Schlagwort: Familie

  • Rio Marina

    (6.5.2018)

     

    Das Wirkungsfeld der großen Lebenslügen
    und der gefräßigen Gleichgültigkeiten
    verlasse ich für eine Weile
    wandere auf dieser heilsamen Insel
    nehme die Vielfalt der Vergänglichkeit
    die Schönheit der Unvollkommenheit
    und den Reichtum der Einfachheit wahr 

    Gestärkt, gelassen
    bekämpfe ich wieder
    Lebenslügen und Gleichgültigkeiten

  •  

    Untertanen

    (6.5.2018)

     

    Wie der Kuchen entsteht
    was alles dabei auf der Strecke bleibt
    ist nicht bedeutsam
    solange unser Anteil
    erhalten bleibt

    ֎֎֎

  • Das Mittelmeer

    (4.5.2018)

     

    Im malerischen Horizont
    küssen sich Himmel und Meer
    Am Strand
    liegt ein einsamer Schuh
    Der Eintritt ins europäische Paradies
    auf Jahrhunderte langem Elend
    anderer Erdteile gebaut
    ist nicht jedem gestattet

    ֎֎֎

  • Mehrgenerationenhaus

    (3.5.2018)

     

    Vom betörenden Duft angezogen
    entdecke ich Blüten und Früchte
    dicht nebeneinander
    an einem Zitronenbaum
    Fröhlich fange ich an
    mögliche Wohnformen auszumalen

    ֎֎֎

  • Hebamme

    (2.5.2018)

     

    Ihnen vermittelte ich etwas
    wie ein leuchtendes Lavendelfeld:
    Ihr braucht keinen Anführer
    keinen Leiter
    höchstens eine Hebamme
    denn ein Stück Sonne
    trägt jeder von euch
    im Herzen

    ֎֎֎

  • Beitrag zur Lesung „Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen“
    beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

     Gott unter Göttern?

    „Prometheus“ heißt ein Bildarchiv, das vom archäologischen und kunsthistorischen Institut Gießen initiiert und jetzt im gesamten Campus der Universität aufgerufen werden kann. Den Zugang erhält man über eine Abkürzung der ersten Zeilen von Goethes Hymnos Prometheus:

    „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!…

    Hier interessiert uns aber weniger das Gießener Bildarchiv als die Frage, wie das Gedicht dann weitergeht. Es wird heftig.

    „Ich kenne nichts Ärmeres unter der Sonn‘ als euch Götter!“

    Dann kommt es sogar monotheistisch daher:

    „Hast du die Schmerzen gelindert
    je des Beladenen?
    Hast du die Tränen gestillet
    je des Geängsteten?

    Hier sitz ich, forme Menschen
    nach meinem Bilde,

    zu leiden, weinen,
    Genießen und zu freuen sich,
    Und dein nicht zu achten,
    wie ich!“

    Als guter hessischer Beamter zahlte mein Vater zwar getreulich seine evangelische Kirchensteuer und sorgte dafür, dass sein einziges Kind getauft wurde, doch war er eigentlich Agnostiker, der vor allem an den Vulkanismus glaubte.

    Meine Mütter stammten aus dem Badischen und waren katholisch. Als kleinem Mädchen gefielen mir die Glöckchen, der Weihrauch und die weißen Kleidchen bei der Fronleichnamsprozession. Dieser Luther, pflegte mein Vater zu sagen, war zwar ein großer Sprachschöpfer, aber  ein sturer Bock. Ich fand vor allem, dass er es uns Protestanten unnötig schwer gemacht hat mit seinem „sola fide“, allein durch den Glauben. Ein paar gute Werke – und die Sache hätte ganz anders ausgesehen! Schon bei der Konfirmation war mir die Ausschließlichkeit des Glaubens nicht geheuer, und ich empfand mich als unwürdig. Von meinem Kirchenaustritt und meiner Hinwendung zu den Göttern der Antike allerdings wäre mein Vater trotz seiner eigenen naturwissenschaftlichen Einstellung nicht begeistert gewesen. Dabei kann ich es mir jetzt aussuchen: Demeter für das allzu früh entbehrte Mütterliche, Kore/Persephone für die Ambivalenz von Welt und Unterwelt, Werden und Vergehen, Zweifeln und Hoffen. Auch Dionysos ist einer, der es hat, dieses: „Stirb und Werde“[1], ein Maskengott und Spender des Weines. Ebenso sympathisch ist mir der hinkende Hephaistos, ein begabter Waffenschmied und schöpferischer Kunsthandwerker, der sich von seiner Gattin Aphrodite mehr als nur ein Paar Hörner aufsetzen lässt. Und erst die Hörner verteilende Aphrodite selbst! Sie ist eine der vielschichtigsten Gottheiten überhaupt, mit ihren östlichen Wurzeln, den Verbindungen zur phönikischen Astarte und den ägyptischen Göttinnen Hathor und Isis, Herrin über Liebe und Schönheit, aber auch gewappnete Kriegerin!

    Meine Pläne? Noch ein bisschen weiter so: ernsthaft recherchieren und der Wissenschaft frönen, fabulieren und mystifizieren, rezitieren und auf unserer gemeinsamen stabilen Basis kräftig mit meinem Mann streiten, Wein trinken und Freude haben am Essen und den anderen schönen Dingen des Lebens.

    Sollte dieser Christengott darüber lachen können, so ist er willkommen im Kreis meiner Götter, bei denen im Olymp ebenso wie bei den anderen im Schoß der Erde.

     

    [1] J. W. Goethe, Selige Sehnsucht, West-Östlicher Divan. Buch des Sängers.

    Copyright Dr. Dr. Waltur Wamser-Krasznai

  • Beitrag zum BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

    AUSZUG AUS MEINEM ROMAN ´´Warte bis die Seerose blüht,,

     

    Annas Erinnerung an ihre frühe Jugendzeit

     

    Einen Anfang setzen… aber womit? Wie beginne ich, um die Geschichte zu erzählen, oder genauer: um von der Geschichte zu erzählen, die ich erzählen will? Unzählige Anfänge habe ich im Kopf, einige sind sogar schon auf Zetteln festgehalten. Wie kann ich mich entscheiden? Der Anfang, der heute richtig scheint, ist er’s auch noch morgen? Zuhaus, vor meiner Abreise hierher, dachte ich, ich werde alle Anfänge erwähnen, aber ich nehme keine Nachschlagebücher mit, auch keine Zettel mit den schon notierten Anfängen, es soll nur ein Erwähnen sein. Wenn ich will (oder es notwendig erscheint), kann ich es dann zu Hause gründlicher ausführen. In einer anderen Farbe (im Buch würde es dann anders gedruckt werden). So kann jeder, den es nicht interessiert, es einfach überschlagen. Sollte es später wichtig sein, so kann ich immer noch darauf hinweisen, und der Leser kann es nachträglich lesen. Einen üblichen Ferientag verbracht hier, auf dieser Insel, zu der ich einen ganz besonderen Bezug habe. Aber wahrscheinlich hat das jeder, der diese Insel zum zweiten Mal besucht. Einen Moment fragte ich mich, ob ich einen Teil der Handlung hier spielen lassen soll. Warum nicht? Der zweite Teil sollte in der Keltenzeit spielen. Abe das geht nicht, dann komme ich in Schwierigkeiten mit dem dritten Teil, dem griechischen. Drum habe ich mich zum Vor-Keltischen entschlossen, für die Zeit der Großen Steine. Und das könnte doch gut hier auf Helgoland sein. Aber jetzt weiss ich nicht, ob damals noch die Landbrüche nach Dänemark bestand. – Nein, ich gehe nicht in die Bücherei und suche Literatur zu dieser Frage! Ich habe mir vorgenommen, einfach mal anzufangen. Außerdem ist es im Moment noch völlig gleichgültig, wo ich den zweiten Teil spielen lasse, wenn ich noch nicht einmal angefangen habe. Und vor dem zweiten Teil kommt der erste, und davor, nein, davor kommt noch nicht der Anfang – zwischen Anfang und dem ersten Teil kommt die Rahmenhandlung. Während meines Ferientages dachte ich immer wieder daran, wie ich wohl anfangen werde. Ich versuchte, mich an die vielen guten Anfänge, die ich im Kopf habe, zu erinnern. Sie sind weg. Einfach weggeblasen. Vielleicht von den Sturmböen über der Insel. Ich erinnere mich nur noch, daß ich mich mit Jakob Wassermann tröstete. In einem Essay oder Tagebucheintrag spricht er davon, wie oft er anfängt, immer wieder, immer wieder aufs Neue. Einen Roman hat er vierzigmal begonnen. Ich meinte zwar, diese Geschichte im Kopf schon unzählige Male begonnen zu haben, aber vierzigmal war es sicher nicht! Ich wüßte nun gerne, woher er wußte, welcher Anfang der richtige ist. Und noch etwas wüßte ich gerne: wie die anderen neununddreißig Anfänge waren, die verworfenen. Würden sie vielleicht zu einer anderen Geschichte führen?

    Einen auf einem Zettel notierten Anfang wollte ich schon für etwas anderes benutzen (denn es ist ein schöner Anfang, er gefällt mir), aber es war unmöglich, er gehört zu dieser Geschichte, zu der Rahmenhandlung. Aber ich weiß noch gar nicht, wie ich ihn darin verarbeiten kann. Er handelt davon, wie eine Frau – eine der drei oder vier Hauptpersonen – mir bestimmte Erlebnisse ihres Lebens erzählt. Und nun geschieht das Merkwürdige, daß diese Erlebnisse in meiner Erinnerung lebendig werden – lebendiger als die Situation, in der sie es mir erzählte – , so daß ich nun diese Erlebnisse sogar in der Ichform erzählen könnte, aber ich weiß noch nicht, ob ich es tun werde.

    Ein anderer, schon festgehaltener Anfang erzählt, wie diese Frau (ich habe noch immer keinen Namen für sie) einen Zettel mit Notizen findet, die sie erst selbst nicht versteht, aber dann fällt ihr ein, was sie damit meinte, und das ganze Drumherum fällt ihr ein, und man wäre mitten in der Handlung an einem Schlüsselerlebnis, das sofort die Tür öffnet zu einem vorherigen Leben (sie selber merkt es aber noch nicht). Das ist überhaupt ein weiteres Problem: daß ich noch nicht weiß, wieviel meine Hauptpersonen selber wissen oder ob nur wir es wissen. Aber ich will nicht, daß Leser und Erzähler sich überheblich fühlen. Am liebsten würde ich so erzählen, daß der Leser alles von allein merkt, plötzlich sieht er die Zusammenhänge und hat ein Aha-Erlebnis. Aber was ist, wenn er es nicht merkt? Liegt das an seiner Intelligenz, wenn er es nicht merkt, oder an meiner mangelhaften Darstellung? Wenn ich wüßte, daß meine Geschichte lesbar ist, auch wenn der Leser nichts merkt…

    Vielleicht erzähle ich erst einmal in groben Zügen, wovon ich eigentlich erzählen will. Das war schonmal als Anfang in meinem Kopf. Richtig, jetzt fällt mir ein, was ich als Bild benutzen wollte: Wenn man mit einem Fernglas das weit entfernt Liegende näher holt – oder das Nahe ganz genau anschaut… ja, was ist dann? Ich habe den Satz falsch begonnen: Um das weit entfernt Liegende näher zu holen mit Hilfe eines Fernglases (es muß ein Fernglas sein, kein Teleobjektiv, der Betrachter soll mit beiden Augen schauen und merken, wie schwierig es ist) … also, stellt es euch vor, gleich, ob es mit ,,wenn‘‘ oder ,,um‘‘ beginnt. Versucht, euch zu erinnern, wie es das erste Mal war. Bei mir hat es lange gedauert, bis ich das, was ich mit bloßen Augen winzig klein sah, nun groß und nahe sah. Am Rand des kreisrunden Ausschnitts war das Bild verschwommen, zumindest unscharf. Um langweilige Überschneidungen zu vermeiden, ließ ich mein Fernglas Sprünge machen. So sah ich ein Bild später, eines mehr seitlich oder ober- und unterhalb. Ich sah verschiedene Bilder, die Ränder verschwommen, und zwischen den einzelnen Bildern gab es Lücken, die mit bloßen Augen erkennbar in einem größeren Zusammenhang eingebettet waren. So möchte ich erzählen. Nur ist es keine räumliche Anordnung, sondern eine zeitliche (die natürlich an verschiedenen Orten sichtbar wird). Es gäbe dreimal ein ziemlich genaues bzw. differenziertes Bild. Zwei Bilder wären nur flüchtig wahrgenommen bzw. würden nur erwähnt werden. Die Lücken dazwischen, das, was den Zusammenhang eigentlich erst deutlich macht: Ich weiß nicht, ob ich es durch meine Erzählung sichtbar werden lasse, oder ob der Leser es selbst sehen soll. Und was ist mit dem Hauptteil der Geschichte – ich vermute jedenfalls, daß es der Hauptteil ist, der in der Jetztzeit spielt -? Wäre das nicht viel besser die mit bloßen Augen erkennbare Landschaft, aus der wir uns dann einzelne Aspekte näher holen? Vielleicht fange ich einfach hier an, mit der Suche nach der Freundin. So hatte ich auch evtl. anfangen wollen: Immer war sie auf der Suche nach einer Freundin. Diese Suche war erst beendet, als sie die Freundin verloren hatte – Verlust ohne vorherigen Fund.

     

    Später im Roman kehren wir auf Helgoland zurück und kehren gleichzeitig ins Mittelalter zurück, in die Zeit, als die heilige Ursula mit ihren Jungfrauen unterwegs war.

     

    Begegneten sie dem Zug der Ursula oder den Seefahrenden, die dem Zug begegnet waren? Sie kamen zu der Insel, die die Jungfrauen aus dem Meer getanzt hatten. Andere erzählten anderes, daß die Insel zur Felseninsel gewandelt wurde durch den Fluch der Ursula. Damals war sie noch nicht heilig, aber ihre Worte hatten noch Zauberkraft. Sie hatte die Insel verflucht, weil sie die Männer trug, die ihren Jungfrauen Gewalt angetan hatten. Sie mußte den Fluch aussprechen, denn noch war es für das Mysterium zu früh. Erst später, auf ihrer Rückkehr,  am heiligen Ort an dem großen Fluß, war die Zeit reif, damit das Schicksal sich vollendete.

    Ursula war mit ihren Jungfrauen unterwegs, um überall Inseln aus dem Meer zu holen, zur Erinnerung an einst, als engelgestaltige Töchter des Lichts und der Weisheit aus den Wellen des Lebens, aus dem Meer der Erde, das feste Gestein tanzend emporbrachten, das feste Land für den Fuß des Menschen. Ursula war mit ihren Jungfrauen unterwegs, um überall Inseln aus dem Meer zu holen, Vergessenes wieder zu erinnern. Überall tanzten sie Inseln des Erinnerns aus dem Meer des Vergessens, überall auf ihrem Weg, aber nur auf der kleinen, einst heiligen Insel im nördlichen Meer blieb die Erinnerung heilig. Sie hatte den Tanz wieder eingeführt, der jährlich zur Erinnerung an den Aufbruch der Ursula und ihrer Jungfrauen wieder getanzt wurde. Deshalb blieb eine Jungfrau.

    Sie hielten an der Insel, um frisches Wasser aufzufüllen, und weil das Wasser heilig war, blieben sie, denn ihr Sohn wußte noch nicht, ob er wirklich auf Erden bleiben oder wieder zu den Himmeln zurückkehren wollte. Sie dachte, es war, weil er blicklos, nicht als Mensch empfangen wurde. Woher sollte er wissen, daß er – so grußlos empfangen – willkommen war? Sie blieb, als der Sohn sich entschlossen hatte, zurückzukehren zu dem Vater in himinam. Sie wollte zum Verzeihung bitten. Die Jungfrau war froh um ihr Bleiben, so war sie nicht allein – denn die Bewohner verehrten sie fast wie eine Priesterin der alten Zeit, und die Verehrung schuf eine Welt zwischen ihr und den anderen. Sie war auch froh um die Hilfe, und sie konnten sich in ihren Pflichten des täglichen Betens ablösen. Ursula, die noch nicht die Heilige war, hatte ihr auch diesen Namen gegeben, und diese Ursula nannte sie nun ihrer Sprache entsprechend Ulla. Ursula, die noch nicht die Heilige war, hatte ihrer Jungfrau aufgetragen zu bleiben. Sie oder folgende Jungfrauen, bis der kam, der auch hier das Wort des Gottes verkündete, von dem Gott, seinem Sohn und der heilbringenden Taufe. Sie schuf ihr einen Becher aus dem harten, bunten Gestein, um heiliges Wasser zu schöpfen und ihm, der kommen würde, es zu reichen, damit alle mit dem Zeichen des Kreuzes gezeichnet würden.

  • Beitrag zur Lesung „Wenn die Liebe ruft“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Wenn die Liebe ruft

     

    Wenn die Liebe ruft…
    Wo ruft sie?
    Wann?
    Durch wessen Mund?

    Ist es die Liebe
    die niemals blühte?
    Niemals Früchte trug?

    Ist es dein Du
    immer gesucht
    niemals gefunden?

    Dein ungeborenes Kind?
    Dein unbekannter Bruder?
    Die Mutter
    die dich früh verlor
    oder du sie?

    Es ist gleich
    wer ruft
    und wo und wann –
    öffne dich dem Ruf
    und gib ihm Antwort

    21.4.2018

     

    Der Ruf
    der Liebe
    ist wie der Ruf
    des Kuckucks der
    im fernen Land
    die Frühlingsgöttin weckt
    Schnee Dunkel
    Und Kälte vergehen
    Keime dringen ans Licht

    Wenn die Knospe sich entfaltet
    die Liebe wie eine Blume erblüht
    ist vergessen
    wie alles begann

    10.5.2018

    Copyright Dr. Helga Thomas

  • Beitrag zur Lesung „Wenn die Liebe ruft“ beim BDSÄ-Kongress in Wismar 2018

     

    Wenn Amanda ruft

    Sie setzten den Hochzeitstermin auf eine Woche nach dem achtzehnten Geburtstag Amandas fest. Die Familien beeilten sich, der hübschesten der Töchter und Nichten ein unvergessliches Fest vorzubereiten. Die Freundinnen schlugen einen Abschiedsabend ohne Männer vor, mit dem der Bräutigam einverstanden war. Er tat alles für Amanda, keinen Wunsch schlug er aus.

    Die volljährigen Freundinnen begleiteten sie als notwendige Erwachsene. Der Blick eines dunkelblonden etwa dreißigjährigen Mannes traf Amanda in der ersten Kneipe. Sie sah weg.

    Die beste Freundin riss sie mit: „Auf, Amanda, auf zur nächsten Station!“

    In der zweiten Kneipe trank Amanda nur alkoholfreie Cocktails, farbenfrohe Mischungen mit Sonnenschirmchen, Orangenscheiben und Eiswürfeln. Ihr Blick traf auf den Blick des Mannes aus der Kneipe zuvor. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht schon einmal gesehen habe. Amanda erwiderte den Blick einen Augenblick zu lange.

    „Amanda“, rief die beste Freundin, „wir gehen in die nächste Kneipe!“

    Amanda entdeckt ihn sofort, den Mann, der den lustigen Damen nachläuft. Sie wechseln die Blicke. Ein Hai, der einen Fischschwarm umkreist? Die Damen freuen sich zu tanzen, und Amanda tanzt mit ihm. Bei der Damenwahl holt sie ihn zum Tanz. Danach verabschiedet sie sich von den Freundinnen, die lachend den Zeigefinger heben.

    „Lasst mich gehen“, ruft Amanda, „ich gehe allein nach Hause, ich brauche Ruhe.“

    Drei Wochen später sagte sie die Hochzeit ab und brachte, als sie achtzehn Jahre und acht Monate alt war, Tochter Mandy zur Welt. Die Großmutter Amandas half. Amanda fand eine Anstellung in einem High Class Escort Service, der sie in angesehene Firmen vermittelte. Daher wuchs Mandy  in einem wohlhabenden Haushalt auf, öffnete den Herren die Tür und führte sie in den Salon. Eine wandfüllende Kopie des Gemäldes „Triumph der Venus“ von François Boucher beherrschte den Salon.  Als sie in die Pubertät kommt, wird ihr bewusst, welches Gewerbe die Mutter ausübt.

    Mandy verliebte sich mit Siebzehn in einen überaus schüchternen jungen Mann. Sie lernte ihre Fertigkeiten kennen. Den jungen Mann entwickelte sie zum wilden Hengst und entdeckte die Wucht der eigenen Lust. Mandy erklärte der Mutter, ihn zu heiraten. Mutter Amanda bestand auf einem gemeinsamen Abendessen mit dem treuesten ihrer Stammkunden, da sie ihn zur Hochzeit eingeladen wissen möchte.

    Das Abendessen verlief harmonisch, jeder fand den anderen sympathisch. Wenn jemandem etwas auffiel, war es die gesellschaftliche Harmonie, die Seelenverwandtschaft, die aus den Ansichten von Gott und der Welt sprach. Der treueste Stammkunde Mutters meinte, die schlimmste Weltanschauung komme von denen, die nichts erlebt hätten. Verächter der Wollust erklärten sie zu Atheisten, zu Verleugnern eines Lebenssinns. Nur eine leise zugeflüsterte Bemerkung der Mutter verstand Mandy nicht: „Fällt dir nicht die Ähnlichkeit der Beiden auf?“

    Mandy hat keinen Sinn dafür, eine Ähnlichkeit zu entdecken. Sie ist völlig verstört, als zwei Tage später ein Geschäftsmann die Mutter besucht: Er ist ihr Bräutigam. Sie flieht aus dem Haus und sieht den treuesten Stammkunden in einem Auto sitzen. Er springt aus dem Wagen: „Mandy, was ist los? Du siehst arg verstört aus!“

    Mandy fällt ihm in die Arme, klagt, was sie erleben musste, und beteuert, keines Falls nach Hause zurückzukehren.

    Angesichts des Ernstes in der Stimme Mandys schlägt er ein Restaurant vor. Dort ent-schuldigt er sich zunächst, sich zurückgehalten zu haben. Mandy beruhigt sich überraschend schnell. Ihre Blicke haften auf ihm, dem Tröster. Theodor meldet Bedenken an, als sie wünscht, in seiner Wohnung zu übernachten.

    Vielleicht hätte sie es nicht getan, wenn sie gewusst hätte, was sie alles erfahren würde. Mandy hört nicht, was der Verstand, was Theodor meint. Sie erinnert sich und erhält die Antwort auf die Frage der Mutter: Theodor ist der Vater ihres Bräutigams. Der Vater Mandys kam wenige Tage nach der Liebesnacht mit Amanda bei einem Autounfall ums Leben. Der Vater und Theodor waren beste Freunde.

    Mandy konnte nicht einschlafen. Sie stand um Mitternacht auf, schaute auf die leere Straße hinunter. Durchs Schlüsselloch fiel Licht vom Korridor herein. Mandy öffnet die Tür. Am Fenster steht Theodor, der nicht schlafen kann. Seine Gestalt zieht Mandy an, die Blick treffen tief.

    Zu spät sagt er: „Verliebe dich nicht!“ In seinem Bett finden sie endlich Ruhe.

    Mandy kehrte nicht zur Mutter zurück. Sie setzte ihr Psychologie-Studium fort, und Theodor bat seinen Sohn um Verständnis, der aber dem Vater den Rücken zukehrt. Der Sohn hatte Mandys Mutter besucht, um etwas von seiner Mutter zu erfahren. Sie war Amandas beste Freundin und nach der Entbindung verblutet.

    Copyright Dr. Harald Rauchfuß

  •  Beitrag für den BDSÄ-Kongress in Wismar zum Thema „Inseln“ am 09. Mai 2017

    Unsere Inseln

    Vor vielen Jahren habe ich gelesen, ein Paar brauche zum Gelingen der Partnerschaft drei Inseln: Eine Insel für den Mann, eine Insel für die Frau und eine Insel für beide zusammen.

    Unsere Insel heißt Freitag. Und das kam so.

    Am Anfang unserer Partnerschaft, als ich noch Geschäftsführer zweier GmbHs war, sollte ich manchmal einen Geschäftstermin am Abend wahrnehmen. Birgit schlug deshalb vor, dass wir uns auf einen Abend in der Woche einigen, der uns gehört und an dem deshalb keine beruflichen Termine vereinbart werden. Die Idee gefiel mir sehr gut.

    Da ich Birgit offensichtlich noch nicht gut genug kannte, schlug ich den Montag vor. An ihr verwundert-ärgerliches Gesicht kann ich mich gut erinnern: „Wie kannst du den schlechtesten Tag der Woche dafür auswählen?! Der beste Tag ist der Freitag. Denn da ist die Arbeitswoche vorbei, und ich kann entspannen!“

    Seither ist der Freitagabend für Birgit und mich für Termine ohne Birgit tabu. An diesen Abenden bleiben wir zuhause oder gehen in unser kleines Lieblingslokal, wo wir uns bei einem guten Essen in Ruhe unterhalten können. So manches aus der Woche soll besprochen, erzählt, beschlossen werden. Manchmal verbringen wir diesen Abend auch mit Freunden. Und wir genießen die Gemeinsamkeit und Vertrautheit.

    Aber ich muss gestehen, dass ich seit meiner Tätigkeit in der Notfallpraxis auch mit Birgits Einverständnis immer wieder Freitags-Nachtdienste angenommen habe. Das war nicht gut, und wir haben bald gemerkt, dass wir zu unserer ursprünglichen Vereinbarung zurückkehren sollten.

    Jetzt meide ich diese Dienste und gebe sie an interessierte Kollegen ab oder tausche sie gegen einen anderen Tag.

    Zum Thema Insel fällt mir auch ein, dass wir mehrfach auf Inseln Urlaub gemacht haben, Zypern und Madeira sind nur zwei Beispiele. Inzwischen haben wir UNSERE Insel gefunden. Auf Sylt fühlen wir uns am wohlsten. Dort kennen wir ein sehr gepflegtes kleines Appartementhotel an der Südspitze im letzten Haus in der letzten Straße mit unverbaubarem Blick auf die Heidelandschaft und aufs Meer. In wenigen Minuten sind wir auf der kleinen Einkaufstraße, wo der Bäcker die besten Frühstücksbrötchen und der EDEKA gute Weine und frische Nahrungsmittel anbietet. Und nach Westen, Süden und Osten sind wir nach fünf Minuten am Strand, wo wir stundenlang in der Brise spazieren gehen können. Die Landschaft, die Pflanzen, das Wetter und Birgit sind unerschöpfliche Fotomotive. Wir fühlen uns in einer wohltuenden Ruhe eingebettet. Wenn wir abends auf der Terrasse bei einem Glas Wein sitzen, die Sterne funkeln sehen und die Grillen zirpen hören, wenn wir am Horizont die Lichter eines vorbeifahrenden Schiffes beobachten, dann ist das unser herrlichstes Fern-Sehprogramm.

    Und das Allerschönste: Für uns ist in Sylt jeder Tag Freitag.

    Als wir zuletzt auf Sylt waren, schrieb ich meinem Freund Jürgen, wir seien auf DER Insel. Lakonisch wie wir ihn kennen, schrieb er knapp zurück: „DIE Insel heißt Rügen.“

    Da ich noch nie dort war und Jürgen vertraue, möchte ich einmal mit Birgit auf Rügen Ferien machen. Aber nur wenn dort auch jeden Tag Freitag ist.

    Copyright Dietrich Weller