Schlagwort: Historie

  • Farbenfrohe Momente

    (1971)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Ich brauche die Farben des Frühlings,
    die Farbe der Blumen,
    dieser reinen Geschenke des Paradieses,
    die Farbe der blauen Hyazinthe,
    die Farbe der gelben Narzisse,
    die rote Farbe der Anemone,
    die auf dem Feld gewachsen ist.
    die goldenen Tulpen,
    die violetten Jasminpflanzen,
    die Schattierungen der Wiesen mit ihren hundert Farben,
    die Farbe jener zärtlichen,
    an den Blumenblättern einen Saum tragenden Rose,
    die glänzenden, geliebten Farben des Frühlings.
    Ich brauche sogar jene Steinblume,
    die seit Jahrhunderten im Schoß des Gebirges blüht.
    Ich brauche den Farbkasten der Natur,
    die magische Farbe der Liebe,
    die Farbe des Fleißes und der Hoffnung,
    damit ich jedem Moment eine neue Farbe verleihe,
    die Nacht und den Tag nicht der Farblosigkeit überlasse,
    denn außer Schwarz und Weiß es gibt noch viele Farben.

    ֎֎֎

  • Wolke und Sonne

    (1978)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Der Gang der Zeit
    nimmt jeden Moment eine neue Farbe an …
    Gestern war der Himmel bewölkt und weinerlich.
    Ich war traurig wegen der Tränen des Regens.
    Eine Weile später als ich aus dem Flugzeug sah,
    dass unter meinen Füßen die Wolke weinte
    und über meinem Kopf die Sonne lachte,
    fragte ich mich,
    weshalb ich kurzsichtig gewesen bin?
    Ich war betrübt.

    Wo habe ich eine ewig bleibende Wolke erblickt?
    Wenn wir den Kopf hoch halten,
    wenn wir den weiter entfernten Himmel betrachten,
    sind hinter der Dunkelheit der fliehenden Wolke
    die helle Sonne und das unendliche Universum.

    ֎֎֎

  • Hätte ich tausend Stifte

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Hätte ich tausend Stifte,
    tausend Federn,
    jede mit tausend Wundern,
    so würde ich jeden Tag tausend Mal
    ein Epos und ein Lied für die Freiheit schreiben. 

    Wäre ich der Engel des Aufstands und des Zorns,
    so würde ich schon tausend Jahre zuvor
    die Stille und das traurige Warten der Sklaven durchbrechen;
    ich würde in das Viertel der Sklavenhändler ziehen,
    für die Versklavten Lieder singen,
    damit die schönen Sklavinnen und die mutigen Sklaven
    gegen die Sklaverei, Sklavenhalter und Sklavenhändler
    sich in tausenden Aufständen zur Freiheit erheben,
    dass niemand eines Anderen Knecht werde,
    die Knechtschaft aus der Erinnerung der Menschheit verschwinde,
    und niemand nicht einmal der Freiheit zum Knecht werde. 

    Wenn ich tausend Zungen hätte – mächtige Zungen,
    fähig eine Botschaft ins Ziel zu tragen –
    so würde ich in allen Sprachen,
    die es weltweit gibt,
    den der Unterdrückung verfallenen Völkern sagen:
    Wenn ihr die Wurzeln der Knechtschaft mit dem Beil zerhackt,
    wird eure „Vergeltung“ die errungene Freiheit sein. 

    Schreibt mit Flammen auf meinen Grabstein,
    dass diese nach Freiheit Dürstende auf der Suche starb,
    und wie verliebt sie zur Begegnung mit der Sonne eilte,
    auf dass die rötliche Morgendämmerung der Freiheit aufblühe.
    Wenn ich nach tausend Jahren auferstehe,
    werde ich meiner Epoche den Freiheitsgruß entbieten. 

    Nach tausend Jahren werden andere Menschengenerationen,
    wenn sie auf Besuch
    von einem Stern zum anderen ziehen,
    aus den verbliebenen Wellen
    die Botschaft der Freiheit
    aus unserer stürmischen Epoche
    zu Gehör bekommen.

    ֎֎֎

  • Du fragst mich, woher ich stamme?

    (1962)

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Du fragst mich,
    woher ich stamme?
    Ich bin nicht sesshaft,
    und ziehe umher.
    Ich wurde erzogen durch Trauer und Schmerz.
    Betrachte die Weltkarte,
    mit einem Blick überquer die Ländergrenzen,
    zweifelsohne wirst du kein Land finden,
    in dem kein aus meiner Heimat Vertriebener lebt. 

    Ich bin der unruhige Geist des Schlafwandlers,
    in Nächten mit Mondschein,
    im Schlaf,
    wandere ich auf den unendlichen Felsen der Sehnsüchte.
    Mit der Frage,
    woher ich stamme,
    hast du mich aus diesem goldenen Traum geweckt.
    Ich bin vom hohen Dach der Sehnsüchte heruntergefallen
    und liege der Mauer der Wirklichkeit zu Füßen. 

    Du fragst mich,
    woher ich stamme?
    Ich komme aus dem Land des Reichtums und der Armut,
    von den grünen Hängen des Elburs-Gebirges (1),
    vom Ufer des prächtigen Zayanderud (2),
    und aus den alten Palästen von Persepolis. 

    Du fragst mich,
    woher ich stamme?
    Ich komme aus dem Land der Dichtung, der Liebe und der Sonne,
    aus dem Land des Kampfes, der Hoffnung und der Qual,
    aus den Schützengräben der Opfer der Revolution. 

    In durstigem Warten brennen meine Augen.
    Weißt du jetzt,
    woher ich stamme?

  • Die goldene Nachtigall

    (1968)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Du, goldene Nachtigall,
    dich werde ich in meiner Dichtung,
    in den warmen Händen der Freunde,
    im Gesang des Lebens,
    in den Ländern des Frühlings,
    im Fleiß, der viele neue Triebe hervorbringt,
    in der unruhigen Nacht der Wartenden,
    beim Aufgang der ewigen Sonne,
    goldene Nachtigall,
    dich werde ich im Nest der Liebe finden,
    damit du meines Herzens Garten
    durch Licht und Gesang zum Blühen bringst.

    ֎֎֎

  • Ich bin kein Kanarienvogel

    (1970)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Ich bin kein Kanarienvogel, der auf der Wiese singt.
    Wieso verlangst du von mir ein zärtliches Liebesgedicht?
    Frühlingswasserfälle strömen aus meinen Augen,
    da ich ein Berg bin.
    Jedes Wort meines Gedichtes setzt das Papier in Flammen.
    Ich bin das wutentbrannte Lied einer Gruppe,
    einer aufständischen Gruppe, müde vom Warten,
    mit offenen Augen und verbundenen Händen.
    Ihr Schmerz hat eine andere Farbe und einen anderen Klang … 

    Nicht einen Moment vernachlässige ich das Schicksal meiner Heimat,
    obwohl ich von ihr entfernt bin.
    Ich bin der Dichter der Epoche des Übergangs,
    der Poet einer Generation,
    die gegen Ungerechtigkeit und Niederträchtigkeit kämpft.
    Erachte mich als stumm,
    wenn meine Stimme kein Herz erreichen sollte.
    Mit tausend Augen betrachte ich die Welt,
    damit du nicht glaubst, ich bin blind.
    Ich bin der Dichter der schweren Zeit des Übergangs,
    der Zeuge einer Epoche,
    in der ein neues Zeitalter entsteht.

    ֎֎֎

  • Wer bin ich?

    (1977)

     

    Von Jaleh Esfahani (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Wer bin ich?
    Wer?
    Ein Komet,
    der der Nacht entrissen ist,
    der die Bekanntschaft mit der Morgenröte gemacht hat.
    Ein Auge, das das Licht erblickt hat,
    versöhnt sich nicht mit der Dunkelheit.
    Der helle Geist und das reine Wesen
    versöhnen sich nicht mit der Verderbnis.
    Wenn es in der Welt Ungerechtigkeit, Dunkelheit und Gewalt gibt,
    gibt es den Kampf,
    der zum Land der Gerechtigkeit und des Lichts führt.
    In der großen Inschrift des Lebens steht:
    Wenn du nicht siegst, wirst du verlieren.

    ֎֎֎

  • Biografie

    (1974)

     

    Von Jaleh Esfahani; (1921-2007)

    Übersetzung aus dem Persischen von Amir Mortasawi und Andreas Schmidt

     

    Das rote Lachen der Tulpen des Frühlings,
    die gelbe Träne der Bäume des Herbstes,
    der Kuss der Vereinigung und die Freude der Begegnung,
    die Trauer des Abschieds und das Unglück der Abwesenheit. 

    Lebenslang suchen,
    warten,wünschen
    und in den Schöpfungen aufblühen:
    Das ist Eure und meine Biografie …

    ֎֎֎

  • Galaktisches Asyl

     

    Ein paar wenige Erdenbürger waren verzweifelt. Im Spiegelteleskop sahen sie den Todesbringer herannahen. Da sie Schweigepflicht einzuhalten hatten, durften sie der Öffentlichkeit nicht offenbaren, dass der herannahende Weihnachtsstern in Wirklichkeit ein Todesbote war.
    Die Tage der Erde waren gezählt. Es blieben vierundzwanzig Tage. 24!

    Die Wissenschaftler beschlossen, ein Notsignal ins Weltall zu senden, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, von einer außerirdischen Zivilisation erhört zu werden, gegen Null ging.

    Wenige Monate zuvor hatten sie auf einer Konferenz getagt und fröhlich über verschiedene Szenarien des Weltuntergangs spekuliert.

    Unter anderem darüber, wie die Erde in etwa sieben Milliarden Jahren vor der sich aufblähenden Sonne gerettet werden könnte. Was zu tun sei, bevor auf Erden ein Inferno ausbräche; was zu tun sei, wenn die Mutter ihre Kinder – die Sonne ihre Planeten – zu fressen droht.

    Obwohl das Szenario erst Milliarden Jahre später eintrifft, und das Überleben der Menschheit bis dahin ernsthaft in Frage zu stellen ist, überlegten sie, wie man mit Hilfe der Atomkraft der Erde einen Schubs in Richtung Jupiter verleiht. Dann würde die Erde zum Trabanten des Gasplaneten werden und vorübergehenden Schutz finden. Aber auch dies würde die blaue Kugel nicht retten. Irgendwann würde der rote Riese zu einem weißen Zwerg kollabieren und bittere Kälte das Sonnensystem ergreifen.

    Auch überlegten sie, ob man den Lauf von vorbeiziehenden Sonnen beeinflussen könnte, um die Erde von einer fremden Sonne einfangen zu lassen, deren Brenndauer deutlich länger sein würde als die der Heimatsonne.

    All das klang jetzt lächerlich, wo doch nur noch wenige Tage zur Verfügung standen, die Erde zu retten. Sie gestanden sich ein, dass keine Technologie der Welt imstande war, dem kosmischen Pingpongspiel aus dem Wege zu gehen.

    Einer der Wissenschaftler wirkte nicht im geringsten verzweifelt, und sie fragten ihn, warum das so sei.

    »Als ich neun Jahre alt war, hagelte Granatenfeuer vom Himmel. Als ich zehn Jahre alt wurde, gab es nichts zu essen. Die Ärmsten unseres Volkes verhungerten. Als ich elf Jahre alt war, verlor ich meine Eltern an ein Gefängnis und meine fünfjährige Schwester an die Cholera. Nur ich sollte überleben. Dann kam ein Fremder, der sich vorgenommen hatte, eine verlassene Seele zu retten. Seine Wahl fiel auf mich. Er sagte, wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt. Ich ging mit ihm und versprach, es ihm irgendwann gleich zu tun«, antwortete Asiel.

    »Was willst du uns damit sagen?«, fragten seine Kollegen.

    »Wir reichen galaktisches Asyl ein. Wir bitten höflich um sofortige Aufnahme in ein anderes Sonnensystem.«

    Die Kollegen lachten.

    Asiel schmunzelte in sich hinein. »Tut es einfach.«

    Sie kamen seiner Bitte nach, weil ohnehin keine Chance auf Rettung bestünde, meinten sie.

    Außerdem würde die Reichweite des Signals von kürzester Distanz sein. Man konnte nicht erwarten, dass die Nachbarn überhaupt zuhörten, wenn sie denn überhaupt technisch so weit seien, und, und, und …

    Es kam, wie es sich Asiel gewünscht hatte. Eine übergeordnete benachbarte galaktische Instanz, die mit den Erdlingen selbst eigentlich nichts zu tun haben wollte, erhielt den Asylantrag gerade rechtzeitig.

    Kurz bevor die Feuerkugel, die einer verirrten Zwergsonne entsprach, mit der Erde kollidieren würde, wurde die Erde mitsamt dem Mond in ein anderes Sonnensystem transportiert. Das göttliche Murmelspiel war im Handumdrehen vorbei. Für eine kurze Zeit blieben Erde und Mond in einer Wartehalle wie auf einem Bahnhof stecken und wurden anschließend in ein passendes System überführt. Nachdem der Weihnachtsstern das unsrige Sonnensystem durcheinander gebracht hatte, wurden Aufräumarbeiten notwendig. Als dies nach etwa einem Monat erledigt war, wurde die Erde mit ihrem Mond wieder an diejenige Stelle zurückversetzt, auf der sie nach Kalkulation sich hätte befinden müssen.

    Die galaktische Instanz hatte dem Asylantrag stillschweigend entsprochen. Die galaktische Nachbarschaftshilfe blieb für das Gros der Menschheit beinahe unbemerkt. Viele erinnerten sich an das kosmische Ereignis des sich nahenden Weihnachtssternes. Die damit verbundenen physikalischen Ereignisse vermochten sie nicht in den korrekten Zusammenhang stellen.

    Nachdem die Rettung der Erde geglückt war, tüftelten Asiel und seine Kollegen an jener neuen zauberhaften Technologie, die sie Gravitationsschleuder nannten. Irgendwann in sieben Milliarden Jahren, wenn die Erde das Sonnensystem erneut verlassen müsste – … ja, bis dahin würden sie die Funktionsweise wohl längst herausgefunden haben.

    Der eigentliche Zauber aber bestand darin, dass sich jene unbekannte Instanz, die sich nur dieses eine Mal offenbarte, erbarmt hatte, der Erde zu helfen.

     

    Nachtrag:

    Die Erdlinge haben nie erfahren, dass die Menschenrechte im Wesentlichen identisch sind mit dem des Galaktischen Individualrechtes. Die Erdlinge wurden auch nicht darüber informiert, dass zur Erleichterung der kosmischen Kommunikation sämtliche Radiosignale mit Hilfe von Miniwurmlöchern umgeleitet werden. Sie kreisen am Rande eines Sonnensystems und saugen sämtliche Signale zuverlässig auf. Der galaktische Rat ist innerhalb von wenigen Stunden auf dem aktuellen Stand. Lediglich der galaktische Verwaltungsapparat brauchte etwas länger zur Bearbeitung des Antrags. Das scheint ein kosmisches Problem zu sein …

     

    verfasst am 23.12.2018

  • Wer Ohren hat zu hören[1]

    Im alten Ägypten war das Ohr mehr als nur ein Sinnesorgan, das krank werden und die Fähigkeit des Hörens einbüßen konnte. Es hatte zentrale Bedeutung für das Leben selbst. Man glaubte nämlich, dass der Hauch des Lebens in das rechte, der des Todes in das linke Ohr eintrete[2]. Göttern wie dem Ptah oder dem Amon-Re wurden steinerne Stelen mit Reliefs in Form von Ohren gestiftet, um wie aus den Inschriften hervorgeht[3] gnädiges Gehör zu erbitten oder für die Gewährung eines Wunsches zu danken.

    Gottheiten und andere machtvolle Wesen, denen besondere Kräfte gegen Krankheit und Not zugeschrieben wurden, mit anatomischen Votiven zu beschenken ist ein seit prähistorischen Zeiten überlieferter Brauch. Aus Ton, Marmor, Kalkstein und Metallen entstanden Nachbildungen von Körperteilen. In Wallfahrtskirchen, wo Sinnesorgane, Gliedmaßen und Herzen aus Holz oder Wachs, Kunststoff oder dünnem Blech die Altäre und Heiligenbilder schmücken, lebt die Tradition fort.

    Den Ohr-Votiven kommen außer ihrer Bedeutung für die Erkrankung oder Heilung des Hörorgans noch andere Funktionen zu. Sie appellieren als  materialisierte Bitte an die „gnädig hörende“ Gottheit, im griechischen Sprachraum: ἐπήκοος /epékoos. Weihinschriften mit dem Epitheton epékoos Waren natürlich besonders geeignet, die Dringlichkeit des Anliegens zu unterstreichen[4].

     

     

    Bild 1: Ohren-Relief, Kassel[5]

    Nach Bieber 1910, 5 f. Taf. I, 2

     

    Die mutmaßliche Entstehungszeit des Marmorreliefs (Bild 1) oszilliert zwischen dem  5/4. Jh. v. Chr. und der römischen Kaiserzeit. Margarete Bieber ist die einzige, die ihre hohe Datierung, unter Berufung auf Furtwängler, begründet: „Die beiden Ohren haben die runde und breite Form, die Furtwängler als die typisch attische für das perikleische und das folgende Zeitalter erwiesen hat. Er charakterisiert sie als eine breite, gedrückte Form mit sehr weiter Muschelhöhle und kurzem Läppchen“[6].

    Gelegentlich nimmt ein Ohrenpaar eine weitere figürliche Darstellung in die Mitte[7]. Eine Votivtafel aus dem Asklepieion von Korinth zeigt den Abdruck eines inzwischen verlorenen, von Ohren gerahmten männlichen Geschlechtsorgans.

     

     

    Bild 2: Korinth, 4. Jh. v. Chr. Terrakotta

    Nach Roebuck, 1951, 120 Nr. 10 Taf. 33

     

    Anders als in Griechenland handelt es sich in Etrurien und Latium auch bei den Darstellungen paariger Sinnesorgane, wie Ohren oder Augen, meist um Einzelexemplare. Man fertigte sie in Serie aus preiswertem Ton[8]; nur  ausnahmsweise sind sie mit Inschriften versehen. Wenige nennen göttliche Adressaten, wie die etruskische Vea oder die römische Minerva. Auch der Ceres und ihrer Tochter Proserpina, der Uni (Juno) und Turan (Venus) sowie dem Apollon[9] kamen anatomische Votive zu. Andere in kleinen, ländlichen Heiligtümern verehrte Gottheiten blieben anonym.

    Selten sind an Körperteil-Votiven krankhafte Veränderungen dargestellt[10].

    Der epigraphische Hinweis auf eine Norm-Abweichung am Lobulus eines zyprischen Kalksteinohrs ist eine Rarität. In syllabischer Schrift deuten sich die Worte an: „Ich gehöre einem Tauben“[11].

     

    Bild 3: Nach Masson 1998, 27 Nr. i. j. Taf. 7

     

    In früharchaischer Zeit hat man vor allem in Attika bestimmte Teile des menschlichen Körpers stark stilisiert wiedergegeben. Das ornamentale Ohr des über drei Meter hohen Kuros A von Sounion ist übergroß und flach, vertikal ausgerichtet und auffallend weit oben platziert.

     

    Bild 4: Kouros aus Sounion, Detail. Anf. 6. Jh. v. Chr.

    Nach Martini 1990, 18 f. Abb. 3

     

    Die anatomischen Details sind in die Fläche eingetieft. Eine gleichförmig breite Grube trennt Helix und Anthelix, die oben in zwei gekrümmte Grate übergehen. Unten schließt das Ohrläppchen an, das mit zwei konzentrischen Rinnen, einer breiteren und einer schmalen, geschmückt ist.  Vorn zwischen Ohrmuschel und Lobus sitzt der knopfförmige Tragus. Ein Antitragus ist nicht angegeben[12].

    Mit ähnlichen konzentrischen Kreise wie auf dem Ohrläppchen des Kouros hat man wenig später die Ohrscheiben an zyprischen Frauenköpfen verziert.

     

    Bild 5: Spätarchaisches Frauenköpfchen, Tamassos/Zypern

    Fund-Nr.  613/1975. Grabung Buchholz[13]

     

    Die aufwändig geschmückte junge Frau trägt zusätzlich ein Diadem und eine Ohrmuschel-Verkleidung aus Edelmetall. Ob das dünne Blech über dem Gehörgang dazu angetan war, den Lärm der Welt ein wenig zu dämpfen?

     

    Abgekürzt zitierte Literatur und Bildnachweis:

    Bieber 1910: M. Bieber, Attische Reliefs in Cassel, AM 35, 1910, 5-16    Bild 1

    Bieber 1815: M. Bieber. Die antiken Skulpturen und Bronzen des Königlichen Museum Fridericianum in Cassel (Marburg 1915) Beilage, Taf. I f.

    Buchholz 1978: H.-G. Buchholz, Tamassos, Zypern, 1974-1976, 3. Bericht, AA 1978, 155-230

    Buchholz – Untiedt 1996: H.-G. Buchholz – K. Untiedt, Tamassos. Ein antikes Königreich auf Zypern (Jonsered 1996)    Bild 5

    Çambel – Özyar 2003: H. Çambel – A. Özyar, Karatepe – Aslantaş Azatiwataya (Mainz 2003)

    Forsén 1996: B. Forsén, Griechische Gliederweihungen (Helsinki 1996)

    Gercke 2007: P. Gercke – N. Zimmermann-Elseify, Antike Steinskulpturen und Neuzeitliche Nachbildungen in Kassel (Mainz 2007)

    Hermary – Mertens 2014: A. Hermary – J. R. Mertens, The Cesnola Collection of Cypriot Art: Stone Sculpture. New York. Metropolitan Museum of Art (New Haven 2014)

    Karageorghis 2000: V. Karageorghis, Ancient Art from Cyprus. The Cesnola Collection in The Metropolitan Museum of Art (New York 2000)

    Krug 1985: A. Krug, Heilkunst und Heilkult (München 1985)

    Macintosh Turfa 2004: J. Macintosh Turfa, Weihgeschenke, Röm., ThesCra I (Los Angeles 2004) 362 f. Commentary

    Martini 1990: W. Martini, Die archaische Plastik der Griechen (Darmstadt 1990)    Bild 4

    Masson 1998: O. Masson, Les Ex-Voto trouvés par L. Palma di Cesnola à

    Golgoi en 1870, Mélanges Olivier Masson, Centre d’Études Chypriotes, Cahier

    27 (Paris 1998) 25-29 Taf. 6-10   Bild 3

    Recke – Wamser-Krasznai 2008: M. Recke – W. Wamser-Krasznai, Kultische Anatomie. Etruskische Körperteil-Votive aus der Antikensammlung der JLU Gießen (Ingolstadt 2008)

    Richter 1988: G.M.A.  Richter, Kouroi  (New York 1988, reprinted from 31970)

    Roebuck 1951: C. Roebuck, Corinth 14. The Asklepieion and Lerna (Princeton 1951)    Bild 2

    Schnalke 1990: Th. Schnalke – C. Selheim, Asklepios, Heilgott und Heilkult (Erlangen- Nürnberg 1990)

    Stierlin 1986: H. Stierlin, Kleinasiatisches Griechenland (1986)

    Van Straten 1981: F. T. van Straten, Gifts for the Gods, in: H. S. Versnel (Hrsg.), Faith Hope and Worship (Leiden 1981) 65-151

    Weinreich 1912: O. Weinreich, ΘΕΟΙ  ΕΠΗΚΟΟΙ, AM 37, 1912, 1-68

     

    [1] Math. 11, 15.

    [2] pEbers 100, 3, zit. bei Schnalke 1990, 74.

    [3] Weinreich 1912, 47.

    [4] s. z. B. Van Straten 1981, 83: an Isis, die gnädig erhörende, oder ders. a. O. 116 Nr. 6.1, „Kallistrate ἐπήκόῳ –  der gnädig hörenden – Artemis Kolainis.

    [5] Forsén 1996, 32 f. Abb. 5; Gercke 2007, 306 Abb. 101; Krug 1985, 151 Abb. 68; Schnalke 1990, 68 Abb. 34; Van Straten 1981, 106 Nr. 1.5.

    [6] Bieber 1910, 5-7 Taf. 1, 1; dies. 1915, 37 Nr. 76 Taf. 33;

    [7] Marmorrelief mit Serapis, London, Van Straten 1981, 83 Abb. 12; Tabula ansata mit Doppelaxt zwischen Ohren am Zeustempel von Euromos, Stierlin 1986, 115 Abb. 79.

    [8] Recke – Wamser-Krasznai 2008, mit zahlreichen Literaturangaben..

    [9]  Macintosh Turfa 2004, 362.

    [10] Ausnahme: Korinth, Hand mit ‚Abszess‘, Roebuck 1961, 124 Nr. 60 Taf. 40.

    [11] Aus Golgoi, Hermary – Mertens 2014, 285 Nr. 395. 396; Karageorghis 2000, Nr. 418; Masson 1998,  27 Nr. i – 1881. j –  1882 Taf. 7.

    [12] Çambel – Özyar 2003, 119 Abb. 144 Taf. 33; Richter 1988, 43 Abb. 33-39..

    [13] Buchholz 1978, 222 Anm. 132; ders. – Untiedt 1996, 128 Abb. 32 c; ausführliche Publikation des Köpfchens durch W. Wamser-Krasznai im Druck.