Kategorie: Gedichte

  • Wer bin ich?

    (1977)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wer bin ich?
    Wer?
    Ein Komet,
    der der Nacht entrissen ist,
    der die Bekanntschaft mit der Morgenröte gemacht hat.
    Ein Auge, das das Licht erblickt hat,
    versöhnt sich nicht mit der Dunkelheit.
    Der helle Geist und das reine Wesen
    versöhnen sich nicht mit der Verderbnis.
    Wenn es in der Welt Ungerechtigkeit, Dunkelheit und Gewalt gibt,
    gibt es den Kampf,
    der zum Land der Gerechtigkeit und des Lichts führt.
    In der großen Inschrift des Lebens steht:
    Wenn du nicht siegst, wirst du verlieren.

    ֎֎֎

  • Der Mensch und der Stein

    (1965)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die unendliche Einsamkeit ist das Schicksal des Steins.
    Es ist das Schicksal des Steins, blind und stumm zu sein,
    nie aus Trauer zu weinen,
    nie zu lachen,
    schmerzlos, hoffnungslos und wunschlos zu sein. 

    Manchmal bekommt er als Fels
    Tag und Nacht Ohrfeigen von einem fernen Meer.
    Manchmal liegt er auf einem Grab und sagt ohne Stimme,
    wie der Mensch heißt, der nie wieder zurückkehren wird. 

    Aber wenn er zur Statue ewig lebender Personen wird,
    streuen die Menschen Blumen auf sein Haupt.
    Glücklich ist der Stein, der zum Menschen wird.
    Schade, wenn ein unglücklicher Mensch versteinert.

    ֎֎֎

  • Jene Melodie

    (1972)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Die Tulpe des Wunsches wird wieder aufblühen,
    des Herzens verschlossene rote Knospe wird aufgehen.
    Ich sage nicht, dass der vergangene Frühling zurückkehrt,
    dass die abgelaufene Zeit beginnt.
    Es gibt eine andere Zeit und einen anderen Frühling … 

    Es ist eine Kunst,
    fröhlich zu sein.
    Freude spenden ist eine noch erhabenere Kunst.
    Jedoch werden wir es uns nie zubilligen,
    wie eine leblose Figur Tag und Nacht
    ohne Kenntnis der Lage aller anderen Menschen
    fröhlich zu sein.
    Sorglosigkeit ist ein großer Fehler,
    der uns fern sein sollte. 

    Wie schön wäre es,
    wenn es einen Spiegel gäbe,
    der das Innere zeigen würde,
    damit wir uns in ihm betrachten könnten,
    all das sehen würden,
    was den Spiegeln verborgen bleibt.
    Wir würden uns jener erhabenen Kraft bewusst,
    die uns lehrt,
    zu leben,
    Beständigkeit zu erlangen,
    der Bote des Sieges und der Hoffnung zu werden … 

    Es ist eine Kunst, fröhlich zu sein,
    wenn sich andere Herzen an deiner Freude ergötzen.
    Das Leben ist die einzigartige Bühne unserer künstlerischen Tätigkeit.
    Jeder trägt seine Melodie vor und verlässt die Bühne.Die Bühne ist stets vorhanden.

    Blühend ist jene Melodie,
    die die Menschen in ihrer Erinnerung bewahren …

    ֎֎֎

  • Biografie

    (1974)

     

    Von Jaleh Esfahani; (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Das rote Lachen der Tulpen des Frühlings,
    die gelbe Träne der Bäume des Herbstes,
    der Kuss der Vereinigung und die Freude der Begegnung,
    die Trauer des Abschieds und das Unglück der Abwesenheit. 

    Lebenslang suchen,
    warten,wünschen
    und in den Schöpfungen aufblühen:
    Das ist Eure und meine Biografie …

    ֎֎֎

  • Symphonie des Atems

    (29.12.2018)

     

    Wenn Atemzüge zu einer Melodie werden
    verbunden mit Bildern der Morgenröte
    der ersten Küsse der Krokusse im Winter
    des grünen Samtbezugs des Wurzelwerks am Berghang
    der plätschernden Bäche im Frühling
    der geernteten Kornfelder im Sommer
    des herbstlichen Blätterteppichs im Walde
    wenn Atemzüge zu einer Melodie werden
    verbunden mit Bildern des Sonnenuntergangs
    dann weiß ich
    dass du hautnah bei mir bist

  • Yalda (2)

    (21.12.2018)

     

    In der längsten Nacht des Jahres
    küsste der Mondschein zärtlich
    die letzten verbliebenen braungelben Blätter
    an den Armen meiner Geschwister
    bevor diese beseelt herab
    in den Schoß unserer Mutter tanzten 

    Andächtig fragte ich
    wann werden die Menschen
    die dringende Notwendigkeit begreifen
    die Welt als Partner zu erachten

    ֎֎֎

  • Ansätze

    (23.12.2018)

     

    Im psychotherapeutischen Alltag
    unterstütze ich meine Mitmenschen
    beim Erkunden der Entwicklungsgeschichte
    ihrer Denk- und Verhaltensweisen 

    Wenn wir den Kapitalismus
    als eine Lebensweise erfassen
    als eine Beziehungsart
    zwischen den Menschen und dem Dasein
    gelangen wir zu kritischen Erkenntnissen
    die zur entschlossenen Umsetzung einladen
    im kleinen Kreise und bei uns selbst beginnend

    ֎֎֎

  • Blicke und Gedichte

    (23.12.2018)

     

    Wir verweilen in einem Raum
    mit vielen Wänden
    Jede Wand hat zahlreiche Fenster
    zum Empfangen und zum Senden
    Jeder öffnet ein Fenster zum Licht
    verfasst dann sein eigenes Gedicht
    Wenn wir Blicke und Gedichte
    redlich zusammenführen
    werden  wir gemeinsam
    die Wahrheit eher berühren

    ֎֎֎

  • Wenn Wasser
    und Feuer
    sich begegnen
    im Begegnen
    sich nicht vernichten
    sondern sich vereinen
    werden göttliche Zwillinge
    geboren
    die Rose
    und ihr Spiegelbild

    Vereine in dir
    die Kraft des Denkens
    der Erkenntnis
    mit der Kraft des Feuers
    mit der Kraft
    deines Willens
    dann wird die
    Rose erblühen
    in dir

    Dein Göttliches Ich

  • Fliegen möchte ich
    wie die Vögel fliegen
    von Winden getragen
    Schwimmen möchte ich
    wie die Fische schwimmen
    von sanften Wellen geschaukelt

    Doch ich gehe
    mühsam
    Schritt für Schritt
    mein Gehen
    gleicht dem einer Schnecke
    Schnecke
    Nahrung für Vogel und Fisch
    wem soll ich wohl
    als Nahrung dienen?