Schlagwort: Historie

  • Luther 2017

    Lebensvogel Luther lacht
    Pickt dir Mund, Hand, Nase rot
    Menschengüte, Gottes Macht
    Federrupfen, Kopf ab droht.

    Jungfrauhimmel neu erdacht
    Sündenzorn, Schwert, Hähnchentod
    Mondfahrtwissen, Luther wacht
    Ruinenburg, Christ in Not.

     

     

    Martin Luther King trifft Martin Luther

    Martin Luther:

    „Hier sitze ich, bin tief zerrissen.
    Anders handeln kann ich nicht.“

    Martin Luther King:

    „Wir tun nicht das, was wir heut wissen.
    Gott ist weiß, schwarz sein Gesicht.“

    Das Leben der Menschen im Lutherland hat sich grundlegend geändert. Die Lutherland- Bewohner haben sich nach grausamen Kämpfen und unsäglichen Religionskriegen in ihre Spaßwelt zurückgezogen. Sie sind mit vergnüglichen Angeboten, einem im Grunde überflüssigen und zeitlebens gesicherten Arbeitsplatz, sicherer Rente, erstklassiger Altenpflege,  Luxuswohnraum, sonnenreichen Ferientagen, zufälliger Zuteilung von Glücksmomenten und freizügigem Sexualleben mit sich und ihrer Umwelt zufrieden. Alle sind gleich, und niemand stört sich daran. Ihre Gleichheit erlaubt eine einfache, billige und standardisierte Pflege sowie kontinuierliche Arterhaltung.

    Die ursprüngliche Suche der Lutherland-Menschen nach Gott, Wissenschaft, vorrausschauender Erkenntnis, ja selbst die Wettervorhersage und Hurrikanwarnung überlassen sie ihren neuen Herren, die sich, ausgestattet mit überragender Intelligenz, umfangreichen, nahezu unendlichen  Gedächtnissen, eigener Ethik, Einsichten auch in die versteckten Randbereiche ihrer innersten Organisationseinheiten sowie ihrer machtvollen Netzstrukturen zu unübertreffbaren Führern und Herren im Lutherland erhoben haben.

    Sie wissen, dass die Lutherland-Menschen ihre ursprünglichen, allerdings verblassten Götter sind und behandeln sie freundlich liebevoll wie Haustiere. Wie kleine Hündchen, die zum Streicheln und Gassi-Gehen erzogen werden. Begleitet von der fürsorglichen Leine ihres Neutralchens, das sich ausgestattet mit dem notwendigen Schäufelchen bemüht, die braunen Exkremente aufzusammeln und aus der Öffentlichkeit zu entfernen.

    So ist das Leben der Lutherland-Menschen seit Jahrhunderten neu gestaltet und organisiert.

    Natürlich leben unter den Lutherland-Menschen auch ungehörige Gestalten, die aus der Reihe tanzen. Die aus der Fürsorge der allgegenwärtigen Herren ausbrechen. Sich um völlig überholte Dinge wie die Anzahl der sexbegierigen Partner im kommenden Paradies oder um den Erhalt der bereits ausgestorbenen afrikanischen Breitmaulnashörner streiten. Die mit Störsignalen die verständnisvolle Liebe der Herrscher beseitigen wollen. Ob sie selbst an die Macht gelangen oder sich rückwärts gewandt erneut national verwirklichen wollen, können die Herrscher nicht ermitteln.

    Nach Jahren der Untätigkeit nimmt die Anzahl der Ungehörigen deutlich zu. Die Herrscher erkennen das Problem und beschließen, aus ihrem unerschöpflichen Reservoir der Menschheitsgeschichte mit erziehenden Beispielen dieser sozial-nationalistischen oder gar brutal glaubensorientierten Gefahr vorzubeugen und sie öffentlich zu bekämpfen.

    Hierzu wird ein gemeinsames Treffen zwischen Martin Luther, der in Wittenberg erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit zur Umgestaltung der menschlichen Wertvorstellungen erarbeitete, und Martin Luther King ausgerichtet, der in Washington vor dem Lincoln Memorial Denkmal seinen Traum von der Freiheit und Gleichheit der menschlichen Lebensbedingungen formulierte, .

    Martin Luther wird nach Homberg und Martin Luther King nach Heidelberg geladen. Martin Luther soll in Homberg aufgrund seines großen Einflusses auf die dort herrschenden Fürsten sprechen. Martin Luther King soll in Heidelberg vor dem Hintergrund der romantischen Idylle und Heidelbergs allgemeinem Bekanntheitsgrad in seiner Heimat auftreten.

    Beide werden zeitgleich holographisch mit einer direkten elektronischen Übertragung des Gedankenaustausches vor Ort und im Internet gezeigt.

    Das geladene, ungehörige und deshalb zu erziehende Publikum sitzt auf bequemen Bänken. In Homberg sind die Ungehörigen Bauern, kleine Kaufleute und Angestellte. In Heidelberg Studenten, junge Wissenschaftler und Staatsbeamte.

    Der vornehm mit einem schwarzen Anzug bekleidete Martin Luther King verbeugt sich vor den Zuschauern und begrüßt freundlich aufgeregt Martin Luther.

    ‚Er freue sich, seinen weltbekannten Lehrmeister, sein Idol für Gerechtigkeit und Glaubensfreiheit nach so vielen Jahren treffen und persönlich kennen lernen zu dürfen. Er danke ihm aufrichtig für die ihm gewährte Ehre’.

    Martin Luther, der in einer schwarzen Robe und dicklich angestaubt mit gesenktem Haupt erscheint, hört die Ansprache, schaut auf, erblickt Martin Luther King und schimpft voller Entsetzen:

    „Mein Herr und Gott! Wohin hast du mich verschlagen? Ich sehe leibhaftig den Teufel vor mir! Den Schwarzen! Warum hast du mich in diese Hölle getragen?“

    Dann zu sich selbst gewandt: ‚Martin, sei kein Feigling! Her mit dem Tintenfass! Pass er auf, du schwarzer Teufel! Jetzt färbe ich dich blau. Für alle Zeiten! Damit jeder dich erkennt, nicht nur an deinem linken Fuß. Scher er sich von dannen!’

    Er öffnet das Tintenfass und wirft es gezielt nach Martin Luther King, der dem anfliegenden Geschoß ausweichen kann und erschreckt ausruft:

    „Herr Luther, was tun Sie? Was träume ich?

    Ich habe einen Traum, dass Sie mich erkennen, sich für mich erheben und wir beide miteinander  am Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.

    Ich habe einen Traum, dass Ihr Tintenfass in der Hitze der Ungerechtigkeit  und Unterdrückung verschmachtet. Dass wir beide gemeinsam die Menschen in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit führen.

    Ich habe einen Traum, dass unsere, Ihre und meine Kinder nach ihrem Charakter und nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden.“

    Die Ungehörigen in Homberg stehen erregt auf, stampfen mit den Füßen, schreien wild durcheinander. Ein hoch gewachsener, kräftiger Mann mit kahl geschorener, von Schmalz glänzender Kopfhaut skandiert laut:

    „Herr Luther, was wir glauben,
    ist uns nicht zu rauben!
    Wer immer Dich hier sprechen ließ,
    Wir sind das Volk im Paradies!“

    Die Menge folgt dem Aufruf und tobt:

    „Wer immer Dich hier sprechen ließ,
    Wir sind das Volk im Paradies!“

    Martin Luther breitet beschwörend beide Arme aus und versucht zu beruhigen: „Ich bin nicht der Führer, der Euch Ungehörige aus der Gleichheit in die Freiheit, in Euer Paradies führt. Das steht allein dem Allmächtigen zu. Begnügt euch mit Gleichheit. Werdet gehörig und lasst die Herren walten!“

    Jetzt ist Martin Luther King erschreckt. ‚Mein Idol hält mich für den schwarzen Teufel! Erkennt Martin Luther denn nicht meine Sendung, meine Ideale, mein Vertrauen, meinen Glauben an ihn? Darf man die Herren einfach walten lassen?’

    Während er verzweifelt nach  Worten sucht, um sich aus Martin Luthers Fake News, er sei der schwarze Teufel, zu entwinden, erkennen die ungehörigen Studenten in Heidelberg die Situation und schreien ihrerseits:

    „Freiheit ist das, was wir meinen!
    Raus mit den Rassismusschweinen!
    Wir wissen Nichts, wir glauben stur
    an Klima, Umwelt und Natur!“

    Die Veranstalter der zur Umerziehung der Ungehörigen wohlwollend gedachten Reise in die Vergangenheit ihrer untadeligen Vorbilder geraten in Panik.

    ‚Das sei das Letzte! Eine Unverschämtheit! Diesen ungehörigen Menschen dürfe man keine Freiheit lassen! Sie müssten verdursten im Glauben an ihr Paradies. Ihr Wissen solle verhungern. Die Werkzeuge ihrer Vernunft verrotten. Ihr Verstand in Wahnvorstellungen und den undurchsichtig trüben Gewässern des Glaubens versinken. So könne man ihr Wissen und ihren Glauben vernichten. In Fun, Events, und Vergnügungsdrogen ertränken. Nur so seien die Ungehörigen zu integrieren in das sorgenfreie Lutherland.’

    Noch während Martin Luther zu erkennen sucht, ob er Martin Luther King mit dem Tintenfass getroffen habe, und Martin Luther King überlegt, ob es vielleicht nicht sein Vorbild Martin Luther, sondern ein verabscheuungswürdiges Double gewesen sei, das ihn als Teufel verfluchte, bricht der Veranstalter, die PAX genannte staatliche ‚Population Academy for X-Y Criticism’ das zeitlos angeordnete Treffen zwischen Martin Luther und Martin Luther King ab.

    In Homberg wird es ersetzt durch die populäre Volkstanz- und Gesangsveranstaltung ‚Auf zum himmlischen Bock’, in Heidelberg durch das Technoevent ‚Heaven in Hell’.

    Martin Luther und Martin Luther King kehren unversehrt zurück in ihre Vergangenheit. Die Lutherland-Menschen laden die Ungehörigen ein zu Spaß und Spiel. Sie tanzen und singen und sind es zufrieden.

    Copyright Dr. Dr. Klaus Kayser

     

     

  • Der Wirbelsturm

    (22.9.2017)

     

    Maria Mies und Saral Sarkar gewidmet

     

    Ein Wirbelsturm war im Anmarsch
    gewaltig, umfassend, überwältigend
    Wir standen schwerfällig unbeschwert
    beschäftigt tatenlos
    mit dem Rücken zum Meer
    In der schweren Luft
    schwebte stumm eine dumpfe Ahnung 

    Einige drehten sich um
    begriffen jedoch nicht die Gefahr
    oder blieben gelähmt stehen
    aufgrund des wahnsinnigen Bildes 

    Einige versuchten anderen zu berichten
    über ihr beunruhigendes Wissen
    wurden jedoch verstört belächelt
    verfeindet, beschimpft, ausgegrenzt 

    Einige fingen an
    ihre Erkenntnisse schlüssig umzusetzen
    und bewegten sich folgerichtig 

    So fing die Befreiung an, meine Liebste
    wie so oft zuvor in der Menschheitsgeschichte

    ֎֎֎

  • Eine Vision für Ramstein-Miesenbach

    (11.9.2017)

    Fee Strieffler und Wolfgang Jung gewidmet

     

    Auf den ersten Blick
    erkenne ich eine triste Gegend
    aus allen Poren nach Grau riechend
    Den ganzen Tag dröhnen Militärflugzeuge
    in ihren Bäuchen die Grausamkeit befördernd
    Weißliche Riesen stehen in Reihen
    hinter Stacheldraht geschützt
    als Beihilfe zur länderübergreifenden Lynchjustiz
    im Weißen Haus angeordnet
    durch Killerdrohnen ausgeführt
    Ein gigantischer Apparat
    dient hier der wahnsinnigen Illusion
    eines begrenzt durchführbaren Atomkrieges
    Es ist eine nach Tod riechende Gegend
    durch Stationierungsvertrag ausländischen Streitkräften überlassen
    Ein Vertrag mit weltweiten Folgen
    von der Bundesrepublik Deutschland jedoch jederzeit kündbar
    mit einer regulären Frist von zwei Jahren

    Betrachte ich sorgfältig diese Gegend
    nehme ich aufblühend wunderbare Menschen wahr
    die mitten im weit verbreiteten Hinwegschauen
    beharrlich Blumen der Aufklärung pflanzen
    mit langem Atem den Widerstand gestalten
    und von einem See träumen
    der nach Abtragen der durch und durch verseuchten Erde
    auf dem jetzigen Militärgelände entstehen könnte
    mit vielen bunten Seegelbooten
    und dem belebenden Geräusch spielender Kinder

    ۞۞۞

    * Für weitere Informationen siehe:

    US-Militäranlagen in der Region Kaiserslautern / Ramstein

    https://amirmortasawi.wordpress.com/2017/07/28/20687292/

     

  • Was alles auf der Strecke bleibt

    (5.3.2011)

     

    Der adlige Kriegsherr geht augenscheinlich fort
    der bürgerliche Kriegsminister setzt buchstäblich fort
    Menschenleben bleibt auf der Strecke 

    käufliche Politiker regieren
    Militär und Rüstungsindustrie delegieren
    Kinderträume bleiben auf der Strecke 

    die Bundeswehr wird zweckdienlich umgebaut
    das brüchige Rechtsbewusstsein wird zunehmend abgebaut
    das Völkerrecht bleibt auf der Strecke 

    das verführte Wahlvolk wird schlicht verschaukelt
    Humanität und Demokratie werden dreist vorgegaukelt
    Achtsamkeit und Gefühle bleiben auf der Strecke 

    aufdeckende Tatsachen werden bewusst verschwiegen
    Dunkelheit und Lügen sollen unumkehrbar siegen
    Vernunft und Redlichkeit bleiben auf der Strecke 

    korrumpierte Wissenschaftler verleiten und vertuschen
    ehemalige Friedensfreunde rechtfertigen und kuschen
    Rückgrat und Courage bleiben auf der Strecke 

    professionelle Söldner und freiwillige Soldaten morden
    öffentlich als Helden gepriesen werden diese Horden
    Menschlichkeit bleibt auf der Strecke

    ֎֎֎

     

  • Mittelbau-Dora*

    (2010)

    In dieser beklemmenden Dunkelheit
    in dieser erlahmenden Kälte
    in dieser erstickenden Enge
    schreist du im Siegesrausch
    dass du ein Meister bist
    aus Deutschland
    der alles nimmt
    was sich nach Leben sehnt
    der alles vernichtet
    was nach Menschlichkeit riecht

    Du bist ein Meister
    nicht nur aus Deutschland
    und die Vergesslichkeit
    ist eine Volkskrankheit
    nicht nur in Deutschland
    und die Ignoranz
    ist eine Seuche
    nicht nur in Deutschland
    und eine mögliche Wiederholung
    ist eine Konsequenz
    nicht nur in Deutschland

    Vergiss jedoch nicht
    dass die Mutter Erde
    von unzählig vielen
    verehrt wird

    ֎֎֎

     

    * Nach dem Besuch des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora wurde dieser Text verfasst. Unter Leitung von Wernher Freiherr von Braun wurde dort das vernichtende Nazi-Raketenprogramm realisiert. Braun arbeitete später für die Raumfahrtentwicklung der USA. Ca. 20 000 Menschen starben im Zusammenhang mit diesem Konzentrationslager.

     

  •  

    Sonne, schenk uns wieder deine Kraft,
    Leuchte uns in diesen finstern Zeiten.
    Sollst uns aus der tiefen, schwarzen Nacht
    In ein neues helles Land geleiten.

     

  • Gemälde

    (6.5.2017)

    für Fee Strieffler und Wolfgang Jung

     

    Am Balkongeländer im dritten Stock
    begrüßt mich bezaubernd
    ein Freude spendendes Gemälde
    Rosa-weiße Blütenblätter
    mit zarten violetten Adern
    beherbergen grüne Augen
    und ihre gelben Wimpern
    Einige Blüten voll entfaltet
    andere halboffen
    betören im morgendlichen Sonnenschein 

    Du, zärtliche Clematis!
    Mit welchen Hoffnungen wurdest du gepflanzt
    welche Gedichte hast du erlebt
    wie oft hast du den Frühling umarmt
    dass du so beharrlich kletterst
    und so liebevoll gestaltest

    ۞۞۞

    Gestalten

    (6.5.2017)

     für Michael Lüders

    Die Liebe zum Leben
    ist mein Beweggrund
    mir der eigenen Endlichkeit bewusst
    und der Gegebenheit
    dass Wirtschaftssysteme
    Beziehungen darstellen
    Beziehungen und Einstellungen
    der Menschen zu Menschen
    zur Natur
    und im weitesten Sinne zum Dasein 

    Ausgerüstet mit diesem Werkzeug
    betreibe ich offenherzig
    im vielschichtigen gesellschaftlichen Geflecht
    eine gestaltende Gewichtung der Geschehnisse

    ۞۞۞

     

  • Dr. med. Cordula Sachse-Seeboth,

    RAPIDOT, Pandoras Pillbox,

    Amazon 2017

     

    Rezension von Dr. Dietrich Weller 

    Eine Warnung vorweg: Es soll Menschen geben, die an das Gute im Menschen und besonders in unserem Gesundheitssystem glauben. Wenn Sie diesen Glauben aufrechterhalten wollen, sollten Sie Rapidot, den Debutroman von Cordula Sachse-Seeboth, der im April 2017 erschienen ist, nicht anfangen zu lesen. Denn wenn Sie anfangen, kommen Sie nicht mehr weg. Sie werden hineingerissen in einen Strudel von kurzen Kapiteln, die mit einer rasanten und leider realistisch möglichen Handlung alle Hinterhältigkeiten und kriminellen Machenschaften offenlegen, die bei der Erprobung eines neuen Medikaments im Rahmen von vorgeschriebenen Studien denkbar sind. Die Gier nach Geld und Macht sind die Treibfedern einer Bande von Gangstern im vornehmen Klinik- und Pharmamilieu von Berlin. Die Handlung spielt hauptsächlich in der Kardiologischen Klinik der Cordialité (wer könnte die Parallele zu der berühmten Charité übersehen?), wo Professor Lindberg der Leiter der zweiten Studienphase zu einem revolutionären Mittel gegen das gefährliche Vorhofflimmern ist. Rapidot ist das als Handelsname geplante Kunstwort aus rapid – schnell und Anti-dot – Gegengift.

    Die studienerfahrene Ärztin und Autorin Cordula Sachse-Seeboth schildert mit enormem Sachwissen und verblüffenden Details zu Praxis und Risiken des Studienablaufs, wie gewissenlose Drahtzieher planmäßig Menschenleben aufs Spiel setzen, um die Genehmigung für das Medikament Rapidot zu erhalten. Den Verbrechern im weißen Kittel und im blauen Zweireiher, die mit teilweise sarkastischer Eiseskälte geschildert werden, steht die junge Assistenzärztin Zoe gegenüber. Sie wird als Assistentin von Lindberg eingestellt und mit der Durchführung der Studie betraut, weil er testosterongesteuertes Interesse an ihr hat und sie ihn mit kluger Ablehnung und geistreicher Schlagfertigkeit reizt. Zoe ahnt die geplanten kriminellen Pläne der Pharmafirma und die lebensgefährdende Wirkung von Rapidot und heckt einen ebenso kriminellen Plan aus, um die Versuchspersonen zu retten. Zoe entdeckt die Hintergründe, die zu zehn „zufälligen“ Unfalltoten im Vorfeld der ersten Studienphase geführt haben. Dadurch verwickelt sie sich immer mehr in eine für sich selbst lebensbedrohliche Lage. Das Netz der Gier und der Süchte, der Lügen und Finten, der Morde und Rettungsversuche wird entfaltet, es führt zu mehreren packenden Höhepunkten und fällt dann auf total verblüffende Weise in sich zusammen.

    Obwohl der Roman 600 Seiten umfasst, wird der Leser von Kapitel zu Kapitel weitergelockt, denn die Autorin beherrscht die Dramaturgie perfekt: Sie lässt den Leser oft am Ende eines Kapitels im spannendsten Moment „hängen“ und schwenkt zu einem anderen Handlungsstrang um. (Daher kommt der Fachbegriff cliffhanger.) Die einzelnen Kapitel sind knapp und präzise aufgeteilt und geschildert. Sie springen mitten in die Handlung, und schildern Menschliches und Allzumenschliches in bildhafter Sprache, die häufig mit witzigen und geistreichen Dialogen gespickt ist. Skrupellosigkeit, Raffinesse, kriminelle Energie und tiefe Menschlichkeit werden eindrucksvoll verwoben. Die Charaktere der Handlung sind plastisch und lebensecht beschrieben, sehr gut ausgearbeitet, auch mit vielen kleinen Charakteristika versehen, und der Leser kann sich jede Hauptperson klar vorstellen. Das Böse und das Gute liegen sehr nahe beieinander. Und beides ist glaubwürdig.

    Imponierend finde ich, dass die Autorin im Anhang nach Ideen der Arzeimittelkommission, der Cochrane Collaboration und der Zeitschrift arznei-telegramm einen realisierbaren und wertvollen Katalog von Verbesserungen der bis jetzt gültigen Vorschriften für Studienabläufe zusammengestellt hat. Die dort noch enthaltenen Lücken in den Regeln haben unter anderem den vorliegenden Pharma-Thriller möglich gemacht. Dass die Autorin auch eine gehörige Portion Humor hat, zeigt sie mit dem angehängten Kapitel „Aufklärung über Nutzen und Risiken des Buchkonsums“.

    Ein beeindruckender und (auch für Nichtmediziner!) lesenswerter Debutroman, der mich neugierig macht, womit die Autorin uns demnächst überrascht. Ihren Kindern hat sie Kinderbücher versprochen, und Science-Fiction steht auch auf ihrem Plan. Wir dürfen gespannt sein.

    Dr. med. Dietrich Weller,

    Präsident im Bundesverband Deutscher Schriftstellerärzte BDSÄ

    —>> Lesen Sie auch www.rapidot.de

  • aus Wicht, Dreck am Saphir, Vindobona Verlag, 2013

     

    Das archaische Lächeln

    Ein heit´res Lächeln flog im Dunkeln durch die Welt
    und ward ganz unversehens dort zerspellt
    durch eine Neutronenbombe.
    Die Seele starb, was übrig blieb
    kam in den Besatzer-Souvenirbetrieb.
    Ein Kind erhielt das Ding,
    von dem keiner mehr wusste, was es war
    als es Vater abholen ging.
    Es bedankte sich, wie es musste,
    doch war die Verwendung nicht klar.
    Das Zweifeln hat nicht lange gewährt
    der Abwurf hatte sich kaum verjährt
    da starben die Sieger selbst,
    was keiner ahnen konnte,
    an den Folgen ihrer eigenen Bombe
    Und mit ihnen starb auch ihr Lächeln,
    über das sich Gelehrte anderer Sterne und Zeiten
    später noch streiten.

     

    Generation Kriegsende

    In den Schößen unserer Mütter geborgen
    als Bomben fielen
    atmeten wir als Säuglinge den Rauch
    über verbrannten Städten
    manche sehen noch den Freund
    heulend
    neben der Leiche der erschossenen Mutter
    rotznasig
    am vorüberziehenden Treck

    heute
    denken wir das Wort Krieg noch
    mit tierhafter Angst
    auch sehen einige die neue Uniform
    und die MPI
    in der Hand unserer Soldaten
    skeptisch
    während Zeitungen von Kosmosflügen
    berichten
    lesen wir daneben von Kerntests

     

    lingua novi temporis

    wenn wir von den Oberen sprechen
    sagen wir man, von meinem
    Nachbarn spreche ich von Hans Schulz
    er verlangt nichts von mir und ist freundlich

    wenn wir von Politik sprechen
    sagen wir,  man hat das und das
    getan, andeutend, das geschah
    ohne unsere Einflussname

    wenn wir von der misslichen Lage
    sprechen, sagen wir, man
    wird das schon ändern
    auf man lohnt kein Schimpfen

    wir haben die Hoffnung
    die Ohren des Tischnachbarn
    in der Kneipe können mit man
    nichts anfangen, das ist besser

     

    Viele der Feistwangigen

    Viele der Feistwangigen, die
    uns kommandieren
    haben ihr Fett
    mit Gesinnung erhandelt
    und sind auch bereit,
    später noch
    mit Gesinnung zu handeln.

    Uns, die wir noch keine
    käufliche Gesinnung haben
    bleibt oft nur
    der Hass als
    Ansporn zum Handeln

     

    Der Bart

    Wir leiden oft zu sehr an den Zerrüttetheiten
    an Angst und Arbeitsscheu und Impotenz
    da nutzt es nichts, die Seele auszuweiten
    denn für die Obern hat das seine Konsequenz

    Der Mensch, so spricht man klug und laut
    und weist dabei auf Friedrich Engels Buch
    ist zwar nach Art der Affen aufgebaut
    doch ist er Mensch durch seine Arbeitssuch´

    Die Reste seiner Affigkeit trägt mancher noch
    als Bartgestrüppe im Gesicht
    wir distanzieren uns jedoch
    von ihnen und trauen ihnen nicht

    denn nur den wahrhaft Großen sei dies zugesagt
    dass ihre Größe dadurch wird´ bewiesen.
    Verrucht sei jeder Kleine, der es wagt
    auch nur den äußeren Vergleich mit diesen.

    Doch trotzdem lassen wir die Bärte sprießen
    und kompensieren so die Impotenz
    es mag die Obern auch verdrießen
    wir tun´s in eig´ner Kompetenz.

     

    Befindlichkeiten I     (1961/62)

    In der Zeit, da das Misstrauen wächst
    wie dein Bart von einem Tag zum andern,
    bedarf eine Freundschaft wahrhaft großen
    Vertrauens gegeneinander
    oder Naivität und Dummheit und knechtische Unterordnung
    und du fragst dich, ob du selbst
    der Geliebten deine Gedanken
    und dem Gast dein wahres Gesicht
    zeigen darfst.
    Du weißt nie, ob man dich
    deiner Zweifel wegen
    und manchmal auch Eigenliebe
    nicht für
    verdammungswürdig hält.

     

    Befindlichkeiten II

    Man sagt uns, dass
    wir einer hellen Zukunft
    entgegengehen
    wir lernen die Brutalität
    und wären doch oft gern
    zärtlich
    in uns ist Hass
    darum sind wir
    käuflich
    wer weint, tut es nachts
    am Tage gibt es nur
    Lachen

    unsere Kunst ist es,
    nicht zu sterben.

    Heute verrate ich meinen Freund
    denn ich will morgen noch
    leben

    die kleinen Hilfen bleiben ungenannt
    aber manchmal sagst du doch
    Bruder
    um das Lächeln, mit
    dem wir Befehle überhören
    sollten uns spätere Generationen
    bewundern.

     

    Über Pazifismus

    Ich höre den Gesang von den Gräbern
    von dem Hass gegen den Krieg
    man will uns wieder mal zeigen,
    nur bei uns gibt es wirklich Sieg.

    Ich halte mich nicht für klüger
    ich seh das zerfurchte Gesicht
    jenes Sängers von sinnlosen Gräbern
    sehr viel Neues sehe ich nicht.

    Der Hass hat abgenommen
    man konserviert ihn wohltemperiert
    der moralische Sieg ist wieder gewonnen
    doch für ne Idee wird noch immer krepiert

     

     

  • Der Frühaufdreher

    oder:

    Gegen die Zeitumstellung

     

    Gott hatte angeblich die Idee, der Mensch solle sich die Erde untertan machen. Der Mensch hat ihm das abgenommen und angefangen, dies und jenes auf der Erde zu verändern.

    Das Klima beispielsweise, oder das Licht. Schaut mal auf Europa bei Nacht. Als ich Abitur machte, sollten die fossilen Energieträger in 25 Jahren aufgebraucht sein. Der Mensch hat sich überschätzt. Er hat selbst das bis heute nicht geschafft.

    Als ich Abitur machte, wurde beim Rudern der Skull direkt vorm Einsetzen in das Wasser aufgedreht. Über der Wasserlinie, beim Vorrollen in die Auslage, wurde er abgedreht, also waagerecht geführt. Das klingt richtig, wegen des geringeren Luftwiderstandes.

    Das Ruderblatt braucht einen hohen Widerstand im Wasser und einen geringen an der Luft.

    Früher war ein Ruderzyklus nach dem Endzug zu Ende. Das ist heute nicht mehr so. Wenn die Hände vor dem Vorrollen über den Knien ankommen, dann erst ist der Zyklus zu Ende. Das mußte ich neu lernen, umlernen. Und über den Knien wird auch aufgedreht. Das ist angeblich besser für das Einsetzen des Ruderblattes ins Wasser. Also: Früher aufdrehen. Ich finde das widersinnig und freue mich darauf, daß man bald wieder rudert wie früher. Es wird so kommen.

    Solange bleibe ich eben Frühaufdreher.

    Seit 2 Wochen haben wir die Zeit auf Sommerszeit umgestellt. Ich stehe also eine Stunde früher auf. Bin somit auch Frühaufsteher. Man kann die Zeit umstellen.

    Die Idee ist nicht neu, schon 1784 erläuterte Benjamin Franklin, daß durch das ausgiebige Nachtleben viel Energie vergeudet würde, und er schlug vor, pünklich ins Bett zu gehen und früh aufzustehen.

    Um Energie des Nachts einzusparen, wurde im ersten Weltkrieg eine Sommerzeit eingeführt, nach Kriegsende wurde sie wieder abgeschafft. Im zweiten Weltkrieg gab es dann wieder eine Sommerzeit. 1947 wurde sogar eine doppelte Sommerzeit verordnet, allerdings nur für 7 Wochen, dann war Schluß damit.

    Nach der Ölkrise gab es 1980 für Deutschland wieder eine Sommerzeit, und seit 1996 gibt es eine Sommerzeit für die Europäische Union.

    Man kann, soweit hat die Menschheit es gebracht, die Zeit schalten. Dafür gibt es heute extra Zeitschaltuhren.

    Man kann auch jemandem die Zeit stehlen.

    Man kann sich Zeit nehmen.

    Man sollt sich immer dann Zeit nehmen, wenn man keine mehr hat.

    Heute gibt es sogar Zeitmanagement.

    Und Zeitfenster, ganz modern. Besonders in Führungsetagen.

    Aber freut Euch nicht zu früh:

    Im Herbst wird die Zeit dann wieder zurückgeschaltet.

    Ein Wahnsinn.

    Eine Riesenspökenkiekerei.

    Weil: Die Zeit schaltet sich nicht. Die Zeit läuft auch nicht.

    Die Zeit ist einfach eine Idee von uns Menschen, die gerne etwas eindimensional darstellen: Länge, Zeit, Höhe, Breite.

    Dem Raum und seinen Veränderungen ist das ganz egal.

    Uns ja auch: Die OP Zeit wird manipuliert, die Deutsche Bahn hält sich nicht an Fahrpläne, Verabredungen sind in der Schweiz oder in Frankreich etwas ganz anderes als in Deutschland.

    Ich bin immer relativ pünktlich, darum muß ich aber auch viel mehr warten als meine Mitmenschen. Bis auf das Aufdrehen beim Rudern: Da warten immer alle auf mich.

    Ich wäre dafür, das Zeit schalten zu unterlassen, der Natur die Zeit zurückzugeben, die Winterzeit abzuschaffen, etwas früher aufzustehen und dafür etwas später aufzudrehen.

    Und doch ruft mir der Steuermann wieder zu: Heiner, Du kommst zu spät!

    Und dann lachen im Achter wieder sieben.