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Im Rom der Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz
Stand 06.05.2019
In den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ist Rom voller Katzen und „eine brüllende, ratternde Verkehrshölle, in der gehetzte und mürrische Leute ihren mühsamen Tag bestehen“ (In Rom zu leben, Engelsbrücke, 11).
Heute gibt es keine Katzen mehr in Rom, wenigstens keine „öffentlichen“. Früher wurden sie in manchen Winkeln von alten Weiblein gefüttert. Man kann Betrachtungen darüber anstellen, wie sich die Römer der Katzen entledigt haben; ich weiß es nicht, denke mir aber, dass diese Tiere ihr Leben z. B. in den Laboratorien der pharmazeutischen Industrie gelassen haben – aus heutiger Sicht eine abscheuliche Vorstellung. Angeregt durch Picassos Gemälde <Katze und Vogel> skizzierte Marie Luise Kaschnitz Betrachtungen zu diesem Thema in ihrem Tagebuch[1] und verfasste einen Essay (Die Katze, Engelsbrücke 66) und ein Gedicht (Picasso in Rom[2]). Das von dem Bild ausgehende Unheimliche und Fürchterliche nimmt einen breiten Raum ein, vor allem weil zu der „grinsenden Verschlagenheit und Bosheit“ des Tieres „noch die Heimtücke des Menschen“ komme, der im Gegensatz zur unbewusst handelnden Kreatur für seine mörderischen Taten selbst verantwortlich ist.
„Dachüber[3]
Schleicht die dämonische
Katze. Zerrissenen
Vogel im Zahn.“
Mit Rom hat das Gedicht wenig zu tun. Die Überschrift bezieht sich auf die große Picasso-Ausstellung in der Galleria d’Arte Moderna im Jahr 1953[4].
Auch der Durchgangsverkehr ist jetzt aus der Innenstadt verbannt. Personenwagen benötigen eine Sonder-Erlaubnis, und die öffentlichen Verkehrsmittel sind natürlich ständig überfüllt, aber von einer „brüllenden Verkehrshölle“ kann nicht mehr die Rede sein. Selbst langsame Fußgänger sind imstande eine Straße unangefochten zu überqueren.
Die Kaschnitz, Gattin des österreichischen Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg, der von 1953-1956 das Amt des 1. Direktors im Deutschen Archäologischen Institut bekleidete, lebte ab 1925 immer wieder in Rom, zunächst in der stillen „Via Sardegna, nahe der ebenfalls noch stillen Via Veneto“ (Orte, 51 f.). Zu dieser Zeit war Walter Amelung „Erster Sekretar“, wie man damals sagte, des Istituto Archeologico Germanico ROMA. Er „ist einmal Schauspieler gewesen, hat eine sonore Stimme und ein gewaltiges, mitreißendes Lachen … nennt seine Mitarbeiter, die alle schon in den Dreißigern sind ,… Ragazzi und setzt ihnen, wenn sie einmal Vorträge halten dürfen ,.. Schokolade und Kuchen vor. … Ein strenger, todernster Schweizer ist Bibliothekar, einen unschuldigen Kuss hat er einmal mit den Worten <man bittet, in der Bibliothek jedes unnötige Geräusch zu unterlassen> gerügt.“
„Die Via Treviso ist in den dreißiger Jahren eine hochmoderne Straße, siebenstöckige Mietshäuser mit Zentralheizung und Lift, da bewohnen wir bei einem Bankdirektor, der vor kurzem Konkurs gemacht hat, zwei Zimmer. … gleich hinter den neuen Häusern beginnt die Campagna …Viel später werde ich erfahren, dass der Bankdirektor einmal einen Angestellten mit dem Namen James Joyce gehabt hat.“(Orte, 67 f.)
Im Oktober 1937 sieht die Kaschnitz im Palazzo delle Esposizioni eine Ausstellung: Mostra Augustea della Romanità, in der die „vermeintlich spirituelle … Kontinuität“ zwischen der Herrschaft der römischen Kaiser und derjenigen Mussolinis in Szene gesetzt ist. Die heutige Via dei Fori Imperiali, anfangs Via dell‘ Impero, zu deren Anlage der Duce das Ausgrabungsgebiet der Kaiserfora rücksichtslos hatte durchschneiden lassen[5], ist ein eindrucksvolles Zeichen dieser Zeit.
Nachsommer auf dem Palatin (Engelsbrücke 57 f.)
„Zu Füßen der Treppe am Westabhang das Heiligtum der Großen Mutter…Ein Teppich von Steineichelsaat um den Altar der Magna Dea, um die Bruchstücke von Stucksäulen, um die sitzende Frauenstatue, die den von der düsteren Größe des Ortes erweckten Vorstellungen der Kybele nicht entspricht. Noch weiter dem Abhang zu frührömische Dörfer, Pfahllöcher viereckiger und eiförmiger Hütten, die sich im neunten Jahrhundert vor Christus die neuen Ansiedler bauten, schön in der Sonne und den aus dem Osten Eingewanderten gewiss sehr angenehm. Später wurde dort alles enteignet, kaiserliche Zone, für Paläste und öffentliche Bauten bestimmt. Des Augustus Haus, mit schäbigen Kämmerchen und Innenhöfchen, ist noch bescheiden, fast kleinbürgerlich, gemessen an dem Goldenen Haus des Nero oder an den Riesenbauten der flavischen Zeit.“
Zimmer der Livia (Engelsbrücke 69 f.)
„Der Ort ihrer ländlichen Rast [gemeint ist die Villa der Livia in Prima Porta] blieb ihr lieb…Dort wurde ihr später die Statue ihres Mannes aufgestellt, Augustus [<von Prima Porta>] mit der Siegergebärde, mit dem Panzer, auf dem zurückgegebene Feldzeichen und eroberte Provinzen und, als Sinnbild des Imperiums, Himmel und Erde dargestellt waren.“
Schlange des Äskulap (Engelsbrücke 71 f.)
„Wie die Sage erzählt, war es die Schlange des Heilgottes Aesculap, die, von Epidaurus übers Meer geholt und tiberaufwärts gebracht, an dieser Stelle das Schiff verließ und sich auf der Insel heimisch machte. Aber wer sich heute über die Brüstung beugt, sieht im Wasser keine heilige Schlange, sondern faules Stroh, verdorbene Früchte…Seit den Zeiten des Tempelschlafes ist der Ort Heilstätte geblieben; zu Bestrahlungen und Behandlungen wandern die Römer über die beiden kurzen Brücken ins uralte Hospital. Dort geht es … sauber zu, da wird der alten Heilüberlieferung noch immer Genüge getan…“
Torre Pignatara (Engelsbrücke 77 f.)
„… zu beiden Seiten der Via Casilina … die Torre Pignatara ist ein Grab, erbaut vom Kaiser Constantin am Anfang des 4. Jahrhunderts nach Christus und wohl zunächst zu seiner eigenen Ruhestätte und erst später zu der seiner Mutter bestimmt. Der große Porphyrsarkophag, den man an dieser Stelle gefunden hat, ist der der Kaiserin Helena…Dass der Rundbau aus constantinischer Zeit stammt, steht außer Zweifel … Die Kuppel ist eingestürzt, auch ein Teil der ehemals mit Marmor verkleideten Ziegelmauern … der Sarkophag der Kaiserin Helena steht im Museum im Vatikan. Die Torre aber, dieses letzte Zeugnis einer großen Vergangenheit, gibt dem Ort eine melancholische Würde, der Geruch des frischen Grases und der schwarzen Erde … erwecken die Empfindung eines zeitlosen römischen Lebens und einer, bei aller Armut und Verwahrlosung, unverwüstlichen Kraft.“
1961 – da ist die Kaschnitz längst verwitwet – hat sie einen so guten Namen als Schriftstellerin, dass sie eine Einladung als Ehrengast der Deutschen Akademie in die Villa Massimo in Rom erhält. Die meisten anderen Stipendiaten sind Maler und Bildhauer „… da saß ich unter Glyzinien in der Sonne und machte römische Gedichte“. Eine Tagebuchnotiz: „Cocktail Bibliothek … 2 Staffeleien, moderner Maltisch voller Farbkleckse. Terrasse … Steineichenallee. Zypressen – umrandet von lärmender Großstadt…“ wird zur Folie für das Gedicht „Villa Massimo“[6]. „… Italienisch konnte kaum einer“ von den Gästen (sie natürlich ausgenommen), „lernte es auch nicht in den neun Monaten … die Worte <quanto costa> und <troppo caro> waren „ihre einzigen Versuche“ (Orte 104 f.).
„Einen gewissen römischen Weg“ ist sie oft gegangen, „die schmale Via Vittoria … an der Piazza di Spagna hin … immer auf den …Pincio zu … vom Brunnen vor der Villa Medici weht das Wasser und benetzt mein Gesicht … ist man schon hoch über … der Innenstadt … schenkt der Kuppel von Sankt Peter einen milde anerkennenden Blick.
… Dann … verliere ich mich in den hinteren Gründen … wo ich mein Schreibheft aufschlagen kann, und einmal wird über mir die Mimose, einmal der Magnolienbaum und einmal der Judasbaum blühen.“ (Orte 132 f.)
„Das ewige Rom wollte der Professor uns … nahebringen … zeigte … das Reiterstandbild des Marc Aurel, nicht auf dem Kapitol, sondern auf dem noch wüsten Gelände von San Giovanni …“ Der Reiter war „für den Stifter der Staatskirche, … Kaiser Konstantin“, gehalten worden. Erst 1941erhielt Marc Aurel seinen Platz auf dem nach Entwürfen von Michelangelo hergestellten Pflaster mit dem „prachtvollen Zirkelstern“ (Orte 232).
Bekanntlich steht das restaurierte Original heute gut geschützt im Kapitolinischen Museum; den Platz schmückt eine Kopie.
Mythos und Politik (Engelsbrücke, 30 f.)
„… In der stadtrömischen Plastik riecht alles nach Staatsauftrag und Propaganda, das allgemein Menschliche ist kein Stoff mehr, die Phantasie ist tot. Mit den republikanischen Togastatuen fängt es an, mürrischen, glatzköpfigen Beamten, am Forum aufgestellt, bis ihrer zu viele wurden und man die jeweils ältesten in den Kalkofen warf .. .Die historischen Reliefs sind der reinste Ausdruck des Wirklichkeitsfanatismus, neben dem es nur noch etwas Aberglauben [und] Zeichendeutung … gab. … Was … sich die berühmten Säulen hinaufwindet, sind immer wieder Soldaten, vor der Schlacht, nach der Schlacht, am Haarschopf gezerrte Gefangene und der Kaiser, der anfeuert oder belohnt. … so etwas wie die sterbende Niobide oder andere vom Schicksal getroffene Zivilpersonen gibt es nicht. Das Bedürfnis nach solchen Dingen wurde durch endlose, oft serienmäßige Nachbildung griechischer Originale befriedigt … eine in Stein gehauene Gruppe von Juristen ist eine dürre Gesellschaft, und die auf den Säulen verewigten Maßnahmen zur Verteidigung des Reiches sprechen weniger deutlich für die gute Sache als für die Gewalt.“
„Weihnachtsmarkt auf der Piazza Navona unter einem goldrauchigen Sciroccohimmel, das Pflaster vom letzten Regenguss noch spiegelnd nass…Wir standen ein wenig ratlos herum und betrachteten bald die in Goldpapier gewickelten und zum Anhängen an den Christbaum bestimmten Kleinrevolver, bald die Niklasse, die auf blanken aufziehbaren Motorrädchen thronten … Tannenbäume lehnten am Marmorbrunnen, hager und melancholisch, wie schlecht eingebürgerte Fremdlinge, die sich nach dem Geruch von Lebkuchenherzen und Springerles [für die Unkundigen: ein knochenhartes Anisgebäck aus hölzernen Modeln geformt] sehnen.“ (Engelsbrücke 84 f.)
Colosseum (Engelsbrücke 176)
… „Der großen Ruine aus der flavischen Epoche noch solche mitreißende Kraft zuzubilligen, fällt heute schwer…Die Übergröße als solche beeindruckt nicht mehr, und was sich dort drin begab an Tier- und Menschenschinderei, wirkt abstoßend, alle römischen Amphitheater haben diesen Geruch von Schweiß, Blut und Massenerregung, daran“ kann auch „das ahnungslose Gebaren der heutigen Jünglinge und Mädchen“ nicht viel ändern, „die in den Mondscheinnächten ihre Kofferradios dort spielen lassen und tanzen, irgendwo zwischen Himmel und Erde auf dem Gebirge von Stein.“
Das Recht der Massen auf die Cappella Sistina (Engelsbrücke 205 f.)
„Über … die Unmöglichkeit vor irgendeinem der großen Kunstwerke in Rom noch einen Augenblick still zu verweilen, erhebt sich oft ein großes Klagegespräch, das am Ende fast immer in einen Streit ausartet. Die Frage ist, was hat der durch sein Arbeitsleben an einer rechten Vorbildung verhinderte Reisende aus Amerika, Deutschland, Holland usw. von solchem Durchgetriebenwerden, hat er überhaupt etwas anderes davon als Kopfweh und Minderwertigkeitsgefühle, Beschämung und Zorn. Man sollte, schlagen die Unerbittlichen vor, die Massen vom Besuch der römischen Museen ausschließen, einen Befähigungsnachweis verlangen und damit für die Studierenden und wirklich Genießenden Raum und Stille schaffen. Eines Wortes von L. C. [Ludwig Curtius] wird gedacht, man sieht nur, was man weiß, also was man schon im Geiste kennt und sucht und was man mit anderen Dingen in Beziehung setzen kann.“
„Geht nicht in die Nähe des Obelisken
Er stürzt
Sprünge durchlaufen ihn
Risse hieroglyphisch
Seine Zeit ist gekommen.“ (Römischer Sommer 3, Strophe 3[7])Welchen von den vielen Obelisken in dieser Stadt der Obelisken meint die Autorin? Hat sie überhaupt einen bestimmten Vertreter vor Augen? Ihr Essay „Der Obelisk“ (Engelsbrücke, 213 f.) handelt von einem Exemplar, das von „Augustus aus Ägypten hergeschleppt … aus Heliopolis stammend … 1586 … aus dem nahgelegenen Circus auf den Platz vor St. Peter gebracht und dort unter großen Mühen aufgerichtet“ wurde.
Nicht immer ist die Lyrik der Kaschnitz so gegenständlich wie in der Strophe vom Obelisken, der doch einige (fast) vollständige Sätze enthält. Oft ballen sich eigenwillige Kontraktionen und Verknappungen, wenn die Verfasserin etwa in dem Gedicht Picasso in Rom „die zuckergussweiße Säulenhalle“ beschwört[8]; oder man erinnert sich, wenn die „Kinder strotzen im bleichen gierigen Fettfleisch“, an die Erzählung „Das dicke Kind“, in deren unangenehmer Protagonistin die Autorin sich selbst erkennt[9]. Nur dass die Kaschnitz keineswegs dick war, wenigstens nicht in den sechziger Jahren, als ich sie in Marburg sah und hörte, wo sie während einer Autoren-Lesung ihre Texte eindrucksvoll interpretierte.
Ausgewählte, abgekürzt zitierte Literatur:
Dagmar von Gersdorff, Marie Luise Kaschnitz. Eine Biographie (Frankfurt am Main 21995)
Marie Luise Kaschnitz, Gesammelte Werke, Fünfter Band. Die Gedichte (Insel Frankfurt am Main 1985)
Marie Luise Kaschnitz, Orte (Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992)
Marie Luise Kaschnitz, Engelsbrücke. Römische Betrachtungen (dtv München 51983)
Marie Luise Kaschnitz, Lange Schatten (dt—b München 71971)
Marie Luise Kaschnitz, Beschreibung eines Dorfes (Suhrkamp Frankfurt am Main 1980)
Marie Luise Kaschnitz, Griechische Mythen (dtv München 61984)
Marie Luise Kaschnitz, Eisbären (Insel, Frankfurt am Main 1972)
Katharina Weil, „Meine Adern Porphyr“. Antikenrezeption im Werk von Marie Luise Kaschnitz (Heidelberg 2017)
[1] Weil 2017, 630 f.
[2] Kaschnitz, Die Gedichte 283 f.
[3] Ein „Neologismus“, Weil 2017, 640.
[4] Weil 2017, 625 mit Anm. 3.
[5] Weil 2017, 309-311.
[6] Weil 2017, 643.
[7] Kaschnitz, Die Gedichte S. 422 f.
[8] Oder auch: „Wölfinnenrom“, in: Römischer Sommer 1, S. 422, Gesammelte Werke 5 Die Gedichte.
[9] In: „Lange Schatten“, 106-112; sehr instruktiv zu dieser autobiographischen Erzählung: Dagmar von Gersdorff 1995, 22-24.
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Zuversicht
(5.4.2019)
Die verträumten Knospen
die lachenden Blüten
die tanzenden Triebe
die verspielten Frühlingsblätter
umarme ich so
wie beim Wiedersehen alter Freunde
nach längerer Abwesenheit
Keine einzige Sekunde
mitten in der klirrenden Kälte
zweifelte ich daran
von den kahlen Bäumen
wieder reichlich beschenkt zu werden
Eine gleichartige Zuversicht
ist mein Heilmittel und Herzenstrost
auf der vielgestaltigen Lebensreise֎֎֎
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In the small town of Wushu, there lives a very rich merchant named Xíguàn. Once, he demands an old Zen Master to teach his son how to avoid bad habits. The Master takes the young man to walk in the neighboring wood. Suddenly, he halts at one place and asks the young man to clear a small plant, that grew near the place they were standing on.
The boy snaps with his thumb and forefinger easily the plant off the ground. By further walking, the Master asks the boy to bring him a bit bigger plant. The young man retreats a little and pulls it off, too.
„And now, let try this one to rip out,“ says the teacher, pointing to a bush. The young man had to use all his power to break it down, but it was impossible.
„Finally try this,“ says the Master, pointing at a thick bamboo plant. The young man encloses the tree with his hands, and tried to rip it out.
„Well this is impossible,“ said he breathlessly.
And the teacher concluded: “The bad habits are in the begin, like the small plants, very easy to break them. As this huge bamboo was impossible to tear out with bare hands, equally the bad habits cannot be unlearned. In this way the bad habits lead our future behavior, dominate the native temperance and influence our way of life”
Dr. med. André Simon © Copyright
André Simon, übersetzt von Dietrich Weller.
Die Angewohnheiten
In der kleinen Stadt Wushu lebte ein sehr reicher Händler mit Namen Xiguan.
Eines Tages verlangte er von dem alten Zen-Meister, seinem Sohn beizubringen, wie man schlechte Angewohnheiten vermeidet.
Der Meister nahm den jungen Mann mit auf einen Spaziergang in den benachbarten Wald mit.
Plötzlich hält er an einem Platz an und bittet den jungen Mann, eine kleine Pflanze wegzuräumen, die in der Nähe des Platzes wuchs, auf dem sie standen.
Der Junge schnippt mit Daumen und Zeigefinger die Pflanze lässig vom Boden weg.
Auf dem weiteren Weg bittet der Meister den Jungen, ihm eine etwas größerer Pflanze zu bringen .Der junge Mann tritt ein wenig zurück und reißt sie auch weg.
„Und jetzt lass uns versuchen, diese auszureißen“, sagt der Lehrer, indem er auf einen Busch zeigte. Der junge Mann musste seine ganze Kraft aufwenden, um ihn niederzubrechen, aber es war unmöglich.
„Und jetzt zum Schluss versuch es mit diesem“, sagte der Meister und zeigte auf eine dicken Bambusstamm.
Der junge Mann umschloss den Baum mit seinen Händen und versuchte, ihn auszureißen.
„Also, das ist unmöglich“, sagte er atemlos.
Und der Lehrer schloss daraus: „Die schlechten Angewohnheiten stehen am Anfang, wie die kleinen Pflanzen, es ist einfach, sie zu brechen. Wie dieser riesige Bambus mit bloßen Händen unmöglich auszureißen war, können die schlechten Angewohnheiten nicht verlernt werden. So führen die schlechten Angewohnheiten zu unserem zukünftigen Verhalten, beherrschen die angeborene Mäßigung und beeinflussen unsere Lebensweise.
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Hall. George Hall. Protagonist in Mark Haddons Roman „Der wunde Punkt“, Oberhaupt einer typisch amerikanischen Familie. Ehefrau, zwei erwachsene Kinder. Sohn homosexuell, Tochter geschieden. Jeder hat seinen wunden Punkt. Bei George war
es die Stelle gewesen, die ihn umgehauen hatte. Er hatte seine Hose ausgezogen, als er ein kleines Oval hochgewölbter Haut sah, das dunkler als die Haut drum herum war und leicht schuppte.
So sieht er aus, der schwarze Hautkrebs. Auf den ersten Blick ein Mal wie andere Male auch, beim zweiten Blick die Ahnung, dass dieses Mal bösartig sein könnte, ein schwarzes Schaf.
Der Magen drehte sich ihm um.
Dieser Verdacht wirft ihn fast um, Hoffnungslosigkeit und schreckliche Vorstellungen vom nahen Ende machen sich breit.
Er würde sich umbringen müssen.
Aber wie? Etwa wie Hemingway, der sich das Hirn in den Orangensaft geballert hatte, wie das Charles Bukowski auf seine brutal-ehrliche Weise formuliert hatte? Oder wie Sylvia Plath, den Kopf im Backofen, den Gashahn geöffnet? Doch warum sich umbringen, der Tod kommt doch heutzutage sanft, begleitet von schmerzstillenden Medikamenten, nicht wie bei Rilke und Benn mit heillosen Schmerzen.
Ist Krebs nicht eine Erkrankung wie jede andere auch, wie Diabetes oder Bluthochdruck? Oder wie Tuberkulose, an der so viele Berühmtheiten vergangener Jahrhunderte gestorben sind? Diese ästhetisierende Krankheit, die Thomas Mann in seinem Zauberberg so romantisiert hat. Oder hat Susan Sontag in ihrem klugen Essay über Krankheit als Metapher Recht, dass Krebs eine andere metaphysische Dimension hat als Tuberkulose, Syphilis und Lepra? Krebs nicht als Krankheit, sondern als dämonischer Feind, als anti-soziales, nicht zu akzeptierendes Ereignis, das mit allen Mitteln vom Patienten selbst zu bekämpfen ist, gemeinsam mit einem Heer von Onkologen, die sich dem Kreuzzug gegen den Krebs verschrieben haben?
Dann ging er nach oben und klebte ein großes Pflaster über das Wundmal an der Hüfte, damit er es nicht mehr zu sehen brauchte. Das Aus-dem-Auge-aus-dem Sinn funktioniert meistens nicht, und schon gar nicht, wenn es sich um Krebs handelt.
Ein kleines Problem ergab sich, als George seine Arbeitskleidung auszog. Er wollte gerade Hemd und Hose ausziehen, als ihm wieder einfiel, was sich darunter verbarg.
Das Mal, durch das Pflaster dem Blick entzogen, macht sich auf andere Art und Weise bemerkbar.
Sie waren gerade beim Brombeerstreuselkuchen, da fing die Stelle an zu jucken wie ein Fußpilz. Das Wort „Tumor“ drängte sich in seinen Kopf, und es war ein hässliches Wort, das er nicht hören wollte, aber auch nicht loswerden konnte.
Die von der Krebsdiagnose überreizten Sinne spielen verrückt, die fatale Diagnose geht nicht mehr aus dem Kopf.
Während er am Tisch saß, konnte er spüren, wie er wuchs, … genau wie der Schimmel auf der Brotkante.
Wie zum Hohn kommt George auch noch an Plakaten vorbei, auf denen die sogenannte gesunde Bräune in direkte Verbindung mit Hautkrebs gebracht wird! Die Zeiten, in denen ein Hemingway völlig hemmungslos tief gebräunte Haut und von der Sonne gebleichte Haare fetischisieren konnte, sind längst vorbei. Für George bedeuten Bräune nur mehr Hautkrebs, Siechtum und Gedanken an den drohenden Tod.
Er würde umrundet von Medizinstudenten und Gastprofessoren der Dermatologie an Krebs sterben.
Doch halt: Die Diagnose ist ja nicht gesichert. Handelt es sich wirklich um Krebs oder nicht doch um etwas so Harmloses wie ein Ekzem? Aber selbst wenn es sich um Krebs handelte – wäre das so schlimm, schließlich muss doch jeder sterben?
Die Vorstellung, wirklich Krebs zu haben, erschien ihm allmählich fast wie eine Erleichterung.
Langsam nimmt die Idee Gestalt an, den oberflächlichen Hautkrebs durch einen schnellen Schnitt selbst zu eliminieren. Es wird zwar bluten, aber bestimmt nicht allzu sehr. Es gibt blutigere Eingriffe, etwa die Selbstkastration der Skopzen, ausgeführt, um eine höhere Stufe des Daseins zu erreichen. Oder um sich von der Fleischeslust zu befreien, wie der junge Mann in Hemingways Erzählung „Gott hab euch selig, ihr Herren“, oder der „Hofmeister“ in der Komödie von J. M. R. Lenz?
Er nahm die Schere in die rechte Hand und fuhr auf der Suche nach dem wunden Punkt mit den Fingern der linken Hand über seine Hüfte.
George täuscht sich über das Ausmaß der Blutung.
Eine solch große Menge Blut hatte er nicht erwartet. … Es war dicker und dunkler, als er gedacht hatte, fast ölig und erstaunlich warm.
Als Laie kann George nicht wissen, dass man schon einige Liter Blut verlieren muss, bevor es bedrohlich wird, eine derartige Schnittwunde reicht da nicht.
Die Badewanne sah aus, als hätte man darin ein Schwein abgestochen.
George landet im Krankenhaus. Aus Scham über die stümperhafte Selbstbehandlung erfindet er eine Verletzung, hervorgerufen durch einen unsachgemäß gehandhabten Meisel. Doch Lügen haben bekanntlich kurze Beine, die Verwandtschaft findet schnell die Wahrheit heraus.
Er wollte sich den Tumor offensichtlich rausschneiden.
Der Tumor ist zwar weg, nicht aber die Todesfurcht, die untrennbar mit dem Schwarzen Krebs verbunden ist, diesem „Schwarzen Tod“ der Neuzeit, der heutzutage angeblich Zigtausende jedes Jahr tötet, so wie im Mittelalter die Pest, von der die Menschen reihenweise dahingerafft wurden. Nicht nur Laien, auch viele Ärzte und selbst Hautärzte sind der anachronistischen Überzeugung, dass der Schwarze Krebs ein Todesurteil ist, obwohl wir doch seit mindestens zwei Jahrzehnten wissen, dass 9 von 10 Betroffenen überleben. Da verwundert es nicht, dass auch George sich fürchtet.
Ich habe Angst, Jamie. Solche Angst. Vor dem Sterben. Vor dem Krebs. Eigentlich fast ständig. Viele Ärzte taugen wirklich gar nichts. Man braucht nur drei Jahre mit Medizinstudenten zu verbringen, um den Glauben an diesen Berufsstand ein für alle Mal zu verlieren.
Auch George projiziert seine Ängste auf die Ärzte, von denen er annimmt, dass diese ihr Handwerk nicht verstehen oder zu wenig empathisch sind. Wo gibt es noch Ärzte, die wie Bulgakow, tief im Innern eines rückständigen Landes, in einem Jahr Tausende von Patienten behandeln, bis hin zur Selbstaufgabe und um den Preis der Morphiumsucht? George tröstet sich mit dem Wissen, dass alles Leben mit dem Tod endet, allen ärztlichen Bemühungen zum Trotz.
Was sollte denn eigentlich so schlimm am Tod sein? Früher oder später musste jeder dran glauben. Es war Teil des Lebens. Als schliefe man ein.
Schmerzen, für viele Menschen ein Grund, sich vor dem Krebstod zu fürchten, spielen in Georges Überlegungen keine Rolle. Er weiß, dass die moderne Medizin nicht nur Krebs, sondern auch Schmerzen mit allen Mitteln bekämpft. Es ist nicht wie bei Rilke, der in einem Gedicht den Herrn darum bittet, jedem seinen eignen Tod zu geben, ein Sterben, das aus jenem Leben geht, darin Liebe, Sinn und Not waren. Rilke hat seine eigene Not, seine furchtbaren Schmerzen, bewusst bis zum Ende durchlitten.
Haddons George hat seinen Krebstod nicht so ganz akzeptiert, immer wieder tröstet er sich mit dem Gedanken, an einer harmlosen Entzündung zu leiden.
Er litt an einem Ekzem. Jetzt konnte er das einsehen.
Also eine Entzündung, die vor der Zeit des aufgeklärten Patienten und des shared decision making übliche, verharmlosende Diagnose selbst in fortgeschrittenen Stadien der Krebskrankheit. Der Arzt damals als notorischer Überbringer guter Nachrichten? Wie im Fall von Theodor Storm, dessen Arzt die Diagnose Magenkrebs auf Wunsch des Patienten korrigierte. Doch ob mit oder ohne ehrliche Information des Patienten: die meisten leben vom Prinzip Hoffnung, von der Vorstellung, zu denen zu gehören, die ihren Krebs überleben. Für manche Patienten mit fortgeschrittenem Schwarzen Krebs ist diese Vorstellung heute kein Wunschdenken mehr. Als Haddon seine Geschichte schrieb, war noch nicht abzusehen, dass die fulminanten Fortschritte in der Therapie des Schwarzen Krebses dieses Wunschdenken langsam Realität werden lassen. Haddon lässt, unabhängig vom medizinischen Fortschritt, Georges Schicksal offen, der davon träumen kann, dass er seinem Krebs nicht vor der Zeit zum Opfer fallen wird.
Mark Haddon: Der wunde Punkt. Heyne Verlag, München 2006 [Zitate kursiv]
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Wie viele Freundinnen habe ich schon verloren, auf die eine oder andere Weise. Ich gehe ihren Spuren nach.
B., die Schwierige
Mit dem Aufsätzchen „Spaziergang mit schweren Folgen“ habe ich ihr schon ein kleines, wie ich finde durchaus positives, Denkmal zu Lebzeiten gesetzt (W. Wamser-Krasznai, Mäander, Filderstadt 2018, 39 f.). Bald darauf wurde unsere Beziehung wirklich schwierig. Da ist ihre Sprechweise mit einer Menge höchst überflüssiger Füllwörter, die sie selbst gar nicht als solche registriert wie „und-und-und“, „wie gesagt“ (wenn sie es noch gar nicht gesagt hat), „und so weiter und so fort“, „pi pa po“, oder mit Phrasen wie „vom Feinsten“. Wenn man das einmal gemerkt hat, kann man es kaum noch ertragen.
Dass wir in weltanschaulicher Hinsicht nicht übereinstimmen, fand ich weniger schlimm. Die Beschäftigung mit Politik überlasse ich weitgehend meinem sehr informierten Mann, mit dem sie deshalb ebenfalls schon mehrfach zusammengestoßen ist. Eine wirkliche Last sind mir ihre pessimistische Weltsicht, ihre depressive Gemütslage und die negative Stimmung, mit der sie in aller Regel von ihren vielen, vorher geradezu hektisch betriebenen Fernreisen zurückkommt.
An das Thema unseres letzten, entscheidenden Streitgesprächs kann ich mich kaum erinnern, es war etwas Banales und gipfelte in dem gegenseitigen Vorwurf „Du lässt mich ja nie ausreden“. Nun muss ich zugeben: es kann mir schon passieren, dass ich jemanden nicht ausreden lasse, in dem Gefühl sonst selbst nicht mehr zu Wort zu kommen. Wir saßen zu zweit in einer Kneipe, einem Familienbetrieb – alle sind meine ehemaligen Patienten – wo die immer lauter, am Ende fast schreiend ausgetragene Debatte coram publico, aber glücklicherweise ohne weitere Gäste, stattfand.
Die Situation war etwa seit einem Jahr eskaliert. Es hatte sich eingespielt, dass B. bei uns nächtigte und ihren Wagen solange bei uns einstellte, während sie mit dem Zug weiter zum Flughafen und zu ihren Fahrten in die Welt aufbrach. Wir hatten ihr einen Hausschlüssel gegeben. Im Jahr 2018 nahm sie die Möglichkeit bereits siebenmal in Anspruch, revanchierte sich meist mit einer Einladung zum Abendessen oder mit einem Mitbringsel. Wenn mir auch unsere zunehmend aggressiven Gespräche langsam zu viel wurden, bekam ich doch kurz darauf immer Mitleid und ein schlechtes Gewissen, weil ich zwei Beine habe und sie nur eines. Deshalb meinte ich, ihr trotz allem etwas Gutes tun zu müssen. Am Morgen nach dem dramatischen Abend kam von ihr so etwas wie eine halbe Entschuldigung, wir gingen aber nicht mehr darauf ein und wünschten ihr nur gute Reise.
Inzwischen entschloss ich mich, diese Sache im Hinblick auf meine Seelenruhe zu beenden. Das Dumme war, dass ich bei ihrer Rückkehr nicht da sein würde, und auch mein Mann wollte sie lieber nicht treffen. Ich schrieb ihr also einen „Scheidebrief“, der mir ganz gelungen schien. Jede Schuldzuweisung vermeidend – zu einem Streit gehören ja immer mindestens zwei – bat ich sie, den Schlüssel in den Briefkasten zu werfen. Überhaupt bin ich ja besser mit dem geschriebenen Wort bei der Hand als mit dem gesprochenen. Petúr informierte mich telefonisch über den Fortgang. Sie deponierte den Schlüssel richtig im Briefkasten und schrieb dazu, sie habe schon länger darunter gelitten, unsere Gastfreundschaft so oft in Anspruch genommen zu haben. Sie meine aber, zwei alte Leute wie wir sollten sich trotz aller Verschiedenheit lieber vertragen und ich könne sie jeder Zeit besuchen, wenn ich in ihre Gegend komme. Alle Achtung, ein nobler Brief, sie hat ja aristokratischen Wurzeln. Lassen wir die Angelegenheit erst einmal auf sich beruhen und sehen dann weiter.
Vier Wochen später: Ich habe den Eindruck, dass wir sehr gut ohne einander auskommen.
A., die Kämpferin.
Sie ist an Brustkrebs gestorben, ein handfestes Frauenzimmer, Kollegin, ihrem Mann, mit dem sie eine Gemeinschaftspraxis betrieb, weit überlegen. Als er ihr gegenüber im Suff einmal tätlich wurde, überlegte sie, ihn zu verlassen und besprach das mit mir. Von meinem damaligen Rat bin ich heute noch überzeugt: trennt euch innerhalb des Hauses und bezüglich der Freizeitaktivitäten, bleibt aber im Übrigen zusammen, für die Praxis und wegen der Familie. Bald danach wurde sie krank. So weit ich das beurteilen kann, war er ihr eine verlässliche Stütze auf dem Weg zu den verschiedenen Therapieversuchen, ein Beistand in Verzagtheit und Schmerz. Manchmal suche ich nach Spuren der Familie. Sie sind für mich nicht mehr auffindbar.
H., die Handfeste.
Eine verlässliche Gefährtin, auf Reisen und auch sonst, immer dann wenn Hilfe gebraucht wurde. Sie ging „nur“ zu einer Routine-Untersuchung, wäre am liebsten selbst mit dem Auto dorthin und auch wieder zurück gefahren. Aber sie kam nicht zurück. Der Schreck war furchtbar. Er übertraf sogar den Schmerz über den Verlust, er hält heute noch an. Mit ihr konnte ich singen; sie kannte dieselben Lieder und mochte dieselben Gedichte wie ich. Manchmal hat sie mich etwas zu sehr bewundert, aber ein bisschen Bewunderung kann man ganz gut vertragen. Mit ihrer Familie stehen wir in freundschaftlicher Verbindung.
M., die Fromme.
Um M. musste ich richtig kämpfen. Sie war meinen Altvorderen zu „einfach“, mir aber viel lieber als die feinen Honoratiorentöchter, mit denen meine Großmutter mich lieber gesehen hätte. Wir haben nebeneinander die Schulbank gedrückt bis sie den Schulort verließ. Die Freundschaft bestand weiter. Einmal besuchte ich sie, um mit ihr zusammen zu lernen, es war wohl kurz vor dem Physikum. Sie behandelte ihre Mutter schlecht, was mich ebenso störte wie ihre immer stärker hervortretende Frömmigkeit. Sie fing an, mich zu katechisieren. Ich habe mir Mühe gegeben, sie zu verstehen. Einmal nahm ich sogar an einer wie mir schien sektiererischen Gruppenveranstaltung teil. Man stand im Kreis, einzelne Teilnehmer traten vor („aus sich heraus“?) und erzählten etwas von sich. Das sollte einen oder sie selbst wohl näher an ein angestrebtes Ziel heranführen. Nun, ich entzog mich, geriet nicht in dieses Fahrwasser, hielt das Missionieren aber noch einige Jahre lang aus. Schließlich schrieb ich ihr einen Abschiedsbrief . Gelegentlich habe ich ein wenig ihren Werdegang verfolgt, und auch den ihres Mannes, der es zu einer Chefarztstelle brachte. Die Trennung war richtig, nur hätte ich mich schon früher dazu entschließen sollen.
E., die Verhängnisvolle.
Mit ihr war es viel schlimmer, eine richtig unangenehme Geschichte. Während des Krankenpflege-Praktikums lud mich eine Schwester zum Kaffee ein. Als ich mich nach diesen acht Wochen verabschiedete, bat sie mich um das Du. Wir korrespondierten. Sie war Gast bei meiner Hochzeit Nr. 1. Inzwischen hatte sie zu anderen Krankenhäusern gewechselt, wurde irgendwann Oberin, bewarb sich dann aber (!) in meiner ersten Praxis als Assistentin! Ich hätte jemanden Tüchtiges und Loyales gebrauchen können und machte einen meiner großen Fehler. Wie naiv kann man bloß sein? Mit „Freunden“ macht man doch keine Geschäfte! Vor allem war es unmöglich durchzuhalten, dass wir privat per Du waren, sie mich in der Praxis aber siezte und mit Frau Doktor anredete. Sie war häufig krank geschrieben, oft aus orthopädischen Gründen, also auch von mir selbst. Ein Krankenstand dauerte so lang, dass sie wieder in ihre Heimat wechselte. Eines Abends erhielt ich den Anruf ihres Bruders, der mir in wohlgesetzten Worten ihre Opiat-Sucht verriet. Man hatte entsprechende Einstiche an ihren Armen gefunden.
Glücklicherweise wurde es dann nicht ganz so fatal wie es klingt, denn das Mophin stammte nicht aus meiner Praxis, konnte es gar nicht, da ich überzeugt war, als Orthopädin weder Opiate noch Giftschrank nötig zu haben. Immerhin kam es zu einer außerordentlichen Kündigung und einer schmerzhaften Abfindungs-Zahlung.
Später schrieb sie einen langen Entschuldigungsbrief und wollte die Sache wieder begradigen. Das habe ich abgelehnt. Während dieser Affäre hat mich mein Ehemann Nr. 1, das muss ich ihm lassen, beraten und moralisch unterstützt. Gerade habe ich nach ihren Spuren gesucht. Auf der Traueranzeige zum Tod ihres wenig jüngeren Bruders ist sie nicht genannt. Entweder war sie vor ihm gestorben oder er hat sich ebenfalls von ihr distanziert.
Ende der Geschichte.
F., die Besondere
Sie hat mir von allen vielleicht am nächsten gestanden, un‘ amicizia particolare. Wir reisten zusammen, lernten Italienisch zusammen, studierten Orchideen-Fächer zusammen. Ich habe sie oft zum Heulen gebracht, indem ich sie ablehnend behandelte, da ich allzu viel Nähe schwer ertrage. Auch die Heulerei stieß mich ab. Dann „verließ“ sie mich, indem sie vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausschied. Sie sagte kein Wort, stellte mich vor die vollendete Tatsache. Damit rächte sie sich für die Zurückweisung, die sie allzu oft von mir erfahren hatte. Natürlich fühlte ich mich allein gelassen im täglichen Kampf, was aber kein Grund zum Aufgeben war. Jetzt erst recht! Bald ereilte sie eine tödliche Krankheit. Ich habe sie getreulich begleitet, abgesehen von einer Ausnahme, die ich mir heute noch übel nehme. Täglich war ich bei ihr, oft zwei- bis dreimal, nur am Abend vor ihrem Tod nicht. Ein nicht wieder gut zu machendes Versäumnis.
Einmal habe ich ihr richtig schlecht geraten. Wir waren mit ihrem Wagen zusammen in Apulien unterwegs. Jeder weiß, dass anständige Autos dort keine Minute sicher sind. Unser Quartiergeber riet, den Wagen in eine verschließbare Scheune zu stellen. In meiner Verblendung hielt ich den Parkplatz vor dem Haus für sicher genug. Der Wagen wurde sozusagen vor unseren Augen entführt, auf Nimmerwiedersehen. Wir fuhren mit der Bahn zurück, von Bari aus dauert das eine Weile. Meine Zerknirschung war groß, nützte aber nichts. Sie war großzügig und nachsichtig. Es blieben nur eine völlig zwecklose Anzeige gegen Unbekannt, die Versicherung und ein verlustreicher Neukauf. Auch das geht mir heute noch nach.
T., die Pragmatische.
Sie hatte hoch begabte Geschwister, einen Schauspieler, einen Professor, eine Sängerin, gehörte selbst zu den „ganz Normalen“, zu ihrem Glück, wie ich meine. Ihre Mutter war eine interessante, tüchtige, aparte Frau, allzu früh verwitwet. In der Oberstufe verbrachte ich viele Nachmittage dort, wurde in die Familie integriert, aß Marmeladenbrot und trank Zichorienkaffee mit ihnen. Die Mutter war oft mit ihrer Schwiegermutter, die ihre Wurzeln in unserer kleinen Stadt hatte und für alle sorgte, unterwegs, und die beiden standen allem Anschein nach im besten Einvernehmen. Dann trat ein Mann hinzu, ein entfernt Verwandter. Er und die Mutter gewöhnten sich an einander, was von den Familienmitgliedern, auch von der Schwiegermutter, offenbar wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Nach einem kleinen Autounfall, der für das ältere Paar glimpflich ausging, veränderte sich ihr Wesen (wie ich sehe, meine ich die Mutter wenn ich „sie“ sage und von „ihr“ schreibe; so muss ich meine Freundin konsequent mit ihrem Kürzel bezeichnen). Wahrscheinlich hatte sie primär eine depressive Veranlagung, die nun durchschlug. Sie ging in Therapie, zu Schlafkuren, war aber weiterhin, wenn sie konnte, beruflich tätig. Was zu dem gewaltsamen Ausbruch führte, wurde nie ganz klar. Jedenfalls fand die jüngere Tochter eines Tages die beiden Leichen, die Schwiegermutter erschlagen und die Mutter erhängt. Das junge Mädchen erholte sich nie mehr von dem Schock, wurde ihrerseits depressiv. Eine Zeitlang kam sie in meine Praxis, immer mit orthopädischen Symptomen, hinter denen die psychosomatische Grundstruktur leicht zu erkennen war. Die Tragödie ging natürlich durch den Blätterwald.
T. führte mit Mann, Kindern und Beruf ein „normales“ Leben. Wir sahen uns regelmäßig bei Klassentreffen und bei anderen Gelegenheiten. Dann bekam sie ein Sarkom, ein sehr aggressives, das sie ganz schnell dahinraffte. Ich hielt telefonisch Kontakt mit ihr. Das Sprechen fiel ihr schwer, aber sie wollte doch immer von mir angerufen sein. Ihre Spuren verblassen.
S., die „Weibliche“.
Wieder war die Mutter in der fünfköpfigen Familie bei Weitem die Interessanteste, auch, mit Verlaub, die Klügste. Ich hätte sie mir als meine Ersatz-Mutter vorstellen können, aber meine Großmutter biss alle Kandidatinnen weg, die sich ihrem Schwiegersohn nur zu nähern wagten. Diese Mutter, von mir Tante genannt, war diplomatisch und hielt das aus, benahm sich reizend zu meiner Großmutter und blieb meinem Vater gegenüber ausreichend distanziert. Ich war oft und gern dort. S., ein weiteres Mädchen und ich hatten zusammen ein „Kränzchen“, rauchten die ersten Zigaretten miteinander und veranstalteten gemeinsam kleine Theateraufführungen.
S. war graziös, ein wenig kokett, hatte im Gegensatz zu mir „Verehrer“. Ihre Ehe blieb lange kinderlos. Schließlich überredete sie ihren Mann, ein Sohn kam, vom Vater nicht gewollt, es ging auch alles schief mit dem Jungen. Trotzdem überlebte er beide Eltern, die kurz hintereinander an malignen Tumoren verstarben. Zur Familie haben wir weiterhin gute Beziehungen.
Maren, die Tapfere.
Dem „Requiem für eine Kommilitonin“, Homepage des BDSÄ, Bundesverband Deutscher Schriftsteller-Ärzte 2017, ist nichts mehr hinzuzufügen.
U., die Erfolgreiche.
Obwohl wir beide das Physikum in Marburg absolviert hatten, lernten wir einander erst in Freiburg richtig kennen. Wir siezten uns, nannten uns „Fräulein“, wie es damals Brauch war. Doch das änderte sich bald, als wir uns bei der Sportmedizin trafen. Sie machte Karriere, legte eine ansehnliche experimentelle Promotion hin, habilitierte sich, wurde Oberärztin, Professorin, Institutsleiterin. Männer an sich heran zu lassen, fiel ihr schwer. Einmal lernten wir jemanden kennen, der sich sehr um sie bemühte; das ging aber schnell zu Ende als er, wie ich vermute, „mehr“ wollte. Ihre Prüderie war vielleicht auf das von der Familie missbilligend und nur mühsam ertragene Doppelleben ihres Vaters zurückzuführen.
Ich nahm an allen ihren Auszeichnungen und Festlichkeiten teil. Wir hatten gemeinsame Liebhabereien, Musik, Literatur, antike Kunst, reisten ein paarmal zusammen. Anfangs war ich ein bisschen eifersüchtig auf ihre Lebensgefährtin – wie weit das geht, haben wir nie vertieft – aber dann lernte ich diese näher kennen und schätzen. U. und ich standen ständig in Verbindung, wenn es persönlich nicht möglich war, dann brieflich und telefonisch, später per E-Mail.
Seit etwa drei Jahren lässt das alles nach. Es geht nicht von mir aus, ich habe nachgefragt, nachgebohrt, meinerseits geschrieben und telefoniert. Einmal machte die Gefährtin eine Andeutung zum Thema „Gedächtnis“. Da hatte ich es auch schon gemerkt. Sie vergisst, was besprochen oder schriftlich mitgeteilt wird. Neulich bekam ich gleichzeitig vier nahezu inhaltsgleiche E-Mails von ihr. Sie sagte kürzlich selbst einmal von sich, dass sie nicht mehr so könne, wie sie gern wolle. Ihren Fachbereich und ihre Steckenpferde hat sie nach wie vor im Griff, spricht dann lebhaft und interessant. Aber die Kommunikation lässt nach; die Initiative geht fast immer von mir aus. Ich fürchte, dass ich sie eines Tages ganz an das, sagen wir: abnehmende Gedächtnis, verlieren werde. Aber wer kann schon in die Zukunft schauen?
-
Gleichberechtigung
(19.1.2019)
Rufe nach Gleichberechtigung
kann der Kapitalismus
wohlwollend, großzügig
in sein Ganzes Aufnehmen
solange es um die Regulierung der Teilhabe
an seinen Verbrechen
oder deren Duldung geht
Gnadenlos geht er allerdings vor
wenn Bestrebungen nach Gleichberechtigung
sein Bestehen in Frage stellen֎֎֎
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Ich muss diesen Gedichten ein paar Worte vorausschicken:
Wegen körperlicher Gründe ist mir das Schreiben schwergefallen (egal, ob von Hand oder am Computer). Ich musste aber meine Gedichte aufschreiben, sonst kann ich die Entwürfe bald selbst nicht mehr lesen… Ich entschloss mich, sie in den Mac zu diktieren und später in mein Gedichtbuch einzufügen.
Dann hätte ich sie auch gleich zum Verschenken…. Ich mache keine Auswahl wie sonst und deshalb sind ein paar einführende Worte
nötig. Manche Gedichte sind in einem Prozess entstanden, der noch nicht abgeschlossen ist, teils ist es ein innerer Erkenntnisprozess, teils gehören die Gedichte in verschiedene Projekte… Deshalb sind sie vielleicht nicht zu verstehen. Wundert Euch also nicht, wenn einige sehr… geheimnisvoll? Kryptisch? Okkult?….
erscheinen. Merkwürdigerweise gefielen sie einigen Freunden ganz besonders. Die Sprache, der Rhythmus, die Bilder wirken auch so… Mir fiel dazu ein Zitat von Paul Celan ein (ich will mich nicht mit ihm vergleichen!). Auf die Bemerkung, dass einige seiner Gedichte schwer verständlich sein, meinte er: Lesen, immer wieder lesen
Unsere Pflicht ist es
Beryll zu werden
wie der Stein
der den Augen
neues Sehen ermöglicht
wie seine Farbe
die Farbe der
im Feuerwasser
im Wasserfeuer
verborgenen RosenWerde Beryll
hilf ihm
das Alphabet zu retten
und sei es auch
nur
ein einziger Laut!
Sage
sprich ihn
singe und tanze ihn forme ihn
mit Händen in der Luft
gestalte ihn
in Farbe und FormDann …
du bist noch
kein Beryll
bist aber sein
Gehilfe geworden12./13.12.2018
Die schwarzen Vögel schlafen noch
Die schwarzen Vögel der Nacht
Die schwarzen Boten des Unheils
wie die Menschen behaupten
Menschen
die ihre Brüder und Schwestern
unter den Tieren nicht mehr kennen
In Wahrheit bewachen sie im Winter
die langsam erwachende Sonne
deshalb siehst du sie
in der Wintermorgendämmerung
nur vereinzelt
die schwarzen Vögel
wissende Freunde von Hund und Mensch- 12. 2018
Heimat
ist kein Ort
Glaube
ist keine Weltanschauung
Glaube
ist die Mutter der Liebe
Liebe erschafft
Heimat- 12. 2018
Dass ich mich opfern kann
ohne mich zu verlieren
dass ich unter den Sternen weile
ohne die Erde zu verlassen
dass ich fest auf Erden stehe
und gleichzeitig hinabtauche
in die Urgründe
der Menschheit
der Erde
ohne zu ertrinken …
Das verdanke ich
dem Schmerz
der mich weckt
warnt
hilft
der mich das Kreuz
spüren lässt
das Kreuz
das ich trage
Nur weiß ich
(noch) nicht:
wessen Kreuz ist es?13.12.2018
Wie einst der
Zungenbaum
in der Tiefe des Meeres
sang
so sangen später
auf den Klippen des Meeres
die Sirenen
Die stummen Fische die
die Lautedes versunkenen Alphabets
verschluckten
wandelten sich
in singende Vögel
die Rettung des verlorenen Alphabets
begann……und irgendwann in Zukunft
kann die neue Welt
auf den Trümmern der alten
entstehen14.12.2018, 17:50 Uhr
Ich habe Rosen
für dich gepflückt
wollte dich erfreuen
dich erinnern
an uralt Vergessenes der Menschheit
Doch du…
hast die Blüten vertrocknen lassen
und aus den Dornen
für mich einen Kranz gewunden
Warum?
Du weißt doch:
nur Freude und Liebe
können Leid lindernDu weißt doch:
es ist ein Ros entsprungen
und auf deinem dunklen Pfad
erstrahlt ein Lichtstrahl
Spürst du nicht
dein Engel begleitet dich
das Tor zum Paradies
ist für dich
nicht mehr bewacht!Das uralte Gewässer aus
Erdenbeginn
funkelt im ersten Sonnenlicht
wie am Morgen
die Perle aus Tau
wie die Tränen deines Kindes
Das Netz
geflochten aus dem dunklen Gespinst
des Grauens unserer Zeit
soll uns nicht mehr verbinden
soll auch dich nicht fesselnGeh
deinen Weg in die andere Welt
Freude und Liebe
werden deine Begleiter sein- 12. 2018, 7:30 Uhr
Antwort auf vegane Missionare
Einst
in einem längst vergangenen Leben
wurden sie als Kind
geschlachtet
aufgegessen
der Hunger
die Angst vor dem Sterben
der anderen
waren zu großHeute…
um sicher zu sein
dass sie niemals und nie
gleiches tun
verzichten sie auf jegliches Fleisch
Wisst ihr nicht
es gibt viele Arten
zum Mörder am Leben
zu werden18.12.2018, 7:45 Uhr
Trugschluss
Wenn du
deine Augen
mit deinen Händen
bedeckst
siehst du nicht mehr
die Welt
doch die Welt
sieht dich immer noch
Doch jetzt
bist du ihr hilflos ausgeliefert18.12.2013
Unterschied
Ich verstecke mich
weil ich nicht Zeuge werden will
(und selbst nicht gesehen werden will)
Ich verstecke mich
hinter einer anderen Erscheinungsform
weil ich so alles besser sehen kann
weil ich Zeuge
werden will18.12.2018
Nach dem Hören der Nachrichten
und der Presseschau im Radio
am Morgen der Wintersonnenwende 2018 fragte ich mich:
Müssen vielleicht heute
in dieser Zeit
hier und an vielen Orten der Welt
so grauenhafte Dinge geschehen
so viele
damit wir erkennen:
die Barmherzigkeit
die Mitmenschlichkeit
lebt immer noch
unter den Menschen
erwacht an dem Geschehen
(oder wird sie erst
in ihm geboren?)
Ein neugeborenes Kind
nicht aus der
eigenen Familie
kann anscheinend
nicht mehr unsere Liebe
Freude
Staunen
erweckenaber das Kind
das unter Trümmern
aus den Armen seiner toten Mutter
lebend geborgen wurde!21.12.2018, 8:20 Uhr
Ich vergesse so vieles
weiß nicht mehr
warum ich den einen Raum
verließ
den anderen betratVermeintlicher Trost sagt:
Du hast zu viel
an das du denken musst
du bist müde
auch du spürst
das AlterIst es wirklich so?
ich ahne
das Eigentliche dahinter:Innehalten
Lauschen
spricht aus dem eigenen Innern
die wieder erwachte Erinnerung
oder wird eine Frage gestellt
der neue Impulse folgen?Vielleicht treten beide
in herzlicher Umarmung
vereint
in mein BewusstseinJetzt
in deinem Alter
erinnert die Vielzahl deiner
Pläne Pflichten Wünsche
Vereine
die längst vergangene Vergangenheit
und die schon gekommene Zukunft
in dir…dann …
ist dein Vergessen
kurz
wie ein erholsamer Schlaf
und die Erinnerungen kommen
wie das Morgenlicht21.12.1978
Vierter Advent
Auch wenn ich
wie alle Menschen jetzt
von allen guten Geistern
verlassen bin
so weiß ich
mein Schutzengel
ist bei mirIch kann den Blick
in den Spiegel wagen
ich kann den
ersten Schritt wagen
auf meinem erst noch
entstehenden WegMein Engel fängt mich auf
wie eine Mutter
und er sagt tröstend
zu mir:„Das Bild im Spiegel
bist nicht du
du hast falsch
hineingeblickt
schau in mein Auge…“
Nun suche ich
nicht nur am Himmel
die Augen meines Engels:Manchmal
finde ich sie in mir
und es war keine Erinnerung
wenn ich mich beschützt fühlteEs ist JETZT!!
Und ich weiß:
das Kind in mir kann ins MORGEN
wachsen23.12.2018
Ich spreche mit dir
innerlich
ohne Worte
ich spreche mit dir
in Gefühlen
Gedanken
Bildern
Manchmal
bist du in
meinem Innenraum
Dann sehe ich
am Blick deiner Augen
an deinem Lächeln
dass du mich verstandenFür Anna
25.12.2018
I
Ich spüre
wie Kräfte
vielleicht auch Wesen
missbraucht werden…Sie kommen zu mir
sind geschickt von einer
unerlösten Toten
– sie weiß nicht
was sie tut –Die Wesen stören mich
hindern mich
drängen mich
zum AbgrundVielleicht ist es
– für mich–
zu früh
die Seele zu erlösen?Sie weiß nicht
was sie tut
sie sucht meine Nähe
und ist so verwirrt
dass sie nicht bemerkt
wie oft ich bei ihr bin
Ich muss mich schützen…Eben war ich im Traum
an der Tür des Stalles
und bat darum
mir meinen Umhang
zurückzugebenIch erwachte und verstand nicht:
welchen Umhang?
Brigids schützender Mantel
fällt mir ein
War ich vielleicht in ihrem Dienst
einst und gab auch meinen Mantel?Vielleicht
war die schützende
Hülle gemeint
die uns am Anfang
umhüllt
wie später Engelflügel?Warum musste ich
auch erwachen
bevor ich eine Antwort erhielt?II
Vielleicht
muss ich jetzt
in dieser Zeit
der Heilige Nächte
in denen auch
Dämonen ihr Unwesen treiben
aus Gedanken
eigenen
Inspirationen
geschenkten
Tönen
gehörten
Bildern
gesehenen
mir einen
eigenen Umhang webenIII
Ich werde dann
am Faden der Erinnerung
immer tiefer in
die Höhle dringen
Erwartet mich dort
ein Ungeheuer
oder ein Schatz?
Vielleicht wie im Märchen
Beides26.12.2018
Beginn der 13 Nächte
„Im Urbeginn war die Erinnerung“
Welcher Urbeginn?
Der eigene
der Familie
der Menschheit?
Gibt es nicht viele
Urbeginne?
Die Geburt des Jesus
die Geburt des Christus
die Erschaffung der Erde wieder
zur Zeit der Atlantis
vor und nach der FlutDie Erschaffung der Erde
als Idee
im Kosmos(26. 12. 2018)
Vielleicht
sollte ich
Vogel und Fisch fragen
die Begleiter der
Weltschöpfung?4.1.2019
Überwinde die Hast
die Hektik
das Eilen
die nach der Festeszeit
wieder
deinen Alltag
beherrschen
Schaffe Räume und Zeiten
für Ruhe und Stille
dass Güte und Weisheit
geboren werden
Väterlich
mütterlich
schützen sie
deine Seele
die zärtlich liebend
sich mit der
Schönheit der Welt
verbindetVierte Nacht der heiligen Nächte 2018/2019
Wenn du zurückblickst
heute
am letzten Tag des Jahres
und vorausblickst
voll Hoffnung
oder Angst
dann verzweifle nicht
über das Treiben in der Welt
erschöpfe dich auch nicht
im Kampf
in dem du eh unterliegstZeige auf andere Art
dein Aufbegehren
wandle dich
werde Sand
werde Sand
im Getriebe der WeltHelga Thomas
31.12.2018
Aus verschiedenen Gründen wollte ich (eigentlich seit vorgestern) auf das Jahr 2007 zurückblicken. Dabei fand ich ein altes Gedicht, es war im Verlauf eines I GING-Seminars entstanden. Es passte eigentlich auch in die Zeit jetzt, ich hätte es jetzt schreiben können… Habe ich es eigentlich in mein Gedichtbuch von 2006 eingetragen? Ja, das habe ich, aber ich merkte, ich möchte es jetzt auch in meinen Gedichten von 2019 eintragen, ich möchte eine Karte mit ihm machen.
Weil ich dich anerkenne
habe ich Geduld mit dir
weil ich Geduld mit dir habe
anerkennst du mich
meinen Rat
meine Zuneigung
Und langsam
auf dem Wege der Geduld
wandelt sich Anerkennung
in LiebeHelga Thomas
21.10.06/4.1.19
Wenn du fürchten musst
in den Fluten der Mutlosigkeit
zu ertrinken
und deinen Kräften
nicht vertrauen kannst
und keine Rettung
weit und breit in Sicht ist…
dann denke an den
der über das Meer gingEr wird dir ein Halt sein
dass du nicht untergehst
selbst wenn du ertrinkst
Mit seiner Hilfe
wirst du dich
zum Wasserwesen wandeln
das seiner Schwester gleicht
und den Menschen hilftWer
ohne gehalten
getragen zu sein
in den Fluten versinkt
ist den Kräften des Bösen
ausgeliefert
Seine Angst wird sich wandeln
in vernichtende Gefühle der Rache6.1.2019
9:50 Uhr
Zur Geburt des göttlichen Ich
erstrahlte der Weihnachtsstern am Himmel
ihm folgten die Könige
aus fernen Landen
Als Narziss
– er hatte sich nie
vom Jäger zum Hirten gewandelt–
erkannte
wer in seinem Spiegelbild verborgen war
erblühte zur Auferstehungszeit
der Stern seiner Blume
die auch den
heiligen Kelch
bewahrt6.1.2019
-
The SILENCE
Oak-tree (Dr. Dietrich Weller )
Many years ago, on a hot sunny day, in the shade of an old oak-tree, Master Xi and his pupils were resting. There was silence in the air. Suddenly, Master Xi asked his pupils: “What is the meaning of silence? “ The pupils remain silenced. Than he started to explicate:
“Let’s consider the virtues of an aged turtle, which is the symbol of universe, longevity and endurance. Turtles crawl over the Earth on their bellies, but their shells, with their dome shaped backs, are like a vault to the sky, representing the universe. Their incredible longevity and endurance leads one to believe they are everlasting. The shell pattern describes their ability to pass on their virtues for posterity. However, a turtle’s greatest virtue is silence. In silence, the turtle overcomes the storms. In silence man overcomes the stormy times.
The world is old; the silence is even older. The Almighty communicates to all beings, in the unique mode understood from everyone – with the voice of Silence.
Silence is the evidence of inner knowledge, and the joy of a deeply satisfying inner awareness. By reaching into the inner silence, one achieves just the right sense of serenity and realization of utter bliss and perfection.
Fruits ripen in the sun; noble thoughts ripen in the silence. In the silence of the silent mind there is nothing to hear but peace.
Dr. med. André Simon
Credits
An Oak-tree was photographed by Dr. Dietrich Weller, who agreed to illustrate this text. The author is grateful for this permission.
http://www.fotocommunity.de/user_photos/38236792Übersetzung von Dietrich Weller
Die Stille
Vor vielen Jahren ruhte sich Meister Xi mit seinen Schülern an einem heißen, sonnigen Tag im Schatten einer alten Eiche aus. In der Luft war es ruhig. Plötzlich fragte Meister Xi seine Schüler: Was bedeutet Stille?“
Die Schüler blieben stumm. Dann begann er zu erklären:
„Lasst uns die Tugenden einer alten Schildkröte betrachten, die das Symbol für Universum, Langlebigkeit und Ausdauer darstellt. Schildkröten kriechen auf ihren Bäuchen über die Erde, aber ihre Panzer mit ihren kuppelförmigen Rücken ragen wie ein Tresor in den Himmel und stellen das Universum dar. Ihre unglaubliche Langlebigkeit und Ausdauer lässt uns glauben, sie leben ewig. Das Panzermuster beschreibt ihre Fähigkeit, ihre Tugenden an die Nachwelt weiterzugeben. Die größte Eigenschaft einer Schildkröte jedoch ist ihr Schweigen.
In der Stille überlebt die Schildkröte die Stürme. In der Stille überlebt der Mensch stürmische Zeiten.
Die Welt ist alt; die Stille ist noch älter.
Der Allmächtige nimmt mit allen Wesen in einer einzigartigen Weise, die von jedem verstanden wird, Kontakt auf, mit der Stimme der Stille.
Stille ist das Zeichen des inneren Wissens und die Freude einer tief befriedigenden inneren Achtsamkeit. Indem man in die innere Stille hineinreicht, ermöglicht man genau den richtigen Sinn von Abgeklärtheit und die Verwirklichung der äußersten Glückseligkeit und Vollkommenheit.
Obst reift in der Sonne; edle Gedanken reifen in der Stille. In der Stille eines stillen Geistes gibt es nichts hören außer Friede.
Dank
Die Eiche wurde von Dietrich Weller aufgenommen, der erlaubt hat, diesen Text damit zu bebildern. De Autor dankt für die Genehmigung.
http://www.fotocommunity.de/user_photos/38236792 -
Teheran und der Krieg
(Winter 1981)
Von Jaleh Esfahani (1921-2007)
Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt
Die schwarzen, furchtbaren Flügel des Kriegsdämons
liegen bedrückend auf den Teheraner Nächten.
Das einzige brennende Licht der Stadt
ist der Mond,
der bernsteinfarbene Mond,
der auf dem unsichtbaren Dach Teherans leuchtet.
Teheran ist dunkel,
Teheran ist still,
Teheran ist eine schwarz bekleidete Schönheit …Wenn die morgendliche Sonne das Elburs-Gebirge beleuchtet,
all den goldenen Schnee,
und das Herz sich nicht verrückt in Teheran verliebt,
ist es kein Herz,
sondern ein Stein.Doch welchen Platz haben jetzt Liebkosungen mit der Natur?
Heute ist Krieg.
Vom Schicksal der Heimat und der Menschen sich fern zu halten,
ist eine Schande.
Es ist eine Schande.
Uns ist der Iran übrig geblieben,
ein Meer des Zorns, des Blutes und des Sturmes.
Es ist schmachvoll,
ein Stein am ruhigen Ufer zu sein
angesichts all der selbstlosen Handlungen der Aufständischen,
die ihr Leben riskieren.
Es ist eine Schande,
nur sich selbst und die eigenen Interessen im Blick zu haben.Wer kann nachts zuhause beruhigt schlafen,
wenn tausende Landsleute obdachlos sind,
vertrieben durch den Krieg,
den erbarmungslosen Krieg.Du,
Geschichte schreibendes Teheran,
stolzes Teheran,
es sei,
dass ich deine Nächte voller Licht sehe,
dass ich erblicke,
wie der ganze Iran des Sieges wegen
mit Lichterketten beschmückt ist.֎֎֎
-
Du kehrst zurück
(1975)
Von Jaleh Esfahani (1921-2007)
Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt
Eines Tages kehrst du zurück.
Du kommst zurück
mit dem morgendlichen Wind der Berge,
mit den Wellen der Meere,
mit dem Frühling.
Und ich warte sehnsüchtig.Du bist ein Bote aus warmen Ländern und weißt,
wie verzweifelt und traurig der Mensch durch die Kälte wird.
Ich rede nicht von der Kälte des Wetters,
ich meine die Kälte der Herzen.
Du weißt, wie sehr ich,
selbst voller Glut,
verabscheue
die Kälte der Reden,
die im Ohr rauschen,
den Frost der Herzen,
deren Licht der Liebe erloschen ist.In meinem Herzen
sagt ein stiller Schrei immer und immer wieder,
dass du wie ein leuchtender Funke,
wie ein Stern aus der Ferne,
umarmt von mitternächtlichen Kometen
zurückkommst.
Ich bin voller Hoffnung,
dein Gesicht zu erblicken.֎֎֎