Kategorie: Gedichte

  • Der Klang des Ganges des Wassers

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980); erschienen im Jahr 1965
    Auszugsweise Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    den stillen Nächten meiner Mutter gewidmet

     

    Ich stamme von Kashan.
    Mir geht es nicht schlecht.
    Ich habe ein Stück Brot,
    ein bisschen Intelligenz
    und eine Nadelspitze Geschmack.
    Ich habe eine Mutter,
    besser als das Blatt des Baumes.
    Freunde, besser als das fließende Wasser.

    Und ich habe einen Gott, der hier in der Nähe ist:
    zwischen den Levkojen,
    am Fuß jener hohen Tanne,
    in dem Bewusstsein des Wassers,
    in dem Gesetz der Pflanze.

    Ich bin ein Moslem.
    Beim Beten beuge ich mich in Richtung einer Rose.
    Mein Gebetstuch ist eine Wasserquelle,
    mein Gebetsstein das Licht,
    mein Gebetsteppich die Ebene.
    Mit dem Pulsschlag der Fenster
    nehme ich meine religiöse Körperwaschung vor.
    In meinem Gebet bewegt sich der Mond,
    fließt das Lichtspektrum.
    Hinter meinem Beten ist der Stein sichtbar:
    alle Teilchen meines Betens sind zu Kristallen geworden.
    Ich bete dann,
    wenn der Wind zum Gebet aufgerufen hat
    auf dem Wipfel der Zypresse.

    Ich habe Sachen auf dieser Erde gesehen:
    Ich sah ein Kind,
    das an dem Mond schnupperte.
    Ich sah einen Käfig ohne Tür,
    die Helligkeit flatterte in ihm herum.
    Ich sah eine Leiter,
    die Liebe stieg auf sie zum Dach des Himmels.
    Ich sah eine Frau,
    die das Licht in einer Reibeschale zerrieb.
    Zum Mittag war Brot auf ihrer Essensdecke
    das Grüne,
    der Teller mit Tau,
    die heiße Schüssel der Liebe.
    Ich sah einen Bettler,
    der ging von Tür zu Tür
    und verlangte nach dem Gesang der Lerche.

    Ich stamme von Kashan, aber
    Kashan ist nicht meine Stadt.
    Meine Stadt ist abhanden gekommen.
    Ich habe kraftvoll, fieberhaft
    auf der anderen Seite der Nacht ein Haus gebaut.

    In diesem Haus bin ich der feuchten Anonymität des Grases nah.
    Ich höre das Atemgeräusch des Beetes
    und die Stimme der Dunkelheit,
    wenn sie von einem Blatt herunterfällt,
    und das Geräusch des Hustens der Helligkeit hinter dem Baum,
    das Niesen des Wassers aus einer Öffnung des Steines,
    das Klopfen der Schwalbe am Dach des Frühlings.
    Und den klaren Klang des Auf- und Zugehens des Fensters der Einsamkeit.
    Und den reinen Klang der verborgenen Häutung der Liebe,
    das Sich-Zusammenballen der Neigung zum Fliegen in dem Flügel,
    und die Entstehung von Rissen in der Selbstbeherrschung des Geistes.
    Ich höre den Klang des Ganges des Verlangens .

    Ich bin dem Anfang der Erde nah.
    Ich fühle den Puls der Blumen.
    Ich bin vertraut mit dem feuchten Schicksal des Wassers,
    mit der grünen Gewohnheit des Baumes. . .

    Ich habe keine zwei Pinien gesehen, die miteinander verfeindet sind.
    Ich habe keinen Weidenbaum gesehen,
    der der Erde seinen Schatten verkauft.
    Umsonst schenkt die Ulme der Krähe seinen Ast.
    Überall wo ein Blatt ist, blüht meine Leidenschaft auf. . .

    Ich weiß es nicht, wieso sie sagen:
    das Pferd ist ein edles Tier,
    die Taube ist schön.
    Und wieso ist im Käfig von keinem ein Geier.
    Was hat die Kleeblüte weniger als die rote Tulpe.
    Die Augen muss man waschen,
    auf eine andere Weise muss betrachtet werden.
    Die Wörter muss man waschen.
    Das Wort muss in sich selbst der Wind,
    das Wort muss in sich selbst der Regen sein. . .

    Entfernen wir das Bedeckende:
    lassen wir das Gefühl in frischer Luft spazieren gehen.
    Lassen wir die Reife unter jedem Gebüsch übernachten.
    Lassen wir den Instinkt dem Spielen nachgehen,
    die Schuhe ausziehen
    und den Jahreszeiten hinterher über die Blumen springen.
    Lassen wir die Einsamkeit singen,
    Verse verfassen,
    auf die Straße gehen.

    Seien wir einfach.
    Seien wir einfach sowohl an einem Bankschalter
    als auch unter einem Baum.
    Es ist nicht unsere Aufgabe, das „Geheimnis“ der Rose zu erforschen,
    es ist vielleicht unsere Aufgabe,
    dass wir im „Zauber“ der Rose schwimmen,
    hinter dem Wissen Zelte aufschlagen,
    die Hände in der Anziehung eines Blattes waschen
    und dann zum Gedeck gehen,
    morgens, wenn die Sonne aufgeht, geboren werden
    und die Aufregungen fliegen lassen. . .

    Der Menschheit, dem Licht, der Pflanze und dem Insekt die Tür öffnen.
    Unsere Aufgabe ist es vielleicht,
    dass wir zwischen der Seerose und dem Jahrhundert
    dem Gesang der Wahrheit hinterherlaufen.

    ۞۞۞

     

  • Bodhi *

     

    Ein Gedicht von Sohrab Sepehri (1928 – 1980) aus dem Buch „Der Osten der Schwermut“; erste Erscheinung 1961
    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

     

    ۞۞۞

    Es war ein Moment,
    die Türen waren aufgegangen.
    Nicht ein Blatt,
    nicht ein Ast,
    der Garten der Vernichtung war sichtbar geworden.
    Die Vögel des Raumes still,
    dieser still, jener still,
    die Stille fing an zu sprechen.
    Was war auf jenem Feld?
    Ein Wolf war zum Begleiter eines Schafes geworden.
    Das Bild des Schalles farblos,
    das Bild des Rufes blass.
    War vielleicht der Vorhang zusammengefaltet?
    ‚Ich‘ gegangen,
    ‚Sie‘ gegangen,
    ‚Wir‘ hatte uns verlassen.
    Die Schönheit war einsam geworden.
    Jeder Fluss hatte sich zu einem Meer,
    jedes Wesen hatte sich zu einem Buddha verwandelt.

    ۞۞۞

    * Mit Bodhi wird im Buddhismus ein Erkenntnisvorgang bezeichnet, der auf dem vom Buddha gelehrten Erlösungsweg von zentraler Bedeutung ist.

     

  • Ich spreche vom Licht

    Fereydoun Moshiri (1926-2000)

    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ***

     

    Jeden Morgen,
    sobald das Sonnenlicht über den fernen Bergen emporsteigt,
    breite ich die Flügel aus,
    flinker als die Brise;
    lasse die Botschaft der Morgendämmerung fliegen
    mit hellen, klaren Gedichten.
    Die Menge der Schlafenden
    rufe ich
    mit süßen, lieblichen Liedern.

    Ich erzähle vom Licht, vom Licht,
    von lebendigem Leben,
    von frischem Atem, von neuem Dasein,
    vom Stolz.

    Aber im Gedränge der Straße
    verlieren sich meine Stimme und meine Lieder.

    Dieser und jener sagt:
    „Befreie dich von diesem sinnlosen Bemühen!
    All dieses Schreien ist fruchtlos
    in den tauben Ohren!
    Der Verrückte spricht übers Licht
    mit den Maulwürfen!“

    Fremd mit diesem ganzen kalten Gerede
    rufe ich weiterhin geduldig
    die Menge der Schlafenden
    mit Liebe, Freude, Leidenschaft.
    Die Botschaft der Morgendämmerung
    lasse ich fliegen.
    Wohin ich auch gehe,
    spreche ich diesem und jenem ins Ohr,
    sogar im Gedränge der Straße,
    vom Licht,
    vom Licht …

    ۞۞۞

  • Eine Brise aus dem Land der Versöhnung

     

    Fereydoun Moshiri (1926-2000)

    Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

     

    Also, sollte mir eines Tages jemand die Frage stellen:
    „Was hast du in deiner Zeit auf der Erde gemacht?“,
    schlage ich ihm meine Akte auf,
    weinend und lachend, erhebe ich mein Haupt,
    dann sage ich: „Er hat neues Samenkorn ausgesät,
    bis es erblüht, bis es Früchte trägt, wird noch viel Zeit vergehen.“

    Unter diesem unendlichen blauen Himmel,
    soweit ich die Kraft hatte, in jedem Gesang,
    wiederholte ich den erhabenen Namen der Liebe.
    Mit dieser müden Stimme habe ich, vielleicht, einen Schlafenden
    in den vier Himmelsrichtungen dieser Welt aufgeweckt.

    Ich verehrte die Liebe,
    bekämpfte die Bosheit.

    Ich litt beim „Verwelken eines Blumenzweiges“ 1,
    trauerte den „Tod des Kanarienvogels im Käfig“ 1,
    starb jede Nacht hundert Mal wegen des Leides der Menschen.

    Ich schäme mich nicht, wenn ich wie Messias,
    wenn man aus dem Herzen schreien muss,
    mit Geduld den Kummer ertrug.

    Aber im Gefecht mit den Törichten,
    wenn ich das Schwert ergreifen musste,
    – nimm es mir nicht übel –
    ging ich den Weg der Liebe.
    In meinen Augen bedeutet das Schwert in der Hand,
    dass man jemanden umbringen kann.

    Auf dem schmalen Pfad, den ich beschritt,
    wütete die Finsternis des Unwissens.
    Der Glaube an den Menschen war meine Leuchte,
    das Schwert war in Ahrimans2  Hand.
    Meine einzige Waffe auf diesem Schlachtfeld war das Wort.

    Wenn mein Gedicht bei keinem das Feuer entfachte,
    so verbrannte mein Herz von beiden Seiten, wie das nasse Holz.
    Lies eine Seite aus dieser Akte, vielleicht wirst du dann sagen:
    „Kann man noch mehr als das verglühen?“

    Endlose Nächte schlief ich nicht,
    die Botschaft des Menschen teilte ich dem Menschen mit.
    Mein Gesagtes enthielt eine Brise aus dem Land der Versöhnung,
    im Dornengestrüpp der Feindseligkeiten.
    Vielleicht müsste ein starker Taifun auftreten,
    um diese Bosheiten zu entwurzeln.

    Unsere Weisen vor unserer Zeit sagten ermahnend:
    „Es ist zu spät… es ist zu spät…,
    der Finsternis der Erdenseele gegenüber
    ist die Kraft Hunderter wie wir nur ein Schrei in der Wüste.
    Ein neuer Noah ist von Nöten und eine neue Sintflut.“ 3
    „Eine neue Welt muss erschaffen werden
    und eine neue Menschheit auf jener Welt“ 3

    Aber dieser einsame, geduldige Mann schreitet immer noch voran
    mit seinem Rucksack voller Leidenschaft den Weg.
    Um aus der Tiefe dieser Finsternis ein Licht hervorzuheben,
    setzt in jede Ecke eine Kerze seines Gedichtes,
    hofft immer noch auf das Wunder des Menschen.

    ۞۞۞

     

    Anmerkungen:

    1 Hier bezieht sich Fereydoun Moschiri auf seine Gedichte aus dem Band „Glaube dem Frühling“.

    2 „Ahura Masdah“ und „Ahriman“ sind zwei Gestalten in der alten iranischen Religion stellvertretend für das Gute und das Böse.

    3  Hier bezieht sich Fereydoun Moschiri auf Gedichte der iranischen Poeten Nimtaj Salmasi und Hafis.

  • In dieser Sackgasse

     

    Ein Gedicht von Ahmad Shamloo (1925-2000) aus dem Jahr 1979
    Freie Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

     

    Sie riechen an deinem Mund,
    nicht dass du gesagt hättest, „ich liebe dich“,
    sie riechen an deinem Herzen,
    es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Und die Liebe
    peitschen sie aus
    an dem Balken der Straßensperre.
    Die Liebe sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    In dieser krummen Sackgasse,
    in diesen Windungen der Kälte
    entfachen sie das Feuer
    mit Gedichten und Liedern als Brennmaterial.
    Riskiere nicht das Nachdenken,
    es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Derjenige, der nachts an die Tür klopft,
    ist zum Auslöschen des Lichtes gekommen.
    Das Licht sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    Dort sind Schlächter
    am Straßenübergang platziert
    mit Blut beschmierten Schlagstöcken und Hackmessern.
    Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Den Lippen schneiden sie das Lachen aus
    und dem Mund den Gesang.
    Die Freude sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    Kanarienvögel werden gebraten
    auf einem Feuer von Jasmin und Lilien.
    Es ist eine seltsame Zeit, Liebling.

    Der Satan, des Sieges betrunken,
    feiert unser Begräbnis am Festtisch.
    Der Gott sollte im Hinterzimmer des Hauses versteckt werden.

    ۞۞۞

     

  • Der helle Horizont

     

    Ein Gedicht von Ahmad Shamloo (1925-2000) aus dem Jahr 1955
    Freie Übersetzung aus dem Persischen von Afsane Bahar

    ۞۞۞

     

    Eines Tages werden wir unsere Tauben wieder finden,
    und die Zärtlichkeit wird mit der Schönheit
    Hand in Hand gehen.

    Ein Tag, an dem die Liebkosung das geringste Lied ist,
    und jeder Mensch dem Nächsten
    wie ein Bruder sein wird,
    ein Tag, an dem man die Haustüren nicht mehr abschließt,
    das Schloss eine Legende ist
    und das Herz zum Leben ausreicht.

    Ein Tag, an dem jedes Ausgesprochene Lieben bedeutet,
    damit du wegen des letzten Wortes nicht nach Reden suchst.

    Ein Tag, an dem die Melodie jedes Wortes Leben darstellt,
    damit ich wegen der letzten Dichtung nicht leidend nach Reimen suche.

    Ein Tag, an dem jede Lippe ein Lied ist,
    damit der geringste Gesang zur Liebkosung wird.

    Ein Tag, an dem du kommst,
    für immer kommst,
    und die Zärtlichkeit der Schönheit entspricht,
    ein Tag,
    an dem wir unseren Tauben Körner streuen …

    Und ich sehne mich nach jenem Tag,
    auch wenn an jenem Tag
    ich nicht mehr da sein sollte …

    ۞۞۞

     

  • Schöpferische Stille

    (12.2.2017)

     

    für Victoria und Farshin

     

    Die sieben Blauschattierungen des Himmels

    die Zärtlichkeit der atmenden Erde

    die Malerei des liebkosenden Windes

    das Seidentuch des tröstenden Feuers

    zeigte ich meines Herzens Meer

    Es wurde schöpferisch still

    ֎֎֎

  • Systemerhaltung

    (8.2.2017) 

    für Bernd Duschner

     

    Begrenzte Betrachtung

    oberflächliche Orientierung

    benebelte Besinnung

    eingeschränktes Einfühlen

    gelenkte Gedanken

    umfangreiche Unehrlichkeit

    haarsträubende Heuchelei

    ergeben erwartungsgemäß

    genehmigte Gesinnung

    erlaubte Empörung

    erhaltene Entfremdung

    verfehlte Verantwortung

    ֎֎֎

      

     

  • Einsicht

    (8.2.2017) 

     

    für Elias Davidsson 

    Verbunden mit der einmaligen Erde

    ganzheitlich Geschehnisse beobachtend

    beharrlich Selbstbetrug meidend

    begriff ich berührt bewegt

    dass buchstäblich Banditen

    im  Lande  herrschten

     

    Nach dieser ergreifenden Erkenntnis

    kam sorgloses Wegschauen

    schmerzhaft der Selbstaufgabe gleich

     

    Fortan pflanzte ich federleicht

    des Lichtes Blumen

    ֎֎֎

     

  • Weihnachtsgebet

    Von guten Geistern wohl gehütet
    Sei Frieden dir in Herz und Hand.
    Wo heiß der Wüstenhasswind wütet
    Weit breite aus Dein Herzgewand.

    Lass den Verstand des Kindes weben
    Von Kunde Armut Krippenglück
    Dir werden Sterne Weisheit geben
    Ins Morgen weist des Kindes Blick.

    K. Kayser, 13.12.2016