde. Aber der Professor versuchte vergeblich, den begabten faulen Studenten zu überreden.
    Eines Tages brachte der Professor einen neuen Weg, um den Student zu überzeugen. Er lud den Student in die Küche ein, um mit ihm Kaffee zu trinken. Der Student kam, griff nach der Tasse und der Professor goss ihm den Kaffee ein. Aber der Professor goss den Kaffee nicht in die Tasse, sondern daneben. Der Student war erstaunt, den verschütteten Kaffee auf den Küchenfliesen zu sehen.
    „Was machen Sie denn, Professor?“, fragte der Student verwirrt.
    Der Professor erklärte: „ Schauen Sie, dieser Kaffee stellt ihr Talent dar, und die Tasse, die Sie in der Hand halten, bedeutet ihr Lernen, Trainieren und Üben beim Klavierspiel. Wenn wir den Kaffee nicht in die Tasse gießen, wird er auf dem Boden verschüttet und völlig nutzlos werden. Das Gleiche passiert mit Ihrem Talent, und wenn Sie nicht hart daran arbeiten, wird es seinen Wert verlieren.

  • 60 Jahre Abitur,
    die Zeit verrann, wo bleibt sie nur,
    die Lebenswege sind verschieden,
    allein die Einsicht ist geblieben,
    im Miteinander liegt die Kraft,
    die Sinn geriert und Werte schafft.

  • Vor einiger Zeit las ich ein besonders schönes Buch, in dem russische Erzählungen von Gogol, Tolstoi, Tschechow und Turgenjew vorgestellt und besprochen werden. Man lernt in diesem Buch, wie gute Geschichten funktionieren, wie man sie schreibt, und was sie uns über unsere Welt erzählen.
    Man lernt, dass gute Literatur moralische Einstellungen beeinflussen und das Leben verändern kann, so ein Rezensent. Stimmt.

    Die Szene, „bei Regen in einem Teich schwimmen“ entstammt der Erzählung „Stachelbeeren“ von Anton Tschechow aus dem Jahre 1898, sie hat dem Buch von George Saunders den Namen gegeben.

    Daran denke ich, als wir am 9. September 2022 im Regen von Worpswede die Hamme hinunterrudern.
    Eigentlich wollte ich an diesem Wochenende mit dem Schwager auf dem Kummerower See segeln, die Tour wurde wegen eines herannahenden großen Tiefdruckgebietes abgesagt.
    Viel Regen und kein Wind, das wäre tatsächlich ungünstig gewesen.

    Das Tief ist da. Es regnet. Dennoch freue ich mich: Ich friere nicht im Ruderboot – durch die Muskelarbeit, wir rudern trotz der Nässe im Takt, lediglich die Griffe der Skulls sind durch das Wasser etwas rutschig, was beim Einsetzen und Aushebeln stört.

    Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie der trockene Wandboden fast widerspenstig das Wasser aufnimmt, wie der Waldbrand unter dem Brocken im Hochharz langsam gelöscht wird, und wie der verbrannte Rasen in unserem Garten zu neuem Leben erwacht. Dem Jahrhundertsommer wird eine Abkühlung gegönnt.

    Mitten in dieser Abkühlung rudern wir freudig im Regen auf der Hamme – und erst an Land werden uns der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die Klimakatastrophe wieder einholen, wohl gegen 20 Uhr.

    Literatur:

    Die Stachelbeeren
    Anton Tschechow, Russkaja Mysl, August 1898

    Bei Regen in einem Teich schwimmen
    George Saunders, Luchterhand 2022


  • Autor Volker Hesse

    Hesse-V.-Goethe-und-die-Kinder

  • Veröffentlicht von Dietrich Weller am 2.September 2022

    Cherry trees in blossom in Kyoto
                                  
    April 1985


    In the front of our ryokan (guest house) a small river ripple away from the great streets. Several one-story houses along the one-meter-wide riverbed. Between the small houses and the brook is a narrow street, actually a path made for a promenade. No car ban is visible in, but it would be too narrow to drive through. In front of the small houses are several flower pots with bonsai. Everything is in bloom and calm, away from the big roads. Some fallen leaves and parts of flowers are floating on the water surface. The houses are old, not like a thousand-year-old city, but they seem quite old to the visitor. Each door has a black cloth used as door- curtains with Japanese inscriptions. Certain tall Europeans saved their heads with these cloths—not banging against door frames. Here and there, a cage with canaries. Sometimes you see a red bucket with Japanese inscriptions. The buckets are there to fetch water from the creek in the accidentally outbreak of the fire.
    The small houses are old and partially made of wood. Shoes and sandals, that cannot touch the interior tatami floor, are stored in the antechamber. In the corner of the antechamber is a Buddha statue, which size and beauty depend on the owner’s standard of living. Deeper inside the house is a room that serves as a living room during the day and a bedroom at night. Everything small, practically like in a Lilliput country.
    Along the “street”, better to say along the way, a blue-red glowing spiral that represents a hairdresser’s shop. A red lantern in the front of the house means a takeaway. The entrance is provided with door curtains, so tall people can bow their heads in time. Inside the takeaway in the front is a bar and, in the back, the place to sit. The cushions lay on the tatami. The “inn” contains a stove where the innkeeper prepares the food.
    Everything looks very idyllic and you don’t feel like you are in a modern city of more than millions of inhabitants, but in a village that has fallen asleep in the 19th century.
    One day we have visited one of the 1500 temples in Kyoto and after that our mood changed drastically. Because of long distances, in intention to visit a temple, we took a taxi. On the return to our ryokan, I left my small bag in the taxi. The bag contained our passports, plane tickets and all the money in yen and francs ready for the whole trip.
    Shocked, we went to small police station in the neighborhood visible with the red lamp under the roof.
    /

    Police station in Kyoto known as koban



     In the police station, in reality a small room, we could observe an old wooden table with a telephone set ready for a museum, a cast iron stove with a rusty chimney. On the cast stove a teapot with boiling water to prepare jasmine tea. Two wooden chairs for officials and one chair for a visitor.
    Understandably the officials spoke only Japanese. Explaining that we left a bag in the taxi was only possible with a drawing, and fortunately „bag“ in Japanese means: baggu. In Kyoto there are hundreds of taxi companies and thousands of taxi vehicles. Luckily my spouse remembered that the taxi has a red line running down the side. Afterwards the policemen call the central police station explaining our problem on red line taxi and the missed bag is, and after couple of minutes, we should again take a taxi to the central police station, where is supposed to be our bag.
    At the Central Police Station, in the front of the room of police inspector, there was a wooden bench where we saw the terrified taxi driver. Only when we entered in the room of the inspectors, we comprehended why the taxi driver was frightened. Namely, with us together, should enter the terrified taxi driver, too. The police inspector gave me the bag, and in rather rudimentary English, he asked us if the entire sum was in our bag. The taxi driver was sweating, and his face was red as a tomato. After the checking the contents of the bag, and after our positive confirmation that everything was in order, the taxi driver regained his normal face color. It is compressible to us now, that by my complaint that some part of money is missing, the taxi driver could end up as a thief in the prison.
    “Die Ende gut alles gut” as they say jokingly in German. The satisfied taxi driver drove us back, without charge, to our ryokan (literally: travel inn).

    Then we could walk quietly between the cherry blossoms again.
    .

    Übersetzung von Dietrich Weller

    Kirschbäume in der Blüte in Kyoto
    April 1985
    André Simon

    Vor unserem Ryokan (Gästehaus) plätschert ein kleiner Fluss von den großen Straßen weg. Mehrere einstöckige Häuser entlang des einen Meter breiten Flussbetts. Zwischen den kleinen Häusern und dem Bach befindet sich eine enge Straße, eigentlich ein Weg, geschaffen für eine Promenade. Es ist kein Autoverbot sichtbar, aber der Weg wäre zu eng, um durchzufahren. Vor den kleinen Häusern stehen mehrere Blumentöpfe mit Bonsais. Alles steht in Blüte und Ruhe, entfernt von den großen Straßen. Einige herabgefallene Blätter und Pflanzenteile schwimmen auf der Wasseroberfläche. Die Häuser sind alt, nicht wie eine tausend Jahre alte Stadt, aber sie erscheinen dem Besucher sehr alt. Jede Tür besitzt ein schwarzes Tuch, das als Türvorhang mit japanischen Inschriften benützt wird. Einige große Europäer schützen ihre Köpfe mit diesen Tüchern, um nicht gegen die Türrahmen zu stoßen. Hier und dort Käfige mit Kanarienvögeln. Manchmal sieht man einen roten Eimer mit japanischen Inschriften. Die Eimer stehen da, um bei einem zufälligen Feuerausbruch Wasser aus dem Bach zu holen.
    Die Häuser sind alt und teilweise aus Holz gebaut. Schuhe und Sandalen, die den inneren Tatamiboden nicht berühren dürfen, werden in dem Vorraum aufbewahrt. In der Ecke des Vorraums befindet sich eine Buddha-Statue, deren Größe und Schönheit von dem Lebensstandard des Eigentümers abhängen. Weit im Haus drin liegt ein Zimmer, das als Wohnraum während des Tages und als Schlafzimmer bei Nacht dient. Alles klein, praktisch wie in einem Lilliputland.
    Am Straßenrand, besser gesagt am Wegrand, eine blau-rot glühende Spirale, die einen Friseurladen anzeigte. Eine rote Papier-Laterne vor einem Haus bedeutet, dass man die Waren mitnehmen kann. Der Eingang ist mit Türvorhängen ausgestattet, sodass die Leute rechtzeitig die Köpfe senken können. Innerhalb des Geschäfts befinden sich vorn eine Bar und im Hintergrund die Sitzplätze. Die Kissen liegen auf der Tatami. Das „Restaurant“ enthält einen Ofen, wo der Wirt die Speisen zubereitet.
    Alles sieht sehr idyllisch aus, und man hat nicht das Gefühl, in einer modernen Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern zu sein, sondern in einem Dorf, das im 19. Jahrhundert eingeschlafen ist.
    Eines Tages besuchten wir einen der 1500 Tempel in Kyoto, und danach veränderte sich unserer Stimmung drastisch. Wegen der weiten Entfernungen nahmen wir ein Taxi, um einen Tempel zu besuchen. Auf dem Rückweg zu unserem Ryokan ließ ich meine Tasche im Taxi liegen. Die Tasche enthielt unsere Pässe, Flugtickets und alles für die ganze Reise vorbereitete Geld in Yen und Franken.
    Geschockt gingen wir zu der kleinen Polizeistation in der Nachbarschaft, die durch die rote Lampe unter dem Dach erkennbar war.
      In der Polizeistation, in Wirklichkeit ein kleiner Raum, konnten wir einen alten hölzernen Tisch betrachten mit einem Telefon, das gerade recht war für ein Museum, und einen Gusseisenherd mit einem rostigen Kamin. Auf dem Gusseisenherd ein Teetopf mit kochendem Wasser, um Jasmintee zuzubereiten. Zwei Stühle für Beamte und ein Stuhl für einen Besucher.
    Verständlicherweise sprachen die Beamten nur Japanisch. Nur mit einer Zeichnung war es uns möglich, zu erklären, dass wir eine Tasche im Taxi gelassen hatten, und glücklicherweise heißt bag (Tasche) auf Japanisch baggu. In Kyoto gibt es hunderte von Taxi-Unternehmen und tausende von Taxis. Glücklicherweise erinnerte sich meine Frau daran, dass das Taxi eine rote nach unten laufender Linie an der Seite hatte. Danach rief der Polizist die zentrale Polizeistation an und erklärte unser Problem mit dem rote-Linien-Taxi und der vermissten Tasche. Und nach ein paar Minuten sollten wir ein Taxi zur zentralen Polizeistation nehmen, wo man unsere Tasche vermutete.
    In der zentralen Polizeistation gab es vorn am Eingang zum Polizeiinspektor eine hölzerne Bank, wo wir den verängstigten Taxifahrer sahen. Erst als wir in den Raum der Inspektoren gingen, erkannten wir, warum der Taxisfahrer solche Angst hatte. Denn der Taxifahrer sollte mit uns zusammen eintreten. Der Polizeiinspektor gab mir die Tasche und fragte in recht bruchstückhaftem Englisch, ob alles Geld in der Tasche sei. Der Taxisfahrer schwitzte, und sein Gesicht war rot wie eine Tomate. Nach der Überprüfung des Tascheninhalts und der Bestätigung, dass alles in Ordnung war, gewann der Fahrer seine normale Gesichtsfarbe zurück. Uns ist jetzt verstehbar, dass durch meine Beschwerde, dass einiges an Geld fehlte, der Taxifahrer als Dieb dagestanden hätte.
    „Ende gut alles gut!“ wie man scherzhaft im Deutschen sagt. Der zufriedene Taxifahrer fuhr uns kostenlos zu unserem Ryokan (wörtlich travel inn – ein Reisegasthaus).
    Dann konnten wir wieder in aller Ruhe zwischen den Kirschblüten spazieren gehen

    .

  • Am 27. Juli 2022 bekam ich überraschend Post von Herrn Dr. Klaus Baier, dem Präsident der Bezirksärztekammer Nordwürttemberg. Er gratulierte mir zum goldenen Promotionsjubiläum! Und er entschuldigte sich dafür, dass die Universität Heidelberg-Mannheim keine Urkunden mehr zu diesem Feiertag ausstellt, „auch nicht gegen Bezahlung!“
    Das hat mich verblüfft: Die Ärztekammer denkt an meine Doktorarbeit, und der Präsident schickt mir einen persönlichen Brief! Herzlichen Dank dafür! Diese Post kam auf den Tag richtig! Der 27. Juli 1972 war nämlich der genaue Tag meiner Promotionsprüfung. Da musste ich wieder einmal schmunzeln, als ich über meine Doktorarbeit nachdachte. Diese Geschichte wollte ich schon lange aufschreiben. Hier ist sie.

    Ich studierte im Wintersemester 1969 und Sommersemester 1970 im Klinikum Mannheim, das der Universität Heidelberg angeschlossen war. Nebenbei machte ich Nachtwachen in der Abteilung für Schwerverbrannte in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik Ludwigshafen. Die beeindruckenden und manchmal tragischen Erlebnisse in dieser Klinik gehören nicht hierher, aber sie haben mich nachhaltig geprägt. Das will ich wenigstens erwähnen.

    Eines Morgens im Januar 1970 sagte ein Kollege im Hörsaal der Uni zu mir: „Du suchst doch nach einem Thema für eine Doktorarbeit. Bei Prof. Stoll in der Frauenklinik steht am Schwarzen Brett, dass er eine Arbeit zu vergeben hat! Interessiert dich das?“

    Also bat ich im Sekretariat von Herrn Prof. Stoll um einen Termin zu einem Gespräch. „Gut, der Termin ist jetzt!“, sagte die Sekretärin, „Er ist da und hat jetzt gerade Zeit, ich melde Sie an!“

    Prof. Stoll erklärte mir nach einer kurzen Begrüßung sein Anliegen: „Für 1968 habe ich von einer Doktorandin überprüfen lassen, mit welchen Indikationen die Neugeborenen in die Kinderklinik verlegt werden, welche Diagnosen sie dort erhalten und in welchem Zustand sie entlassen werden. Ich möchte wissen, inwiefern sich das verändert hat. Dazu habe ich zwei besondere Fragen: Haben wir alle Kinder rechtzeitig verlegt? Und eine andere Besonderheit sollten Sie genauer anschauen. Ich habe nämlich bemerkt, dass im Sommer 1969 eine Durchfallepidemie im Neugeborenenzimmer ausgebrochen ist und wir deshalb noch viel mehr Neugeborene verlegt haben als in den Vergleichsmonaten des Vorjahres. Ich will wissen, ob das etwas mit den hygienischen Zuständen des Neugeborenenzimmers zu tun hat. Wir verlegen sehr viele Kinder nur, weil wir keinen Platz haben, sie hier zu behandeln. Sie müssen sich das Zimmer mal anschauen und mit den Schwestern dort über die Situation sprechen. Interessiert Sie das Thema?“

    „Ja, das interessiert mich! Ich möchte nach dem Examen eine Kinderfacharztweiterbildung machen. Da passt dieses perinatologische Thema sehr gut! – Mir fällt spontan ein Vorschlag ein: Mein Vater ist niedergelassener Kinderarzt, und ich werde morgen zum Wochenende zu meinen Eltern fahren. Da kann ich mit meinem Vater zusammen eine Gliederung der Arbeit und eine Liste der Dinge erstellen, die ich brauche, um die Grundlagen für die Arbeit zu sammeln.“

    „Gut, dann kommen Sie am Montag wieder zu mir, damit wir das besprechen können. Ich möchte, dass wir immer wieder kurz während Ihrer Arbeit miteinander reden, damit Sie möglichst keine Umwege machen und zielgerichtet und rasch das Ergebnis erreichen. Einverstanden?“

    Ja natürlich war ich einverstanden, was konnte mir Besseres passieren? Andere Doktoranden warten monatelang, bis ihr Doktorvater mal Zeit für sie hat.

    Als ich am Wochenende meinen Eltern den Plan vorlegte, den ich mir schon teilweise gemacht hatte, war mein Vater voll Interesse, und wir wollten gleich mit der gemeinsamen Arbeit loslegen.

    Da bremste meine Mutter: „Kennst du die Frau von Prof. Stoll?“ – „Nein, natürlich nicht, warum?“ – „Ich habe den Verdacht, dass das die Freundin ist, die ich seit vielen Jahren suche. Mit ihr habe ich viel Zeit im Reichsarbeitsdienst verbracht und seither den Kontakt verloren. Bei jedem Kongress, zu dem ich Vater begleitet habe, halte ich Ausschau nach ihr, weil ich gehört habe, dass sie einen Frauenarzt geheiratet hat. Ich hole mal mein Fotoalbum aus der RAD-Zeit!“

    Sie zeigte mir in dem Album einige leicht vergilbte Bilder und deutet immer wieder auf die Freundin, die sie suchte.
    „Ich möchte sie so gern wieder treffen!“

    „Mutter, dann mache ich dir einen Vorschlag. Ich nehme das Album am Montag mit zu Prof. Stoll und frage ihn, ob diese Frau seine Frau ist.“

    „Ja, das ist prima. Und ich schreibe jetzt einen Brief an diese Frau, den du ihm geben kannst, wenn er seine Frau auf diesen Bildern erkennt! Und jetzt könnt ihr beiden an die Arbeit gehen.“

    Vater und ich entwarfen unseren Plan, und es machte uns beiden richtig Spaß, dieses Projekt gemeinsam anzustoßen.

    Am Montag war ich bei Prof. Stoll, und er fragte sofort: „Na, was haben Sie mit Ihrem Vater erarbeitet?“ – „Das erkläre ich Ihnen gleich, aber ich möchte Ihnen vorher etwas anderes zeigen!“
    Ich zog das Album aus meiner Aktentasche. Er schaute erstaunt: „Wo haben Sie das Buch her? So eines haben wir auch zu Hause?“

    Ich legte das Album auf den Tisch und schlug es gezielt auf bei einer Seite, die meine Mutter mit einem kleinen Zettel markiert hatte. Dann deutete ich auf die Frau, die meine Mutter suchte:
    „Ist das Ihre Frau?“ –
    „Ja! Ja!“
    Er war ganz begeistert, als ich ihm berichtete, wie ich zu dem Buch gekommen war und dass ich jetzt auch noch einen Brief für seine Frau hatte:

    „Bitte nehmen Sie das Album und den Brief mit für Ihre Frau! Sie können mir das Album ja gelegentlich wieder geben.“
    Dann besprachen wir die Arbeitsliste, wegen der ich eigentlich gekommen war. Prof. Stoll war sehr angetan von dem Plan und schlug noch wenige kleine Änderungen vor, dann verabschiedete er mich: „Gehen Sie ins Archiv, lassen Sie sich alle Akten geben, die Sie brauchen, dann gehen Sie in die Kinderklinik und suchen dort alle Akten raus. Und dann gehen Sie noch in das Neugeborenenzimmer und schauen sich dort um! Meine Sekretärin meldet sie überall an. Wenn Sie die Unterlagen beieinander haben, melden Sie sich wieder. Sie bekommen dann kurzfristig wieder einen Termin!“

    Am Abend erfuhr ich telefonisch von meiner Mutter, dass Frau Stoll schon angerufen hatte! Sie hatten wohl eine lange Unterhaltung, und beide Frauen waren hoch erfreut über das späte Treffen.

    Ich erstellte in der Frauenklinik eine Liste der Kinder, die 1969 in der Frauenklinik geboren worden waren und füllte meine Fragebogen mit allen Daten aus, die ich brauchte. Dafür hatte ich mir einige Abkürzungen festgelegt, um die Liste übersichtlich zu halten. Dann ging ich mit der Liste in die Kinderklinik und ergänzte die Daten von dort.

    Der Besuch im Neugeborenzimmer war besonders interessant. Die Kinderkrankenschwester, die mir öffnete und der ich erklärte, warum ich komme, war schon informiert über meine Aufgabe. Sie war sehr bereit, mir zu helfen und kam gleich zum Punkt: „Schauen Sie, hier an dieser Wand ist der lange Wickeltisch, wo vier Kinder gleichzeitig gewickelt werden können. Und es ist sehr praktisch, dass ich mich nur umdrehen muss, um die volle Windel in diesen Papierkorb zu werfen. Aber dieser Korb hängt am ersten Bett der Reihe von Kinderbetten, die hier im Zimmer stehen! Und so haben wir vier Bettchenreihen, die alle am ersten Bett der Reihe einen Windelkorb tragen! Wir haben festgestellt, dass immer zuerst das Kind im ersten Bett den Durchfall bekam und dann das zweite, und das dritte. Kein Wunder! Merken Sie was? Das ist ein Planungsfehler! –  Und wir können keine Kinder isolieren  und wegen des geringen Platzes keine Kinder unter 2500 g Geburtsgewicht hier unterbringen, weil sonst die Station überläuft. Deshalb müssen wir so viele Kinder verlegen. Und deshalb will der Professor das unbedingt ändern, aber er sagt, er bekommt kein Geld dafür!“ –

    Jetzt war mir schlagartig klar, worum es ging. Das war eine zusätzliche Motivation, diese Arbeit zu schreiben. Keine wissenschaftlich anspruchsvolle Arbeit, aber immerhin mit der Aussicht, etwas Praktisches und Wichtiges in der Klinik verbessern zu helfen!

    Ich machte mich mit Freude und gewisser Neugier an die Auswertung meiner vielen Daten und stellte tatsächlich die vermehrte Überweisungsaktivität im Sommer fest und konnte sie genau mit der Diagnose Enteritis verbinden. Außerdem konnte ich als Begleitergebnis dokumentieren, dass kein einziges Kind zu spät verlegt worden war. Auch die schwerstkranken Neugeborenen, die später in der Kinderklinik verstarben, waren sofort nach der Geburt in die Kinderklinik verlegt worden. Aber von den 1853 Kindern, die 1969 in der Frauenklinik geboren waren, -das sind durchschnittlich fünf Kinder jeden Tag!-, mussten 472 verlegt werden. Das sind 25%! Diese sehr hohe Zahl lag ganz offensichtlich an den sehr schlechten hygienischen und beengten räumlichen Bedingungen im Kinderzimmer der Frauenklinik. So entschloss man sich zum Beispiel, alle Kinder unter 2500 g Geburtsgewicht auch gesund zu verlegen, weil eine angemessene Versorgung nicht möglich war. In einer gut ausgestatteten Frauenklinik wäre zum Beispiel ein gesundes Neugeborenes mit 2000 g nicht verlegt worden! Die Kinder mussten also von der Mutter getrennt werden, weil das Kinderzimmer zu klein war, nicht weil das Kind oder die Mutter krank waren.

    Als ich Prof. Stoll meine Ergebnisse erklärte und schriftlich zeigte, war er sehr zufrieden: „Das habe ich erwartet! Jetzt schreiben Sie das sehr genau und detailliert in einen flüssigen Text, berücksichtigen Sie die einzelnen Diagnosegruppen der Verlegungen, und bleiben Sie streng bei Ihrer Gliederung. Dann kommen Sie wieder.“

    So war ich immer, nachdem ich einen Teilschritt der Arbeit erledigt hatte, bei ihm zu einem kurzen Gespräch, das nie länger als zehn Minuten dauerte, aber mich sehr zielsicher auf meiner Arbeitsspur hielt. So machte ich nichts Überflüssiges und musste nichts Falsches korrigieren. Diese Bereitschaft von Prof. Stoll, mich so zu unterstützen, war eine echte und vorbildliche Hilfe, für die ich heute noch dankbar bin.

    Ich fand auch noch eine Sekretärin, die in enormer Fleißarbeit meine gesamte Datenliste abschrieb, die wir dann später verkleinert in die Arbeit hinten einfügten.

    Als ich sechs Wochen nach unserem ersten Gespräch Herrn Prof. Stoll an einem Freitag nach seiner Vorlesung meine fertige Arbeit abgab, die ich selbst in die Schreibmaschine getippt hatte, fragte ich ihn: „Wann darf ich wieder kommen, um das zu besprechen?“

    Er überlegte kurz: „Ich fahre morgen mit dem Zug nach Bremen, um einen Vortrag zu halten. Da lese ich die Arbeit während der Fahrt. Meine Frau hat mir verboten, mit meinem schnellen Auto selbst zu fahren. Kommen Sie am Montag nach meiner Vorlesung wieder!“

    Na, besser konnte es ja nicht laufen!

    Als ich am Montag die Arbeit abholen wollte, sagte Prof. Stoll: „Die Arbeit ist prima, ich habe nur ein einziges Adjektiv geändert, den Rest lassen Sie so. Ich habe die Arbeit heute Morgen schon unserem Perinatologen gegeben. Bis morgen hat er sie gelesen, dann gehen Sie zu ihm, holen sie ab und fragen nach seiner Meinung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas auszusetzen hat.“

    Auch von diesem Kollegen bekam ich freundlich und knapp den Kommentar: „Ja. Sehr gut, nichts ändern!“

    Prof. Stoll schlug noch vor, Herrn Prof. Huth, das war der Direktor der Kinderklinik, und Herrn Prof. von Keiser, das war der Dekan der Medizinischen Fakultät und gleichzeitig Direktor der Radiologischen Klinik, als Prüfer der Arbeit zu benennen. Diesen beiden Professoren brachte ich die Arbeit auch, als ich sie in Reinschrift verfasst hatte, und sie waren ebenfalls einverstanden.

    So, könnte man denken, das war´s.

    Aber so einfach geht es natürlich nicht. Zu jeder Doktorarbeit gehört eine Prüfung! Rigorosum nennt man das oder in manchen Fakultäten sogar Verteidigung. Das hört sich sehr militärisch nach einem großen Widerstand an, dem sich der Kandidat stellen muss. In einigen Universitäten findet diese Prüfung öffentlich statt, und der Kandidat muss sich nach einem Vortrag, in dem er seine Arbeit vorstellt, nicht nur über sein Promotionsthema, sondern auch über alle anderen Themen seines Fachs prüfen lassen! Das bedeutet in meinem Fall über die gesamte Medizin! In dieser Prüfung kann man wirklich durchfallen, und ich kenne Menschen, die in dieser Prüfung regelrecht gegrillt wurde, weil auch Themen genau hinterfragt wurden, über die der Kandidat gar nicht gearbeitet hat. Solche Prüfungsmanöver sind oft nur Profilierungsversuche der Prüfer vor ihren Kollegen.

    Es ist Vorschrift, dass diese Prüfung erst nach bestandenem Staatsexamen stattfinden darf. In den meisten Fächern darf man erst nach einem sehr gut bestandenen Examen eine Doktorarbeit anfangen! Das ist dann eine zusätzliche Auszeichnung, bei der man weiß, dass dieser Mensch eine sehr gute Gesamtexamensnote geschafft hat. In der Medizin gibt es da die Ausnahme, dass man die Arbeit schon vor dem Examen schreiben darf. Aber man darf den Titel erst nach dem Rigorosum tragen.

    Das war also noch eine Weile hin. Denn ich musste noch drei Semester studieren, und ich wollte wieder zurück nach Tübingen zum Endspurt. Es gab da nämlich die drei Freunde, mit denen ich Physikum gemacht hatte. Dann hatten wir in Wien ein Semester lang offiziell Medizin studiert und inoffiziell den großen Theater – Oper – Konzert – Kino – Freizeit – Schein gemacht. Den haben wir mit Bravour bestanden, nachdem wir fast jeden Abend bei einer anderen großartigen Veranstaltung waren – oft auf den Stehplätzen, aber wir waren dabei! In diesem Sommer fiel in Wien das 100-jährige Ballettjubiläum mit den Wiener Festwochen zusammen. Das durfte ich mir als großer Klassikliebhaber nicht entgehen lassen.

    Im Klartext: Es gab Fächer, in denen man tatsächlich zwei Mal in einen Kurs kommen musste: zur Anmeldung und um den Schein abzuholen. Deshalb wollte ich ja nach Mannheim, um dort in zwei Semestern an einer kleinen Uni die neun Scheine nachzuholen und tatsächlich zu erarbeiten, die ich Wien „gewonnen“ hatte.

    Meine Freunde hatten so wie ich nach Wien auch andere Unis besucht: München und Innsbruck. Deshalb verabredeten wir uns für das Sommersemester 1970 in Tübingen, um miteinander auf das Staatsexamen zu lernen.

    Su diesem Grund fragte ich Prof. Stoll bei meinem Abschied, wie wir das mit dem Termin für das Rigorosum machen sollten.

    „Das ist einfach: Sie rufen meine Sekretärin an, und sie macht Ihnen die Termine bei mir und den Prüfern.“

    Also zog ich beruhigt wieder nach Tübingen.

    Einen Monat vor der letzten der 18 Prüfungen rief ich im Sekretariat der Frauenklinik an und bat um die Termine. „Ja klar, mache ich für Sie! Wann ist ihr letzter Prüfungstermin? 25. Juli? Gut, rufen Sie mich morgen wieder an, dann habe ich die Termine.“

    Am nächsten Tag sagte die Sekretärin: „Ich habe alle drei Termine auf den 27. Juli gelegt, dann haben Sie es an einem Tag hinter sich und müssen nur einmal hierher fahren!“

    Also fuhr ich am 27. Juli nach Mannheim.

    Erster Termin bei Prof. Stoll. Er begrüßte mich sehr freundlich, bot mir einen Platz vor seinem Schreibtisch an und setzte eine ungewöhnlich ernste Miene auf. Das kannte ich nicht von ihm.

    „Herr Weller, Sie sind zur Prüfung hier!“

    Er machte eine Pause, schaute mich mit unbeweglicher Miene an und wartete offensichtlich darauf, dass seine Worte Wirkung zeigen.
    In welchen Film bin ich denn jetzt geraten?, schoss mir durch den Kopf? So kenne ich den Professor gar nicht!

    Dann fuhr er fort: „Ich habe mir drei besondere Fragen für Sie ausgedacht, die müssen Sie alle sehr gut beantworten, sonst kann ich Sie nicht bestehen lassen! Sind Sie bereit?“

    „Ja natürlich“, sagte meine Stimme, mein Kopfkino stellte auf Alarm und begann mit Rauswurfszenen.

    „Also, erste Frage: Welche Gesamtnote haben Sie im Staatsexamen erreicht?!“

    Puh, das war leicht.

    „Eine Eins.“

    Aber wie geht es weiter?

    „Zweite Frage: Wie geht es Ihren Eltern?“

    Jetzt wurde ich viel lockerer, er spielte mit mir und machte sich einen Spaß daraus. Ich wurde lockerer.

    „Oh, denen geht es gut, ich war gestern bei ihnen und soll freundliche Grüße ausrichten, auch von meiner Mutter an Ihre Frau!“

    „Dritte Frage: Wohin fahren Sie jetzt in Urlaub?“

    Ja bitte, gern noch mehr solche Fragen! Jetzt war ich wieder ganz entspannt.

    „Ich werde am kommenden Montag mit einem Freund eine sechswöchige Rundreise durch die Balkanstaaten bis Istanbul und dann um das Marmarameer zurück über Griechenland nach Deutschland machen.“

    Jetzt lachte der Professor: „Na, sehen Sie, Sie haben doch alles sehr gut beantwortet. Ich unterschreibe das hier jetzt, und Sie grüßen Ihre Eltern sehr herzlich. Und alles Gute für Ihre nächsten Prüfungstermine!“

    „Die habe ich jetzt gleich im Anschluss. Aber ich habe noch eine Frage an Sie.“

    Er schaute verwundert, fragend.

    „Was habe Sie denn mit meiner Arbeit gemacht, hatte sie irgendwelche Konsequenzen?“

    „Das kann man wohl sagen! Ich bin damit zum Baubürgermeister gegangen und habe mir 200.000 DM geben lassen, um das Neugeborenenzimmer endlich umbauen und vergrößern zu lassen. Sie sollten sich das noch ansehen, bevor Sie das Haus verlassen. Ist richtig schön geworden!“

    Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, ging direkt dorthin, und man zeigte mir gern den schönen Umbau.

    Deshalb habe ich immer noch das gute Gefühl, eine sinnvolle Arbeit geschrieben zu haben. Nicht wissenschaftlich, aber dafür pragmatisch mit einem echten Vorteil für diese Klinik und die Neugeborenen! Keine Arbeit für die Schublade, sondern etwas Notwendiges, das die Not wendet! Dafür bekam ich die Note cum laude – mit Lob. Das ist die beste Note, die man für eine nicht experimentelle Arbeit erhalten kann. Es gibt ja noch magna cum laude und summa cum laude.

    Bei Prof. Huth in der Kinderklinik war die erste Frage: „Welche Arbeit haben Sie denn geschrieben, ich erinnere mich nicht mehr. Können Sie mir kurz das Wesentliche erklären?“

    Das war einfach, und ich konnte fließend berichten und einige beeindruckende Zahlen einstreuen, weil ich am Tag davor meine Arbeit noch einmal gelesen hatte. Außerdem hatte ich sicherheitshalber ein Exemplar der Arbeit in meiner Aktentasche dabei, aber das wollte er gar nicht sehen.

    „Das war eine gute Arbeit, jetzt erinnere ich mich wieder! Also kann ich hier unterschreiben, dass Sie die Prüfung bei mir bestanden haben! Alles Gute für Sie!“

    Bei Prof. von Keiser wurde ich freundlich und jovial begrüßt. Das war schon mal erfreulich, weil er als sehr strenger Prüfer bekannt war.

    „Herr Weller, zuerst will ich mal wissen, welche Note Sie im Staatexamen gemacht haben.“

    „Eine Eins.“

    „Also, Sie wissen ja, wenn ich Sie durchfallen lassen will, schaffe ich das!“ Das klang sehr streng.

    Ich nickte und ahnte Schlimmes. Er setzte sich bequem hin. Ich noch nicht.

    „Wenn Sie aber in 18 Einzelprüfungen bewiesen haben, dass Ihr medizinisches Wissen insgesamt eine Eins wert ist, muss ich jetzt nicht eine 19. Prüfung machen! Erzählen Sie mir einfach mal, was Sie für eine Arbeit geschrieben haben. Ich erinnere mich nicht mehr daran.“

    Nach meinem Bericht sagte er freundlich und schon im Aufstehen: „Also, mein Glückwunsch! Ich unterschreibe hier und wünsche Ihnen alles Gute!“

    Damit war ich draußen, erleichtert und mit verschwitztem Hemd, aber das kam natürlich nur von der Bullenhitze an diesem heißen Julitag und meinem dunklen Anzug und der korrekt geknoteten und hochgezogenen Krawatte!

    Anschließend ging ich –endlich ohne Sakko und Krawatte!- in einen Herrenkonfektionsladen und kaufte mir eine beige Hose. Ich hatte nämlich fast während der ganzen Prüfungsvorbereitung und der sechsmonatigen Prüfungszeit beim Lernen und Lesen am Schreibtisch immer dieselbe Hose an, weil sie so bequem war. Sie war jetzt durchgewetzt, und ich hatte mir vorgenommen, sie erst nach dem bestandenen Examen zu ersetzen. Die neue Hose behielt ich gleich an, weil sie so schön leicht war. Dazu passte ein helles Sommerhemd, das auch noch auf dem Ausstellungstisch lag. Auch das behielt ich gleich an. Die dunkle Anzughose und mein weißes Hemd ließ ich einpacken.

    Jetzt wurde mir die Symbolik richtig bewusst: Studium ade – Urlaub, ich komme!

    Die neue Hose und das Hemd bezahlte ich mit einem Scheck, und ich unterschrieb zum ersten Mal in meinem Leben und sehr aufmerksam mit Dr. Dietrich Weller. Darüber habe ich mich noch viel mehr gefreut als über die Hose und das Hemd.

    Das war mein ganz stiller Triumph in diesen Minuten des Einkaufs: In einer einzigen Woche hatte ich mein Studium nach sechs Jahren und die Promotion abgeschlossen und das mit 25 Jahren! Das fühlte sich sehr großartig an!

    Ich fuhr in bester Stimmung und gemütlich nach Leonberg zurück, wo meine Mutter schon Vorbereitungen getroffen hatte für das Fest am morgigen Samstag. Meine Eltern hatten nämlich schon vor Monaten, als die Prüfungstermine bekannt waren, die Idee gehabt, meine drei Studienfreunde mit ihren Eltern zu einem Grillfest in unserem Garten einzuladen. Ein meinen Eltern gut bekanntes Ehepaar, er war Koch, machte sich eine Freude daraus, uns am Grill leckere Speisen zuzubereiten. Es wurde ein richtig stimmungsvoller Abend an diesem wunderbaren Sommertag und ein denkwürdiger Abschluss unseres Studiums!

    Einen Nachklapp zur der Geschichte will ich der Vollständigkeit halber noch hinzufügen.

    Lange, nachdem ich schon meine eigene Praxis in Leonberg hatte, bekam ich von der Kreisärzteschaft eine Einladung zu einem Vortrag von Prof. Stoll in Leonberg.  So sah ich meinen Doktorvater wieder, und mein Vater brachte meine Mutter mit, die sich während des Vortrags im Restaurant des Hotels mit Frau Stoll zwei gute Stunden machte.

    Einige Jahre später, als ich in einem meiner Bücher eine kurze Geschichte aus einer Vorlesung bei Prof. Stoll veröffentlichte, suchte ich ihn, um ihm das Buch zu schicken. Ich erreichte telefonisch seine Frau, die mir erzählte, er sei an einer Lungenfibrose verstorben. Also schickte ich das Buch an Frau Stoll.

    Leonberg, am 08.08.2022


  • Katrin und Roger hatten sich einfach sehr, sehr gern. Sie hatten sich so gern, dass sie alles gemeinsam unternahmen. Sie aßen zusammen, sie kochten zusammen, sie lasen zusammen, manchmal in einem Buch. Natürlich wohnten sie zusammen in einem Haus.
    Katrin liebte Roger und Roger liebte Katrin.
    Jeden Morgen, wenn sie erwachten, wenn sie gemeinsam erwachten, freuten sie sich, dass sie wieder einen Tag zusammen erleben würden.
    Das war nicht selbstverständlich. Katrin war nämlich sehr, sehr krank. Sie war so krank, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen, dass sie nicht mehr laufen konnte.
    Zum Glück war Roger ein erfahrener Ingenieur. Er plante, probierte, baute und konstruierte, damit Katrin trotz ihrer Krankheit das Bett verlassen konnte, wann sie das wünschte. Er baute kleine, aber sehr kräftige Kräne, die Katrin aus dem Bett hoben, ganz sacht.
    Er baute einen wunderschönen, zarten Rollstuhl mit goldenen Rädern, der mit feinem Surren.
    Katrin nach ihren Wünschen durch das Haus rollte, ganz sacht.
    Katrin war froh, dass Roger sie so gut versorgte, denn so konnte sie sich immerhin eine Weile in ihrem Haus bewegen. Längere Zeit ging das nicht, denn dafür war Katrin zu schwach.
    Manchmal rollte Katrin auf den Balkon, besonders im Sommer, wenn es warm war. Da hatte sie nämlich ihre Pflanzen. Das waren ihre Pflanzen, sie gehörten ihr ganz allein. Katrin hegte und pflegte die Pflanzen, die Tomaten, die Sonnenblumen und die Hortensien.
    Roger hatte nur einen Gedanken im Kopf: Er wollte Katrin alle Wünsche erfüllen. Er wollte sie glücklich machen.
    „Was wünschst du dir?“, fragte er wieder.
    Katrin wurde nachdenklich. Roger sah, dass sie traurig war. Da fragte er nochmal:
    „Was wünschst du dir? Sag es bitte.“
    „Mein größter Wunsch ist es, einmal das Meer zu sehen, den Strand zu fühlen, die Brandung zu hören, das wäre wunderbar“, sagte Katrin. „Leider ist das ja nicht möglich, aber es wäre sehr schön.“
    Roger wollte Katrin diesen Wunsch sehr, sehr gerne erfüllen, aber er wusste nicht, wie er sie ans Meer transportieren sollte. Katrin war einfach zu schwach. So kaufte er ihr Postkarten vom Meer, er kaufte große Bilder, die den Strand zeigten und hängte sie am Fußende des Bettes auf, damit Katrin sie sehen und sich daran erfreuen sollte. Er kaufte Sand in Säcken und verteilte ihn auf dem Balkon, damit Katrin das Gefühl von Strand haben sollte.
    „Ach“, sagte Katrin, „lass es bitte sein. Es macht mich noch trauriger, denn nun merke ich, dass ich niemals an das Meer kommen werde. Ich ertrage es nicht, dass du dich so anstrengst.“
    Katrin wurde in dieser Zeit langsam, aber zuverlässig immer schwächer, und bald konnte sie das Bett auch mit den Hilfen nur noch für kurze Zeit verlassen.
    Roger wurde immer sorgenvoller und trauriger. Er musste zusehen, wie seine Liebste verging.  Aber er gab nicht auf. Er plante und zeichnete, er baute und telefonierte.
    Eines Nachts schlief Katrin sehr unruhig, denn draußen ging ein großer Sturm. Er heulte und bebte, er ergriff das Haus so fest, dass sogar die Fensterrahmen rüttelten. Zudem war Roger fort. Er hatte sehr viel Arbeit. Katrin machte sich große Sorgen. Irgendwann schlief sie erschöpft ein. Als sie erwachte, war ihr Liebster wieder da.
    „Wo warst du? Es hat sehr stark gestürmt. Gut, dass du zurück bist!“, sagte Katrin erleichtert.
    Roger roch irgendwie fremd. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht in der Fabrikhalle gearbeitet.
    Als die Zeit für das Frühstück kam, zog Roger die Vorhänge des Schlafzimmers auf, wie immer.
    „Das Licht ist heute so hell, und was sind das für Maschinen draußen, die so komische Geräusche machen?“, fragte Katrin.
    Vorsichtig, sehr vorsichtig hob diesmal ihr Liebster Katrin in den Rollstuhl und rollte sie hinaus.
    Katrin verschlug es den Atem.
    Das Hinausrollen ging schwerer als sonst, denn die Reifen des Rollstuhles mussten im Sand laufen. Katrin sah sich um: Das Balkongitter war offen, der Weg führte direkt in tiefen, weißen Sand. Es war nichts als Sand zu sehen, Sand überall. Und dort vorne, direkt vor ihr, zum Greifen nah, da war Wasser, da war Wasser ohne Ende. Da war Wasser mit Wellen, die immer wieder den Strand hinaufliefen, sie rollten ruhig und doch entschlossen. Katrin sah den Sand und roch das Meer, sie hörte den Schrei der Möwe, und fern am Horizont erblickte sie große Schiffe.
    „Roger, wo sind wir? Wie hast du das nur geschafft?“
    Roger freute sich mit Katrin. Beide lachten laut und waren vor lauter Glück ganz aufgeregt.
    „Wenn wir nicht zum Meer gehen können, dann müssen wir einfach mit dem Haus zum Meer reisen, das hatte ich mir überlegt.“
    Und wirklich: Roger hatte es geschafft, das ganze Haus mit Katrin darin in die Luft zu heben, es von großen Transporthubschraubern über Nacht hier an den Strand tragen zu lassen.
    Das Haus stand nun wie selbstverständlich am Strand, am Meer.
    „Nimm das!“, sagte Roger zu Katrin und gab ihr eine zarte Kette aus Glasperlen in die Hand.
    Es war eine sehr besondere Kette, das merkte Katrin gleich. Die Perlen waren unterschiedlich groß, unterschiedlich geformt und schillerten im Licht in allen Regenbogenfarben. Durch sie hindurch zog sich ein metallisch glänzendes Band, das an beiden Enden der Kette mit filigranen Goldkügelchen befestigt war.
    „Wenn wir mit dem Haus auf unser Grundstück zurückkehren sollen, dann musst du nur das Band dehnen. Das Haus steht an diesem Ort auf dem Sand und kann daher ganz leicht zurück transportiert werden, wenn du dazu mit der Kette den Befehl gibst.“.
    Roger verriet nicht, dass das nur ein paar Mal funktionieren würde, denn die Mauern des Hauses waren nicht für ständige Luftreisen gemacht.
    Er und Katrin aber wussten, dass das nicht wichtig war.
    Solange Katrin lebte konnten die zwei nun immer wieder ans Meer reisen und dort gemeinsam kochen, essen und lesen, manchmal zusammen in einem Buch.